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Der Tower

[Fußnote: alte Stadtfestung und Gefängnis von London; ältester Teil (White Tower) von Wilhelm dem Eroberer erbaut. Die Gräben wurden 1843 trocken gelegt. Der Tierpark wurde 1834 in den zoologischen Garten in Regent's Park gebracht.]

Wir wollen die Löwen sehen, sagen die englischen Pächter- und Landjunkerfamilien, wenn sie eine Wallfahrt nach der Hauptstadt und ihren Merkwürdigkeiten unternehmen. Diese Löwen, eigentlich die im Tower aufgewahrte königliche Menagerie, dienen ihnen, als die Hauptmerkwürdigkeiten der Stadt, zur Bezeichnung alles Sehenswerten in derselben. Leider sind die edlen Tiere mitsamt ihrer Residenz durch diese Popularität etwas verrufen, und ein Fremder von gutem Tone wagt es kaum, den Tower zu besuchen. Wir gingen indessen doch hin, auf die Gefahr etwas gar Unmodisches, mit dem hohen Stil ganz Unverträgliches zu unternehmen, und suchten den Tower mit seinen Löwen am äußersten Ende der City auf, wo er nahe am Ufer der Themse liegt.

Grämlich und düster blickt dieser uralte Schauplatz unzähliger Greuel mit seinen grauen Türmen über den ihn umgebenden Wassergraben. In einem dicht über demselben erbauten, ziemlich niedrigen Gewölbe ist die Pforte angebracht, durch welche die Staatsverbrecher hineingeführt wurden. Sie heißt das Tor der Verräter, Traitor's Gate; man brachte die Unseligen von der Themse bis zu diesem Eingange, der sich hinter ihnen oft für immer verschloß.

Wir gingen durch das Tor des Haupteinganges hinein, welches zur Not für eine Kutsche Raum hat. Man machte uns aufmerksam auf die kleinen vergitterten Fenster über dem Tore. Sie befinden sich in dem Zimmer, in welchem der entsetzliche Richard der Dritte die beiden jungen Söhne seines Bruders ersticken ließ, als sie eben sanft und ruhig im festen Schlummer der Kindheit dalagen und von keiner Gefahr träumten. Uns gelüstete nicht, das Mordzimmer zu betreten.

Eine alte Sage gibt Julius Cäsar für den ersten Erbauer dieser Veste an; die Geschichte aber sagt uns, daß Wilhelm der Eroberer in der Mitte des elften Jahrhunderts den Grund dazu legte, um seine vielgeliebten Londoner im gehörigen Respekt zu erhalten. Man sieht es dem sehr weitläufigen Ganzen an, daß kein fester Plan bei dessen Gründung vorwaltete, sondern während der Regierung mehrerer Könige bald hier, bald da daran gebaut und zugesetzt ward.

Jetzt gleicht der Tower fast einer kleinen Stadt; er umschließt in seinem Bezirke mehrere Straßen, eine Kirche, Magazine, Kasernen für die Garnison, Häuser für die Offiziere, Zeughäuser, die Münze, nebst Wohnungen für die dabei beschäftigten Offizianten und sonst noch mancherlei Gebäude. Ein breiter Wassergraben läuft ringsumher, und zwischen diesem Graben und der Themse befindet sich eine Art Terrasse, auf welcher sechzig Kanonen stehen, die bei feierlichen Gelegenheiten abgefeuert werden. Der Tower wird, wie es bei Festungen Gebrauch ist, mit Sonnenuntergange geschlossen. Die Yeomen oder Ochsenfresser haben die Wache darin und dienen zugleich den besuchenden Fremden als Ciceronen. Hier sind sie ganz augenscheinlich am rechten Platze; ihre Kleidung und ihr ganzes Ansehen trägt gleich am Eintritte dazu bei, uns in frühe dunkle Jahrhunderte zu versetzen.

Die Münze mit den dazugehörigen Gebäuden nimmt ein gutes Drittel des Towers ein. Sie wird nicht gezeigt. Uns blieb der weiße Turm, die Schatzkammer und die Löwen zu sehen. Letzteren machten wir zuerst unseren Besuch.

Nicht nur Löwen werden hier in einer besonderen Abteilung in starken Käfigen bewahrt, auch Panther, Leoparden, Tiger und mehrere Arten wilder Bewohner der Wüsten, grimmige stattliche Bestien, denen man es ansieht, daß sie gut gehalten werden. Nach englischer Sitte hat jede derselben außer dem Schlafkabinette noch ein Wohnzimmer in ihrem Käfig, wo sie Besuch annimmt. Alle prangen mit christlichen Namen, besonders die Löwinnen; da findet man eine Miß Howe, Miß Jenny, Miß Charlotte, Miß Nanny, als wäre man auf einer englischen Assemblee. Viele dieser Tiere wurden hier im Tower geboren und erzogen, und es ist merkwürdig, daß diese gerade die wildesten und unbändigsten sind.

Die Kronjuwelen [Fußnote: sie befinden sich im Wakefield Tower.], welche ebenfalls der Tower aufbewahrt, zeigt man auf eine wunderlich ängstliche Weise, die sehr gegen die Liberalität absticht, mit welcher Fremde im Dresdner grünen Gewölbe herumgeführt werden. Der uns leitende Ochsenfresser öffnete uns eine kleine Türe, wir traten hinein und mußten uns alle in einer Reihe auf eine dastehende Bank setzen. Die Tür ward hinter uns abgeschlossen, und wir befanden uns in einem kleinen steinernen, ganz dunklen Gewölbe wie in einem Gefängnis. Die unerwartete Finsternis blendete uns; es währte lange, ehe wir dicht vor uns ein starkes eisernes Gitter entdeckten und hinter demselben eine alte Frau zwischen zwei Lichtern.

Dieser etwas drachenähnliche Hüter unterirdischer Schätze zeigte uns nun viele Kostbarkeiten. Manches Stück davon war wegen der alten, mitunter sehr feinen Arbeit merkwürdig; zum Beispiel ein goldener Adler, dessen Hals das heilige Öl zur Salbung der Könige enthält; der goldene Löffel, in welchen der Bischof bei der Krönung dieses Öl gießt, und vieles uralte Tischgeräte von Gold und Silber. Dann sahen wir auch das mit französischen Lilien verzierte Zepter, den Reichsapfel, viele Kronen und mehr dergleichen Dinge, die bei Krönungen und anderen festlichen Gelegenheiten noch zum Teil gebraucht werden. Eine Perle von unschätzbarem Werte, ein Smaragd, der im Umfange sieben Zoll groß ist, und ein wunderschöner Rubin schmücken die Krone, welche der König im Parlamente auf dem Haupte trägt; die Krone des Prinzen von Wales wird im Parlamente vor diesen hingesetzt, als ein Zeichen, daß er noch nicht berechtigt ist, sie zu tragen. Alle diese Herrlichkeiten blitzen von köstlichen Edelsteinen. In der düsteren Höhle sahen sie wie ein von bösen Geistern bewachter Feenschatz aus; ihr Wert wird über zwei Millionen Pfund Sterling angegeben, ohne die seltenen Steine, deren Wert man gar nicht bestimmen kann.

Von hier wandten wir uns zum weißen Turme, der aber weder ein Turm noch weiß ist, sondern ein großes viereckiges Gebäude mitten in der Festung, alt, grau und rostig anzuschauen. Vier Wachttürme krönen dessen Zinnen, von welchen einer zur Sternwarte eingerichtet ist.

Im ersten Stock sahen wir die der großen spanischen Armada abgenommenen Trophäen. Lauter alte, zum Teil recht sonderbar erdachte Mordgewehre. Eine Menge Daumenschrauben befinden sich dabei; die Spanier führten sie bei sich, um damit bei ihrer Landung von den besiegten Engländern Auskunft über etwa verborgenen Schätze zu erpressen.

In diesem Saale ist eine lebensgroße Puppe zu schauen, welche die Königin Elisabeth vorstellt, wie sie eben im Begriffe ist, einen weißen Zelter zu besteigen. Sie trägt die Kleider, welche Ihre Majestät trug, da sie nach diesem merkwürdigen Siege zum Volke sprach [Fußnote: Untergang der spanischen Armada im Kampf gegen die englische Flotte unter Sir Francis Drake 1588.]. Wir möchten aber keiner Schauspielerin raten, sich zur Rolle der Elisabeth nach diesem Muster zu kostümieren. Die gute Dame sieht schrecklich aus, besonders das zu einem hohen, breiten Turme aufgekräuselte Haar, welches gar nicht mehr wie Haar aussieht, und die unendliche, spitzig zulaufende, in einen Harnisch gepreßte Taille.

Hier sahen wir auch das Beil, unter welchem der Anna Boleyn schönes Haupt fiel [Fußnote: zweite Gattin Heinrichs VIII.; 1536 enthauptet.], und mehr dergleichen traurige Merkwürdigkeiten, von denen der Tower wimmelt.

Die Waffen neuerer Zeit sind in einem anderen sehr großen Saale aufgestellt. Nimmer hätten wir diesen Mordgewehren zugetraut, daß sie einen so hübschen Anblick gewähren könnten. Sie sind hier auf's Zierlichste und mit einer Art Erfindungsgeist und Geschmack geordnet; die Wände blitzen von Bajonetten, Pistolen, Degen und Säbeln, in tausend verschiedenen Formen gestellt; da sieht man daraus zusammengesetzte Kirchenfenster, eine Orgel, Wappen, Sterne, Schlangen; die Decke ruht auf Pfeilern von Musketen, um welche zierliche Girlanden von Pistolen sich winden.

In einem anderen großen Saale sind alle Könige Englands, von Wilhelm dem Eroberer an bis auf Georg den Zweiten in einer langen stattlichen Reihe, zu Pferde, in voller Rüstung zu schauen. Die zum Teil sehr prächtigen Rüstungen sind die nämlichen, welche ihre Inhaber bei Lebzeiten trugen. Auch Georg der Zweite hat eine über und über vergoldete Rüstung an; der Ochsenfresser, unser Cicerone, versicherte uns sehr naiv, dieser Herr habe solche nie getragen. Der berühmte John of Gaunt, Sohn Eduards des Dritten, muß ein Riese ohnegleichen gewesen sein; seine Rüstung ist sieben Fuß hoch, Schwert und Lanze dem angemessen. Auch Heinrich der Achte war gewiß ein ansehnlicher Herr; die für ihn in seinem achtzehnten Jahre verfertigte Rüstung gibt der des John of Gaunt an Größe wenig nach.

 

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