Beitragsseiten

3. KAPITEL

Eine Perle von 10 Millionen

Die Nacht kam heran, ich legte mich zu Bett und schlief ziemlich schlecht. In meinen Träumen spielten die Haifische eine bedeutende Rolle.

Am folgenden Morgen weckte mich um 4 Uhr der Steward, den Kapitän Nemo besonders zu meinen Diensten bestellt hatte. Ich stand rasch auf, kleidete mich an und ging in den Salon.

Kapitän Nemo wartete schon auf mich.

»Herr Arronax«, sagte er zu mir, »sind Sie bereit zu gehen?«

»Ja.«

»Folgen Sie mir gefälligst.«

»Und meine Gefährten, Kapitän?«

»Sie sind schon in Kenntnis gesetzt und erwarten uns.«

»Werden wir nicht unsere Skaphander anziehen?« fragte ich.

»Noch nicht. Ich habe die ›Nautilus‹ jener Küste nicht zu nah kommen lassen, und wir sind von der Bank von Manaar ziemlich weit ab in hoher See; aber ich habe unseren Nachen zurechtmachen lassen, der uns genau an den Punkt bringen wird, wo wir ausschiffen werden, dadurch wird uns eine weite Überfahrt erspart. Er bringt unsere Tauchapparate mit, die wir in dem Moment, wo diese unterseeische Untersuchung beginnt, anziehen werden.«

Kapitän Nemo führte mich zu der Mittelleiter, die auf die Plattform führte. Ned und Conseil befanden sich schon da, voll Freude über »die Vergnügungspartie«, die vorbereitet wurde. Fünf Matrosen der ›Nautilus‹ warteten, die Ruder in der Hand, in dem Nachen, der mit einem Tau an Bord befestigt war.

Es war noch dunkle Nacht. Wolkenstreifen bedeckten den Himmel und ließen nur hie und da Sterne erblicken. Ich wendete meinen Blick dem Land zu, sah aber nur einen trüben Streifen, der drei Viertel des Horizonts von Südwest nach Nordwest schloss. Die

›Nautilus‹, die während der Nacht die Westküste Ceylons hinaufgefahren war, befand sich im Westen der Bai oder vielmehr des Golfs, der durch dieses Land und die Insel Manaar gebildet wird. Dort,

unter düsterem Gewässer, befand sich die Perlmuschelbank, ein unerschöpfliches Feld, das über 20 Meilen weit sich erstreckt.

Kapitän Nemo nebst mir, Conseil und Ned Land, wir saßen im hinteren Teil des Boots; dessen Führer stand beim Steuer, seine vier Genossen fassten ihre Ruder; das Bindseil wurde losgeknüpft, und wir fuhren ab.

Das Boot steuerte in südlicher Richtung nicht sehr eilig. Ich beobachtete, dass die kräftig unterm Wasser geführten Ruderschläge nur von 10 zu 10 Sekunden aufeinander folgten, nach der allgemein bei den Kriegsmarinen üblichen Weise. Ein leichtes Wogen von der offenen See her brachte das Boot in einiges Schwanken, und einiges Wellengeräusch lief ihm voraus.

Wir verhielten uns schweigend. Worauf hafteten Kapitän Nemos sinnende Gedanken? Vielleicht bei dem Land, dem er sich näherte und das er allzu nah fand, umgekehrt wie bei Ned, dem es noch allzu fern vorkam. Conseil war in neugieriger Spannung.

Gegen halb 6 ließ die erste Färbung des Horizonts den oberen Streifen der Küste klarer erkennen. Ziemlich flach im Osten, hob sie sich etwas nach dem Süden zu. 5 Meilen war sie noch entfernt, und ihr Gestade zerfloss noch im nebligen Gewässer. Das Meer zwischen uns war leer: kein Fahrzeug, kein Taucher zu sehen. Völlig verlassen war die Stelle, wo die Perlenfischer zusammenzukommen pflegten. Wir kamen, wie Kapitän Nemo mir bemerkt hatte, 1 Monat zu früh in diese Gegend.

Um 6 Uhr wurde es plötzlich Tag, so rasch, wie es den Tropengegenden eigentümlich ist, wo man weder Dämmerung noch Morgenröte kennt. Die Sonnenstrahlen drangen durch den Vorhang des über den Horizont zerstreuten Gewölks, und das strahlende Gestirn stieg rasch empor.

Ich sah deutlich das Land mit hie und da zerstreuten Bäumen.

Das Boot fuhr weiter auf die Insel Manaar zu, die südlich sich abrundete. Kapitän Nemo war aufgestanden und beobachtete das Meer.

Auf ein gegebenes Zeichen wurde der Anker hinabgelassen, der nicht viel zu sinken hatte; denn der Meeresgrund, der an dieser Stelle einen der höchsten Punkte der Perlenbank bildete, war nur ein Meter tief. Das Boot schwenkte sich sogleich der Ebbe gemäß, die nach dem hohen Meer hintrieb.

»Nun sind wir an Ort und Stelle, Herr Arronax«, sagte darauf Kapitän Nemo. »Sie sehen hier diese enge Bai. An dieser Stelle hier werden in 1 Monat die zahlreichen Fischerbarken der Ausbeutenden sich einfinden, und in diesen Gewässern werden ihre Taucher

mit kühner Ausdauer suchen. Diese Bai ist für diese Art Fischerei günstig gelegen und geeignet. Im Schutz vor den stärksten Winden, ist das Meer da nie sehr unruhig, ein Umstand, welcher der Arbeit der Taucher sehr zustattenkommt. Jetzt wollen wir unsere Skaphander anlegen und unseren Spaziergang vornehmen.«

Ich erwiderte nichts, und in stetem Hinblick auf diese verdächtigen Wogen fing ich an mithilfe der Bootsleute meine schwere Seekleidung anzuziehen. Kapitän Nemo und meine beiden Gefährten legten ebenfalls die Kleidung an. Von der Mannschaft der

›Nautilus‹ durfte uns bei diesem Ausflug niemand begleiten.

Bald steckten wir bis an den Hals in der Kautschukkleidung, und der Luftapparat war mit Bändern auf unseren Rücken befestigt. Vom Ruhmkorffschen Apparat war keine Rede. Bevor ich meinen Kopf in die kupferne Kapsel steckte, bemerkte ich es dem Kapitän.

»Dieser Apparat würde uns nicht dienlich sein«, erwiderte der Kapitän. »Wir begeben uns in keine große Tiefe, und die Sonnenstrahlen werden schon ausreichen, unseren Weg zu beleuchten. Zudem ist’s nicht klug, unter diese Gewässer eine elektrische Lampe mitzunehmen, weil deren heller Schein unversehens einen gefährlichen Bewohner dieser Meeresgegend herbeilocken könnte.«

Während der Kapitän diese Äußerung machte, wendete ich mich um nach Conseil und Ned Land. Aber diese beiden Freunde hatten schon ihren Kopf in die metallene Kappe gesteckt, und sie konnten weder hören noch antworten.

Ich hatte noch eine letzte Frage an Kapitän Nemo zu richten:

»Und unsere Waffen«, fragte ich, »unsere Gewehre?«

»Gewehre! Wozu? Bekämpfen Ihre Gebirgsbewohner nicht den Bären mit dem Dolch in der Hand, und ist nicht der Stahl eine zuverlässigere Waffe, als das Blei? Hier ist eine gute Klinge, die stecken Sie in Ihren Gürtel, und nun vorwärts.«

Ich blickte auf meine Gefährten. Sie waren wie wir in Rüstung, und dazu schwang Ned Land eine ungeheure Harpune, die er, bevor er die ›Nautilus‹ verließ, in das Boot gelegt hatte.

Hierauf ließ ich mir, nach dem Beispiel des Kapitäns, den Kopf

in die schwere Kupferkugel stecken, und unsere Luftbehälter wurden sofort in Tätigkeit gesetzt.

Alsbald darauf brachten die Bootsleute uns der Reihe nach aus dem Fahrzeug, und wir fassten 1 1/2 Meter tief Grund auf ebenem Sand. Kapitän Nemo winkte uns mit der Hand, wir folgten ihm und verschwanden auf sanft abhängigem Boden unter dem Gewässer.

Hier verließen mich die schlimmen Gedanken, die meinen Kopf belagert hatten. Ich wurde wieder zum Erstaunen ruhig. Die Leichtigkeit meiner Bewegungen hob mein Vertrauen, und das Fremdartige des Schauspiels fesselte meine Einbildungskraft.

Die Sonnenstrahlen brachten schon hinreichende Helle unter die Gewässer. Die geringsten Gegenstände waren erkennbar. Nachdem wir 10 Minuten weit gegangen, befanden wir uns in einer Tiefe von 5 Meter, und der Boden wurde fast eben.

Unter unseren Tritten wurden, gleich Bekassinen im Sumpf, Schwärme merkwürdiger Fische aufgescheucht, aus der Gattung der Einflosser, die außer am Schwanz sonst keine Flossen haben. Ich erkannte eine 8 Dezimeter lange Meerschlange mit blauschwarzem Bauch, die man leicht mit dem Meeraal verwechseln könnte, hätte nicht dieser goldfarbene Streifen an den Seiten. Von Deckfischen mit sehr plattem, ovalem Körper bemerkte ich Golddecken mit grellen Farben, die essbar sind und ein vortreffliches Gericht liefern.

Inzwischen war die Sonne höher gestiegen und erleuchtete mehr und mehr die Masse der Gewässer. Der Boden änderte sich allmählich, und an die Stelle des Sandes trat eine ordentliche Straße mit runden Felsstücken, überkleidet mit einem Teppich von Mollusken und Zoophyten. Mitten unter diesen lebendigen Pflanzen und unter den Wölbungen von Wassergewächsen liefen Legionen unbeholfener Gliedertiere, zum Teil hässlich anzusehen. So stieß ich mehrmals auf den enormen, von Darwin beobachteten Meerkrebs, dem die Natur die erforderliche Kraft und den Instinkt gegeben hat, um sich von Kokosnüssen zu nähren. Er klettert am Ufer an den Bäumen hinauf, wirft die Nuss herab, die beim Fallen zerbricht, worauf er sie mit seinen ungeheuren Scheren öffnet.

Hier unter den klaren Fluten bewegte sich die Krabbe mit einer Behändigkeit ohnegleichen.

Gegen 7 Uhr beschritten wir endlich die Perlmuschelbank, worauf Perlenaustern zu Millionen erzeugt werden. Diese kostbaren Mollusken waren durch braunen Byssus fest angeheftet, sodass sie ihre Stelle nicht wechseln konnten. Die Muscheln sind rund, haben dicke, sehr runzelige Schalen, beide von fast gleicher Größe.

Manche waren mit grünlichen, von oben herablaufenden Streifen geziert; sie gehörten jungen Austern. Die anderen mit rauer und schwarzer Oberfläche, 10 Jahre alt oder noch älter, waren bis zu 15

Zentimeter breit.

Kapitän Nemo zeigte mir mit der Hand diese erstaunlich reich aufgeschichtete Masse von Perlmuscheln, und es war mir begreiflich, dass diese Fundgrube wahrhaft unerschöpflich ist. – Ned Land beeilte sich, mit den schönsten Mollusken ein Garn zu füllen, das er an der Seite hängen hatte.

Aber wir konnten uns nicht aufhalten. Wir mussten dem Kapitän folgen, der auf ihm bekannten Pfaden zu gehen schien. Der Boden wurde allmählich wieder höher, und manchmal reichte mein Arm, wenn ich ihn aufhob, über den Meeresspiegel heraus. Nachher wurde die Bank wieder niedriger; wir stießen auf hohe, zugespitzte Felsen, aus deren dunkeln Schlupfwinkeln ungestaltete Schaltiere mit starren Augen uns anblickten.

In diesem Augenblick öffnete sich vor unseren Augen eine ungeheure Grotte zwischen malerisch getürmten Felsen, die mit allem Schmuck der unterseeischen Flora geziert waren. Die Grotte kam mir anfangs ganz dunkel vor, die Sonnenstrahlen schienen darin allmählich zu erlöschen.

Kapitän Nemo trat in sie ein; wir nach ihm. Meine Augen gewöhnten sich bald an das verhältnismäßige Dunkel. Wir befanden uns unter einem Gewölbe, das von natürlichen Pfeilern getragen wurde, die gleich den schwerfälligen Säulen toskanischer Architektur auf breiter Granitbasis ruhten. Weshalb zog uns unser rätselhafter Führer ins Innere dieser unterseeischen Grotte? Wir sollten’s bald erfahren.

Nachdem wir einen ziemlich steilen Abhang hinabgestiegen waren, betraten wir den Boden einer Art kreisrunden Schachts. Kapitän Nemo blieb stehen und wies mit der Hand auf einen Gegenstand, den ich noch gar nicht einmal wahrgenommen hatte.

Es war eine Auster von außerordentlicher Größe, eine Riesentridacne, ein Weihkessel, der einen See von Weihwasser fasste, ein Becken, das mehr wie 2 Meter groß war und folglich größer als dasjenige, welches den Salon der ›Nautilus‹ zierte.

Ich näherte mich der phänomenalen Molluske. Sie war mit ihrem Byssus an einer Granitplatte befestigt und entwickelte sich da abgesondert im ruhigen Wasser der Grotte. Ich schätzte ihr Gewicht auf 300 Kilogramm. Eine solche Auster enthält 15 Kilo Fleisch, und es gehörte wohl ein Riesenmagen dazu, einige Dutzend solcher Austern zu verschlingen.

Kapitän Nemo war ohne Zweifel schon mit dem Dasein dieses Schaltieres bekannt und besuchte es nicht jetzt zum ersten Mal, und ich dachte, er wolle, indem er uns dahin führte, uns nur eine Naturmerkwürdigkeit zeigen. Ich irrte mich. Der Kapitän hatte ein besonderes Interesse, sich von dem gegenwärtigen Zustand des Tieres zu überzeugen.

Die beiden Schalen der Molluske waren ein wenig geöffnet. Der Kapitän näherte sich und steckte seinen Dolch zwischen die Schalen, um sie zu hindern, sich wieder zu schließen; dann hob er mit der Hand die häutige und bekränzte Umhüllung auf, die das Tier wie ein Mantel bedeckte.

Hier sah ich zwischen blätterigen Falten eine freiliegende Perle von der Größe einer Kokosnuss. Ihre kugelrunde Form, vollkommene Klarheit, ihr bewundernswertes Wasser machte sie zu einem Kleinod von unschätzbarem Wert. Voll Neugierde streckte ich die Hand aus, um sie zu fassen, zu betasten; aber der Kapitän hielt mich zurück, machte ein, verneinendes Zeichen und zog rasch seinen Dolch heraus, dass die Schalen sich wieder schlossen.

Ich begriff die Absicht des Kapitäns. Er wollte die Perle in ihrer Umhüllung allmählich größer werden lassen, indem das Tier jedes Jahr durch fortgesetzte Absonderung neue konzentrische Schichten zufügte. Kapitän Nemo allein war die Grotte bekannt, wo diese staunenswerte Frucht der Natur »reif wurde«; er allein zog sie so gewissermaßen groß, um ihr eines Tages in seinem Museum ihren Platz anzuweisen. Vielleicht hatte er sogar, nach dem Beispiel der Chinesen und Inder, die Bildung dieser Perle hervorgerufen, indem er ein Stückchen Glas oder Metall zwischen die Falten der Molluske schob, das sich allmählich mit dem Perlmutterstoff bedeckte.

Jedenfalls, verglich ich diese Perle mit den mir bereits bekannten, mit denen, die in der Sammlung des Kapitäns glänzten, so schätzte ich ihren Wert auf mindestens 10 Millionen Franc. Eine prachtvolle Naturmerkwürdigkeit, kein persönlicher Schmuck, denn welche Frauenohren hätten diese Perle tragen können?

Als der Besuch bei der stattlichen Tridacne abgestattet war, verließ Kapitän Nemo die Grotte, und wir begaben uns wieder auf

die Muschelbank inmitten des klaren, von dem Werk der Taucher noch nicht getrübten Wassers.

Wir gingen einzeln, indem jeder nach Belieben stehen blieb oder sich entfernte. Ich hatte nicht die geringste Angst vor den Gefahren, die meine Fantasie so lächerlich übertrieben hatte. Die Bodenerhebung zog sich merklich der Meeresoberfläche zu, und bald war mein Kopf nur noch einen Meter von ihr entfernt. Conseil kam zu mir und grüßte mich freundlich, indem er sein dickes Kopfgehäuse an das Meinige hielt. Aber diese hohe Stelle war nur einige Toisen groß, und bald kamen wir wieder abwärts in unser Element.

10 Minuten später blieb Kapitän Nemo plötzlich stehen. Ich glaubte, er wolle wieder umkehren. Nein. Mit einem Wink befahl er, an seiner Seite in einer Krümmung uns auf den Boden zu ducken. Er wies mit der Hand auf einen Punkt hin, und ich schaute aufmerksam.

In einer Entfernung von 5 Metern zeigte sich ein Schatten und kam bis zum Boden herab. Es fuhr mir der ängstliche Gedanke an Haifische durch den Kopf. Aber ich irrte mich, und diesmal noch hatten wir es nicht mit Seeungeheuern zu tun.

Es war ein Mensch, ein leibhaftiger Mann, ein Inder, ein Schwarzer, wohl ein armer Teufel, der die Absicht hatte, vor der Ernte eine Nachlese zu halten. Ich bemerkte, wie sein Canot, das einige Fuß über seinem Kopf ankerte, ihm als Rückhalt diente. Von da aus tauchte er unter, kehrte dahin zurück. Ein gleich einem Zuckerhut zugehauener Stein, den er mit dem Fuß festhielt und der mit einem Strick an seinem Boot befestigt war, beförderte sein rascheres Hinabsteigen. Darin bestand sein ganzer Apparat. Sowie er, etwa 5 Meter tief, auf den Grund kam, fiel er auf die Knie und füllte seinen Sack mit rasch zusammengerafften Muscheln. Dann eilte er wieder hinauf, leerte seinen Sack aus, zog seinen Stein nach und wiederholte seine Verrichtung, die nur 30 Sekunden dauerte.

Der Taucher sah uns nicht; wir waren durch den Schatten des Felsens seinen Blicken entzogen. Und wie hätte auch der arme Kerl sich denken können, dass Menschen dort unter den Gewässern sich befänden, die seine Bewegungen belauerten, seine Arbeit genau beobachteten!

So tauchte er öfters auf und ab. Mehr wie ein Dutzend Muscheln bekam er bei einem Tauchen nicht, denn er musste sie von der Bank, wo sie mit ihrem starken Byssus befestigt waren, losreißen. Und wie viele Muscheln waren ohne Perlen, für die er sein Leben wagte!

Ich sah ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er verrichtete sein Geschäft regelmäßig, und eine halbe Stunde lang schien ihn keine Gefahr zu bedrohen. Das Schauspiel dieser Fischerei war mir interessant. Da auf einmal, als der Inder eben auf dem Boden kniete, sah ich ihn mit Entsetzen aufspringen und sich aufwärts schwingen zur Rückkehr an die Oberfläche.

Ich erkannte bald den Grund seines Schreckens. Ein riesenmäßiger Schatten zeigte sich über dem unglücklichen Taucher. Es war ein Hai erster Größe, der mit feurigen Augen, offenem Rachen schräg herbeischoss!

Ich starrte stumm vor Schrecken, unfähig mich zu regen.

Das gefräßige Tier stürzte mit einem kräftigen Schlag seiner Flossen auf den Inder, der zwar dem Biss des Ungetüms seitwärts auswich, aber von seinem Schwanz auf die Brust getroffen zu Boden fiel.

Diese Szene dauerte kaum einige Sekunden. Der Hai kam wieder, legte sich auf den Rücken und schickte sich an, den Inder zu zerfleischen, als Kapitän Nemo, der neben mir kauerte, plötzlich aufsprang. Den Dolch in der Hand, ging er gerade auf das Ungeheuer los, um es im Kampf mit ihm aufzunehmen.

Im Augenblick, als der Hai im Begriff war, nach dem unglücklichen Fischer zu schnappen, gewahrte er seinen neuen Gegner, legte sich wieder um auf den Bauch und schoss auf ihn los.

Kapitän Nemo nahm seine Stellung. Rückwärts gebogen erwartete er mit staunenswerter Kaltblütigkeit das fürchterliche Tier, und als dieses auf ihn zustürzte, bog er sich mit wunderbarer Behändigkeit seitwärts, wich dem Stoß aus und bohrte ihm seinen Dolch in den Bauch. Aber damit war’s noch nicht aus. Es entspann sich ein furchtbarer Kampf. Der Haifisch wurde wütend. Das Blut strömte aus seinen Wunden, das Meer färbte sich rot, und ich konnte in dem dunkeln Schein nichts mehr sehen.

Nichts mehr, bis zu dem Moment, wo ich durch eine lichte Stelle den kühnen Kapitän im Zweikampf mit dem Ungeheuer begriffen erblickte. Angeklammert an eine der Flossen des Tieres, bearbeitete er den Bauch seines Gegners mit Dolchstößen, ohne jedoch durch einen Stich ins Herz die Entscheidung geben zu können. Der

wütend zappelnde Hai regte die Wassermasse dergestalt auf, dass der Wogenwirbel mich hinzuwerfen drohte.

Ich hätte dem Kapitän zu Hilfe eilen mögen; aber vor Schrecken starr, vermochte ich mich nicht zu regen.

Ich blickte mit verstörten Augen hin, sah die Erfolge des Kampfs schwanken. Der Kapitän fiel zu Boden, von der Wucht der enormen Masse über ihm niedergedrückt. Der Rachen des Ungetüms öffnete sich über die Maßen weit gleich der Blechschere eines Hüttenwerks, und es war um den Kapitän geschehen, wäre nicht, flink wie ein Gedanke, Ned Land mit seiner Harpune auf den Hai gestürzt, um ihm den Todesstoß zu versetzen.

Die Wogen mischten sich mit dem massenweis strömenden Blut; sie gerieten durch die Schläge des mit unbeschreiblicher Wut sich bewegenden Tieres in heftige Aufregung. Ned Land hatte sein Ziel nicht verfehlt; das Todesröcheln des Ungeheuers trat ein. Ins Herz getroffen zappelte es in fürchterlichen Zuckungen, sodass Conseil durch den Gegenstoß zu Boden geworfen wurde.

Inzwischen hatte Ned Land den Kapitän frei gemacht. Dieser stand unverletzt auf, ging stracks auf den Inder zu, schnitt rasch den Strick entzwei, womit er an seinen Stein gebunden war, nahm ihn in seine Arme und versetzte ihm einen kräftigen Tritt mit der Ferse, wodurch er zur Oberfläche des Meeres emporkam.

Wir drei folgten ihm nach, und wie durch ein Wunder gerettet erreichten wir in einigen Augenblicken die Fischerbarke.

Kapitän Nemo war vor allem darauf bedacht, den Unglücklichen wieder ins Leben zu rufen. Ob’s gelingen würde, stand dahin. Man konnte es hoffen, da der arme Teufel nicht lange unter Wasser gewesen war. Aber der Hai konnte ihm mit seinem Schwanz einen Streich versetzt haben, der tödlich war.

Glücklicherweise war dem nicht so, und das kräftige Reiben Conseils und des Kapitäns brachte es allmählich dahin, dass der Ertrunkene wieder zum Bewusstsein kam. Er schlug die Augen auf.

Wie musste er überrascht, ja erschrocken sein, als er die vier dicken Kupferköpfe über sich gebeugt sah!

Und was musste er gar denken, als Kapitän Nemo ein Säckchen voll Perlen aus der Tasche zog und es ihm in die Hand drückte?

Dieses hochherzige Almosen des Mannes der Gewässer wurde von dem armen Inder Ceylons mit zitternder Hand angenommen.

Seine scheuen Blicke gaben übrigens zu erkennen, dass er nicht wusste, welchen übermenschlichen Wesen er Leben und Glück verdankte. Auf ein Zeichen des Kapitäns begaben wir uns wieder zu der Perlmuschelbank, und indem wir denselben Weg einschlugen, den wir gemacht hatten, gelangten wir nach einer halben Stunde zu dem Anker, woran das Boot der ›Nautilus‹ befestigt war.

Sobald wir uns in dem Fahrzeug befanden, entledigten wir uns mithilfe der Bootsleute der schweren Bepanzerung.

Kapitän Nemo richtete sein erstes Wort an den Kanadier.

»Dank, Meister Land«, sagte er zu ihm.

»Es ist eine Vergeltung gewesen, Kapitän«, erwiderte Ned Land,

»und meine Schuldigkeit.«

Ein bleiches Lächeln auf den Lippen des Kapitäns, das war alles.»Zur ›Nautilus‹«, sagte er.

Das Boot flog rasch über die Wellen. Nach einigen Minuten stießen wir auf den toten Haifisch, der auf der Oberfläche schwamm.

An der schwarzen Farbe der Spitzen seiner Flossen erkannte ich den furchtbaren Schwarzflosser des Indischen Meeres, der zur Gattung der eigentlichen Haifische zählt. Er war über 25 Fuß lang; sein entsetzlich großes Maul machte den dritten Teil seines Körpers aus. Er war ausgewachsen, was an den sechs Reihen Zähnen zu erkennen war, die in gleichschenkeligen Dreiecken auf der oberen Kinnlade saßen.

Conseil betrachtete ihn mit rein wissenschaftlichem Interesse, und ich bin überzeugt, dass er ihn unter den Knorpelfischen richtig zu klassifizieren verstand.

Während ich diese träge Masse betrachtete, zeigte sich ein Dutzend dieser gefräßigen Schwarzflosser plötzlich rings um das Boot herum; doch ohne sich um uns zu bekümmern, fielen sie über den Leichnam her und stritten sich um seine Fetzen.

Um halb 9 Uhr befanden wir uns wieder an Bord der ›Nautilus‹.Hier überließ ich mich meinen Gedanken über die Vorfälle

bei unserem Ausflug zur Bank von Manaar. Zwei Bemerkungen drängten sich mir dabei unwillkürlich auf. Die eine betraf die unvergleichliche Kühnheit von Kapitän Nemo, die andere seine aufopfernde Hingebung für ein menschliches Wesen, einen Repräsentanten der Rasse, vor der er sich unter das Meer flüchtete. Was er auch darüber sagen mochte, dieser seltsame Mann hatte es noch nicht dahin gebracht, sein Menschenherz ganz zu vernichten.

Als ich ihm diese Bemerkung machte, antwortete er mir mit etwas gerührtem Ton:

»Dieser Inder, Herr Professor, ist Bewohner eines Landes von Unterdrückten, und ich bin noch, und werde es bis zu meinem letzten Atemzug sein, diesem Land angehörig.«

 

Reiseromane