Beitragsseiten

Pension für Mädchen

[Fußnote: der fünfzehnjährige Arthur notierte dazu: "Mittwoch den 1sten Juny. Wir waren diesen Mittag bey Hrn. Harris, er wohnt dicht vor London, hat aber von seinem Hause eine sehr schöne Aussicht. Wir fuhren diesen Abend mit ihm nach einer Pension (Boarding-School) von jungen Mädchen, wo Hr. Harris auch zwey Töchter hatte. Sie lernen hier auch tanzen, und hatten heute eine Art Ball, wo sie alle in Gegenwart ihrer Eltern, und andrer, die als Zuschauer hinkommen, tanzen. Es war ein allerliebster Anblick hier über 40 junge Mädchen, von acht bis sechzehn Jahren, wirklich mit vielem Anstand, unter sich, und alle gleich gekleidet, tanzen zu sehn. Nachher wurden ein Paar Tänze getanzt in die sich auch Herren mengten, und die ich auch mittanzte."]

Oft begegneten wir sonntags auf unseren kleinen Lustreisen in der Gegend bei London einem Zuge von dreißig bis vierzig jungen Mädchen, auf dem Fußpfade neben der Landstraße andächtig zur Kirche wandelnd. Es war ein lieblicher Anblick. Schneeweiß gekleidet, mit artigen Strohhüten, gingen sie paarweise hintereinander fort, einige in eben aufblühender jugendlicher Schönheit, andere frisch und rot in knospender Kindheit. Mehrere Aufseherinnen begleiteten sie, strenge wachend über jeden Tritt, jede Miene, damit ja kein Freudensprung, kein lautes Lachen ihnen auf dem ernsten Wege entschlüpfte. Zuweilen kam von der anderen Seite ein ähnlicher Zug Knaben daher, dem nämlichen Ziele zuwandelnd, begleitet von seinen Lehrern. Die Aufseher und Aufseherinnen und grüßten sich wohl als Bekannte, aber die Kinder schielten sich nur von der Seite ein wenig an und wandelten mit gezwungenem Ernst weiter. Es waren die Zöglinge aus irgendeiner der vielen Pensionen, welche jeden Sonntag zweimal feierlich zum Gottesdienste getrieben werden. Dörfer und Flecken ringsumher wimmeln von solchen Erziehungsanstalten, die alle gedeihen, da fast niemand seine Kinder zu Hause erzieht, wo sie zu viel Unordnung und Unruhe machen würden. Sowie Knaben und Mädchen aus der Kinderstube kommen, werden sie in jene Erziehungsanstalten gegeben und kehren erst nach ganz vollendeter Erziehung, beinahe erwachsen, in das väterliche Haus zurück.

Die Mädchen lernen in diesen Anstalten von allem etwas, aber wenig Gründliches. Man lehrt sie Geschichte und Geographie; dennoch weiß eine Engländerin selten, wie es außer ihrem Vaterlande aussieht und was dort in früheren Zeiten sich begeben hat. Auch in der französischen und italienischen Sprache erhalten sie Unterricht, aber dem Fremden, der nicht Englisch kann, ist damit nichts gebessert; schwerlich wird er in der Gesellschaft eine Dame finden, die ihm in einer fremden Sprache Rede stünde. Musik und Zeichnen wird sehr oberflächlich und gewöhnlich nur betrieben, um beides späterhin so bald als möglich wieder zu vergessen. Die Mädchen lernen sticken, Papierblumen machen, sie fabrizieren artige Papparbeiten, Kästchen von vergoldetem Papier, Vasen von Eierschalen, tausend zierliche Dinge; aber was man eigentlich für's Haus braucht, bleibt ihnen gewöhnlich unbekannt. Der Hauptzweck des größten Teils der Vorsteherinnen solcher Anstalten ist vor allen Dingen, einmal im Jahre mit ihren Zöglingen recht zu glänzen, wenn sich die Eltern und Verwandten derselben bei dem großen Prüfungsfeste versammeln. Mehrere Monate vor diesem Feste hört schon aller ernstliche Unterricht auf, alles wird angewendet, um die Kinder für den wichtigen Tag zu dressieren. Musikstücke werden ihnen eingelernt, die sie vor der entzückten Versammlung mechanisch ableiern sollen, Zeichnungen werden mit Hilfe des Lehrmeisters verfertigt und dergleichen mehr. Die Hauptsache aber bleibt, sie für den Ball, der abends gegeben wird, abzurichten, und der Tanzmeister kommt mehrere Wochen lang kaum aus dem Hause.

Eine Dame unserer Bekanntschaft, deren Töchter in dem nahe bei London gelegenen Flecken Southwark in Pension waren, führte uns zu solch einem Fest dahin. Die Vorsteherin des sehr großen Hauses empfing uns mit vieler Artigkeit. Wir wurden in einen großen Saal geführt, an dessen einem Ende die hocherfreuten Mütter und übrigen Verwandten der jungen Mädchen saßen; die Zöglinge selbst waren am entgegengesetzten Ende auf mehreren Reihen amphitheatralisch übereinander sich erhebender Bänke wie zur Schau ausgestellt. Auch gewährten sie einen sehr reizenden Anblick. Man denke sich fünfzig junge Mädchen von acht bis sechzehn Jahren, hübsch, in blühender Gesundheit, einfach, aber geschmackvoll in die Uniform des Hauses gekleidet, mit schneeweißen kurzen Kleidern und blauen Schuhen. Ein silbernes Netz um's Haar, eine silberne Schärpe um den Leib war ihr ganzer Putz; so saßen sie da, glühend vor rascher jugendlicher Erwartung und Freude.

Unter Anleitung des Tanzmeisters begann endlich der Ball. Die Mädchen tanzten unter sich lauter ganz bescheidenen Tänze; keinen Walzer, keinen Shawltanz, keine künstlichen Sprünge, sondern eine Art Menuette zu sechs bis acht Paaren, welche der Tanzmeister für sie eigens komponiert hatte und die wohl sonst nirgends in der Welt getanzt werden als in Pensionsanstalten wie dieser. Die geschickten Tänzerinnen hatten kleine Solos darin, um sich recht zu zeigen. Nach Endigung jedes Tanzes wurden sie von Müttern und Verwandten gelobt und geliebkost. Nur zwei arme kleine Holländerinnen standen traurig und unbemerkt in einer Ecke allein, niemand bekümmerte sich um die Fremden, die aus ihrem Vaterlande hierher zur Erziehung geschickt waren. Wir, Fremdlinge wie sie, fühlten uns ihnen verwandt, riefen sie zu uns, erzählten ihnen, daß wir unlängst aus ihrem Vaterlände kämen, und hatten bald den Trost, auch aus ihren kindlichen klaren Augen die Freude leuchten zu sehen. Als die auf die Länge etwas langweilige Paradetänze abgetan waren, kamen einige englische und schottische an die Reihe. Froh, des Zwangs entledigt zu sein, hüpften die lieblichen Kinder unbefangener umher, und einige junge anwesende Vettern und Brüder erhielten die Erlaubnis, sich mit ihnen herumzudrehen.

Mit stiller Rührung sahen wir ihre sorglose Freude. Tanzend bereiteten sich die holden Geschöpfe zu dem Leben, das sie jetzt, in dem Augenblick, da wir dies niederschrieben, schon längst mit seinem ganzen Ernste ergriffen hat. Erwartungsvoll blickten damals so viele helle Augen der Zukunft entgegen, als wäre auch sie ein Tanz der Freude; jetzt füllen sich diese Augen beim Andenken an jene unwiederbringlich hingeschwundenen Tage wahrscheinlich mit Tränen der Sehnsucht. Ahnend dachten wir damals ihrer Zukunft und verließen sie, noch mitten in der Freude, mit stillen Wünschen für die Zukunft.

 

Reiseberichte