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Liverpool

Diese Stadt, nächst London die größte und bedeutendste in England, steht dennoch, sowohl in Hinsicht der Schönheit als des Umfangs, weit hinter Edinburgh zurück. Aber Handel und Betriebsamkeit haben über Liverpool ihr Füllhorn ausgeschüttet, und Reichtum und Luxus glänzen dem beobachtenden Fremden überall entgegen.

Die reichen Kaufleute wenden ihren Überfluß auf eine sehr zweckmäßige Weise an, indem sie die an sich nicht schöne Stadt mit vielen neuen, prächtigen Gebäuden verzieren. Vier neue palastähnliche Kaffeehäuser, Newshouses, Neuigkeitshäuser hier genannt, sind seit kurzem durch Subskription erbaut; ein schönes Theater, ein Konzertsaal, ein großer Gasthof, viele mildtätige Anstalten, welche der Menschheit Ehre machen, verdanken den reichen Einwohnern ebenfalls ihr Dasein. Das prächtigste und kostbarste Werk ihrer vereinten Kräfte sind aber die Docks.

In diesen künstlichen Häfen liegen die Schiffe sicher und bequem, fast mitten in der Stadt zusammen, werden sogar da erbaut, ausgebessert, aus- und eingeladen, und überdies sind die Ladungen vor Dieben sichergestellt. Solche Docks kosten ungeheure Kräfte, um sie zustande zu bringen, sind aber auch für den Handel vom größten Nutzen.

Die Promenade längs ihren Ufern fanden wir nicht angenehm: das Gewühl, das Schreien, das Drängen und Stoßen ist betäubend, der Seegeruch unangenehm, aber der Anblick der offenen See über die Docks hinaus entschädigte uns; den am Ufer des Meeres Geborenen geht es damit wie den Bergbewohnern mit ihren Bergen. Wir sehnen uns, wenn wir es vermissen, und sein Wiedersehen erfreut wie das eines alten Freundes. Das Meer verschönert jede Gegend, ja die traurigste Sandsteppe erhält dadurch einen unbeschreiblichen Reiz. Das Brausen der Wellen tönt wie bekannte Stimmen aus unserem Jugendlande herüber, und wir horchen gern mit stiller Wehmut zu.

Wir haben schon bemerkt, daß Liverpool keine eigentlich schöne Stadt sei; auch die Umgebungen derselben zeichnen sich nicht vor anderen aus. Doch müssen wir die schönen Wohnungen verschiedener reicher Kaufleute erwähnen, die ganz nahe vor der Stadt, etwas abgesondert von dieser, auf einer mäßigen Anhöhe erbaut sind. Höchst elegant eingerichtet, vereinigen sie alle Vorteile des Land- und Stadtlebens auf die angenehmste Weise. Nur wird dieser Vorzug ihnen wohl nicht mehr lange bleiben, da sich die Stadt täglich vergrößert und man schon jetzt berechnen kann, daß im Verlauf von einigen Jahren jene Häuser mitten in ihr und in ihrem Gewühl liegen werden.

Der gesellschaftliche Ton ist in Liverpool vielleicht ein klein wenig leichter als in London; doch fehlt es hier wie dort an dem allgemeinen Interesse im Gespräch, welches die Fremden bald einheimisch macht. Sind die gewöhnlichen Redensarten, welche in diesem Lande immer von der allgemein angenommen Etikette herbeigeführt werden, abgetan, hat man über Wetter und Wohlbefinden sich ausgesprochen, so ist man in der Regel übel daran, wenn man von Handel und Politik nichts weiß oder nichts wissen will.

Die Männer dieser Stadt sind fast alle auf dem festen Lande gewesen, sie kennen fremde Sitten und Gebräuche; dies macht sie wenigstens toleranter gegen Ausländer. Die Frauen aber sind echte Engländerinnen im vollen Sinne des Worts, und im allgemeinen fehlt ihnen die höhere Bildung, die denn doch in einer großen Stadt wie London leichter zu erlangen ist als in einer Provinzstadt. Dafür haben sie sich tausend Bedürfnisse und Zierereien angeschafft, die ihren Reichtum und ihren guten Ton zugleich an den Tag legen sollen, dem daran nicht Gewöhnten aber höchst lästig und peinlich werden.

Die Liverpooler besitzen in hohem Grade die Tugend der Gastfreiheit, die dem Engländer in Städten sonst weder eigen ist noch seiner Einrichtung nach sein kann; daß aber die Langeweile an ihren wohlbesetzten Tischen auch hier gewöhnlich präsidiert, kann nicht geleugnet werden, wenigstens ist dies der Fall, bis die Damen aufbrechen und den Männern bei Wein und Politik freien Spielraum lassen.

In Liverpool, wie in ganz Lancashire, leben viele Quäker-Familien; doch sind sie hier sehr ausgeartet und schämen sich ihrer alten einfachen Sitte. Der neumodische Ton steht ihnen wunderlich; besonders benehmen sich die jungen Herren, welche Elegants sein wollen, ungemein link. Sie, deren Väter selbst vor dem Könige nicht den Hut abnahmen, grüßen jetzt, zum Beispiel auf der Promenade, fast jedermann, um zu zeigen, wie vorurteilsfrei sie sind; ungefähr wie elegante Juden, die, um ihre vorurteilsfreie Bildung an den Tag zu legen, sich an öffentlichen Orten mit Schinkenessen Indigestionen zuziehen. In einigen Läden fanden wir noch Quäkerinnen in der einfachen, sauberen Kleidung, die ihre Religion ihnen vorschreibt. Das "Du" klang in ihrem Munde so höflich und bescheiden, daß unser "Ihr" uns in dem Augenblicke recht lächerlich schien. Es handelt sich sehr gut mit ihnen; ihre Waren sind immer von vorzüglicher Güte, sie überteuern niemand, und kein Feilschen und Abdingen findet statt, das sie nur beleidigen würde.

Das Theater ist nicht groß, aber sehr elegant und bequem eingerichtet. Man hört überall im ganzen Hause vollkommen gut; die Erleuchtung ist vortrefflich, und die Dekorationen lassen nichts zu wünschen übrig. Wir besuchten hier die Vorstellungen einiger neuerer Schauspiele, welche wir schon in London gesehen hatten, und waren im Ganzen damit zufrieden, wenigstens mit den Schauspielern. Die Schauspielerinnen freilich scheinen sich einander das Wort gegeben zu haben, nicht über die beschränkteste Mittelmäßigkeit hinauszugehen.

Die Zuschauer waren weit weniger lärmend als in London; unter ihnen bemerkten wir im Parterre die beiden betrunkensten Menschen, die uns je vorgekommen sind. Beide, ganz elegant gekleidet, saßen leichenblaß, starr und steif nebeneinander, wie Tote, mit stieren, offenen Augen. Der eine fiel wie ein Stein vom Sitze herunter, der andere blieb, ohne es zu bemerken, steif sitzen. Einige Zuschauer im Parterre trugen sie hinaus, aber mit so zarter Schonung, mit so viel Teilnahme, daß man deutlich sah, jeder dachte im stillen: "Heute dir, morgen mir!"

Wir haben schon oben der vielen menschenfreundlichen Anstalten erwähnt, die hier der Wohltätigkeit und dem Reichtume der Einwohner ihr Dasein verdanken. Eine davon, für Blinde, besuchten wir mit Freude und Rührung. Der Fonds dieser Einrichtung ist noch nicht hinreichend, um ein Haus zu erbauen, welches geräumig genug wäre, daß all diese Unglücklichen darin wohnen können. Deshalb sind sie in der Stadt in Privathäusern eingemietet, aber sie versammeln sich alle Tage in dem für sie eingerichteten Gebäude, Asylum genannt; dort speisen sie zusammen, erhalten Unterricht in der Musik, in den Handarbeiten, die sie bei ihrem traurigen Zustande verrichten können, und bringen übrigens den Tag nach Gefallen miteinander zu. In zwei Zimmern stehen gute Pianoforten zu ihrem Gebrauch, im dritten eine Orgel. Als wir in letzteres traten, saß ein junger Blinder an der Orgel und akkompagnierte drei jungen Mädchen, seinen Unglücksgefährtinnen. Sie sangen dreistimmig eine rührende Klage, gemildert durch stille Ergebung und Hoffnung auf den Tag, der einst ihre lange Nacht erhellen wird. Ihre Stimmen waren angenehm und rein, sie bemerkten unseren Eintritt nicht und sangen ungestört fort; gerührt standen wir am Eingange des Zimmers still und hüteten uns wohl, sie zu unterbrechen.

Im Ganzen sind diese Blinden wie fast alle ihre Unglücksgenossen immer heiter und froh und gesprächig. In einem unteren Zimmer fanden wir eine Menge spinnender Weiber und Mädchen, Räder und Zungen schnurrten lustig um die Wette. In einem anderen Zimmer, wo sich Männer und Jünglinge mit Korbflechten beschäftigten, ging es nicht weniger munter her. Wir bewunderten die Feinheit und zierliche Form der Körbchen, sie flochten sogar Muster von grünen und roten Weiden hinein und wußten diese von den weißen durchs bloße Gefühl auf das genaueste zu unterscheiden.

Die Blinden machen auch sonst noch allerhand nützliche Arbeiten, welche unten im Hause in einem Laden zum Vorteile der Anstalt verkauft werden; sie weben, machen Seile, ja es gibt sogar Schuhmacher unter ihnen. Diese Anstalt gehört wohl zu den zweckmäßigsten und wohltätigsten ihrer Art. Entfernt von allen Scharlatanerien, strebt sie nur den Unglücklichen wirkliche Hilfe zu leisten, sie soweit möglich zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen und ihren einsamen dunklen Pfad zu erheitern durch Arbeit und Musik. Hier werden sie nicht mit tausend Kleinigkeiten gequält wie in anderen ähnlichen Anstalten, wo man das, was der Menschheit das Ehrwürdigste sein wollte, das Unglück, zum Zeitvertreib einer müßig gaffenden schauspiellustigen Menge herabwürdigt.

Am Tage, ehe wir Liverpool verließen, erscholl plötzlich von allen Türmen ein betäubendes Glockengeläute, welches eine ganze Stunde ununterbrochen fortwährte; die Glocken erklangen lustig bald die Oktave hinauf, bald herunter, bald Terzen, bald Quinten, die ganze Skala durch, nach Gusto der Künstler. Jeder von diesen Herren bimmelte nach Belieben der Nachbarschaft die Ohren voll, ohne sich an seine Kollegen zu kehren. Wir glaubten, es sei die Nachricht einer gewonnen Schlacht angekommen, oder der Geburtstag eines Mitglieds der königlichen Familie würde gefeiert oder wenigstens eine große, vornehme Hochzeit in der Stadt; denn auch an bloß häuslichen Freudentagen darf jeder Engländer mit allen Glocken läuten lassen, wenn er dafür bezahlen will. Aber nichts von alledem, sondern eine alte, vor mehr als hundert Jahren verstorbene Jungfer war die Ursache alles dieses Lärms. Diese hat in ihrem Testamente sämtlichen Liverpoolschen Künstlern eine gebratenen Hammelkeule mit Gurkensalat und dem dazugehörigen Porter für jeden Donnerstagabend das ganze Jahr hindurch auf ewige Zeiten vermacht. Sie verzehren dieses Gastmahl in Gesellschaft, müssen aber vorher mit ihren Glocken einen furchtbaren Lärm machen, der die Nachbarn der Kirchen in Verzweiflung bringt; alles zum Gedächtnis des Namens der Erblasserin, und es fragt sich, ob diese Erfindung, eine Art von Unsterblichkeit zu erhalten, nicht so gut und besser ist als manche andere.

Die Gegend hinter Liverpool fanden wir ebenso holländisch als die, durch welche wir hereinkamen. Das Land so flach als möglich, aber höchst kultiviert, durchschnitten von schiffbaren Kanälen. Über Warrington, ein sehr freundliches Städtchen, berühmt durch Glasfabriken aller Art, kamen wir zum zweiten Male nach Manchester, von dort auf sehr unebenem Wege nach Disley.

Die englischen Landstraßen werden mit Recht im Durchschnitt als höchst vortrefflich gepriesen. Aber in der Nähe großer Fabrikstädte, wo schwerbeladene Wagen und Karren den ganzen Tag darauf hin und her rollen, sind sie es weit weniger und müssen den Chausseen um Dresden, im Dessauischen, im Österreichischen und anderen in Deutschland den Vorrang einräumen.

Eine Unannehmlichkeit für fremde Reisende in England besteht darin, daß es sehr schwer wird, früh auszureisen. Bei aller Vortrefflichkeit der Gasthöfe ist es dennoch unmöglich, vor sieben Uhr morgens das Frühstück zu erhalten: der Wirt und seine ersten Bedienten schlafen bis spät in den Tag hinein; nur der Stiefelwichser ist zu jeder Stunde bereit, aber seine Macht erstreckt sich nicht weiter als höchstens zur Herbeischaffung der Pferde. Diese Beschwerde fühlt indessen nur der Fremde, namentlich der Deutsche: denn die Engländer sind in der Regel gewohnt, erst einige Stunden nach dem Aufstehen zu frühstücken und reisen immer eine oder ein paar Stationen, ehe sie ihren Tee mit geröstetem Butterbrote verlangen. In Disley, wo wir dem englischen Gebrauch gezwungen folgen wollten, fanden wir das Haus in so großer Unordnung und Unsauberkeit, daß es uns unmöglich war, den Wagen zu verlassen.

Unsere Reise fiel gerade in die Zeit der allgemeinen Bewaffnung der Nation gegen die gefürchtete Landung der berüchtigten Bateaux plats. Alt und jung spielte Soldaten; Comptoires, Werkstätten, Läden standen die Hälfte der Woche leer; jeder junge Mann suchte durch schöne Uniformen und Exerzieren bei heiterem Wetter im Angesichte der Damen seinen Mut an den Tag zu legen; bei Regenwetter gingen sie freilich wie die päpstlichen Soldaten mit Regenschirmen zur Parade.

Nach dem Exerzieren wurden in Gasthöfen bei großen gemeinschaftlichen Gastmählern die durch diese patriotische Anstrengung erschöpften Kräfte hinter der Flasche wieder ersetzt und die Nacht alsdann mit Tanz und Spiel vollends hingebracht. Diese Lebensweise galt damals durch ganz England, und die Chefs der darüber leerstehenden Comptoires und Fabriken wollten ob der großen Vaterlandsliebe der jungen Helden schier verzweifeln.

In Disley war eben diese Nacht solch ein patriotisches Fest gefeiert worden. Alles trug noch Spuren davon, welche, ziemlich abschreckend, dem Eintretenden auf alle Weise entgegenkamen. Hinter Disley war die Gegend zuerst recht freundlich, ganz englisch; alles grün, über und über. Dann gerieten wir wieder zwischen unfruchtbare hohe Felsen. Dürftig mit Heidekraut bewachsen, boten sie uns alles Unangenehme einer Gebirgsreise, ohne uns durch erhabenen Schönheit dafür zu entschädigen. Kurz vor Middleton kamen wir durch eine enge, zwischen Felsen von schönerer Form sich hinwindende Schlucht; dann ging es weiter über noch höhere und freudenlosere Berge bis Sheffield.

Dies ist eine große, aber nicht freundliche Manufakturstadt. Kohlendampf, üble Luft, unbeschreiblicher Schmutz wie in einer Schmiede überall. Die Straßen hallen wider von wildem, wüstem Geschrei und Gehämmer, alles hat ein grobes, unangenehmes Handwerksansehen. Es werden in Sheffield sehr viele und sehr schöne Stahl- und plattierte Waren verfertigt. Unseres Bleibens konnte aber dort nicht lange sein; nichts zog uns an, wir eilten fort und freuten uns in dem nicht weit entfernten Landsitze des Lord Fitzwilliam, Wentworth House, wieder einmal frische Luft zu schöpfen.

 

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