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LONDONS UMGEBUNGEN

Windsor

[Fußnote: von Eduard dem Bekenner erstmals erbaut; Eduard III. ließ es niederreißen und durch William of Wykeham im 14. Jahrhundert ein neues Schloß bauen. Es wurde unter den folgenden Herrschern mehrfach erweitert, zuletzt im 19. Jahrhundert unter Georg IV., und Königin Victoria unter Leitung des Architekten Sir Jeffrey Wyattville.]

An dem südlichen Ufer der Themse, zweiundzwanzig englische Meilen westlich von London, thront auf einer Anhöhe das alte stattliche Schloß von Windsor. Von dieser herab genießt man eine der ausgebreitetsten Aussichten auf die schöne, reiche Gegend umher. Wunderbar kontrastiert diese mit dem ernsten Anblicke des Schlosses, seinen alten Mauern und mit Efeu umrankten Türmen.

Wilhelm der Eroberer erbaute dieses Schloß, kurze Zeit nachdem er sich zum Herrn von England gemacht hatte. Mit einer Mauer umgab es Heinrich der Erste und vergrößerte es. Später erwählte Eduard der Erste Windsor zu seinem Lieblingsaufenthalte, und Eduard der Dritte ward hier geboren. Vorliebe für den Ort, an welchem seine Wiege stand, bestimmte diesen, das Schloß, welches er zu seiner Sommerwohnung wählte, nach einem neuen Plane prächtiger zu bauen. Auch König Karl der Zweite wendete viel auf die Verschönerung von Windsor, und seit seiner Zeit blieb es der Lieblingsaufenthalt der Könige von England und ihre gewöhnliche Sommerwohnung. Unter der Regierung Georgs des Dritten ist ebenfalls manche Veränderung und Verschönerung damit vorgenommen worden. Der Schloßgraben ward ausgefüllt, ein Hügel, welcher die Aussicht gegen Morgen beschränkte, wurde geebnet, Festungswerke wurden abgetragen. Dennoch sieht das Schloß noch immer ehrwürdig und altertümlich genug aus, obgleich es viel von seinem ersten imponierenden Ansehen verloren haben mag.

Es hat zwei Höfe, den oberen und unteren; beide werden durch den sogenannten runden Turm, die Wohnung des Kommandanten, voneinander getrennt. An der Nordseite des oberen Hofes befinden sich die Staats- und Audienz-Zimmer, an der Ostseite die Appartments der Prinzen und gegen Süden die der vornehmsten Kronoffizianten. Der untere Hof ist wegen der St. Georgen Kapelle bemerkenswert. Die verschiedenen Säle und Staatszimmer zieren Tapeten und Malereien, bald von höherem, bald von geringerem Werte. An allen ist die Wirkung der Zeit sichtbar, und sie machen im Ganzen keinen heiteren Eindruck. Der merkwürdigste unter den Sälen ist der Georgen-Saal, der Kapitelsaal der Ritter des Ordens vom Hosenbande [Fußnote: Order of the Garter; angesehenster englischer Orden. Gestiftet von Eduard III. Der Überlieferung zufolge verlor Eduards Geliebte, die Gräfin Salisbury, bei einem Tanz ihr blaue Strumpfband. Der König hob mit dem Band auch den Rocksaum der Gräfin auf und entblößte dabei ihre Beine. Bis in das 19. Jahrhundert hinein war es zwar schicklich, die Büste mehr oder minder frei zur Schau zu stellen, nicht jedoch irgend etwas von den Beinen zu zeigen. Aus dieser Situation wird der Wahlspruch abgeleitet.]. Er ist einhundertacht Fuß lang, am Ende desselben steht der königliche Thron, über diesem sieht man das St. Georgen-Kreuz in einer Glorie, umgeben mit dem von Amoretten getragenen Strumpfbande und der bekannten Inschrift: Honny soit qui mal y pense.

Die Staatszimmer hängen voll Gemälden, welche man aus Mangel an Zeit nur zu flüchtig betrachten muß. Dem Anschauer werden im Vorübereilen die Namen der größten Meister wie Tizian, Poussin, van Dyck, Holbein und viele andere genannt. Auch eine heilige Familie von Raffael und eine Anbetung von Paul Veronese zeigt man den Fremden als die Krone der Versammlung.

Der schönste Punkt von Windsor Castle ist die große, in ihrer Art einzige Terrasse. Sie erstreckt sich längs der östlichen und eines Teils der nördlichen Seite des Schlosses, ist eintausendachthundertsiebzig Fuß lang und von verhältnismäßiger Breite. Die Aussicht auf die Themse, welche sich durch eine der reichsten Landschaften hinschlängelt, auf die mannigfaltigen Landhäuser, Dörfer und Flecken, die ihre Ufer beleben, auf den parkähnlichen Wald von Windsor und die in der Nähe liegenden Gärten, ist über alle Beschreibung schön und reizend.

Nicht im eigentlichen Schlosse von Windsor wohnte die königliche Familie Georgs des Dritten, sondern in einem modernen Gebäude, welches der südlichen Terrasse gegenüberliegt. Hinter diesem Gebäude erstreckt sich ein wohlangelegter Garten, den man von einem Winkel der großen Terrasse übersieht. In ihm befindet sich ein zweites Gebäude, das die Prinzessinnen bewohnten.

Die Königin besaß nahe bei Windsor noch ein kleines, bürgerlich aussehendes Haus mit einem unbedeutenden Garten. Diese Besitzung, welche sie sehr liebte, heißt Frogmore. Hierher machte sie oft Landpartien mit ihren Töchtern und einigen Lieblingen unter ihren Damen. Kleine ländliche Feste an den Geburtstagen der Prinzessinnen, Frühstücke und dergleichen wurden hier gegeben, in einem sehr beschränkten Familienzirkel.

In Windsor mußte man vor der traurigen Krankheit Georgs des Dritten die königliche Familie sehen, um sich von ihrer Lebensweise uns Persönlichkeit einen Begriff zu machen. Hier fielen die Schranken, welche Etikette und strenge Eingezogenheit in London um sich zogen. Dort hatte man kaum Gelegenheit, sie zu Gesichte zu bekommen, wenn man sich nicht präsentieren lassen wollte. Im Theater erschienen sie sehr selten, und beim Spazierenfahren oder Reiten eilten sie zu schnell vorüber, als daß man die Gestalten auffassen konnte.

Während ihres Aufenthaltes zu Windsor hingegen sah man sie alle Sonntage morgens in bescheidenen Negligé, nach englischer Sitte, beim Gottesdienst in der Georgen-Kapelle versammelt. War der König gesund, so versäumte er auch an Wochentagen nie, um sieben Uhr des Morgens in der königlichen Kapelle im oberen Hofe des Schlosses seine Morgenandacht feierlich zu halten, wobei ebenfalls jedermann zugelassen wurde. Später traf man ihn vormittags oft in den Wirtschaftsgebäuden, in den Pferdeställen, überall. Er trug dann einen einfachen, dunkelblauen Oberrock, mit einer runden braunen Perücke, die ihm völlig das Ansehen eines wohlhabenden Pächters gab. Er pflegte es nicht ungern zu hören, wenn man ihn Farmer George nannte; ländliche Ökonomie war in früheren Zeiten seine Lieblingsbeschäftigung.

An jedem heiteren Sonntagabend promenierte die ganze Familie auf der großen Terrasse, und dieses gewährte dann einen in seiner Art einzigen Anblick. Von der einen Seite die grauen altertümlichen Mauern des Schlosses mit ihren Zinnen und Türmen, von der anderen die oben erwähnte reiche Aussicht auf den Strom, Feld und Wald im verklärenden Glanze der sinkenden Sonne, und nun das bunte drängende Gewühl aller Stände, jeden Alters, beinahe jeder Nation; denn kein Fremder versäumte es leicht, Windsor wenigstens einmal von London aus an einem Sonntage zu besuchen. Zu der Menge von Fremden gesellten sich die Bewohner der umliegenden Gegend, vom vornehmen Gutsbesitzer bis zum geringsten Landmann; zwischen ihnen bewegten sich schwerfällige Bewohner der City mit ihren wohlbeleibten geputzten Ehehälften und zierlichen trippelnden Misses.

Auch wir waren an einem Sonntage gleich den anderen Fremden nach Windsor geflüchtet und mischten uns unter die bunte Menge. Auf und ab wogte das Gewühl, die große Terrasse war fast zu enge. Um sieben Uhr erschienen zwei Banden militärischer Musik auf der Schloßmauer an beiden Ecken der Terrasse. [Fußnote: dazu Johanna: "In England sagt man immer eine Bande Musiker. Uns dünkt dies recht charakteristisch."]. Beide spielten gar lustig God save the King, ohne sich sonderlich umeinander zu kümmern; die Entfernung und das Geräusch waren auch zu groß, als daß sie viel voneinander hätten hören können. Mit dieser beliebten Melodie fuhren sie ohne weitere Abwechslung den ganzen Abend fort zu musizieren. Die königliche Familie erschien bald darauf; ein einziger Konstabler ging mit dem Stabe voraus, um nur einigermaßen Raum für sie zu machen. Man drängte sich von allen Seiten um sie her. Der König ging zuerst, an seiner Seite die Königin. Wo er einen Bekannten erblickte, redete er ihn an oder nickte ihm einen freundlichen Gruß zu, ohne Unterschied von Rang und Stand. Neugierig forschte er nach den Namen jeder ihm aufzufallenden Gestalt, und wir hörten verschiedentlich, wie er nach seiner alten, durch Peter Pindar so bekannt gewordenen Gewohnheit ein einsilbiges Wort oft drei- bis viermal hintereinander wiederholte. Mit dem Astronomen Herschel sprach er, so oft er ihm begegnete, einige Worte; auch die Königin war ausgezeichnet freundlich gegen diesen ihren Landsmann. Die Promenade schien ihr viel weniger Freude zu machen als ihrem Gemahl, an dessen Arm sie hing. Das Gehen auf den hohen, spitzigen Absätzen, die sie noch immer trug, wurde ihr sichtbar schwer; sie war sehr klein, und in dem grautaftenen Kleide, welches sie hoch in die Höhe nahm, mit einem altmodischen Mäntelchen von weißem Taft, sah sie gar nicht königlich aus. Der König schien oft ganz zu vergessen, daß er sie führte, und ging, stand oder kehrte plötzlich um, wie es ihm eben gefiel.

Hinter dem königlichen Paare wandelten die beiden ältesten Prinzessinnen am Arme einer Hofdame. Die zweite, Mary, hat ein interessantes Gesicht. Jetzt folgte die Prinzessin Elisabeth, auf zwei Hofdamen gestützt. Nach der Prinzessin Elisabeth folgten die beiden jüngeren Schwestern am Arme ihres Bruders, des Herzogs von Cambridge. So zogen sie in Prozession durch das Gewühl auf und ab; stand der König, so standen alle, wendete er um, so folgten sie ihm.

In der Zeit von anderthalb Stunden begegneten wir ihnen wenigstens zwanzigmal, denn so wie der König an einen etwas menschenleeren Teil der Terrasse kam, kehrte er um. Diese Promenaden machten ihm viel Vergnügen; selten kehrte er vor der Dämmerung nach Hause. Wir waren ihrer eher überdrüssig als er, denn er wandelte noch ganz munter umher, als wir die Terrasse verließen.

Das Städtchen Windsor hat wenig Ausgezeichnetes; es zieht sich den ganz beträchtlichen Hügel hinan, auf welchem das Schloß liegt. Die Straßen sind folglich bergig und unbequem zum Fahren und Gehen; auch die Gasthöfe fanden wir weniger gut, als man es in dieser Nähe des Hofes vermuten sollte.

Das Dorf Eton, bekannt durch die hohe Schule Eton College, liegt am Fuße des Hügels, jenseits der Themse, und wird nur durch eine Brücke von der Stadt Windsor getrennt. Die Schulgebäude zeichnen sich nicht durch ihre Bauart aus; die Kapelle aber ist ein schönes gotisches Gebäude, welches die reiche Landschaft noch mehr verschönert. Heinrich der Sechste stiftete und erbaute diese Schule im Jahr 1440. Sechzig Pensionäre werden dort auf Kosten des Königs erzogen, aber auch Söhne guter Familien für Bezahlung darin aufgenommen. Die Schüler sind in zwei Klassen geteilt, deren jede noch drei Unterabteilungen hat. Die Erziehung in diesen Anstalten, sowie auch das Studieren in Oxford und Cambridge haben noch viel Strenges und Klösterliches, sogar in der Kleidung. Im Monat August werden die Schüler in Eton examiniert und diejenigen ausgewählt, welche nach Cambridge gehen sollen, um ihre Studien fortzusetzen. Die zwölfe unter diesen, die sich im Examen am besten auszeichnen, haben das Recht, nach drei Jahren Mitglieder der Universität Cambridge zu werden, Fellows of the University, welches ehrenvoll und einträglich ist. Die Bibliothek in Eton ist bedeutend. Weitläufige, wohlunterhaltene Gärten umgeben die Schulgebäude.

 

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