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16. KAPITEL

Luftmangel

Also befanden wir uns in einem Kerker, über und unter uns und ringsum undurchdringliche Eiswände. Der Kanadier schlug fürchterlich mit der Faust auf den Tisch. Conseil schwieg. Ich sah dem Kapitän ins Angesicht; seine Züge waren, wie gewöhnlich, rührungslos. Er kreuzte die Arme, sann nach. Die ›Nautilus‹ war unbeweglich.

Der Kapitän ergriff das Wort:

»Meine Herren«, sagte er in ruhigem Ton, »in unserer jetzigen Lage gibt es zwei Arten zu sterben.«

Der unbegreifliche Mann sprach wie ein Professor der Mathematik, der einen Satz demonstriert.

»Erstens«, fuhr er fort, »den Tod des Erdrückens und zweitens den des Erstickens. Vom Hungertod rede ich nicht, denn unsere Lebensmittel reichen gewiss weiter aus als unser Leben.«

»Ein Ersticken, Kapitän«, erwiderte ich, »ist doch wohl nicht zu besorgen, denn unsere Behälter sind gefüllt.«

»Richtig«, versetzte Kapitän Nemo, »aber sie liefern nur noch für 2 Tage unseren Bedarf an Luft. Bereits sind wir 36 Stunden unter Wasser, und die schwüle Atmosphäre der ›Nautilus‹ bedarf der Erneuerung, binnen 48 Stunden wird unser Vorrat zu Ende sein.«

»Nun, Kapitän, so müssen wir uns vor Ablauf von 48 Stunden frei machen!«

»Wenigstens wollen wir einen Versuch machen, die uns umgebende Wand zu durchbrechen.«

»Auf welcher Seite?« fragte ich.

»Das müssen wir erst durch Sondieren erfahren. Ich will die

›Nautilus‹ auf die innere Bank aufsitzen lassen, und meine Leute werden in ihren Skaphandern die Eishülle an der mindest dicken Stelle durchhauen.«

»Kann man die Läden des Salons öffnen?«

»Ohne Nachteil. Wir sind nicht mehr in Bewegung.«

Der Kapitän ging hinaus. Bald gab ein Rauschen zu erkennen,

dass das Wasser in die Behälter strömte. Die ›Nautilus‹ senkte sich langsam und saß auf dem Eisgrund in einer Tiefe von 350 Metern.

»Meine Freunde«, sagte ich, »unsere Lage ist ernst, aber ich zähle auf Ihren Mut und Ihre Energie.«

»Mein Herr«, erwiderte der Kanadier, »jetzt ist es nicht Zeit zu Beschuldigungen. Ich werde alles tun für das allgemeine Beste.«

»Gut, Ned«, sagte ich, »und reichte dem Kanadier die Hand.

»Ich verstehe«, fuhr er fort, »die Hacke so gut zu führen wie die Harpune, und wenn ich nützlich sein kann, stehe ich dem Kapitän zu Diensten.«

»Er wird Ihren Beistand nicht ablehnen. Kommen Sie, Ned.«

Ich führte den Kanadier in die Kammer, wo die Leute der ›Nautilus‹ ihre Skaphander anlegten. Ich teilte dem Kapitän Neds Anerbieten mit, und es wurde angenommen.

Der Kanadier legte seine Meerkleidung an und war augenblicklich zur Arbeit bereit. Jeder von ihnen trug auf dem Rücken seinen Rouquayrolapparat, der aus den Behältern reichlich mit reiner Luft gefüllt war.

Es war das ein ansehnliches, aber notwendiges Darlehen. Die Ruhmkorffschen Leuchten waren nicht nötig, weil das Wasser genug erhellt war.

Als Ned angekleidet war, begab ich mich in den Salon zurück, nahm mit Conseil Platz vor den Fenstern, deren Läden geöffnet wurden, und besah die umgebenden Schichten, worauf die ›Nautilus‹ ruhte.

Gleich darauf sahen wir ein Dutzend Mann auf der Eisbank sich aufstellen, unter ihnen Ned, der durch seinen hohen Wuchs kenntlich war. Kapitän Nemo befand sich auch bei ihnen.

Bevor man zum Durchhauen schritt, musste man sondieren, um gewiss zu sein, wo die Arbeiten am besten vorzunehmen waren.

Lange Sonden wurden an den Seitenwänden hinabgelassen; aber bei 15 Meter wurden sie noch durch die dicke Wand aufgehalten.

Nach unten waren wir 10 Meter vom Wasser geschieden; so dick war dieses Eisfeld. Demnach handelte sich’s darum, ein Stück von der Größe der ›Nautilus‹ an seiner Wasserlinie auszuhauen. Es be

trug ungefähr 6.500 Kubikmeter für ein Loch, wodurch wir unter das Eis gelangen konnten.

Die Arbeit wurde unverzüglich in Angriff genommen und mit unermüdlicher Ausdauer gefördert. Der Kapitän ließ auf der linken Seite der ›Nautilus‹ 8 Meter weit eine Grube abstecken. Darauf bohrten seine Leute an verschiedenen Punkten ihres Umfangs zu

gleicher Zeit sie an. Bald griff die Hacke diese feste Masse kräftig an, und große Blöcke wurden abgelöst.

Die spezifische Schwere ergab den merkwürdigen Erfolg, dass diese Blöcke, weil sie leichter als das Wasser waren, zur Decke des Tunnels sozusagen emporflogen, sodass diese um so viel an Dicke zunahm, als der Boden dünner wurde.

Nach 2 Stunden rüstiger Arbeit kehrte Ned Land erschöpft zurück und wurde von frischen Arbeitern abgelöst, zu denen wir, Conseil und ich, uns gesellten. Der Schiffslieutenant der ›Nautilus‹

leitete uns an.

Das Wasser kam mir ausnehmend kalt vor, aber ich wurde bald durch Schwingen der Hacke warm. Meine Bewegungen, obwohl unter einem Druck von 30 Atmosphären, waren sehr frei.

Als ich nach 2stündiger Arbeit zurückkehrte, um auszuruhen und einige Nahrung zu mir zu nehmen, fand ich einen bedeutenden Unterschied zwischen dem reinen Stoff, den mir der Rouquayrolapparat zuführte, und der Atmosphäre der ›Nautilus‹, die schon voll Kohlensäure war. Die Luft war seit 48 Stunden nicht erneuert worden, und ihre belebenden Eigenschaften waren beträchtlich schwächer. Doch hatten wir nach Verlauf von 12 Stunden nicht mehr als eine Schicht von der Dicke eines Meters weggeschafft, das machte etwa 600 Kubikmeter. Nahmen wir an, dass in den folgenden 12 Stunden das gleiche geleistet wurde, so bedurfte es noch 5 Nächte und 4 Tage, um das Unternehmen zum Ziel zu führen.

»5 Nächte und 4 Tage!« sagte ich zu meinen Gefährten, und wir haben nur noch für 2 Tage Luft in den Behältern.«

»Ohne zu rechnen«, versetzte Ned, »dass wir, wenn wir einmal aus diesem verdammten Kerker heraus sind, dann doch noch unter der Eisdecke stecken ohne eine mögliche Verbindung mit der Atmosphäre!«

Die Bemerkung war richtig. Wer konnte damals berechnen, wie viel Zeit bis zu unserer Befreiung mindestens erforderlich war?

Mussten wir nicht alle ersticken, bevor die ›Nautilus‹ wieder an die Oberfläche des Wassers kommen konnte? Sollte sie das Los haben, samt allen, die sie in sich fasste, in dieser Eisgruft zugrunde zu ge

hen? Schreckliche Lage. Aber alle sahen der Gefahr ins Angesicht, entschlossen, bis zum letzten Augenblick ihre Schuldigkeit zu tun.

Während der Nacht wurde, meiner Berechnung gemäß, abermals eine Schicht von einem Meter fortgeschafft. Aber, als ich am Morgen in meinem Skaphanderkleide bei einer Temperatur von 6 bis 7 Grad unter Null durch die flüssige Masse schritt, bemerkte ich, dass die Seitenwände sich allmählich annäherten. Die von unserem Graben entfernten Wasserschichten, die nicht durch die Arbeit und die Werkzeuge in Bewegung gesetzt wurden, zeigten ein Bestreben festzufrieren. Was konnten wir bei dieser neuen und dringenden Gefahr für Aussicht auf Rettung haben, und wie konnten wir das Einfrieren vermeiden, wodurch die Wände der ›Nautilus‹ wie Glas zersprengt würden?

Ich ließ meine beiden Gefährten von dieser neuen Gefahr nichts merken, um nicht ihre für die Rettungsarbeit nötige Tatkraft herabzustimmen. Aber als ich an Bord zurückkam, bemerkte ich Kapitän Nemo den ernsten Fall.

»Ich weiß es«, sagte er mit derselben Kaltblütigkeit, die unter den fürchterlichsten Umständen keine Änderung erlitt. »Es ist eine weitere Gefahr, ich sehe aber keine Mittel, sie abzuwenden. Die einzige Aussicht auf Rettung besteht darin, dass man dem Festfrieren zuvorkommt. Das ist alles.«

Zuvorkommen! An solche Art zu reden hätte ich gewöhnt sein müssen!

An diesem Tag führte ich einige Stunden lang die Hacke mit hartnäckiger Ausdauer. Diese Arbeit hielt mich aufrecht. Zudem war man bei dieser Arbeit nicht in der verdorbenen Luft der ›Nautilus‹ und atmete direkt die reine Luft, die den Apparaten aus den Behältern geliefert wurde.

Gegen Abend war unser Graben abermals um einen Meter tiefer geworden. Als ich wieder an Bord kam, war ich durch die Kohlensäure, womit die Luft gesättigt war, dem Ersticken nah. Ach! wie mussten wir die chemischen Mittel vermissen, wodurch man das verdorbene Gas entfernen kann! An Sauerstoff hatten wir keinen Mangel, und wir konnten ihn durch unsere Voltaischen Säulen aus dem Wasser durch Zersetzung gewinnen. Aber wozu half es, da

die durch unser Atmen erzeugte Kohlensäure alle Teile des Schiffs durchdrungen hatte. Um sie fortzuschaffen, hätte man Gefäße mit kaustischem Kali füllen und beständig rütteln müssen. Dieser Stoff, der durch sonst nichts zu ersetzen war, fehlte aber an Bord.

Diesen Abend musste Kapitän Nemo die Hähne seiner Luftbehälter öffnen und einige Ströme reiner Luft in die ›Nautilus‹

hineinlassen. Ohne diese Vorsorge wären wir nicht wieder aufgewacht.

Am folgenden Tag, dem 26. März, setzte ich meine Grubenarbeit mit dem 5. Meter fort. Die Seitenwände und die innere Fläche der Eisdecke wurden sichtbar dicker. Es war unverkennbar, dass sie zusammengefrieren würden, ehe die ›Nautilus‹ frei sein konnte.

Mutlosigkeit befiel mich einen Augenblick, und die Hacke entfiel meinen Händen. Wozu das Graben, wenn wir ersticken, wenn wir durch das zu Stein gefrierende Wasser zerdrückt werden mussten.

In diesem Augenblick kam Kapitän Nemo, der die Arbeit leitete und selbst Hand anlegte, in meine Nähe. Ich rührte ihn mit der Hand an, und zeigte auf die Wände unseres Kerkers, dessen linke Wand sich nun der ›Nautilus‹ fast 4 Meter genähert hatte.

Der Kapitän verstand mich und winkte mir, ihm zu folgen. Wir begaben uns an Bord; ich legte meinen Skaphander ab und begleitete ihn in den Salon.

»Herr Arronax«, sagte er zu mir, »wir müssen irgendein heroisches Mittel versuchen, sonst werden wir in diesem gefrierenden Wasser wie von Kitt umgossen.«

»Ja!« sagte ich, »aber was anfangen?«

»Ach! Wäre doch meine ›Nautilus‹ stark genug, um diesen Druck auszuhalten, ohne erdrückt zu werden!«

»Nun?« fragte ich, da ich die Idee des Kapitäns nicht begriff.

»Begreifen Sie nicht«, fuhr er fort, »dass dieses Gefrieren des Wassers uns dann zum Beistand käme! Sehen Sie nicht, dass es durch sein Gefrieren die Eisfelder, die uns gefangenhalten, zersprengen würde, wie es beim Gefrieren die härtesten Steine zersprengt! Merken Sie nicht, dass es so anstatt ein Mittel der Zerstörung, ein Mittel der Rettung sein würde!«

»Ja! Kapitän, vielleicht. Aber so groß auch die Widerstandskraft der ›Nautilus‹ gegen Eindrückung sein mag – diesen fürchterlichen Druck würde sie nicht aushalten können und so platt werden wie ein Stück Blech.«

»Ich weiß es, mein Herr. Man muss also nicht auf den Beistand der Natur rechnen, sondern nur auf uns selbst. Man muss dem Festgefrieren einen Widerstand entgegensetzen; man muss es hemmen.

Nicht allein die Seitenwände verengen sich, es bleiben der ›Nautilus‹ vorn und hinten keine 10 Fuß Wasser. Das Einfrieren wird von allen Seiten zu uns herankommen.«

»Wie viel Zeit«, fragte ich, »wird die Luft der Behälter uns noch das Atmen an Bord gestatten?«

Der Kapitän sah mir ins Gesicht.

»Übermorgen«, sagte er, »werden die Behälter leer sein.«

Ein kalter Schweiß befiel mich. Und doch war diese Antwort nicht zum Erstaunen. Am 22. März war die ›Nautilus‹ im freien Meer untergetaucht. Jetzt hatten wir den 26. Seit 5 Tagen also lebten wir von dem Vorrat an Bord! Und den Rest von atmungsfähiger Luft musste man für die Arbeiter aufsparen. Im Augenblick, da ich dieses schreibe, befällt noch beim Gedanken daran ein unwillkürlicher Schrecken mein ganzes Wesen.

Doch der Kapitän sann nach, schweigend, unbeweglich. Man sah, eine Idee fuhr ihm durch den Kopf. Aber er schien sie abzuweisen. Er antwortete sich mit Nein. Endlich entfuhren seinen Lippen die Worte:

»Siedend Wasser!«

»Siedend Wasser?« rief ich.

»Ja, mein Herr. Wir sind in einem verhältnismäßig engen Raum eingeschlossen. Würden denn nicht siedende Wasserstrahlen, welche die Pumpen der ›Nautilus‹ beständig ausströmten, die Temperatur darin erhöhen und so das Gefrieren verzögern?«

»Man muss es versuchen«, sagte ich entschlossen.

»So machen wir einen Versuch, Herr Professor.«

Das Thermometer gab damals außen 7 Grad unter Null an. Kapitän Nemo führte mich in die Küchen, wo ungeheure Destillationsapparate in Tätigkeit waren, um durch Verdunstung trinkbares Wasser zu bereiten. Sie wurden mit Wasser gefüllt, und die ganze Hitze der elektrischen Säulen wurde durch die Serpentinen getrieben. In einigen Minuten hatte dieses Wasser 100 Grad Hitze erreicht. Es wurde zu den Pumpen geleitet, während es durch frisches Wasser nach Verhältnis ersetzt wurde. Die elektrischen Säulen entwickelten eine solche Hitze, dass das aus dem Meer geschöpfte

kalte Wasser nur den Apparat zu durchlaufen hatte, um siedend in die Pumpen zu gelangen.

Die Arbeit der Pumpen begann, und nach 3 Stunden zeigte das Thermometer außen 6 Grad unter Null; 2 Stunden später nur noch 4.

»Es wird gelingen«, sagte ich zum Kapitän, nachdem ich den Fortgang der Operation genau beobachtet hatte.

»Ich denke wohl«, erwiderte er, »wir werden nicht erdrückt werden. Nur das Ersticken ist noch zu fürchten.«

Während der Nacht stieg die Temperatur des Wassers auf einen Grad unter Null; eine höhere ließ sich nicht erzielen. Aber da das Gefrieren des Wassers nur bei 2 Grad vorgeht, so war ich endlich sicher, dass wir nicht einfrieren würden.

Am folgenden Tag, dem 27. März, waren 6 Meter Eis herausgeschafft; 4 blieben noch übrig. Das kostete noch 48 Stunden Arbeit.

Die Luft im Innern der ›Nautilus‹ ließ sich nicht mehr erneuern; sie wurde diesen Tag über fortwährend übler.

Es drückte mich eine unerträgliche Schwere. Gegen 3 Uhr nachmittags wurde dies Gefühl der Beklemmung aufs Höchste gesteigert. Die Kinnladen wurden mir durch Gähnen verrenkt. Meine Lungen keuchten, indem sie das zum Atmen nötige Luftbestandteil suchten, das immer spärlicher wurde. Eine moralische Erstarrung befiel mich; ich lag da ohne Kraft, fast ohne Besinnung. Mein wackerer Conseil, der dasselbe zu leiden hatte, wich nicht von meiner Seite. Er fasste meine Hand, suchte mich zu ermutigen, und ich hörte ihn noch murmeln:

»Ach könnte ich doch zu atmen aufhören, um meinem Herrn mehr Luft zu lassen!«

Tränen traten mir in die Augen, als ich das hörte.

Da diese schlimme Lage für uns alle unerträglich war, so legte man mit hastiger Freude das Skaphanderkleid an, um zu arbeiten.

Die Arme ermüdeten, die Hände wurden wund, aber man achtete diese Beschwerden nicht. Hatte man doch Lebensluft für die Lungen! Man konnte atmen!

Und doch blieb niemand länger als die ihm bestimmte Zeit bei der Arbeit. Jeder trat seinem keuchenden Genossen, der ihn ablöste, den Leben spendenden Ranzen ab. Kapitän Nemo ging mit dem Beispiel voran, unterwarf sich zuerst der strengen Ordnung.

Kam die Stunde der Ablösung, so übergab er seinen Apparat und kehrte in die verdorbene Atmosphäre zurück, stets ruhig, ohne Schwäche, ohne Murren.

An diesem Tag wurde die gewöhnliche Arbeit noch mit mehr Kraft fortgeführt. Es waren nur noch 2 Meter auf der ganzen Oberfläche fortzuschaffen; dann befanden wir uns im freien Meer. Aber die Luftbehälter waren beinah leer; der kleine Rest musste für die Arbeiter aufgehoben werden.

An Bord zurückgekehrt, war ich dem Ersticken nah. Welche Nacht! Solche Leiden lassen sich nicht schildern. Am folgenden Morgen war mein Atmen unterdrückt; betäubender Schwindel machte mich einem Trunkenen gleich. Meine Gefährten hatten gleiches zu erleiden. Einige Mann röchelten.

Nun, am 6. Tag unserer Einsperrung, beschloss Kapitän Nemo, da die Arbeit der Hacke und Schaufel zu langsam war, die Eisschicht, die uns noch von dem Wasser trennte, zu zerdrücken. Dieser Mann bewahrte seine Kaltblütigkeit und Tatkraft, überwand durch moralische Stärke die physischen Schmerzen. Er dachte, handelte.

Auf seinen Befehl wurde das Fahrzeug leichter gemacht, d.h.

durch Minderung seines spezifischen Gewichts von seinem Eisboden emporgehoben. Als es flott war, zog man es über die ungeheure Grube, die ausgehauen wurde. Darauf wurden seine Wasserbehälter gefüllt, dass es wieder abwärtsging und in die Grube sich einsenkte.

Jetzt begab sich die gesamte Mannschaft wieder an Bord, die doppelte Verkehrspforte wurde geschlossen. Die ›Nautilus‹ lag auf der nur noch einen Meter dicken Eisschicht, die an unzähligen Stellen von der Sonde durchbohrt war. Die Hähne der Behälter wurden weit geöffnet, und 100 Kubikmeter Wasser stürzten ein und erhöhten das Gewicht der ›Nautilus‹ um 100.000 Kilogramm.

Wir warteten, horchten, vergaßen unsere Leiden, stets hoffend.

Ein letzter Wurf im Spiel um unsere Rettung.

Trotz dem Summen in meinem Kopf hörte ich bald ein Dröhnen unter dem Rumpf der ›Nautilus‹. Das Niveau legte sich tie

fer. Das Eis krachte gewaltig, und wie Papier zerreißt, wurde die Schicht von der herabsinkenden ›Nautilus‹ zersprengt.

»Wir dringen durch!« murmelte Conseil in mein Ohr.

Unfähig zu antworten, ergriff ich seine Hand und drückte sie unwillkürlich krampfhaft.

Mit einem Mal sank die ›Nautilus‹ infolge ihres bedeutend verstärkten Gewichts wie eine Kugel in die Tiefe hinab!

Nun wurde die elektrische Kraft den Pumpen zugewendet, die alsbald das Wasser aus den Behältern trieben. Nach einigen Minuten war unser jähes Hinabsinken gehemmt; bald zeigte das Manometer eine aufsteigende Bewegung, und die Schraube trieb uns mit höchster Geschwindigkeit dem Norden zu.

Doch wie lange sollte die Fahrt unter der Eisdecke noch dauern? Einen Tag noch? Das hätte ich nicht mehr erlebt!

Auf einem Diwan der Bibliothek liegend, war ich am Ersticken.

Mein Angesicht war violett, meine Lippen blau, meine Geisteskräfte gelähmt. Ich hörte, sah nicht mehr. Der Zeitbegriff war mir geschwunden. Meine Muskeln konnten sich nicht zusammenziehen.Wie viele Stunden so verflossen, weiß ich nicht anzugeben. Aber ich hatte das Bewusstsein des beginnenden Todeskampfs.

Plötzlich kam ich wieder zu mir. Einige Tropfen Luft drangen in meine Lungen. Waren wir bereits an der Oberfläche? Waren wir aus der Versperrung heraus?

Nein! Meine wackeren Freunde, Ned und Conseil, opferten sich, um mich zu retten. Es waren einige Restchen Luft in einem Apparat geblieben, die sie, anstatt selbst einzuatmen, für mich aufgehoben hatten, und träufelten mir, während sie selbst dem Ersticken sich näherten, das Leben tropfenweise ein! Ich wollte den Apparat zurückschieben; sie hielten mir die Hände, und ich schlürfte mit Lust den Atem.

Meine Blicke fielen auf die Uhr. Es war 11 Uhr vormittags; es musste der 28. März sein. Die ›Nautilus‹ fuhr mit der schrecklichen Geschwindigkeit von 40 Meilen in der Stunde.

Wo befand sich Kapitän Nemo? War er gestorben? Waren seine Genossen mit ihm erlegen?

In dem Augenblick zeigte das Manometer, dass wir nur noch 20 Fuß von der Oberfläche waren. Bloß ein Eisfeld trennte uns noch von der Atmosphäre. War es nicht möglich, dieses zu zertrümmern?

Vielleicht! Jedenfalls sollte die ›Nautilus‹ den Versuch machen.

Wirklich fühlte ich, dass sie eine schiefe Lage annahm, das Hinterteil gesenkt, den Schnabel aufwärts. Um ihr Gleichgewicht zu ändern, hatte ein Einführen von Wasser genügt. Darauf mit voller Dampfkraft getrieben, griff sie die Eisdecke wie ein furchtbarer Widder von unten an. Sie brachte sie allmählich zum Bersten, zog sich zurück und schoss mit größter Schnelligkeit wieder dagegen, zersprengte sie und gelangte durch einen letzten, mit äußerstem Ungestüm geführten Stoß auf die Oberfläche des Eises, das sie mit ihrem Gewicht zerdrückte.

Die Luke wurde geöffnet, sozusagen gesprengt, und die reine Luft drang nun in alle Räume der ›Nautilus‹.

 

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