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16. KAPITEL
Spaziergang im Freien
Diese Zelle war eigentlich Arsenal und Kleiderkammer der ›Nautilus‹. Ein Dutzend Skaphanderapparate, die an der Wand hingen, harrten der Spaziergänger.
Als Ned Land sie erblickte, zeigte er einen offenbaren Widerwillen, einen solchen anzuziehen.
»Mein wackerer Ned«, sagte ich zu ihm, »die Wälder der Insel Crespo sind ja nur unterseeische Wälder.«
»Gut!« sagte der Harpunier enttäuscht, da er seine Träume von frischem Fleisch schwinden sah. »Und Sie, Herr Arronax, wollen sich in diese Kleider stecken?«
»Man muss wohl, Meister Ned.«
»Es steht Ihnen frei, mein Herr«, erwiderte der Harpunier mit Achselzucken, »aber ich meinesteils ziehe sie niemals an, wofern man mich nicht mit Gewalt dazu zwingt.«
»Man wird Sie nicht mit Gewalt nötigen, Meister Ned«, sagte Kapitän Nemo.
»Und Conseil will sich in Gefahr begeben?« fragte Ned.
»Ich bin überall dabei, wo mein Herr hingeht«, erwiderte Conseil.Der Kapitän rief, und zwei Mann von den Schiffsleuten kamen und halfen uns diese schweren undurchdringlichen Kleider anziehen, die aus Kautschuk gefertigt und derart eingerichtet waren, dass sie bedeutenden Druck aushielten. Es war eine Rüstung, geschmeidig und widerstandsfähig zugleich; Hosen und Weste; jene endigten mit einer dichten Fußbekleidung, die mit schweren Bleisohlen besetzt war. Der Stoff der Weste war durch Kupferplättchen geschützt, die der Brust zum Panzer dienten, um den Druck des Wassers auszuhalten und den Lungen ihre freie Tätigkeit zu sichern.
Die Ärmel endigten mit geschmeidigen Handschuhen, welche die Handbewegung durchaus nicht hinderten.
Man sieht, sie waren sehr verschieden von den unförmlichen Skaphandern, die im 18. Jahrhundert erfunden und angepriesen wurden.
Kapitän Nemo, einer seiner Gefährten – eine herkulische Gestalt von außerordentlicher Körperkraft – Conseil und ich zogen rasch die Kleidung an. Es handelte sich nur darum, unsere Köpfe in die metallenen Kugeln zu stecken. Aber bevor wir dazu schritten, bat ich den Kapitän um die Erlaubnis, die für uns bestimmten Gewehre zu untersuchen.
Einer von der Mannschaft der ›Nautilus‹ reichte mir eine einfache Flinte, deren stählerner Kolben innen hohl und ziemlich groß war. Er diente als Behälter der zusammengepressten Luft, die durch eine Klappe mit einer Feder in den metallenen Lauf gelassen wurde. In dem dicken Teil des Kolbens war eine kleine Büchse, die etwa 20 elektrische Kugeln fasste, die vermittels einer Sprungfeder automatisch in den Gewehrlauf gelangten. Sobald ein Schuss losgegangen, war auch schon der folgende zum Abschießen fertig.
»Kapitän Nemo«, sagte ich, »das Gewehr ist vortrefflich und leicht zu handhaben. Ich wünsche nur, es zu probieren. Aber wie gelangen wir auf den Meeresgrund.«
»In diesem Augenblick, Herr Professor, sitzt die ›Nautilus‹ in einer Tiefe von 6 Meter fest, und wir brauchen uns nur auf den Weg zu machen.«
»Aber wie gelangen wir hinaus?«
»Sie werden’s gleich sehen.«
Kapitän Nemo steckte seinen Kopf in die kugelförmige Kappe.
Conseil und ich taten dasselbe, während der Kanadier uns ironisch
»Glück zu der Jagd« wünschte. Unsere Kleidung endigte oben in ein kupfernes, schraubenartig ausgebohrtes Halsband, worauf der metallene Helm eingeschraubt wurde. Drei mit dicken Gläsern versehene Löcher gestatteten nach allen Richtungen zu sehen, indem man nur in der Kugel den Kopf zu drehen hatte. Sobald er aufgesetzt war, fingen die auf unseren Rücken befestigten Apparate Rouquayrol ihre Tätigkeit an, und ich für meinen Teil atmete leicht.
Die Ruhmkorffsche Lampe an meinem Gürtel, das Gewehr in der Hand, war ich fertig zum Fortgehen. Aber von dieser schweren Kleidung umschlossen und mit meinen bleiernen Sohlen an den Boden geheftet, wäre mir’s unmöglich gewesen, nur einen Schritt zu machen.
Doch war dieser Fall vorgesehen; denn ich fühlte, dass man mich in eine kleine neben dem Kleidergemach befindliche Kammer schob. Meine Begleiter folgten, in gleicher Weise bugsiert, mir nach. Ich hörte, wie eine Tür mit festgefugtem Verschluss über uns zugemacht wurde, und tiefes Dunkel umgab uns.
Nach einigen Minuten hörte ich ein lebhaftes Zischen und fühlte eine gewisse Kälte von den Füßen zur Brust aufsteigen. Offenbar hatte man vom Innern des Schiffs aus mit einem Hahn das äußere Wasser eingelassen, sodass es uns umgab und die ganze Kammer füllte. Darauf öffnete sich eine zweite Tür in der Seitenwand der ›Nautilus‹, ein Dämmerlicht umgab uns. Gleich darauf fühlten wir den Meeresgrund unter den Füßen.
Welchen Eindruck dieser Spaziergang in diesen Tiefen auf mich machte, könnte ich unmöglich schildern. Solche Wunder zu erzählen mangelt der Ausdruck. Weder Pinsel noch Feder reichen aus, die diesem Element eigentümlichen Erscheinungen darzustellen.
Kapitän Nemo schritt voran und sein Genosse einige Schritte hinter uns. Conseil und ich blieben dicht beisammen, als hätten wir durch diese metallene Bepanzerung miteinander reden können. Die Schwere meiner Kleidung war mir schon nicht mehr fühlbar; weder meine Fußbekleidung noch mein Luftbehälter, noch die schwere Kugel, innerhalb welcher mein Kopf wie ein Mandelkern in seiner Schale schlotterte, machten mir Beschwerden. Alle diese Gegenstände verloren, ins Wasser getaucht, ebenso viel von ihrem Gewicht, als das von ihnen verdrängte Wasser hatte, und ich empfand die Wohltat dieses von Archimedes entdeckten Naturgesetzes.
Nicht mehr eine träge Masse, hatte ich eine verhältnismäßig große Freiheit der Bewegung.
Ich staunte über die Stärke des Lichts, das bis auf 30 Fuß unter dem Meeresspiegel den Boden erhellte. Die Sonnenstrahlen drangen leicht durch diese Wassermasse, die dadurch ihre Fär
bung verlor. Ich konnte die Gegenstände in einer Entfernung von 100 Metern klar unterscheiden. Weiter hinaus schattierte sich die Grundfarbe in feinen Lasurnuancen, dann in der Ferne hellblau und verschwand zuletzt in unbestimmtem Dunkel. Wahrhaftig, dieses Wasser um mich herum war zwar dichter als die Atmosphäre der Erde, aber fast ebenso durchsichtig. Über mir bemerkte ich die Oberfläche des Meeres ganz ruhig.
Wir schritten über feinen Sand ohne Runzeln, wie an den Meeresküsten der Fall ist, wo Spuren der hohen See zurückbleiben.
Diese blendende Fläche warf, wie ein Reflektor, die Sonnenstrahlen mit auffallender Stärke zurück. Daher der ungeheure Widerschein, der alle Elementarteile durchdrang. Wird man mir glauben, wenn ich behaupte, dass ich in dieser Tiefe von 30 Fuß wie am hellen Tag sehen konnte?
Eine Viertelstunde lang ging ich auf diesem heißen Sand, der mit unbetastbarem Muschelstaub besät war. Die ›Nautilus‹, die wie eine lange Klippe aussah, verschwand allmählich aus den Augen, aber sein Leuchtfeuer musste, wenn in den Gewässern die Nacht eintrat, unsere Rückkehr an Bord erleichtern, indem seine Strahlen vollkommen klar sichtbar waren. Auf dem Land, wo die Luft mit Staub durchdrungen ist, scheint dieses Licht düster, wie vom Nebel getrübt; aber auf dem Meer, wie unter dem Meer, pflanzen sich die elektrischen Lichtstreifen mit unvergleichlicher Reinheit weiter.
Inzwischen gingen wir immer fort, und die ungeheure Sandfläche schien ohne Grenzen zu sein. Ich schob mit der Hand die Wassergardinen zurück, die hinter mir wieder zusammenfielen, und der Druck des Wassers verwischte augenblicklich meine Fußstapfen.
Bald zeigten sich vor meinen Blicken, aus der Ferne in verwischten Umrissen, einige Gegenstände. Ich erkannte prächtige Musterstücke von Felsen, mit Pflanzentieren der schönsten Sorte wie mit einem Teppich bedeckt, sodass ich im ersten Augenblick ganz betroffen war von dem außerordentlichen Anblick.
Es war damals 10 Uhr vormittags. Die Sonnenstrahlen fielen in ziemlich schiefem Winkel auf die Oberfläche des Meeres, und da ihr Licht durch Brechung wie durch ein Prisma sich zerteilte, so
erschienen Blumen, Felsen, Pflänzchen, Muschelwerk, Polypen am Rand mit den sieben Regenbogenfarben geziert. Es war wundervoll zu schauen, eine wahre Augenweide, diese kaleidoskopartige Mischung von Farbentönen, grüngelb, orange, violett, indigo, hellblau!
Bei diesem Anblick war Conseil wie ich stehen geblieben. Der brave Junge war ohne Zweifel im Klassifizieren dieser Mollusken und Zoophyten vertieft. Polypen und Echinodermen bedeckten in Menge den Boden. Die mancherlei Korallenarten, die wie Champignons gestalteten Fongiten, die Anemonen, bildeten einen Blumengrund, bunt verziert mit Porpiten im Schmuck ihres Kragens lasurblauer Fühlfäden, mit Seesternen, womit der Sand besät war.
Es war ein rechter Jammer für mich, die glänzenden Musterstücke von Mollusken, die zu Tausenden auf dem Boden lagen, mit meinen Füßen zu treten. Aber wir mussten vorwärtsschreiten, und wir taten es, während über unseren Häuptern Scharen von Physaliden mit ultramarinblauen Fühlfäden, die mit den Wogen trieben, Medusen mit opal- oder zart rosenfarbenen Schirmen uns gegen die Sonnenstrahlen deckten.
Alle diese Wunder sah ich im Raum einer Viertelmeile, indem ich kaum stehen bleiben konnte, da Kapitän Nemo mich mit einem Wink mahnte, ihm zu folgen. Bald änderte sich die Beschaffenheit des Bodens. Auf die Sandebene folgte eine Lage klebrigen Schlammes, der nur aus kieseligen oder kalkartigen Muscheln bestand.
Hierauf durchwanderten wir eine Wiese von Algen. Diese dichten Rasen waren so weich, dass sie es mit den von Menschenhand gewebten Tapeten aufnehmen konnten. Zu gleicher Zeit breitete sich über unseren Köpfen eine grüne Decke von Seepflanzen aus der überreichen Algenfamilie, deren man über 2.000 Arten kennt, an der Oberfläche des Meeres. Diese Algen, ein wahres Wunder der Schöpfung, gehören zu den größten Merkwürdigkeiten der allgemeinen Flora. Es gehören dieser Familie die kleinsten wie die größten Pflanzen der Erde. Denn wie man einerseits im Raum von 5 Quadratmillimeter 40.000 dieser mit den Augen nicht wahrnehmbaren, mikroskopischen Pflänzchen gezählt hat, so hat man Fucus getroffen, die über 500 Meter lang waren.
Seit etwa 1 1/2 Stunden hatten wir die ›Nautilus‹ verlassen. Es war bald Mittagszeit, wie ich aus den senkrechten Sonnenstrahlen, die sich nicht mehr brachen, abnahm. Der Farbenzauber schwand allmählich, und die Nuancen von Smaragd und Saphir erloschen an unserem Firmament. Wir gingen im regelmäßigen Schritt, der erstaunlich stark auf dem Boden widerhallte. Das geringste Geräusch pflanzte sich mit einer Raschheit fort, woran das Ohr auf der Erde nicht gewöhnt ist. In der Tat ist das Wasser für den Ton ein besserer Leiter als die Luft, und er pflanzt sich darin mit vierfacher Schnelligkeit fort.
In diesem Augenblick senkte sich der Boden in starkem Abfall.
Das Licht nahm eine gleichmäßige Färbung an. Wir kamen bis zu einer Tiefe von 100 Metern und hatten dann einen Druck von 10
Atmosphären zu erleiden. Aber mein Skaphanderkleid war so beschaffen, dass dieser Druck mir in keiner Weise nachteilig war. Ich empfand nur in den Fingergelenken einige Unbehaglichkeit, und auch diese verschwand bald. Der 2stündige Spaziergang in dem ungewohnten Harnisch hatte mich nicht im Mindesten ermüdet.
Das Wasser half dazu, dass die Bewegungen überraschend leicht vor sich gingen.
In der Tiefe von 300 Fuß waren die Sonnenstrahlen nur noch schwach wahrzunehmen. Es folgte ein rötliches Dämmerlicht.
Doch sahen wir hinreichend, um unsere Richtung zu behalten, und wir brauchten noch nicht den Ruhmkorffschen Apparat in Tätigkeit zu setzen.
In diesem Augenblick machte Kapitän Nemo halt. Er wartete, bis ich wieder bei ihm war, und zeigte mir mit dem Finger einige dunkle Massen, die nicht weit von dort im Schatten hervortraten.
Das ist der Wald der Insel Crespo, dachte ich, und irrte nicht.