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Die St. Paulskirche
[Fußnote: ein barockes Meisterwerk, von Christopher Wren zwischen 1675 und 1710 erbaut in Form eines lateinischen Kreuzes, auf Anordnung Jakobs II. und gegen den Wunsch des Architekten, dessen Pläne ein griechisches Kreuz vorsahen. Dazu eine Anmerkung Johannas: "Man zeigt noch in St. Paul ein Modell von dem ersten Plan des Baumeisters Sir Christopher Wren. Die damaligen regierenden Zeloten verwarfen ihn wegen seines heidnischen Ansehens, und wählten dafür die jetzige Kreuzform." Die Behauptung Johannas, die Kirche wäre nach der Peterskirche in Rom die größte, ist irrig; die Kathedralen von Mailand, Sevilla und Florenz sind ebenfalls größer.]
Das Äußere von St. Paul ist durch Kupferstiche allbekannt. Leider übersieht man auf diesen das ungeheure Ganze besser als in der Wirklichkeit, in deren Umgebungen es nirgends einen guten Standpunkt dafür gibt. Diese Kirche, nach der Peterskirche in Rom die größte in Europa, liegt auf einem viel zu kleinen Kirchhof eingeklemmt zwischen Häusern, umgeben von engen Straßen. Auch im Innern findet sich keine Stelle, von der man sie ganz übersehen könnte, überall drängt sich die Architektur vor und verhindert eine reine Übersicht.
Mit allen diesen Fehlern macht dieses wunderbare große Gebäude dennoch einen imposanten Eindruck. Es scheint ganz leer, denn leicht übersieht man einige wenige Statuen und eine kleine, zum Gottesdienst eingerichtete Abteilung. Diese befindet sich in einem der Flügel, welche die Kreuzform bilden, in der die Kirche erbaut ist. Überall herrscht ehrfurchtgebietende, schauerliche Stille und Einsamkeit; nichts wird man von dem kleinlichen Geräte gewahr, welches die Menschen nötig zu haben glauben, um sich mit dessen Hilfe zur Gottheit zu erheben. Es ist ein Tempel im höchsten Sinne des Worts. Ein feierliches Grauen, eine Art Bangigkeit, die uns fast den Atem raubte, ergriff uns, als wir, mitten in der Kirche stehend, da hinauf blickten, wo beinahe unabsehbar der Dom sich wölbt, "ein zweiter Himmel in dem Himmel". Es war kein erhebendes, es war mehr ein beängstigendes Gefühl. Die wenigen Menschen um uns her schwanden fast vor unseren Blicken und machten durch ihre Kleinheit die gewaltige Größe dieser Steinmasse uns erst recht anschaulich.
Es wurde sehr schwer, sich von diesem ersten Eindrucke loszureißen. Solche Pygmäen waren es doch auch, dachten wir endlich, welche dies erstaunenswerte Werk durch vereinte Kraft emportürmten, und ein einziger unter ihnen bildete es vor in seinem Geiste, noch ehe es sich in die Lüfte erhob. Ja, er dachte es sich noch weit herrlicher, als es jetzt dasteht, er allein leitete die Kräfte der vielen Hunderte, die arbeiteten und sich abmühten und doch nicht deutlich wußten, was sie taten. Jetzt ruhen der Werkmeister und die Arbeiter; aber ihr Werk wird stehen, trotzend der mächtigen Zeit, in herrlichen Ruinen, wenn die ganze volkreiche Stadt längst eine Wüste ward wie Palmyra und Persepolis.
Beherzter blickten wir nun hinauf und wandelten in dem hohen Raume, in welchem unserer Tritte feierlich widerhallten; wie lauter Donner ertönte es durch das weite Gewölbe, als man oben auf der Galerie, die am Fuße des Doms rings um denselben hinläuft, eine Tür zuwarf. Wir stiegen hinauf zu dieser Galerie; wunderbar ist der Blick von dort hinab und hinauf. In der Höhe glaubt man eine zweite Kirche sich erheben zu sehen, so hoch ist noch immer von hier das Gewölbe des Doms. In der Tiefe scheint der aus großen schwarzen und weißen Marmorquadern zusammengesetzte Fußboden wie feines Mosaik. Die Galerie heißt die Flüstergalerie, Whispering Gallery, weil das an die Mauer gelegte Ohr auf einer Stelle derselben alles deutlich vernimmt, was auf der entgegengesetzten Seite ganz leise gegen die Wand gesprochen wird.
Von dieser Galerie stiegen wir noch weiter, bis außen, wo auf der höchsten Höhe des Doms sich die sogenannte Laterne erhebt. Wir betraten die ihren Fuß umgebende Galerie mit der Hoffnung, aber der Steinkohlenrauch der vielen Feueressen verbarg uns die Nähe und der dem englischen Himmel eigene nebelartige Duft die Ferne.
Ein Trupp Matrosen, den wir mit großem Geräusche heraufsteigen hörten, trieb uns hinunter.
Wie wir durch Ludgate Hill, eine dem Kirchhof zunächst gelegene sehr volkreiche Straße nach Hause gingen, sahen wir alle Fußgänger still stehen und ängstlich nach dem von unten sehr klein scheinenden Kreuze hinblicken, welches über einer Kugel oben auf der Laterne des Doms von St. Paul befestigt ist. Auch wir sahen natürlicherweise hin und bemerkten etwas oben am äußersten Ende des Kreuzes sich Bewegendes. Mit Hilfe eines Glases entdeckten wir endlich einen der Matrosen, die uns vorhin in der Kirche begegneten. Er machte sich das halsbrechende Vergnügen, auf dieser entsetzlichen Höhe allerhand gefährliche Stellungen anzunehmen, den Hut zu schwenken, auf einem Beine zu stehen, bloß um die Zuschauer unten in ängstliche Bewunderung zu versetzen. Ihm, der auf dem wilden Meere, oben im hohen schwankenden Mastkorbe, gewiß längst jede Idee von Schwindel verlernt hatte, mochte dieser doch immer unbewegliche Standpunkt trotz seiner Höhe wohl gar nicht gefährlich dünken, während uns andere beim bloßen Anblick banges Grausen ergriff.