Beitragsseiten

 

Jules Verne

 

20.000 Meilen

unterm Meer

Mit 111 Illustrationen von

Alphonse de Neuville und Riou

sowie 2 Karten

 

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Titel der französischen Originalausgabe:

Vingt Mille Lieues sous les mers (Paris 1869/71)

 

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TEIL I

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1. KAPITEL

Eine schweifende Klippe

Ein seltsames Ereignis, ein unerklärtes, und eine unerklärbare Naturerscheinung, die sich im Jahr 1866 begab, ist ohne Zweifel noch unvergessen. Nicht allein die Bevölkerung der Hafenstädte war durch Gerüchte beunruhigt, im Binnenland der öffentliche Geist aufgeregt, besonders die Seeleute gerieten in Bewegung. Die Kaufleute und Reeder, Schiffsherren, Patrone und Kapitäne in Europa und Amerika, Offiziere der Kriegsmarine aller Länder und dann die Staatsregierungen der beiden Weltteile widmeten der Sache im hohen Grad ihr Interesse.

Die Tatsache ist, dass seit einiger Zeit manche Schiffe auf hoher See einem »enormen Gegenstand« begegneten, lang, spindelförmig, mitunter phosphoreszierend, unendlich größer und rascher als ein Walfisch.

Die Angaben über diese Erscheinung, wie sie in den Schiffsbüchern verzeichnet wurden, betrafen mit ziemlicher Genauigkeit die Struktur des fraglichen Gegenstands oder Geschöpfs, die unerhörte Schnelligkeit und erstaunliche Kraft seiner Bewegungen, die besonderen Lebensäußerungen, die ihm eigentümlich schienen.

War es ein Tier von der Walfischgattung, so übertraf es an Umfang weit alle von der Wissenschaft bisher verzeichneten. Cuvier, Lacépède, Dumeril, Quatrefages – hätten sicher die Existenz eines solchen Ungeheuers nicht gelten lassen – sofern sie es nicht selbst gesehen, d. h. mit eigenen kundigen Augen gesehen.

Lassen wir die ängstlichen Schätzungen, die diesem Gegenstand 200 Fuß beimaßen, beiseite, verwerfen die übertriebenen Angaben von der Breite einer Meile und der Länge dreier – und halten uns an das Durchschnittliche der wiederholt gemachten Beobachtungen, so könnte man doch behaupten, dass dieses phänomenale Wesen – sofern es existierte – alle von den Ichthyologen bisher angenommenen Dimensionen bei Weitem übertraf.

Aber es existierte; die Tatsache an sich war nicht in Abrede zu stellen, und bei der Neigung, womit sich die Menschen dem Wunderbaren zuwenden, begreift man leicht die Bewegung, die diese übernatürliche Erscheinung in der ganzen Welt hervorbrachte. Sie ins Reich der Fabeln zu verweisen ging schon nicht mehr an.

In der Tat begegnete am 20. Juli 1866 das Dampfboot ›Governor Higginson‹, der Calcutta and Bunach Steam Navigation Company gehörig, dieser schwimmenden Masse 5 Meilen östlich von den Küsten Australiens. Kapitän Baker glaubte anfangs auf eine unbekannte Klippe zu treffen; er war auch bereits im Begriff, ihre Lage genau zu bestimmen, als von dem unerklärlichen Gegenstand aus zwei Wasserstrahlen 150 Fuß hoch zischend in die Luft emporschossen. Demnach, sofern nicht auf dieser Klippe intermittierende Quellen eines Geysirs sich befanden, hatte es die ›Governor Higginson‹ mit nichts anderem zu tun als einem bisher unbekannten Seesäugetier, das durch seine Luftlöcher Wasserstrahlen, mit Luft und Dunst gemischt, ausstieß.

Die gleiche Tatsache wurde am 23. Juli desselben Jahres in den Gewässern des Pazifiks von der ›Christobal Colon‹ der West India and Pacific Steam Navigation Company beobachtet. Demnach war dieses außerordentliche Seetier imstande, mit erstaunlicher Schnelligkeit seine Stellung zu wechseln, da es von der ›Governor Higginson‹und der ›Christobal Colon‹ nach Verlauf von 3 Tagen an zwei Punkten beobachtet wurde, die der Karte nach über 700 Seemeilen voneinander entfernt sind.

14 Tage später, als 2.000 Meilen von da die ›Helvetia‹von der Company Nationale und die ›Shannon‹ von der Royal Mail in dem zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gelegenen Teil des Atlantiks in entgegengesetzter Richtung fuhren, signalisierten sie sich das Ungeheuer unterm 42° 15ʹ nördl. Breite und 60° 35ʹ westl. Länge vom Meridian zu Greenwich aus. Bei dieser gleichzeitigen Beobachtung glaubte man die Länge des Tieres zum Mindesten auf etwa 350 engl. Fuß (ca. 106 Meter) anschlagen zu können. Die größten Walfische aber, wie sie in der Gegend der Aleuten vorkommen, haben die Länge von 150 Fuß niemals überschritten.

Als diese Nachrichten Schlag auf Schlag eintrafen, machten neue an Bord des Pereira gemachte Beobachtungen, ein Zusammenstoßen der ›Aetna‹ mit dem Ungeheuer, ein von den Offizieren der französischen Fregatte La Normandie vorgenommenes Protokoll, eine sehr ernste, vom Generalstab des Kommodore Fitz-James an Bord des Lord Clyde gemachte Aufnahme – auf die öffentliche Meinung den tiefsten Eindruck. In den Ländern leichten Humors scherzte man über das Phänomen, aber die ernsten und praktischen Länder, England, Amerika, Deutschland, befassten sich lebhaft damit.

Überall in den großen Verkehrsmittelpunkten kam das Ungeheuer in Schwung; man besang es in den Kaffees, man verspottete es in den Journalen, man spielte es in den Theatern. Die Enten bekamen eine hübsche Gelegenheit, Eier in allen Farben zu legen. Die Journale gaben in Abbildungen alle riesigenmäßigen Fantasiebilder zum besten, vom weißen Walfisch, dem schrecklichen »Moby-Dick« der Hyperboräerländer bis zum maßlosen Kraken, der mit seinen Fühlhörnern ein Fahrzeug von 500 Tonnen umwickeln und in den Abgrund des Ozeans hinabziehen kann. Man zitierte sogar Stellen aus dem Altertum, die Ansichten des Aristoteles und Plinius, die für die Existenz solcher Ungeheuer sprachen, sodann die norwegischen Berichte des Bischofs Pontoppidan, die Erzählungen Paul Heggedes, und endlich die Berichte Harringtons, dessen Ehrlichkeit nicht anzufechten ist, wenn er behauptet, er habe an Bord des Castillan im Jahr 1857 diese enorme Schlange gesehen. –

Darauf begann eine unendliche Polemik der Gläubigen und Ungläubigen in den gelehrten Gesellschaften und den wissenschaftlichen Journalen. Die »Frage des Ungeheuers« erhitzte alle Gemüter. Die Journalisten, die wetteifernd mit den Schöngeistern die Wissenschaft vertraten, vergossen, verbrauchten in diesem merkwürdigen Feldzug tonnenweise Tinte; manche sogar etliche Tropfen Blut, denn von der Seeschlange gingen sie zu beleidigenden Persönlichkeiten über.

6 Monate lang wurde der Krieg mit abwechselndem Erfolg geführt. Auf die gründlichen Artikel des Geografischen Instituts in Brasilien, der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Britischen Gesellschaft, der Smithsonschen Anstalt zu Washington, auf die Erörterungen des Indian Archipelago, des Cosmos des Abbé Moigno, der Petermannschen Mitteilungen, auf die wissenschaftliche Chronik der großen Journale entgegnete die kleine Presse mit unerschöpflicher Laune. Die geistreichen Schriftsteller parodierten ein von den Gegnern des Ungeheuers zitiertes Wort Linnés, indem sie behaupteten, »die Natur schaffe keine Dummköpfe«, und beschworen ihre Zeitgenossen, nicht die Natur Lügen zu strafen, indem sie die Existenz des Kraken, der Seeschlangen, des »Moby-Dick« und andere Hirngespinste irrsinniger Seeleute gelten ließen. Endlich versetzte, in einem Artikel eines sehr gefürchteten satirischen Journals, der beliebteste seiner Redakteure, bei einem Überblick über das Ganze, dem Ungeheuer einen letzten Streich, und erlegte es inmitten allgemeinen hallenden Gelächters.

Der Geist siegte über die Wissenschaft.

Während der ersten Monate des Jahres 1867 hielt man die Frage für beseitigt, und es schien nicht, als würde sie wieder auftauchen, als neue Tatsachen zur Kenntnis des Publikums kamen. Es handelte sich dabei nicht mehr um die Lösung eines wissenschaftlichen Problems als die Vermeidung einer wirklichen, ernsten Gefahr. Die Frage nahm eine andere Gestalt an. Das Ungeheuer wurde wieder Inselchen, Felsen, Klippe, aber eine bewegliche, unbestimmbare und unfassbare.

Am 5. März 1867 stieß die ›Moravian‹ von der Montreal Ocean Company, unter 27° 30ʹ Breite und 72° 15ʹ Länge, bei Nacht gegen einen Felsen, der in jener Gegend von keiner Karte verzeichnet war. Nur durch die ausgezeichnete Beschaffenheit ihres Rumpfs und ihre Schnelligkeit bei 400 PS entging er der Gefahr, mit seinen 237 Passagieren unterzugehen.

Der Vorfall ereignete sich morgens früh, als schon der Tag graute. Man untersuchte das Meer genau, sah aber nichts als ein starkes Kielwasser, das auf 3 Kabellängen das Gewässer brach. Ob die ›Moravian‹ gegen einen Felsen gestoßen, konnte man nicht wissen; aber als man sie im Ausbesserungsbassin untersuchte, fand sich, dass ein Teil ihres Kiels zerbrochen war.

Diese so bedeutende Tatsache wäre vielleicht vergessen worden, hätte sie sich nicht 3 Wochen später unter gleichen Bedingungen wiederholt. Nur dass diesmal durch die Nationalität des betroffenen Schiffs und den Ruf der Gesellschaft, der es gehörte, das Ereignis das größte Aufsehen bekam.

Der berühmte englische Reeder Cunard ist weltbekannt. Er gründete im Jahr 1840 einen Postkurs zwischen Liverpool und Halifax mit drei hölzernen Schiffen von 400 PS und 1.162 Tonnen Gehalt. Dieses Material vergrößerte sich mit den wachsenden Geschäften nach und nach bedeutend; besonders im Jahr 1853 mit einer Reihe von Schiffen ersten Ranges, ›Arabia‹, ›Persia‹, ›China‹, ›Scotia‹ usw.; und im Jahr 1867 besaß sie 12 Fahrzeuge, worunter 4 Schraubendampfer. Die Unternehmung wurde mit größter Geschicklichkeit geleitet, und ihre Geschäfte waren vom besten Erfolg gekrönt. Seit 26 Jahren, da die Schiffe der Gesellschaft Cunard den Atlantik befuhren, ist von 2.000 Fahrten nicht eine einzige missglückt, nie kam eine Verspätung vor, nie ist ein Brief, ein Mensch oder ein Schiff abhandengekommen oder zugrunde gegangen. Darum erregte auch der Unfall, der einem seiner besten Schiffe widerfuhr, so großes Aufsehen.

Am 13. April 1867 fuhr die ›Scotia‹ unter 15° 12ʹ Länge und 45° 37ʹ Breite, bei ruhigem Meer und günstigem Wind mit einer Schnelligkeit von 13 Knoten und vollkommen regelmäßiger Radbewegung. Am Abend, als eben die Passagiere im großen Salon ihre Vesper nahmen, verspürte man einen wenig merkbaren Stoß. Er kam eher von einem schneidenden Instrument her, als von einem bohrenden oder stoßenden und schien so leicht, dass kein Mensch an Bord dadurch beunruhigt wurde, bis die Leute des Schiffsraums aufs Verdeck stürzten mit dem Geschrei: »Wir gehen unter!«

Augenblicklich gerieten die Passagiere in großen Schrecken; aber Kapitän Anderson war imstande, sie unverzüglich zu beruhigen. In der Tat konnte die Gefahr nicht bedeutend werden, da die ›Scotia‹ durch wasserdichte Verschläge in sieben Abteilungen geteilt war, sodass sie leicht einem Eindringen des Wassers gewachsen war. Der Kapitän begab sich sofort in den Schiffsraum und erkannte, dass das Wasser in das fünfte Gefach durch ein beträchtliches Leck eindrang. Dieses Fachwerk war zum Glück nicht dasjenige, welches die Kessel enthielt, sonst wären die Feuer mit einmal ausgelöscht worden.

Der Kapitän ließ sogleich halten, ein Matrose tauchte unter, um den Schaden zu untersuchen, und es fand sich ein 2 Meter breites Loch im Kiel. So konnte es nur mit halber Schnelligkeit weiterfahren und kam um 3 Tage verspätet in Liverpool an.

Bei der Ausbesserung fand sich ein regelmäßiger Riss in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks. Der Bruch des Eisenblechs zeigte, dass das durchbohrende Werkzeug ausnehmend hart gewesen sein musste; auch musste es, nachdem es mit enormer Gewalt

 

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eingedrungen, sich durch eigene Bewegung in unerklärbarer Weise wieder herausgezogen haben.

Diese Tatsache setzte die öffentliche Meinung in leidenschaftliche Bewegung. Von nun an wurden Unfälle zur See, von denen man nicht eine bestimmte Ursache wusste, auf Rechnung des Ungeheuers gesetzt, und das fantastische Tier musste alle solche Schiffbrüche sich zuschreiben lassen.

Da nun, mit Recht oder Unrecht, die Beschuldigung sich erhob, dass der Verkehr in gefährlicher Weise gestört sei, so verlangte das Publikum aufs Entschiedenste, dass die Meere endlich um jeden Preis von dem fürchterlichen Ungetüm befreit würden.

 


2. KAPITEL

Für und Wider

Zurzeit, als diese Ereignisse vorfielen, kam ich von einer wissenschaftlichen Untersuchungsreise, welcher die französische Regierung mich, als Professor der Naturgeschichte, beigesellt hatte, aus Nebraska in den Vereinigten Staaten zurück. Gegen Ende März kam ich nach 6monatigem Aufenthalt in Nebraska mit kostbaren Sammlungen zu New York an und meine Abreise nach Frankreich war auf Anfang Mai festgesetzt. Ich beschäftigte mich eben damit, inzwischen meine mineralogischen, botanischen und zoologischen Schätze zu ordnen, als der Unfall der ›Scotia‹ sich ereignete.

Ich war über die Tagesfrage vollständig in Kenntnis gesetzt.

Ich hatte alle amerikanischen und europäischen Journale gelesen und abermals gelesen und war dadurch nicht weitergekommen.

Das Geheimnisvolle machte mir zu schaffen. Bei der Unmöglichkeit, mir eine Meinung zu bilden, schwankte ich von einem Extrem zum andern. Dass etwas daran war, konnte nicht mehr zweifelhaft sein, und die Ungläubigen waren eingeladen, ihren Finger auf die Wunde der ›Scotia‹ zu legen.

Bei meiner Ankunft zu New York war die Frage brennend.

Die Hypothese einer schwimmenden Insel, einer unerreichbaren Klippe, die von einigen urteilsunfähigen Köpfen aufgebracht worden, war bereits aufgegeben. Und in der Tat, sofern nicht solch eine Klippe eine Maschine im Leib hatte, wie konnte sie so reißend schnell die Stelle wechseln.

Ebenso wurde der Gedanke an einen herumschwimmenden Schiffsrumpf aufgegeben, gleichfalls wegen der Schnelligkeit, womit der Gegenstand seinen Platz wechselte.

Es blieben also noch zwei mögliche Lösungen der Frage, die beide Anhänger fanden: Die einen hielten den Gegenstand für ein Ungeheuer von kolossaler Kraft; die anderen für ein unterseeisches Fahrzeug von außerordentlicher Bewegkraft.

Diese letzte Annahme, obwohl statthaft, konnte doch nach den in beiden Weltteilen angestellten Untersuchungen nicht festgehalten werden. Dass ein einzelner Privatmann eine solche Maschine zur Verfügung habe, war unwahrscheinlich. Wie hätte deren Verfertigung geheim bleiben können?

Nur eine Regierung konnte im Besitz einer solchen Zerstörungsmaschine sein, und in dieser unheilvollen Zeit, wo der Mensch sich’s angelegen sein lässt, die Macht der Kriegswaffen zu verstärken, war es möglich, dass ein Staat ohne Wissen des andern mit einer solchen fürchterlichen Maschine einen Versuch machte. Auf die Chassepots folgten die Torpedos, auf die Torpedos die unterseeischen Sturmböcke, hernach – die Reaktion.

Aber diese Idee einer Kriegsmaschine musste gegenüber den Erklärungen der Regierungen fallen gelassen werden. Da es sich hier um ein allgemeines öffentliches Interesse handelte, da der überseeische Verkehr darunter litt, so ließ sich die Ehrlichkeit der Regierungen nicht in Zweifel ziehen. Zudem konnte man nicht annehmen, dass der Bau eines solchen unterseeischen Fahrzeugs dem Publikum verborgen geblieben wäre. Unter solchen Umständen das Geheimnis zu bewahren ist schon für einen Privatmann schwer und für einen Staat, dessen Handlungen von den rivalisierenden Mächten unablässig überwacht werden, vollends unmöglich. Also wurde nach den in England, Frankreich, Russland, Preußen, Spanien, Italien, Amerika, selbst in der Türkei angestellten Nachforschungen die Hypothese eines unterseeischen Monitors definitiv aufgegeben.

Es bekam also die Idee eines »Ungeheuers« die Oberhand, trotz der unablässigen Späße, womit die kleine Presse sie verfolgte; und auf diesem Weg ließ sich die Fantasie bald zu den lächerlichsten Träumen einer fantastischen Ichthyologie verleiten.

Bei meiner Ankunft zu New York erwiesen mir manche Männer die Ehre, mich über die fragliche Erscheinung um meine Ansicht zu ersuchen. Ich hatte in Frankreich einen zweibändigen Quartanten unter dem Titel: ›Die Geheimnisse der großen unterseeischen Tiefe‹, erscheinen lassen. Dieses besonders von der gelehrten Welt gut aufgenommene Buch machte aus mir eine Spezialität in diesem noch ziemlich unklaren Teil der Naturwissenschaft. Es wurde mein Gutachten begehrt. Solange ich die Wirklichkeit des Tatsächlichen in Abrede stellen konnte, verhielt ich mich durchaus verneinend.

Aber bald musste ich, aufs Äußerste gedrängt, mich kategorisch erklären. Und sogar wurde der »ehrenwerte Pierre Arronax, Professor am Museum zu Paris«, vom ›New York Herald‹ öffentlich aufgefordert, irgendeine Ansicht über die Sache zu formulieren.

Ich machte mich daran. Ich sprach, weil ich nicht mehr schweigen konnte. Ich erörterte die Frage von allen Seiten, politisch und wissenschaftlich, und gebe hier den Auszug eines sehr umfangreichen Artikels, den ich am 30. April veröffentlichte.

»Also«, sagte ich, »nachdem ich der Reihe nach die verschiedenen Hypothesen einer Prüfung unterzogen, muss man jede andere Annahme verwerfen und notwendig die Existenz eines Seetiers von außerordentlicher Kraft gelten lassen.

Die großen Tiefen des Ozeans sind uns völlig unbekannt; die Sonde hat sie nicht erreichen können. Was geht in diesen Tiefen vor? Was für Geschöpfe leben 12- bis 15.000 Meilen unter der Meeresoberfläche, oder können da leben? Wie sind diese Tiere organisiert? Darüber kann man kaum eine Vermutung aufstellen.

Jedoch kann die Lösung des mir vorgelegten Problems die Form eines Dilemmas annehmen.

Entweder wir kennen alle verschiedenen Gattungen von Geschöpfen, die unseren Planeten bevölkern, oder wir kennen sie nicht.

Wenn wir sie nicht alle kennen, wenn die Natur in der Ichthyologie noch Dinge enthält, die für uns Geheimnisse sind, so darf man wohl die Existenz von Fischen oder Seesäugetieren, neuen Arten oder selbst Gattungen, von einer ihnen eigentümlichen Organisation annehmen, die die von der Sonde unerreichbaren Schichten bewohnen und durch irgendein Ereignis, eine Grille, Laune, wenn man will, in langen Zwischenräumen zu dem Niveau der Oberfläche des Ozeans heraufgeführt werden.

Kennen wir dagegen alle lebenden Gattungen, so muss man notwendig das fragliche Tier unter den bereits aufgenommenen Seegeschöpfen suchen, und in diesem Fall wäre ich geneigt, die Existenz eines Riesennarwals anzunehmen.

Der gemeine Narwal oder das See-Einhorn erreicht oft eine Länge von 60 Fuß. Nehmen wir diese Dimension fünffach, selbst zehnfach, geben wir diesem Tier eine seiner Größe entsprechende Kraft, verstärken wir seine Angriffswaffen, so haben wir das vorausgesetzte Ungeheuer, das imstande wäre, die ›Scotia‹ anzubohren und den Rumpf eines Dampfboots anzutasten.

In der Tat hat der Narwal zur Waffe eine Art Degen von Elfenbein, eine Hellebarde, wie einige Naturforscher sich ausdrücken. Es ist ein Hauptzahn von der Härte des Stahles. Man hat solche Zähne in den Körpern von Walfischen gebohrt gefunden, die der Narwal beständig mit Erfolg angreift. Andere sind mit Mühe aus Schiffskielen gezogen worden, die sie durch und durchgebohrt hatten. Das Museum der Naturgeschichte zu Paris besitzt ein solches Horn, das 2 Meter 25 lang und an seiner Basis 48 Zentimeter stark ist!

Nun! Nehmen wir diese Waffe zehnmal so stark an, das Tier zehnmal kräftiger, lassen wir es mit einer Schnelligkeit von 20 Meilen in der Stunde hinschießen, multiplizieren wir seine Masse mit seiner Geschwindigkeit, so haben wir einen Stoß, der eine Katastrophe, wie die gedachte, hervorbringen kann.

Demnach, bis auf weitere Information, möchte ich meine Vermutung auf ein See-Einhorn von kolossalen Dimensionen richten, das nicht sowohl mit einer Hellebarde, als mit einem wirklichen Sporn bewaffnet ist, wie ihn die Panzerfregatten haben, denen es etwa an Umfang und Bewegungskraft gleichkäme.

So würde das unerklärliche Phänomen seine Erklärung finden – sofern nicht etwa nichts daran ist, trotz dem, was man gesehen und vermutet hat – was auch möglich ist!«

Diese letzteren Worte waren meinerseits eine Feigheit; ich wollte bis auf einen gewissen Grad meine Professorenwürde wahren und nicht den Amerikanern zum Lachen preisgeben, denn die lachen tüchtig, wenn sie lachen. Ich wollte nur eine Hintertür offenhalten.

Im Grunde ließ ich die Existenz des »Ungeheuers« gelten.

Mein Artikel wurde warm besprochen und fand großen Beifall, gewann sich eine Anzahl Anhänger. Die Lösung, die ich vorschlug, ließ übrigens der Fantasie freien Spielraum. Der menschliche Geist hat Gefallen an solchen großartigen Begriffen übernatürlicher Wesen.

Das Meer ist gerade das beste Element, der einzige Ort, wo solche Riesen – neben denen Elefanten und Rhinozerosse nur Zwerge sind – entstehen und sich entwickeln können! Die Massen des Ozeans enthalten die größten Gattungen bekannter Seesäugetiere, und vielleicht bergen sie in ihren Tiefen noch manche Mollusken und Schaltiere von schrecklichem Aussehen. Vormals, in der Urzeit, waren die Landtiere, Vierfüßler, Reptilien und Vögel nach riesenmäßigem Maßstab geformt. Warum sollte nicht das Meer, das sich unveränderlich gleich bleibt, in seinen unbekannten Tiefen noch solche Probestücke eines andern Zeitalters aufbewahrt haben? Warum sollte es nicht in seinem Schoß die letzten Arten dieser Riesengattungen bergen?

Doch wenden wir uns aus dem Reiche der Fantasie zur schrecklichen Wirklichkeit. Die öffentliche Meinung sprach sich damals in Beziehung auf das Phänomen ohne Widerspruch für die Existenz eines wunderhaften Riesentieres aus.

Aber wenn die einen nur eine wissenschaftliche Aufgabe darin erkannten, hatten die anderen, mehr positive Geister, zumal in Amerika und England, im Sinn, das Meer von dem furchtbaren Ungeheuer zu säubern, um den überseeischen Verkehr zu sichern.

Die industriellen und Handelsblätter behandelten die Frage hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus; alle den Assekuranzgesellschaften ergebenen Blätter waren darüber einstimmig.

Nachdem die öffentliche Meinung sich ausgesprochen, erklärten sich die Vereinigten Staaten zuerst. Man traf zu New York Vorkehrungen für eine Expedition zur Verfolgung des Narwals. Eine schnell segelnde Fregatte, die ›Abraham Lincoln‹, wurde instand gesetzt, unverzüglich in See zu stechen. Dem Kommandanten Farragut

 

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wurden die Arsenale geöffnet, und er betrieb eifrigst ihre Ausrüstung.

Nun aber, wie das meistens geschieht, gerade von dem Moment an, da man entschlossen war, das Ungeheuer zu verfolgen, war es nicht mehr sichtbar. 2 Monate lang hörte man nichts mehr davon reden. Es schien, als habe das Einhorn Kunde von einem gegen es geschmiedeten Komplott bekommen. Man hatte zu viel davon gesprochen, selbst vermittels des Kabels! Auch scherzte man, der schlaue Fuchs habe einige Telegramme aufgefangen, und mache sich nun ihren Inhalt zunutze.

Als daher die Fregatte für eine weite Fahrt gerüstet und mit fürchterlichen Maschinen versehen war, wusste man nicht, wohin die Fahrt zu richten sei. Endlich verlautete, ein Dampfer von der Linie San Francisco in Kalifornien nach Schanghai habe das Tier 3 Wochen zuvor in den nördlichen Gewässern des Pazifiks gesehen. Es entstand die äußerste Aufregung. Man ließ Kommandant Farragut kaum 24 Stunden Frist. Seine Vorräte waren eingeschifft, Kohlen in Überfluss, kein Mann der Bemannung fehlte an seinem Platz; man brauchte nur zu heizen, auszulaufen! Einen halben Tag Zögerung hätte man ihm nicht verziehen! Zudem war der Kommandant selbst voll Eifer.

3 Stunden, bevor die ›Abraham Lincoln‹ von Brooklyn abfuhr, erhielt ich folgendes Billett:

Herrn Arronax, Professor am Museum zu Paris, 5th Avenue Hotel, New York.

Mein Herr!

Wenn Sie sich der Expedition der ›Abraham Lincoln‹ anschließen wollen, wird die Regierung der Vereinigten Staaten erfreut sein, dass Frankreich sich durch Sie an dieser Unternehmung beteiligt. Kommandant Farragut hält eine Kabine zu Ihrer Verfügung bereit.

Ergebenst der Ihrige

J. B. Hobson,

Marineminister

 


3. KAPITEL

Wie es meinem Herrn beliebt.

3 Sekunden vor Ankunft des Briefs von J. B. Hobson dachte ich ebenso wenig das Einhorn zu verfolgen, als die nordwestliche Durchfahrt zu versuchen. 3 Sekunden nachdem ich den Brief des ehrenwerten Marineministers gelesen, begriff ich endlich, dass mein wahrer Beruf, das einzige Ziel meines Lebens, darin bestehe, das beunruhigende Ungeheuer zu verjagen und die Welt von ihm zu befreien.

Doch ich kam von einer mühevollen Reise erschöpft, nach Ruhe mich sehnend. Ich trachtete nur danach, meine Heimat wiederzusehen, meine Freunde, meine kleine Wohnung im Jardin des Plantes, meine teueren und kostbaren Sammlungen! Aber nichts konnte mich zurückhalten. Ich vergaß alles, Ermüdung, Freunde, Sammlungen, und nahm ohne weiteres Bedenken die Anerbietung der amerikanischen Regierung an.

»Übrigens«, dachte ich, »führt jeder Weg nach Europa zurück, und das Einhorn wird wohl so liebenswürdig sein, mich nach den Küsten Frankreichs hinzuziehen! Dieses respektable Tier wird sich in den Gewässern Europas – zu meinem persönlichen Vergnügen – fangen lassen – und ich will dem naturhistorischen Museum nicht weniger als ein halbes Meter von seiner elfenbeinernen Hellebarde mitbringen.«

Aber einstweilen musste ich den Narwal im Norden des Pazifiks aufsuchen; was ebenso viel war, als für die Rückkehr nach Frankreich den Weg zu den Antipoden einschlagen.

»Conseil!«, rief ich ungeduldig.

Conseil war mein Diener. Ein ergebener Bursche, der mich auf allen meinen Reisen begleitete; ein braver Flame, den ich lieb hatte und der mir’s vergalt; phlegmatisch von Natur, regelmäßig aus Grundsatz, dienstbeflissen aus Gewohnheit, ließ er sich durch die überraschenden Fälle im Leben wenig irremachen; mit gewandten Händen zu jedem Dienst geeignet, war er niemals mit seinem Rat zudringlich.

Durch seine Berühungen mit den Gelehrten unserer kleinen Welt des Jardin des Plantes hatte Conseil es dazu gebracht, dass er etwas wusste. Ich hatte in ihm einen Spezialisten, der, sehr bewandert IN der naturhistorischen Klassifikation, mit der Gewandtheit eines Seiltänzers die ganze Stufenleiter der Verzweigungen, Gruppen, Klassen, Unterabteilungen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Untergattungen, Arten und Varietäten auf und ab lief. Aber hier war auch die Grenze seines Wissens. Klassifizieren war sein Lebenselement, mehr aber verstand er auch nicht. In der Theorie der Klassifikation sehr bewandert, wenig in der Praxis, hätte er, glaub’ ich, nicht einen Pottfisch von einem Walfisch unterscheiden können! Und doch, was für ein wackerer, tüchtiger Junge!

Conseil hatte bisher seit 10 Jahren mich überall, wohin mich die Wissenschaft zog, begleitet. Nie hörte man aus seinem Mund eine Bemerkung über die lange Dauer oder die Beschwerden einer Reise. Kein Einwand, wenn er seinen Ranzen zu schnallen hatte für eine Reise in jedes Land, so fern es auch sein mochte, China oder Kongo. Er ging hierhin wie dorthin, ohne weiter zu fragen.

Übrigens von trefflicher Gesundheit, die allen Krankheiten trotzte, starken Muskeln, aber ohne Nerven, nicht einen Schein von Nerven – moralisch, versteht sich.

Dieser Junge war 30 Jahre alt, und seines Herrn Alter verhielt sich zu diesem wie 20 zu 15.

Nur einen Fehler hatte Conseil. Entsetzlich förmlich sprach er mit mir nur in der dritten Person.

»Conseil!«, rief ich abermals, während ich mit fieberhafter Eile meine Vorbereitungen zur Abreise begann.

Sicher konnte ich mich auf diesen ergebenen Jungen verlassen.

In der Regel fragte ich ihn nie, ob es ihm beliebe oder nicht, mich auf meinen Reisen zu begleiten; aber diesmal handelte sich’s um eine Expedition, die sich unendlich in die Länge ziehen konnte, eine gefahrvolle Unternehmung zur Verfolgung eines Tieres, das fähig war, eine Fregatte wie eine Nussschale zu zertrümmern! Da galt es zu überlegen, selbst für einen Menschen, den nichts in der Welt in Verlegenheit brachte! Was würde wohl Conseil dazu sagen?

»Conseil!«, rief ich zum dritten Mal.

»Mein Herr ruft mich?«, sagte er beim Eintreten.

»Ja, mein Junge. Mach dich fertig, hilf mir, mich fertigmachen.

In 2 Stunden reisen wir ab.«

»Wie es dem Herrn beliebt«, erwiderte Conseil ruhig.

»Kein Augenblick ist zu verlieren. Pack in meinen Koffer all meine Reiseutensilien, Kleider, Hemden, Strümpfe, so viele du nur kannst, und beeil dich!«

»Und des Herrn Sammlungen?«, bemerkte Conseil.

»Man wird sich später damit befassen.«

»Wie? Die Archiotherium, Hyracotherium, Oreodon, die Cheropotamus und andere Gerippe meines Herrn?«

»Man wird sie im Hotel aufheben.«

»Und der lebendige Babirussa meines Herrn?«

»Man wird ihn in meiner Abwesenheit füttern. Übrigens werde ich Auftrag geben, unsere Menagerie nach Frankreich zu befördern.«

»Wir kehren also nicht zurück nach Paris?«, fragte Conseil.

»Ja ... Gewiss ...« erwiderte ich ausweichend, »aber auf einem Umweg.«

»Wie es meinem Herrn beliebt.«

»Oh! Es macht wenig aus! Ein nicht ganz direkter Weg, das ist alles. Wir fahren mit auf der ›Abraham Lincoln‹.«

»Wie es meinem Herrn beliebt«, versetzte Conseil ruhig.

»Du weißt, lieber Freund, es handelt sich um das Ungeheuer ... den famosen Narwal ... Wir werden die Meere davon befreien ...!

Der Verfasser eines Werks in zwei Quartbänden über die »Geheimnisse der großen unterseeischen Tiefen« kann nicht umhin, mit dem Kommandanten Farragut in See zu stechen. Ein ehrenvoller, aber auch gefahrvoller Auftrag! Man weiß nicht, wohin man sich wenden soll! Diese Tiere können sehr schlimme Laune haben!

Aber trotzdem gehen wir! Unser Kommandant hat den Kopf auf der rechten Stelle ...

»Was mein Herr tut, das tue ich auch«, erwiderte Conseil.

»Und merk dir wohl! – denn ich will dir’s nicht verhehlen – ’s ist eine Reise, von der nicht jeder wieder heimkommt!«

»Wie es meinem Herrn gefällt.«

 

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Nach einer Viertelstunde waren unsere Koffer fertig. Conseil hatte es in einem Griff gemacht, und ich war sicher, dass nichts mangelte, denn der Junge verstand die Hemden und Kleider ebenso gut zu ordnen wie die Vögel und Säugetiere. Wir begaben uns ins Erdgeschoss, wo ich in dem geräumigen, stets umlagerten Comptoir meine Rechnung berichtigte, den Auftrag erteilte, meine Kisten mit ausgebalgten Tieren und getrockneten Pflanzen nach Paris zu schicken, und dem Babirussa einen hinlänglichen Kredit eröffnete. Darauf stieg ich in Conseils Begleitung in einen Wagen, der uns um 20 Franc durch Broadway, Fourth Avenue und Katsin Street zum 34. Pier (ein besonderer Kai für jedes Fahrzeug) fuhr, wo ein Fahrzeug uns samt Wagen und Pferden aufnahm und nach Brooklyn brachte, dem großen Quartier von New York am linken Ufer des östlichen Flusses, wo wir in einigen Minuten an dem Kai anlangten, bei dem die ›Abraham Lincoln‹ aus seinen zwei Rauchfängen schwarze Säulen emporwirbelte. Unser Gepäck wurde unverzüglich aufs Verdeck der Fregatte gebracht, ich eilte an Bord und fragte nach Kommandant Farragut.

Ein Matrose führte mich aufs Vorderverdeck zu einem Offizier von stattlichem Aussehen, der mir die Hand reichte.

»Herr Pierre Arronax?«, sagte er.

»Der bin ich. Kommandant Farragut?«

»In eigener Person. Seien Sie willkommen, Herr Professor. Ihre Kabine wartet schon auf Sie.«

Ich grüßte, ließ den Kommandanten bei seiner Beschäftigung und folgte einem Begleiter in die für mich bestimmte Kabine.

Die ›Abraham Lincoln‹ war für ihre neue Bestimmung trefflich ausgewählt und eingerichtet. Es war eine schnell segelnde Fregatte mit einem Heizungsapparat, der die Dampfkraft bis auf 7 Atmosphären zu steigern gestattete. Dadurch bekam er eine mittlere Geschwindigkeit von 18,3 Meilen die Stunde; doch war diese beträchtliche Schnelligkeit nicht ausreichend für einen Kampf mit dem Riesentier.

Die inneren Einrichtungen der Fregatte entsprachen ihren nautischen Vorzügen. Ich war mit meiner Kabine sehr zufrieden; sie lag am hinteren Schiffsteil und stieß an das Offizierszimmer. »Wir sind hier wohl aufgehoben«, sagte ich zu Conseil.

»So gut, mit Erlaubnis meines Herrn, als der Einsiedler Bernhard in der Muschelschale.«

Ich überließ es Conseil, unsere Koffer gehörig zu ordnen, und begab mich wieder aufs Verdeck, um den Vorbereitungen zur Abfahrt zuzusehen.

In diesem Augenblick ließ Kommandant Farragut die letzten Taue lösen, welche die ›Abraham Lincoln‹ an den Kai fesselten. Also eine Viertelstunde Verspätung, und die Fregatte fuhr ohne mich ab, sodass ich diese außerordentliche, übernatürliche, unwahrscheinliche Expedition verfehlte, deren wahrheitsgetreue Erzählung doch vielleicht auf manche Ungläubige stoßen wird.

Aber Kommandant Farragut wollte nicht einen Tag verlieren, nicht eine Stunde, um in das Meer zu kommen, wo das Tier verspürt worden war. Er ließ seinen Ingenieur kommen.

»Haben wir gehörig Dampf?«, fragte er ihn.

»Ja, mein Herr«, erwiderte der Ingenieur.

»Go head«, rief Kommandant Farragut.

Auf diesen Befehl, der vermittels eines Apparats mit verdichteter Luft zur Maschine befördert wurde, setzten die Maschinenleute das Rad in Bewegung. Der Dampf zischte, indem er in die Behälter drang. Die langen horizontalen Stempel dröhnten und trieben die Stangen der Welle.

Mit zunehmender Schnelligkeit wurden die Wellen von der Schraube geschlagen, und die ›Abraham Lincoln‹ bewegte sich majestätisch inmitten von hundert Fähren und Tendern (kleine Dampfboote zur Bedienung der großen Steamer) voll Zuschauer, die ihr das Geleit gaben.

Die Kais zu Brooklyn und der ganze Teil von New York, der an das östliche Ufer stößt, waren mit Neugierigen bedeckt. Drei Hurras nacheinander hörte man aus der Brust von einer halben Million erschallen. Tausende von Taschentüchern über der dichten Volksmasse geschwenkt, begrüßten die ›Abraham Lincoln‹, bis sie in die Gewässer des Hudson, an der Spitze der langen Halbinsel, gelangte, die New York bildet.

Darauf fuhr die Fregatte in der Richtung von New Jersey an dem wunderschönen rechten, ganz mit Landhäusern bedeckten Ufer des Flusses zwischen den Forts durch, die sie mit ihren größten Kanonen begrüßten.

Die ›Abraham Lincoln‹ erwiderte den Gruß durch dreimaliges Aufziehen der amerikanischen Flagge mit ihren 39 an der Spitze des Hintermastes glänzenden Sternen; hierauf änderte er seinen Lauf, um das mit Baken versehene Fahrwasser in der inneren durch die Spitze Sandy Hook gebildeten Bai zu gewinnen, und fuhr längs dieser sandigen Erdzunge, wo Tausende von Zuschauern ihn nochmals begrüßten.

Das Geleit der Boote und Tender verließ die Fregatte erst auf der Höhe des Leuchtboots, dessen zwei Feuer die Einfahrt in das Seegatt von New York bezeichnen.

Schlag 3 stieg der Lotse in sein Boot und fuhr zu der kleinen Goélette, die ihn unterm Wind erwartete. Die Feuer wurden geschürt, die Schraube schlug rascher die Wellen; die Fregatte strich längs der gelben niedrigen Küste von Long Island, und um 8 Uhr abends, nachdem sie die Feuer von Fire Island nordwestlich aus dem Gesicht verloren, lief sie mit voller Dampfkraft in die dunklen Wasser des Atlantiks.

 


4. KAPITEL

Ned Land

Kommandant Farragut war ein tüchtiger Seemann, seiner Fregatte würdig. Er fühlte sich eins mit seinem Schiff, war seine Seele. Über das Seeungeheuer hegte er nicht den mindesten Zweifel, und er gestattete gar nicht, dass an Bord seines Schiffs über die Existenz des Tieres disputiert wurde. Er glaubte daran wie manche gute Frauen an Leviathan – nicht aus Vernunftgründen, sondern als an einen Glaubensartikel. Das Ungeheuer existierte, und er hatte geschworen, die Meere von ihm zu befreien. Entweder Kommandant Farragut würde den Narwal töten oder der Narwal den Kommandanten.

Ein Drittes gab’s nicht.

Die Offiziere an Bord teilten die Ansicht ihres Chefs. Man musste sie reden hören, disputieren, diskutieren, die verschiedenen möglichen Fälle bei einem Zusammentreffen in Berechnung ziehen, das weite Meer beobachten. Mancher, der sonst einen solchen Dienst verwünscht hätte, übernahm freiwillig eine Wache auf dem Mastgebälk. Solange die Sonne am Himmel stand, waren die Masten voll Matrosen, denen auf dem Verdeck die Fußsohlen brannten und die sich nicht an ihrem Platz halten konnten! Und doch befand sich die ›Abraham Lincoln‹ noch nicht in den verdächtigen Gewässern des Pazifiks.

Die Mannschaft war eifrigst gespannt, mit dem Einhorn zusammenzutreffen, die Harpune zu werfen, es an Bord zu ziehen und dann zu zerhauen. Sie beobachtete mit sorglichster Achtsamkeit die Meeresfläche. Übrigens sprach Kommandant Farragut von einer Summe von 2.000 Dollar, die er aussetzte – Schiffsjunge, Matrose oder Offizier – der das Tier signalisierte. Da kann man sich denken, wie an Bord der ›Abraham Lincoln‹ sich die Augen abmühten!

Ich meinesteils blieb hinter den anderen nicht zurück und überließ niemand meinen Teil an der täglichen Beobachtung. Die Fregatte hätte hundertfach Grund gehabt, den Namen ›Argus‹ zu führen. Nur der einzige Conseil stand mit seiner Gleichgültigkeit im Widerspruch mit uns in Hinsicht der Frage, die uns in Bewegung setzte, und stimmte nicht in den allgemeinen Enthusiasmus ein.

Ich habe gesagt, Kommandant Farragut habe sein Schiff wohl mit Werkzeugen und Vorkehrungen versehen, um das Riesentier zu fischen. Wir waren im Besitz aller bekannten Maschinen, von der mit der Hand geworfenen Harpune bis auf die explodierenden Kugeln der Geschütze.

Auf dem Vordersteven war eine vervollkommnete Kanone, Hinterlader, von sehr starker Mündung und sehr enger Seele, deren Modell auf der nächsten Weltausstellung figurieren sollte. Dieses vortreffliche Instrument amerikanischen Ursprungs schleuderte leicht ein konisches Projektil von 4 Kilogramm auf eine durchschnittliche Entfernung von 16 Kilometer.

Es fehlte also der ›Abraham Lincoln‹ nicht an Mordmitteln.

Aber sie besaß noch mehr, den Harpunierkönig Ned Land.

Ned Land war ein Kanadier von seltenem Handgeschick, der seinesgleichen in dem gefährlichen Handwerk nicht hatte. Er besaß Gewandtheit und Kaltblütigkeit, Kühnheit und List in besonders hohem Grad, und ein Walfisch musste schon recht tückisch, ein Pottfisch besonders listig sein, um seiner Harpune zu entrinnen.

Ned Land war etwa 40 Jahre alt, hochgewachsen – über 6 englische Fuß –, kräftig gebaut, von ernster Miene, wenig mitteilsam, manchmal heftig und sehr zornig, wenn man ihn reizte. Seine Person erregte Aufmerksamkeit, zumal die Macht seines Blicks, der seine Züge besonders belebte.

Kommandant Farragut hatte wohl sehr weise getan, diesen

Mann für sein Schiff zu gewinnen. Er allein wog mit Auge und Arm die ganze Mannschaft auf. Ich könnte ihn am besten mit einem starken Teleskop vergleichen, das zugleich als Kanone stets schussfertig wäre.

Kanadier sind Franzosen, und so wenig mitteilsam Ned Land war, hatte er doch, erkenne ich an, eine gewisse Anhänglichkeit an mich. Ohne Zweifel zog ihn meine Nationalität an. Ich gab ihm eine Gelegenheit sich zu unterreden, und er mir eine solche, die alte Sprache des Rabelais zu hören, die in einigen Gegenden Kanadas noch in Gebrauch ist. Die Familie des Harpuniers stammte aus Quebec und bildete schon zu der Zeit, als diese Stadt den Franzosen gehörte, einen kühnen Fischerstamm.

Allmählich bekam Ned Lust zu plaudern, und ich hörte ihn gern von seinen Abenteuern in den Polarmeeren erzählen. Er sprach mit viel natürlicher Poesie von seinem Fischfang und seinen Kämpfen dabei. Sein Vortrag hatte echt epische Form, und ich glaubte manchmal einen kanadischen Homer zu hören, der die Iliade der Hyperboreerlande sang.

Ich schildere eben diesen kühnen Gesellen so, wie ich ihn gegenwärtig kenne. Wir sind alte Freunde geworden, geeinigt durch die unerschütterliche Sympathie, die in den entsetzlichsten Lebenslagen entsteht und aneinander fesselt! Wackerer Ned! Ich möchte noch hundert Jahre leben, um mich noch recht lange deiner zu erinnern!

Und jetzt, was war denn Ned Lands Meinung in der Frage des Seeungeheuers? Ich muss gestehen, dass er an das Einhorn wenig glaubte und dass er allein an Bord die allgemeine Ansicht nicht teilte. Er mied selbst von dem Gegenstand zu sprechen, sodass ich ihm einmal glaubte, darin zu Leibe gehen zu müssen.

An einem prachtvollen Abend des 30. Juli, d. h. 3 Wochen nach unserer Abfahrt, befand sich die Fregatte auf der Höhe des Kaps Blanco, 30 Meilen unterm Wind an der patagonischen Küste. Wir waren über den Wendekreis des Steinbocks hinaus, und die Magellanische Enge war keine 700 Meilen mehr südlich. Vor Ablauf von 8 Tagen konnte die ›Abraham Lincoln‹ die Wogen des Pazifiks durchsegeln.

Wir saßen, Ned Land und ich, auf dem Hinterverdeck und plauderten über dies und jenes, indem wir auf das geheimnisvolle Meer hinschauten, dessen Tiefen bis jetzt den Blicken der Menschen unzugänglich gewesen sind. Ich führte ganz natürlich das Gespräch auf das Rieseneinhorn und prüfte die verschiedenen Aussichten unserer Unternehmung auf Gelingen oder Misslingen. Hernach, als Ned mich reden ließ, ohne darauf zu antworten, setzte ich ihm direkter zu.

»Wie ist es, Ned«, fragte ich, »wie ist nur möglich, dass Sie von der Existenz des Tieres, das wir verfolgen, nicht überzeugt sind?

Haben Sie denn besondere Gründe, sich so ungläubig zu zeigen?«

Der Harpunier sah mich erst eine Weile an, bevor er mir antwortete, schlug sich dann mit einer ihm eigentümlichen Handbewegung auf seine große Stirn, schloss die Augen, als wolle er sich sammeln, und sagte endlich:

»Vielleicht wohl, Herr Arronax.«

»Doch, Ned, Sie, ein Walfischfänger von Profession, der mit den großen Seesäugetieren vertraut ist, dessen Einbildungskraft leicht die Hypothese von enormen Seetieren gelten lassen kann, Sie sollten der Letzte sein, der in solche Dinge Zweifel setzt!«

»Darin gerade irren Sie, Herr Professor«, erwiderte Ned. »Mag die Menge an außerordentliche Kometen glauben, die den Raum durchlaufen, oder an das Dasein urweltlicher Ungeheuer, die im Innern des Erdballs hausen, das geht noch an, aber weder der Astronom noch der Geologe lassen solche Hirngespinste gelten.

Ebenso der Walfischfänger. Ich habe manche Seetiere verfolgt, viele harpuniert, eine Menge erlegt, aber so stark und wohlbewaffnet sie auch waren, weder mit den Schwänzen noch mit den Zähnen hätten sie den Eisenplatten eines Dampfers etwas anhaben können.«

»Doch, Ned, führt man Schiffe an, die der Narwal mit seinem Zahn durch und durchgebohrt hat.«

»Hölzerne, wohl möglich«, erwiderte der Kanadier; und dazu hab’ ich solche nie gesehen. Also, bis mir der Beweis vom Gegenteil erbracht wird, leugne ich, dass Walfische, Pottfische oder Einhörner solch eine Wirkung hervorbringen können.«

»Hören Sie mich an, Ned ...«

»Nein, Herr Professor, nein. Alles sonst, was Sie wollen, nur dies nicht. Ein Riesenpolyp vielleicht ...?«

»Noch weniger, Ned. Der Polyp ist nur eine Molluske, von wenig festem Fleisch, wie schon dieser Name andeutet. Wäre ein Polyp – der nicht zu den Wirbeltieren gehört – auch 500 Fuß lang, so ist er doch durchaus ungefährlich für solche Schiffe wie die ›Scotia‹ oder ›Abraham Lincoln‹. Es müssen also die Heldentaten der Kraken und anderen Ungeheuer der Art ins Reich der Fabeln verwiesen werden.«

»Also, Herr Naturforscher«, fuhr Ned Land mit etwas schelmischem Ton fort, »Sie beharren bei der Annahme, dass ein enormes Seesäugetier vorhanden sei ...?«

»Ja, Ned, ich wiederhole es mit einer Überzeugung, die sich auf die Logik der Tatsachen stützt. Ich glaube an die Existenz eines stark organisierten Seesäugetiers aus der Klasse der Wirbeltiere wie der Walfisch, Pottfisch und Delfin, das mit einer hörnernen Waffe von äußerster Stärke versehen ist.«

»Hm!«, sagte der Harpunier, und schüttelte den Kopf als ein Mann, der sich nicht überzeugen lassen will.

»Bemerken Sie, mein wackerer Kanadier«, fuhr ich fort, »dass, wenn ein solches Tier existiert, wenn es die Tiefen des Ozeans bewohnt, wenn es in den Wasserschichten verkehrt, die einige Meilen unter der Oberfläche sind, es notwendig einen Organismus haben muss, dessen Festigkeit über alle Vergleichung geht.«

»Und weshalb dieser starke Organismus?«, fragte Ned.

»Weil eine unberechenbare Kraft nötig ist, um sich in den tiefen Schichten aufzuhalten und dem Druck dort zu widerstehen.«

»Wirklich?«, sagte Ned, und sah mich blinzelnd an.

»Wirklich, und einige Zahlen werden es leicht beweisen.«

»Oh! Zahlen!« versetzte Ned. »Mit Zahlen lässt sich alles machen!«

»In Geschäften, Ned, aber nicht in der Mathematik. Hören Sie nur. Nehmen wir an, dass der Druck einer Atmosphäre dem Druck einer Wassersäule von 32 Fuß Höhe entspricht. In Wirklichkeit würde die Wassersäule nicht so hoch sein, weil das Meerwasser dichter ist als das süße. Nun, Ned, wenn Sie untertauchen, muss Ihr Körper, sovielmal er 32 Fuß Wasser über sich hat, ebensovielmal einen Druck gleich dem der Atmosphäre aushalten, nämlich ein Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter seiner Oberfläche.

Daraus folgt, dass bei 320 Fuß Tiefe dieser Druck 10 Atmosphären entspricht, und 100 Atmosphären bei 3.200 Fuß Tiefe, 1.000 Atmosphären bei 32.000 Fuß. Dies will ebenso viel heißen, als dass, wenn

Sie bis in eine solche Tiefe gelangen können, jeder Quadratzentimeter der Oberfläche Ihres Körpers einen Druck von 1.000 Kilogramm zu erleiden haben würde. Nun, wissen Sie, wackerer Ned, wie viel Quadratzentimeter Oberfläche Ihr Körper hat?«

»Ich habe keine Ahnung davon, Herr Arronax.«

»Ungefähr 17.000.«

»So viele?«

»Und da in Wirklichkeit der atmosphärische Druck etwas mehr als ein Kilogramm auf den Quadratzentimeter beträgt, so haben Ihre 17.000 Quadratzentimeter in diesem Augenblick einen Druck von 17.568 Kilogramm auszuhalten.«

»Ohne dass ich’s merke?«

»Ohne es wahrzunehmen. Und dass Sie nicht von einem solchen Druck zerquetscht werden, kommt daher, dass die Luft im Innern Ihres Körpers einen gleichen Druck ausübt. Es entsteht daraus ein vollständiges Gleichgewicht des inneren und äußeren Drucks, die sich einander aufheben, sodass Sie es leicht aushalten. Im Wasser aber ist’s anders.«

»Ja, ich begreife«, erwiderte Ned, der aufmerksamer geworden war, »weil das Wasser mich umgibt, nicht ebenso mich durchdringt.«

»Richtig, Ned. Also bei 32 Fuß unter der Meeresoberfläche hätten Sie einen Druck von 17.568 Kilogramm auszuhalten; bei 320

Fuß diesen Druck 10fach, nämlich 175.680 Kilogramm; bei 3.200 Fuß 100fach, nämlich 1.756.800 Kilogramm; bei 32.000 Fuß endlich den 1.000fachen Druck, nämlich von 17.568.000 Kilogramm; d. h., Sie würden platt gedrückt wie unter den Platten einer hydraulischen Presse!«

»Teufel!«, sagte Ned.

»Nun denn, mein werter Harpunier, wenn Wirbeltiere, die einige hundert Meter lang und verhältnismäßig dick sind, sich in solchen Tiefen aufhalten können und ihre Oberfläche Millionen Zentimeter beträgt, so ist der Druck, den sie aushalten können, auf Milliarden Kilogramm anzuschlagen. Nun rechnen Sie, wie groß muss die Widerstandskraft ihres Knochenbaues und die Stärke ihres Organismus sein, um solchem Druck Widerstand zu leisten!«

»Sie müssen wohl«, versetzte Ned Land, »mit 8 Zoll dickem Eisenblech beschlagen sein wie die Panzerfregatten.«

»So ist’s, Ned, und nun denken Sie, was eine solche mit der Schnelligkeit eines Eilzugs gegen einen Schiffsrumpf anstürzende Masse für Zerstörung anrichten kann.«

»Ja ... wirklich ... vielleicht«, erwiderte der Kanadier, der durch diese Ziffern zwar wankend geworden, doch sich noch nicht ergeben wollte.

»Nun, hab’ ich Sie überzeugt?«

»Sie haben, Herr Naturforscher, mich davon überzeugt, dass, wenn auf dem Grund des Meeres solche Tiere existieren, sie notwendig so stark sein müssen, wie Sie sagten.«

»Aber wenn sie nicht existieren, starrköpfiger Harpunier, wie erklären Sie dann den Unfall, der die ›Scotia‹ traf ?«

»Vielleicht ...«, sagte Ned stotternd.

»Nun, nun!«

»Weil ... es nicht wahr ist!«, erwiderte der Kanadier, indem er, ohne es zu wissen, die Antwort wiederholte, die einmal der berühmte Arago gab.

Aber diese Antwort bewies doch nur die Hartnäckigkeit des Harpuniers. Damals drängte ich ihn nicht weiter. Der Unfall der

›Scotia‹ war nicht zu leugnen. Das Loch war so stark, dass man es stopfen musste, und ich glaube nicht, dass das Vorhandensein eines Loches entschiedener bewiesen werden kann. Dieses Loch aber ist nicht von selbst entstanden, und da es nicht von Felsen oder Maschinen unterm Meer hervorgebracht worden ist, so ist es notwendig dem durchbohrenden Werkzeug eines Tieres zuzuschreiben.

Meiner Ansicht nach, und aus allen vorhin angeführten Gründen, gehörte nun dieses Tier der Abteilung der Wirbeltiere an, zur Klasse der Säugetiere, Gruppe der Fischförmigen, und endlich zur Ordnung der Walfischartigen. Zu welcher Familie es zu rechnen, Walfisch, Pottfisch oder Delfin, zu welcher Gattung und Art, wäre eine später zu beleuchtende Frage. Um diese zu lösen, müsste man das unbekannte Ungeheuer erst zerlegen; um es zu zerlegen, es fangen; um es zu fangen, die Harpune werfen; zum Harpunieren müsste man es sehen – was der Mannschaft zufiele; dafür aber müsste man ihm begegnen, was eine Sache des Zufalles ist.

 


5. KAPITEL

Auf gut Glück!

Die Fahrt der ›Abraham Lincoln‹ wurde eine Zeit lang von keinem Zwischenfall betroffen. Doch konnte man bei einer Gelegenheit, welche die merkwürdige Geschicklichkeit Ned Lands kundgab, erkennen, welches Vertrauen man auf ihn setzen konnte.

Auf der hohen See bei den Falklands-Inseln begegnete die Fregatte am 30. Juni amerikanischen Walfischfängern, die keine Kunde vom Narwal geben konnten. Als aber einer von ihnen, Kapitän Monroe, erfuhr, dass Ned Land sich an Bord der ›Abraham Lincoln‹ befand, so erbat er sich dessen Beistand, um auf einen Walfisch, der in Sicht war, Jagd zu machen. Kommandant Farragut, dem es erwünscht war, Ned Land sein Werk verrichten zu sehen, gab ihm die Erlaubnis, sich an Bord des Monroe zu begeben. Und unser Kanadier war so glücklich, dass er anstatt eines Walfischs mit einem Doppelwurf deren zwei harpunierte, indem er den einen ins Herz traf, des andern nach einigen Minuten Meister wurde!

Unstreitig, wenn das Ungeheuer jemals mit Ned Lands Harpune zu schaffen bekommt, gehe ich keine Wette zu seinen Gunsten ein.

Die Fregatte fuhr längs der Südostküste von Amerika mit erstaunlicher Schnelligkeit. Am 3. Juli waren wir am Eingang der Magellanischen Enge, auf der Höhe des Kaps de las Virgines. Aber Kommandant Farragut wollte diese gewundene Straße nicht einschlagen und beschloss, um das Kap Horn zu fahren. Und in der Tat war es auch nicht wahrscheinlich, dass man in dieser Enge auf den Narwal stoßen werde.

Am 6. Juli, um 3 Uhr abends, fuhr die ›Abraham Lincoln‹, 15 Meilen südlicher, um das Inselchen, den verlorenen Felsen am äußersten Ende des amerikanischen Kontinents, dem holländische Matrosen den Namen ihrer Geburtsstadt Horn gegeben hatten.

Nun fuhr man in nordwestlicher Richtung, und die Fregatte lief endlich in den Pazifik ein. –

»Jetzt Achtung! Augen auf !« riefen wiederholt die Matrosen der ›Abraham Lincoln‹.

Und sie öffneten sie über die Maßen weit. Augen und Fernrohre, zwar durch die Perspektive der 2.000 Dollar etwas geblendet, blieben nicht einen Augenblick untätig. Tag und Nacht beobachtete man die Wasserfläche, und die Nachtsichtigen hatten mehr Aussicht das Spiel zu gewinnen.

Ich, auf den das Geld keine Anziehungskraft übte, war darum nicht minder achtsam an Bord. Ich vergönnte mir zum Essen nur einige Minuten, zum Schlafen nur einige Stunden, verließ, unbekümmert um Regen oder Sonnenschein, keinen Augenblick das Verdeck. Bald auf die Schanzverkleidung des Vorderkastells, bald auf das Gebälk des hinteren gelehnt, folgte ich mit gierigen Blicken dem schaumigen Kielwasser, so weit das Gesicht reichte. Wie oft teilte ich die Aufregung der Offiziere, der Mannschaft, wann ein Walfisch launisch mit schwärzlichem Rücken aus dem Gewässer hervorragte. Dann füllte sich im Augenblick das Verdeck mit Matrosen und Offizieren. Jeder beobachtete mit beklommener Brust und trübem Blick das schwimmende Tier. Ich schaute und schaute, dass ich meine Netzhaut abnützte, blind zu werden drohte, während Conseil, stets phlegmatisch, mir mit ruhigem Ton wiederholt zusprach:

»Wenn mein Herr die Güte haben wollte, die Augen weniger aufzureißen, so würde man wohl mehr sehen!«

Aber, vergebliche Aufregung! Die ›Abraham Lincoln‹ änderte ihre Richtung, das signalisierte Tier anzugreifen, Walfisch oder Pottfisch, es verschwand jedoch bald von einem Hagel von Flüchen begleitet!

Doch das Wetter war fortwährend günstig. Die Fahrt wurde unter besseren Bedingungen weiter verfolgt. Es war damals die üble Jahreszeit des Südens, denn der Juli dieser Zone entspricht unserem Januar in Europa; aber das Meer hielt sich ruhig und gestattete in weitem Umfang die Beobachtung.

Ned Land zeigte stets hartnäckige Ungläubigkeit; er stellte sich sogar, als beobachte er außer der Zeit, da er auf dem Verdeck sein musste, gar nicht die Wasserfläche – wenigstens, wenn nicht ein Walfisch in Sicht war. Und doch hätte seine merkwürdige Sehkraft große Dienste leisten können. Aber der starrköpfige Kanadier brachte von 12 Stunden 8 mit Lesen oder Schlafen in seiner Kabine zu. Ich machte ihm oft Vorwürfe über seine Gleichgültigkeit.

»Pah!«, erwiderte er, »’s ist nichts dran, Herr Arronax, und wäre es so ein Tier, was haben wir für eine Aussicht, es zu Gesicht zu bekommen? Fahren wir nicht so aufs Geratewohl? Man hat das unauffindbare Tier, sagt man, auf offener See im Pazifik wiedergesehen, ich glaub’s gern; aber es sind seit jener Begegnung schon 2 Monate verflossen, und will man das Temperament Ihres Narwal beachten, so hält er sich nicht gern lange in denselben Gegenden auf ! Er ist fähig, mit erstaunlicher Leichtigkeit seine Stelle zu wechseln. Nun tut, wie Sie, Herr Professor, besser als ich wissen, die Natur nichts Verkehrtes, und sie würde ein seiner Natur nach langsames Tier nicht mit der Fähigkeit rascher Bewegung ausstatten, wenn es sie nicht benötigen würde. Folglich, existiert das Tier, so ist es bereits weit weg!«

Hierauf wusste ich nichts zu erwidern. Offenbar tappten wir wie Blinde. Aber wie sollte man sonst verfahren? Darum hatten wir auch sehr beschränkte Aussichten. Doch zweifelte niemand am Erfolg, und es war kein Matrose an Bord, der nicht gegen den Narwal und sein baldiges Erscheinen eine Wette eingegangen wäre.

Am 20. Juli durchschnitten wir den Wendekreis des Steinbocks unterm 105° der Länge, und am 27. desselben Monats den Äquator unterm 110. Meridian. Hierauf nahm die Fregatte eine mehr entschieden westliche Richtung an und drang in die mittleren Gewässer des Pazifiks ein. Kommandant Farragut urteilte richtig, es sei besser, die tieferen Gewässer aufzusuchen, und sich von den Landstrecken oder Inseln fernzuhalten, die das Tier offenbar zu vermeiden gesucht hatte, »ohne Zweifel, weil es dort nicht Wasser genug hatte«, sagte der Gepäckmeister. Die Fregatte fuhr daher in weiter Entfernung von den Pomotu-, Marquesas- und Sandwich-Inseln, durchschnitt unterm 132° Länge den Wendekreis des Krebses und wendete sich dann nach den Chinesischen Meeren.

Endlich befanden wir uns auf dem Schauplatz, wo das Ungeheuer zuletzt sich aufgehalten hatte! Da klopften alle Herzen erschreckt; die ganze Mannschaft geriet in eine nervöse Aufregung, die sich nicht beschreiben lässt. Man vergaß Essen und Schlafen.

Zwanzigmal täglich war eine irrige Schätzung, eine optische Täuschung einiger Matrosen imstande, unerträglichen Schrecken zu veranlassen, und diese zwanzigfach wiederholten Gemütsbewegungen hielten uns in einem Zustand so arger Spannung, dass eine Reaktion nicht ausbleiben konnte.

Und in der Tat ließ sie nicht auf sich warten. 3 Monate lang, 3 Monate, wo jeder Tag ein Jahrhundert dauerte! Die ›Abraham Lincoln‹ durchfuhr alle nördlichen Meeresstriche des Pazifiks, lief die signalisierten Walfische an, kreuzte in raschen Wendungen hin und her, hielt plötzlich an, steigerte die Spannung des Dampfes und ließ wieder nach, Schlag auf Schlag mit Gefahr, die Maschine aus gleichem Gang zu bringen. So ließ sie keinen Punkt von Japan bis zur amerikanischen Küste undurchsucht. Und es ergab sich nichts, nichts als das unermessliche, öde Meer! Nichts was einem riesenhaften Narwal, einem unterseeischen Inselchen, einer schweifenden Klippe, noch sonst etwas Übernatürlichem geglichen hätte.

Da trat also ein Rückschlag ein. Die Entmutigung bahnte zuerst der Ungläubigkeit den Weg. Es entstand an Bord eine Stimmung, die aus 3/10 Scham und 7/10 Zorn bestand. Man war doch »recht einfältig, sich für eine Chimäre gewinnen zu lassen«. Die Berge von Gründen, die seit einem Jahr sich aufgetürmt hatten, stürzten auf einmal zusammen, und jeder dachte nur in den Stunden der Mahlzeit oder des Schlafs, die so töricht geopferte Zeit sich wieder beizubringen.

Mit Der dem menschlichen Geist so natürlichen Beweglichkeit warf man sich von einem Extrem ins andere. Die wärmsten Verfechter der Unternehmung waren nun am ärgsten zum Schmähen bereit. Die Reaktion bewegte sich vom unteren Schiffsraum bis zum Salon der Offiziere, und sicher, wäre nicht Kommandant Farragut so hartnäckig gewesen, so hätte sich die Fregatte wieder entschieden nach Süden gewendet.

Doch konnte dies erfolglose Suchen nicht lange andauern. Die ›Abraham Lincoln‹ hatte, nachdem sie alles zur Erreichung ihres Zwecks getan, sich nichts vorzuwerfen. Nie hat die Mannschaft eines Schiffs der amerikanischen Marine mehr Geduld und Eifer gezeigt; der Misserfolg konnte ihr nicht zugeschrieben werden; es blieb nichts übrig, als zurückzukehren.

In diesem Sinne machte man dem Kommandanten Vorstellungen. Er hielt wacker stand. Die Matrosen verhehlten nicht ihre Unzufriedenheit, und der Dienst litt dadurch. Ich will nicht sagen, dass an Bord ein Aufruhr entstand, aber Kommandant Farragut fand doch, nachdem er geraume Zeit widerstanden, sich veranlasst, wie einst Kolumbus, 3 Tage Geduld zu begehren. Wenn im Verlauf von 3 Tagen das Ungeheuer sich nicht zeigte, solle die ›Abraham Lincoln‹ die Heimkehr nach den europäischen Meeren antreten.

Dies Versprechen wurde am 2. November gegeben. Es hatte zunächst zur Folge, dass der Mut der Mannschaft sich wieder hob.

Der Ozean wurde wieder achtsam beobachtet; die Fernrohre kamen wieder in Tätigkeit. Es war eine letzte Herausforderung an den Riesennarwal, der vernünftigerweise nicht umhinkonnte, der Forderung zu entsprechen.

Während der 2 Tage hielt sich die ›Abraham Lincoln‹ bei schwachem Dampf. Man gab sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit des Tieres, falls es sich in dieser Gegend befände, zu wecken oder seine Gleichgültigkeit zu spornen. Es wurden ungeheure Stücke Speck am Schleppseil ausgeworfen – zu großer Befriedigung der Haifische. Die Boote fuhren in allen Richtungen um die ›Abraham Lincoln‹, während sie aufbrasste, und ließen keinen Punkt undurchsucht. Aber der Abend des 4. November kam heran, ohne dass das unterirdische Geheimnis sich enthüllte.

Am folgenden Tag, 5. November, lief der strenge Termin ab.

Nach diesem Termin musste Kommandant Farragut, seinem Versprechen gemäß, die Fahrt nach Südosten richten und entschieden die nördlichen Gegenden des Pazifiks verlassen.

Die Fregatte befand sich damals unterm 31° 15ʹ nördl. Breite und 136° 42ʹ östl. Länge. Die Landschaften Japans waren kaum 200 Meilen unterm Wind entfernt. Die Nacht nahte heran, es schlug schon 8 Uhr. Die Mondscheibe, damals im ersten Viertel, war von Gewölk verschleiert. Das Meer unterm Kiel schlug ruhige Wellen.

In dem Augenblick befand ich mich vorn beim Steuerbord, aufs Geländer gelehnt. Conseil, der in meiner Nähe stand, schaute vor sich hin. Die Mannschaft, auf den Tauen hockend, forschte am Horizont, der allmählich enger und düsterer wurde. Die Offiziere, mit ihren Nachtlorgnetten bewaffnet, beobachteten die zunehmende Dunkelheit.

Bei Conseil konnte ich wahrnehmen, dass dieser brave Bursche sehr wenig dem allgemeinen Einfluss unterworfen war. Wenigstens sah ich’s so an! Vielleicht wirkte die Neugier einigermaßen auch auf seine Nerven.

»Auf, Conseil«, sagte ich, »nun ist noch zum letzten Mal Gelegenheit, 2.000 Dollar einzustreichen.«

»Erlauben mir, mein Herr, zu bemerken«, versetzte Conseil, »dass ich nie auf diesen Preis mir Rechnung gemacht habe; und die Regierung der Union konnte 100.000 Dollar versprechen, sie wäre um nichts ärmer geworden.«

»Du hast recht, Conseil. Nach allem ist’s eine verrückte Sache, in die wir uns zu leichtsinnig hineingestürzt haben. Wie viel Zeit verloren, wie unnütz diese Aufregungen! Jetzt sind’s schon 6 Monate, dass wir daheim in Frankreich sein könnten ...«

»In meines Herrn kleiner Wohnung«, erwiderte Conseil, »in meines Herrn Museum! Und ich hätte bereits meines Herrn Fossilien klassifiziert! Und der Babirussa meines Herrn wäre im Jardin des Plantes in seinem Käfig und zöge alle Neugierigen von Paris herbei!«

»So ist’s, Conseil, und ich denke, unfehlbar spottet man über uns!«

»Ganz gewiss wird man sich über meinen Herrn lustig machen«, erwiderte ruhig Conseil. »Und darf ich’s heraussagen ...?«

»Sag’s nur heraus, Conseil.«

»Nun, es widerfährt meinem Herrn nur, was er verdient!«

»Wirklich!«

»Wenn man die Ehre hat, so ein Gelehrter zu sein, wie mein Herr, gibt man sich nicht preis ...«

Conseil hatte noch nicht ausgeredet, da ließ sich mitten im allgemeinen Schweigen eine laute Stimme vernehmen. Ned Land rief:

»Oho! Der fragliche Gegenstand unterm Wind, quer vor uns!«

 


6. KAPITEL

Mit vollem Dampf

Auf diesen Ruf stürzte die gesamte Mannschaft, Kommandant, Offiziere, Matrosen und Schiffsjungen, hin zum Harpunier, selbst die Ingenieure verließen ihre Maschine, die Heizer ihr Feuer. Es wurde Befehl zum Einhalten gegeben, und die Fregatte fuhr nicht mehr weiter, als ihre Kraft noch reichte.

Es war damals völlig dunkel, und so trefflich des Kanadiers Augen waren, so fragte ich doch, wie er nur sehen gekonnt, und was er gesehen. Mein Herz klopfte zum Bersten.

Aber Ned Land hatte nicht geirrt, und wir alle sahen den Gegenstand, auf den er mit der Hand wies.

2 Kabellängen von der ›Abraham Lincoln‹ entfernt schien das Meer an der Oberfläche beleuchtet. Es war nicht bloß ein Phosphoreszieren, und man konnte sich nicht irren. Das einige Klafter unter dem Wasserspiegel verborgene Ungeheuer warf den sehr starken, aber unerklärlichen Glanz, von dem schon mehrere Kapitäne berichtet hatten. Diese prächtige Ausstrahlung musste von dem Träger einer starken Leuchtkraft herrühren. Die auf der Meeresfläche erleuchtete Stelle bildete ein ungeheures sehr langes Oval, in dessen Zentrum ein glühender Brennpunkt von unerträglichem Glanz Strahlen warf, die stufenweise schwächer allmählich verloschen.

»Es ist nur eine Anhäufung phosphoreszierender Elementarteilchen«, rief einer der Offiziere.

»Nein, mein Herr«, erwiderte ich mit Überzeugung. »Niemals können die Pholaden und Salpen ein so starkes Licht erzeugen.

Dieser Glanz ist seiner Natur nach elektrisch ... Übrigens, sehen Sie, sehen Sie! Es ändert seine Stelle, bewegt sich voran, rückwärts!

Es stürzt auf uns los!«

Allgemeines Geschrei auf der Fregatte.

»Still!«, rief Kommandant Farragut. »Steuer unterm Wind, ganz!

Maschine rückwärts!«

Die Matrosen stürzten sich auf das Steuer, die Ingenieure zu ihrer Maschine.

Der Dampf wurde sogleich gehemmt, und die ›Abraham Lincoln‹ drehte sich links, beschrieb einen Halbkreis.

»Steuer rechts! Maschine voran!« rief Kommandant Farragut.

Diese Befehle wurden ausgeführt, und die Fregatte entfernte sich rasch von der leuchtenden Stelle.

Ich irre. Sie wollte sich entfernen, aber das Wundertier näherte sich mit doppelter Geschwindigkeit.

Wir waren außer Atem. Bestürzung weit mehr als Furcht machte uns stumm und unbeweglich. Das Tier wurde unser spottend Meister. Es fuhr um die Fregatte herum und umzog sie mit elektrischen Streifen. Darauf entfernte es sich 2 bis 3 Meilen, indem es einen phosphoreszierenden Streifen hinter sich ließ wie die Lokomotive ihre Dampfwirbel. Es wollte nur aus der Entfernung seinen Anlauf nehmen und schoss plötzlich vom dunkeln Horizont aus mit schrecklicher Geschwindigkeit auf die ›Abraham Lincoln‹ los, hielt jedoch in einer Entfernung von 20 Fuß auf einmal an, verschwand – nicht durch Untertauchen, denn sein Glanz blieb ungeschwächt – sondern als wäre die Quelle der glänzenden Ausströmung mit einmal versiegt! Darauf kam es auf der anderen Seite des Schiffs wieder zum Vorschein, sei es, dass es um es herum oder darunter herfuhr. Jeden Augenblick konnte ein Zusammenstoß stattfinden, der uns vernichtet hätte.

Ich wunderte mich jedoch über die Manöver der Fregatte. Sie floh, griff nicht an. Sie wurde verfolgt, sollte aber verfolgen, und ich sagte dies dem Kommandanten. Sein Angesicht, das gewöhnlich so feste Züge hatte, ließ eine unbeschreibliche Bestürzung erkennen.

»Herr Arronax«, erwiderte er mir, »ich weiß nicht, mit was für einem furchtbaren Geschöpf ich zu tun habe, und ich will nicht unvorsichtig inmitten dieser Dunkelheit meine Fregatte aufs Spiel setzen. Zudem, wie soll man das Unbekannte angreifen, wie sich dagegen verteidigen. Warten wir den Tag ab, dann sollen die Rollen wechseln.«

»Sie haben, Kommandant, über die Natur des Tieres keinen Zweifel mehr?«

»Nein, mein Herr, es ist offenbar ein Riesennarwal, und dazu ein elektrischer.«

»Vielleicht«, fügte ich bei, »kann man ihm ebenso wenig nah kommen als wie einem Zitterfisch!«

»Jawohl«, erwiderte der Kommandant, »und wenn das Tier dazu die Kraft eines Blitzschlags besitzt, so ist es sicherlich das fürchterlichste, das jemals aus des Schöpfers Hand gekommen ist. Deshalb, mein Herr, werde ich vorsichtig sein.«

Die Nacht über blieb die ganze Bemannung auf den Beinen, an Schlaf konnte niemand denken. Da die ›Abraham Lincoln‹ sich an Schnelligkeit nicht mit dem Gegner messen konnte, so hielt er sich bei schwachem Dampf und fuhr gemach. Der Narwal dagegen machte es der Fregatte nach, ließ sich auf den Wellen wiegen und schien entschlossen, den Schauplatz des Kampfs nicht zu verlassen. Um Mitternacht jedoch verschwand er; oder, richtiger zu sagen, er »verlosch« als wie ein gewaltiger Leuchtwurm. War er geflohen?

Man musste es fürchten, nicht hoffen. Aber 7 Minuten vor 1 vernahm man ein betäubendes Zischen, wie das, welches ein mit äußerster Heftigkeit emporgeschleuderter Wasserstrahl verursacht.

Kommandant Farragut, Ned Land und ich befanden uns damals auf dem Vorderdeck und schauten mit gierigen Blicken durch das tiefe Dunkel.

»Ned Land«, fragte der Kommandant, »Sie haben wohl oft das brausende Zischen der Walfische gehört?«

»Ja, mein Herr, aber noch niemals von solchen Walfischen, wie der ist, der mir 2.000 Dollar verschafft hat.«

»Wahrhaftig, Sie haben ein Recht auf den Preis. Aber sagen Sie mir doch, ist dieses Getöse nicht dasselbe, wie es die Walfische machen, wann sie Wasser aus ihren Luftlöchern ausstoßen?«

»Genau dasselbe, mein Herr, aber dieses ist ohne alle Vergleichung stärker. Ein Irrtum ist dabei nicht möglich. Es gehört also wohl das Tier, das da in unseren Gewässern sich umhertreibt, zum Walfischgeschlecht. Mit Ihrer Erlaubnis, mein Herr«, fügte der Harpunier bei, »werden wir morgen bei Tagesanbruch zwei Worte mit ihm reden.«

»Wenn es Lust hat, Sie zu hören«, erwiderte ich mit wenig Überzeugung.

»Kann ich ihm nur auf 4 Harpunenlänge nah kommen«, versetzte der Kanadier, »so wird’s wohl mich anhören müssen!«

»Aber um ihm nah zu kommen«, sagte der Kommandant, werd’ ich ein Walfischboot Ihnen zur Verfügung stellen müssen?«

»Ohne Zweifel, mein Herr.«

»Das hieße aber, das Leben meiner Leute aufs Spiel setzen?«

»Und auch das Meinige!«, erwiderte einfach der Harpunier.

Gegen 2 Uhr morgens zeigte sich die leuchtende Stelle wieder, und zwar ebenso stark, 5 Meilen von der ›Abraham Lincoln‹. Trotz der Entfernung, trotz dem Brausen von Meer und Wind hörte man deutlich die fürchterlichen Schwanzschläge des Tieres, und sogar sein keuchendes Atmen. Es schien, als wenn im Moment, wo der enorme Narwal an der Oberfläche des Meeres atmete, die Luft in seine Lungen dränge, wie der Dampf in die ungeheuren Zylinder einer Maschine von 2.000 PS.

»Hm!«, dacht’ ich, »ein Walfisch von der Kraft eines Kavallerieregiments, wäre ein hübsches Tier!«

Man blieb bis zum Tag in steter Erwartung zum Kampf gerüstet.

Das Gerät zum Fischen war in Bereitschaft. Es wurden die kleinen Geschützstücke geladen, die eine Harpune 1 Meile weit schleudern, und lange Büchsen mit explodierenden Kugeln, die selbst den stärksten Tieren tödliche Wunden beibringen. Ned Land hatte sich darauf beschränkt, seine Harpune, eine fürchterliche Waffe in seiner Hand, bereit zu machen.

Um 6 Uhr begann der Tag zu grauen, und mit dem ersten Schimmer der Morgenröte verschwand der elektrische Glanz des Narwal.

Um 7 Uhr war es völlig Tag geworden, aber ein dichter Morgennebel beschränkte den Horizont, sodass die besten Lorgnetten nicht durchdringen konnten. Das erregte Zorn über die Enttäuschung.

Ich kletterte auf die Stangen des Hintermastes. Einige Offiziere saßen schon oben auf den Masten.

Um 8 Uhr zog der Nebel schwer über den Wellen und stieg allmählich auf. Der Horizont wurde frei und rein.

Plötzlich, wie am Abend zuvor, ließ Ned Land sich wieder vernehmen:

»Der fragliche Gegenstand hinten links!«

Die Blicke aller richteten sich dahin.

»Dort, 1 1/2 Meilen entfernt, sah man einen langen, schwärzlichen Körper einen Meter über die Wellen emportauchen. Sein Schwanz erregte mit gewaltigen Schlägen einen ungeheuren Wirbel. Blendend weißes, unendlich ausgedehntes Kielwasser bezeichnete in langer Kurve die Bahn des Tieres.

Die Fregatte kam ihm nah, und ich konnte es genau beobachten.

Die Berichte des Shannon und der Helvetia hatten die Verhältnisse etwas übertrieben, und ich schätzte seine Länge auf nur 250 Fuß.

Seine Dicke zu schätzen war schwierig, aber im ganzen schien mir das Tier in den drei Dimensionen wohl proportioniert.

Während ich das phänomenale Geschöpf beobachtete, schleuderte es aus seinen zwei Luftlöchern zwei Strahlen von Dampf und Wasser, die 40 Meter hoch stiegen. Dies gab mir über die Art seines Atmens einen bestimmten Begriff. Ich entnahm daraus entschieden, dass es zu den Wirbeltieren gehörte, der Klasse der Säugetiere, Gruppe der Fischförmigen, Ordnung der Walfischartigen. Über die Familie konnte ich mich noch nicht aussprechen. Es gehören die Walfische, Pottfische und Delfine zu derselben Ordnung und die Narwale zu letzteren. Das Weitere hoffte ich mit Gottes und des Kommandanten Hilfe bald bestimmen zu können.

Die Mannschaft harrte mit Ungeduld der Befehle ihres Kommandanten. Dieser ließ, nachdem er das Tier genau besehen, den Ingenieur rufen. Der kam unverweilt.

»Mein Herr«, sagte der Kommandant, »haben wir den nötigen Dampf ?«

»Ja, mein Herr«, war die Antwort.

»Gut, heizen Sie stärker, bis zu voller Dampfkraft.«

Dreimaliges Hurra erschallte. Die Stunde des Kampfs hatte geschlagen. Nach wenigen Augenblicken entströmten schwarze Wolken den beiden Rauchfängen der Fregatte, und das Verdeck zitterte unter dem Schauern der Kessel.

Die ›Abraham Lincoln‹, von seiner gewaltigen Schraube getrieben, fuhr direkt auf das Tier los. Dieses ließ ihn bis auf halbe Kabellänge gleichgültig an sich herankommen; darauf, ohne unterzutauchen, machte es eine Wendung zur Flucht, beschränkte sich jedoch darauf, seine Entfernung zu behaupten.

Dies Verfolgen dauerte etwa eine Dreiviertelstunde, ohne dass die Fregatte dem Tier nur 2 Klafter abgewann. Es war klar, dass man so es nie erreichen würde.

Kommandant Farragut drehte wütend den dichten Büschel unter seinem Kinn.

»Ned Land!«, rief er.

Der Kanadier kam.

»Nun, Meister Land?«, fragte der Kommandant, »werden Sie mir noch raten, meine Boote ins Meer zu lassen?«

»Nein, mein Herr«, erwiderte Ned Land, »denn dieses Tier lässt sich nur mit seinem Willen fangen.«

»Was fangen wir also an?«

»Steigern Sie womöglich die Dampfkraft, mein Herr. Ich meinesteils will, mit Ihrer Erlaubnis, mich auf den Wasserstag verfügen und, sobald wir auf Harpunenlänge kommen, will ich harpunieren.«

»Tun Sie das, Ned«, erwiderte der Kommandant. »Ingenieur«, rief er sodann, »erhöhen Sie den Dampf.«

Ned Land begab sich auf seinen Posten. Die Feuer wurden noch mehr geschürt, die Schraube drehte sich 43mal in der Minute, und der Dampf strömte aus den Klappen. Man konstatierte mit dem Log, dass die ›Abraham Lincoln‹ im Verhältnis von 18 Meilen die Stunde fuhr.

Aber das verdammte Tier fuhr mit gleicher Geschwindigkeit.

Noch eine Stunde lang setzte die Fregatte dieses Verfahren fort, ohne eine Klafter zu gewinnen! Das war entmutigend für einen der schnellsten Dampfer der amerikanischen Marine. Ein stiller Zorn ergriff die Mannschaft; die Matrosen fluchten dem Ungeheuer, das übrigens ihnen zu erwidern verschmähte.

Der Ingenieur wurde abermals gerufen.

»Haben Sie den höchsten Grad des Dampfs?«, fragte der Kommandant.

»Ja, mein Herr«, erwiderte der Ingenieur.

»Und Ihre Klappen sind gestellt ...?«

»Zu 6 Atmosphären und eine halbe.«

»Richten Sie sie auf 10.«

»Conseil«, sagte ich zu meinem wackeren Diener, der neben mir stand, »weißt du, dass wir vermutlich in die Luft fliegen werden?«

»Wie es meinem Herrn beliebt!«, erwiderte Conseil.

»Nun! Ich gestehe, ich wäre schon zufrieden es zu riskieren.«

Die Schnelligkeit der ›Abraham Lincoln‹ wurde demnach gesteigert. Ihre Masten zitterten bis auf den Grund, und die Rauchwirbel konnten durch die zu engen Röhren kaum hinausdringen.

Man warf abermals das Log.

»Nun, Steuerer?«, fragte der Kommandant.

»19,3 Meilen, mein Herr.«

»Noch stärker feuern!«

Der Ingenieur gehorchte. Das Manometer wies 10 Atmosphären. Aber das Ungeheuer »heizte« ohne Zweifel ebenfalls, denn es fuhr ganz leicht auch seine 19,3 Meilen.

Welch ein Verfolgen! Die Gemütsbewegung, die mein ganzes Wesen ergriff, lässt sich nicht beschreiben. Einige Mal konnte man dem Tier nah kommen.

»Wir bekommen es! Wir bekommen es«, rief der Kanadier.

Dann, sowie er im Begriff war zu werfen, entwischte es mit einer Schnelligkeit, die mindestens auf 30 Meilen die Stunde sich schätzen ließ. Und selbst bei unserer höchsten Schnelligkeit erlaubte es sich, die Fregatte durch sein Spiel zu höhnen!

Um 12 Uhr waren wir noch nicht weiter als um 8. Nun entschloss sich Kommandant Farragut zu direkteren Mitteln.

»Ah!«, sagte er, »das Tier fährt schneller als die ›Abraham Lincoln‹! Nun, wir wollen sehen, ob es sich ihren Spitzkugeln entziehen wird. Meister, Mannschaft an das Geschütz vorne!«

Die Kanone des Vorderkastells wurde unverzüglich geladen und aufgeprotzt. Die Kugel wurde abgeschossen, sie fuhr aber einige Fuß über dem Tier weg, das eine halbe Meile entfernt war.

»Ein anderer, der’s besser versteht!«, rief der Kommandant, »und 500 Dollar, wer die höllische Bestie trifft!«

Ein alter graubärtiger Kanonier mit ruhigem Blick, kalten Gesichtszügen, trat hinzu, richtete und visierte lange. Ein tüchtiger Schuss und jubelndes Hurra der Mannschaft.

Die Kugel traf, aber nicht regelrecht; sie glitt an der runden Fläche ab und fuhr 2 Meilen weiter ins Meer.

»Teufel!«, schrie der Kanonier wütend, »der Schuft ist 6 Zoll dick gepanzert!«

»Verdammt!«, rief Kommandant Farragut.

Die Jagd ging von neuem an, und der Kommandant sagte zu mir: »Ich verfolge weiter, und sollte die Maschine platzen!«

»Ja«, erwiderte ich, »und Sie haben recht!«

Man mochte hoffen, das Tier werde ermüden und nicht so gleichgültig sein wie eine Dampfmaschine. Aber damit war’s nichts.

Es verflossen Stunden ohne alles Zeichen von Ermüdung.

Übrigens muss man anerkennen, dass die ›Abraham Lincoln‹ mit unermüdlicher Ausdauer kämpfte. Ich schätze, dass er an dem unseligen 6. November mindestens 500 Kilometer lief ! Aber es kam die Nacht und hüllte das unruhige Meer in Dunkel.

In dem Augenblick glaubte ich, unsere Expedition sei zu Ende und wir bekämen das Tier nicht mehr zu Gesicht. Ich irrte. Um 10 Uhr 50 kam die elektrische helle Stelle wieder zum Vorschein, 3 Meilen von der Fregatte, so rein und stark wie in der vorigen Nacht.

Der Narwal schien unbeweglich. Vielleicht schlief er vor Ermüdung und wiegte sich auf den Wogen? Das wollte der Kommandant benutzen.

Er erteilte seine Befehle. Die ›Abraham Lincoln‹ fuhr mit schwachem Dampf vorsichtig, um ihren Gegner nicht zu wecken. Man trifft nicht selten die Walfische auf offener See in tiefem Schlaf und greift sie dann mit Vorteil an. Ned Land hatte manche während des Schlafs harpuniert. Der Kanadier begab sich wieder auf seinen Posten am Bugspriet.

Die Fregatte näherte sich geräuschlos, hielt 2 Kabellängen weit von dem Tier an. Man hörte an Bord keinen Atemzug, tiefes Schweigen herrschte auf dem Verdeck. Wir befanden uns keine 100 Fuß von dem glühenden Brennpunkt, dessen Glanz zunahm und die Augen blendete.

In dem Augenblick sah ich am Geländer des Vorderkastells Ned Land über mir, wie er mit starker Hand die fürchterliche Harpune schwang. Kaum 20 Fuß von dem Tier entfernt, schleuderte er mit kräftigem Arm seine Waffe; ich hörte laut deren Anprallen, als habe sie einen harten Körper getroffen.

Die elektrische Helle erlosch plötzlich, und zwei enorme Wasserstrudel entluden sich auf das Verdeck der Fregatte wie ein reißender Strom, warfen die Mannschaft zu Boden, zerrissen die Bindseile. –

Ein entsetzlicher Stoß schleuderte mich über die Sente ins Meer.

 


7. KAPITEL

Ein Walfisch unbekannter Art

So sehr mich dieser unerwartete Fall überraschte, behielt ich doch eine klare Vorstellung dessen, was ich empfand.

Ich wurde anfangs etwa 20 Fuß tief hinabgezogen. Ein guter Schwimmer, verlor ich über dem Untertauchen nicht den Kopf.

Zwei kräftige Stöße mit den Fersen brachten mich wieder zur Oberfläche empor.

Vor allem suchten meine Augen die Fregatte. Hatte die Mannschaft mein Verschwinden gemerkt? Hatte die ›Abraham Lincoln‹ sich umgedreht? Hatte Kommandant Farragut ein Boot ins Meer gelassen? Durfte ich auf Rettung hoffen?

Tiefes Dunkel ringsum. Ich sah im Osten eine schwarze Masse verschwinden, deren leuchtende Feuer in der Ferne verloschen. Es war die Fregatte. Jetzt hielt ich mich für verloren.

»Zu Hilfe! Hilfe!« rief ich, indem ich mit verzweifelndem Arm auf die ›Abraham Lincoln‹ zu schwamm.

Meine Kleider hinderten mich. Sie klebten im Wasser an meinem Leib, hemmten meine Bewegungen. Ich sank unter! Die Luft ging mir aus ...!

»Zu Hilfe!«

Diesen letzten Ruf stieß ich aus. Mein Mund schluckte Wasser ...! Wasser. In den Abgrund versinkend, zappelte ich ... Plötzlich wurden meine Kleider von kräftiger Hand gefasst, ich fühlte mich ungestüm an die Oberfläche des Meeres emporgezogen, und ich hörte, ja, ich hörte diese Worte mir ins Ohr gesprochen:

»Wenn mein Herr die große Güte haben will, sich auf meine Schultern zu stützen, wird er viel bequemer schwimmen.«

Ich ergriff mit einer Hand den Arm meines treuen Conseil.

»Du!«, fragte ich, »du!«

»Ich selbst«, erwiderte Conseil, »und zu meines Herrn Befehl.«

»Und der Stoß hat dich zugleich mit mir ins Meer geschleudert?«

»Keineswegs. Da ich in meines Herrn Dienst stehe, bin ich ihm nachgesprungen.«

Der wackere Bursche hielt dies für natürlich!

»Und die Fregatte?«, fragte ich.

»Die Fregatte!«, erwiderte Conseil, indem er sich wieder auf den Rücken legte; ich glaube, mein Herr wird wohltun, nicht allzu viel auf sie zu rechnen!«

»Du meinst?«

»Ich meine, im Augenblick, da ich mich ins Meer stürzte, hörte ich die Leute am Steuer rufen: Die Schraube und das Steuer sind zerbrochen ...«

»Zerbrochen?«

»Ja! Durch den Zahn des Ungeheuers. Dies ist der erste Schaden, den die ›Abraham Lincoln‹ je erlitten. Aber, ein schlimmer Umstand für uns, sie ist nicht mehr imstande, zu steuern.«

»Dann sind wir verloren!«

»Vielleicht«, erwiderte ruhig Conseil. »Doch wir haben noch einige Stunden vor uns, und in einigen Stunden kann man viel zustande bringen!«

Die unverwüstliche Kaltblütigkeit Conseils richtete meinen Mut auf. Ich konnte wieder rüstig schwimmen; aber da meine Kleider mir anklebten wie ein bleierner Mantel, so konnte ich nur mit äußerster Mühe aushalten. Conseil bemerkte es.

»Erlaube mir, mein Herr, meinen Schnitt zu machen«, sagte er.

Und er steckte eine Messerklinge unter meine Kleider und zerschnitt sie in einem Zug von oben bis unten. Darauf entledigte er mich rasch ihrer, während ich für uns beide schwamm.

Ich leistete dagegen Conseil denselben Dienst, und wir schwammen dann nebeneinander weiter.

Jedoch war die Lage darum nicht minder schrecklich. Vielleicht hatte man auf der Fregatte unser Verschwinden gar nicht gemerkt, und hätten sie’s auch wahrgenommen, so konnten sie, weil ihr Steuer zerbrochen war, nicht unterm Wind zu uns zurückkommen.

Man konnte also nur auf die Boote rechnen.

Conseil urteilte kalt dieser Annahme gemäß und machte danach seinen Plan. Ein Charakter zum Erstaunen! Dieser phlegmatische Bursche war hier wie zu Hause.

Es wurde daher beschlossen, da unsere einzige Aussicht auf Rettung darauf beruhte, dass die Boote der ›Abraham Lincoln‹ uns aufnahmen, so mussten wir uns darauf einrichten, um so lange wie möglich sie erwarten zu können. Ich beschloss daher, unsere Kräfte geteilt zu verwenden, um sie nicht miteinander zu erschöpfen, und wir machten’s so: Während der eine mit gekreuzten Händen und gestreckten Beinen unbeweglich auf dem Rücken lag, schwamm der andere und bugsierte ihn vorwärts. In dieser Rolle durfte er nur 10 Minuten bleiben, damit wir durch Ablösen unsere Kräfte sparten, um es einige Stunden, vielleicht bis zu Tagesanbruch, auszuhalten.

Schwache Aussicht auf Rettung! Aber die Hoffnung wurzelt tief im Herzen des Menschen. Und dann, es waren unser zwei. Ja, wenn ich alle Täuschung in mir vernichten, wenn ich »verzweifeln« wollte, ich konnte es nicht!

Der Zusammenstoß der Fregatte mit dem Tier hatte sich etwa um 11 Uhr abends begeben. Ich rechnete also, dass wir bis zu Sonnenaufgang 8 Stunden zu schwimmen hätten, was mit äußerster Anstrengung durch gegenseitige Ablösung ausführbar war. Das Meer war ziemlich ruhig, machte uns wenig müde.

Gegen 1 Uhr vormittags fühlte ich mich äußerst erschöpft.

Meine Glieder wurden steif unter heftigen Krämpfen. Conseil musste mich stützten, und unsere Rettung beruhte nun auf ihm allein. Bald hörte ich den armen Burschen keuchen; er atmete kurz und beklommen. Ich sah ein, dass er nicht lange mehr aushalten konnte.

»Lass mich! Lass mich!« sagte ich zu ihm.

»Meinen Herrn im Stich lassen! Niemals!« erwiderte er. In diesem Moment leuchtete der Mond ein wenig zwischen dem Gewölk hervor, und die Meeresfläche schimmerte in seinen Strahlen. Dieser Eindruck belebte wieder unsere Kräfte. Ich konnte den Kopf aufrichten und am ganzen Horizont umherblicken. Ich sah die Fregatte, etwa 5 Meilen vor uns, kaum bemerkbar. Aber von Booten nichts! Ich wollte rufen. Wozu das, in solcher Ferne? Meine geschwollenen Lippen vermochten’s nicht. Ich hörte Conseil wiederholt um Hilfe rufen. Wir hielten ein wenig an und horchten. Es dünkte mir, ein Ruf antworte dem Rufen Conseils.

»Hast du gehört?«, stammelte ich.

»Ja! Ja!«

Und Conseil stieß nochmals einen verzweifelten Hilferuf aus.

Diesmal war nicht zu zweifeln, eine Menschenstimme antwortete uns! War’s die Stimme eines andern beim Zusammenstoßen verunglückten Opfers? Oder gar ließ ein Boot der Fregatte uns durchs Sprachrohr den Ruf zugehen?

Conseil nahm seine äußersten Kräfte zusammen, um auf meine Schulter gestützt, sich halb aufzurichten und umherzuschauen; dann sank er erschöpft zurück.

»Was hast du gesehen?«

»Ich habe gesehen ...«, stammelte er, »ich habe gesehen ... Doch reden wir nicht ... nehmen wir alle Kraft zusammen ...!« Was hatte er gesehen ...? Was für eine Stimme mochte es sein?

Conseil jedoch bugsierte mich fortwährend. Manchmal hob er den Kopf empor, blickte vor sich, rief wieder, um sich kundzugeben, und eine andere Stimme ließ sich immer näher vernehmen.

Kaum vermochte ich noch es zu hören, meine Kräfte gingen mir aus; meine Finger spreizten sich; meine Hand versagte mir die Stütze; mein krampfhaft geöffneter Mund füllte sich mit Wasser; ich erstarrte vor Kälte. Zum letzten Mal hob ich den Kopf empor, dann versank ich ...

In dem Augenblick stieß ein Körper gegen mich; ich klammerte mich an. Ich fühlte, dass man mich auf die Oberfläche zog, dass meine Brust wieder aufatmete, dann wurde ich ohnmächtig ...

Gewiss bin ich durch das kräftige Reiben, womit man mich bearbeitete, bald wieder zu mir gekommen. Ich schlug ein wenig die Augen auf ...

»Conseil!«, stammelte ich.

»Mein Herr hat mich gerufen?«, erwiderte Conseil.

In dem Augenblick, beim letzten Mondesstrahl, gewahrte ich eine Gestalt, nicht die Conseils, und erkannte sie sogleich.

»Ned!«, rief ich.

»In eigener Person, mein Herr, um mir meine Prämie zu holen!«, erwiderte der Kanadier.

»Sie sind auch von dem Stoß ins Meer geschleudert worden?«

»Ja, Herr Professor, aber ich war besser dran als Sie, dass ich sogleich auf einem schwimmenden Inselchen festen Fuß fassen konnte.«

»Ein Inselchen?«

»Ja, oder vielmehr, auf unserm Riesennarwal.«

»Erklären Sie mir, Ned.«

»Ich begriff bald, warum meine Harpune nicht eindringen konnte und stumpf wurde.«

»Warum, Ned, warum?«

»Weil dies Tier, Herr Professor, von Eisenblech gemacht ist!«

Ich muss hier meinen Geist sammeln, meine Erinnerungen wiederbeleben, meine Aussagen selbst kontrollieren.

Die letzten Worte des Kanadiers bewirkten in meinem Kopf eine plötzliche Wandlung. Ich klimmte rasch nach oben auf das Geschöpf oder den Gegenstand, der halb unterm Wasser uns als Zuflucht diente. Ich probierte mit dem Fuß. Offenbar war’s ein harter, undurchdringlicher Körper, nicht der weiche Stoff, woraus die großen Seesäugetiere bestehen. Aber der harte Körper konnte auch eine knochenartige Schilddecke sein, wie bei den urweltlichen Tieren, und ich hätte jetzt das Ungeheuer unter die Reptilamphibien zu zählen wie die Schildkröten und Alligatoren.

Nein! Der schwärzliche Rücken, auf dem ich mich befand, war glatt, poliert, nicht schuppig. Er ließ, wenn man ihn anklopfte, einen Metallton hören, und so unglaublich es auch war, er schien von eingebolzten Platten gemacht.

Ein Zweifel war nicht mehr möglich. Das Tier, das Ungeheuer, das Naturphänomen, das die ganze gelehrte Welt, die Einbildungskraft der Seeleute verrückt und irregeleitet hatte – man musste es wohl anerkennen, war ein noch erstaunlicheres Wunder, ein Phänomen von Menschenhand.

Die Entdeckung des Daseins eines noch so märchenhaften, mythischen Geschöpfs hätte meine Vernunft nicht in dem Grad überrascht. Dass das Wunderbare von Gott herkommt, ist eine einfache Sache. Aber auf einmal, unter seinen Augen, das Unmögliche geheimnisvoll von Menschenhand verwirklicht zu sehen, das konnte den Geist irremachen!

Doch war es zweifellos, dass wir uns auf dem Rücken einer Art unterseeischen Fahrzeugs befanden, das, soviel ich urteilen konnte, die Form eines ungeheuren Fisches von Stahl hatte. Ned Lands Ansicht darüber war entschieden; und ich konnte nebst Conseil mich nur anschließen.

»Aber dann«, sagte ich, »hatte dieses Fahrzeug eine Maschine für die Bewegung und eine Mannschaft, die sie in Anwendung bringt?«

»Offenbar«, erwiderte der Harpunier, und demungeachtet hat, seit den 3 Stunden, dass ich diese schwimmende Insel bewohne, sie noch kein Lebenszeichen von sich gegeben.«

»Das Fahrzeug ist nicht gefahren?«

»Nein, Herr Arronax. Es lässt sich von den Wellen schaukeln, ohne selbst sich zu bewegen.«

»Wir wissen jedoch und ohne Zweifel, dass es eine große Geschwindigkeit hat. Da es nun, um eine solche hervorzubringen, eine Maschine haben muss und einen Maschinisten, der sie leitet, so schließe ich daraus, ... dass wir gerettet sind.«

»Hm!«, sagte Ned Land mit einigem Rückhalt.

In diesem Augenblick, als wie zum Beweis meiner Folgerung, entstand am hinteren Teil dieses seltsamen Fahrapparats ein Brausen, das offenbar von einer Schraube herrührte, und setzte es in Bewegung. Wir hatten nur noch Zeit, uns fest an seinen oberen Teil, der etwa 80 Zentimeter über das Wasser emporragte, anzuklammern. Zum Glück war seine Geschwindigkeit nicht übermäßig.

»So lange, als es sich horizontal bewegt«, brummte Ned Land, »hab’ ich nichts dagegen zu sagen. Aber wenn es ihm einfällt unterzutauchen, so gäb’ ich keine 2 Dollar für mein Leben!«

Es wurde daher dringend notwendig, sich mit den im Schoß dieser Maschine befindlichen Geschöpfen, welcher Art sie auch sein mochten, in Verbindung zu setzen. Ich suchte an seiner Oberfläche nach einer Öffnung, einer Luke; aber die aneinanderstoßenden Platten waren festgefugt und wie aus einem Stück.

Zudem ging der Mond eben unter und ließ uns in tiefem Dunkel. Wir mussten den Tag abwarten, um Mittel, ins Innere des Fahrzeugs zu dringen, ausfindig zu machen.

Also hing unsere Rettung einzig vom Belieben der geheimnisvollen Leiter dieses Apparats ab, und wenn sie untertauchten, waren wir verloren! Diesen Fall ausgenommen, zweifelte ich nicht an der Möglichkeit, mit ihnen in Verbindung zu treten. Und in der Tat, wenn sie nicht sich ihre Luft selbst bereiteten, so mussten sie notwendig von Zeit zu Zeit an die Oberfläche des Meeres heraufkommen, um ihren Vorrat an atmungsfähigem Gas zu erneuern. Darum musste notwendig eine Öffnung vorhanden sein, um das Innere des Fahrzeugs mit der Atmosphäre in Verbindung zu setzen.

Die Hoffnung auf Rettung durch Kommandant Farragut musste man völlig aufgeben. Wir waren westwärts getrieben, und ich schätzte, dass unsere verhältnismäßig geringe Geschwindigkeit

12 Meilen die Stunde betrug. Die Schraube schlug die Wellen mit mathematischer Regelmäßigkeit und tauchte von Zeit zu Zeit auf, um ihr phosphoreszierendes Wasser hoch emporzuspritzen.

Gegen 4 Uhr morgens nahm die Schnelligkeit des Fahrzeugs zu. Wir konnten, wenn der volle Wellenschlag uns traf, kaum dem schwindelhaften Fortreißen widerstehen. Zum Glück fand Ned mit der Hand einen auf dem Rücken der Platte eingelassenen Ring, woran wir uns fest anklammern konnten.

Endlich war die lange Nacht vorüber. Ich kann mich nur unvollständig der einzelnen Eindrücke entsinnen. Nur ein Ereignis tritt mir klar hervor. Während mitunter Meer und Wind ruhig waren, glaubte ich einige Mal unbestimmte Töne, eine flüchtige Harmonie ferner Akkorde, zu hören. Was für Geschöpfe lebten in diesem seltsamen Fahrzeug? Welche mechanische Kraft bewirkte seine wunderbare Schnelligkeit?

Der Tag erschien, und der Morgennebel umhüllte uns, aber er zerteilte sich bald. Ich schritt zu einer sorgfältigen Untersuchung des Körpers, der oben eine Art Plattform bildete – als ich fühlte, wie diese allmählich sich senkte:

»He! Tausend Teufel!« schrie Ned Land, und trat mit dem Fuß gegen die hallende Platte, »so öffnet doch, ungastliche Leute!«

Aber es war schwer, bei den betäubenden Schlägen der Schraube sich vernehmbar zu machen. Zum Glück hielt die Bewegung, die unterzutauchen drohte, inne.

Plötzlich vernahm man im Innern des Fahrzeugs ein Rasseln heftig gerüttelten Eisenwerks.

Eine Platte öffnete sich, ein Mann kam zum Vorschein, stieß einen sonderbaren Schrei aus und verschwand sogleich wieder.

Einige Augenblicke darauf erschienen abermals, und zwar schweigend, acht starke Burschen mit verkapptem Angesicht und zogen uns in ihre fürchterliche Maschine hinein.

 


8. KAPITEL

Mobilis in Mobile

Diese so brutale Entführung wurde mit Blitzesschnelle ausgeführt.

Ich weiß nicht, welchen Eindruck die Einführung in den schwimmenden Kerker auf meine Genossen machte; ich meinesteils fühlte einen eiskalten Schauer über den Körper! Mit wem hatten wir’s zu tun? Offenbar mit einer neuen Art von Piraten, die in ihrer Weise Beute machten.

Sowie sich die enge Platte über mir wieder geschlossen hatte, war ich vom tiefsten Dunkel umgeben. Meine an das Licht gewöhnten Augen konnten gar nichts wahrnehmen. Ich fühlte mit meinen nackten Füßen die Sprossen einer eisernen Leiter, woran ich mich klammerte. Ned Land und Conseil wurden hinter mir hergeschleppt. Unten an der Leiter öffnete sich eine Tür und schloss sich rasselnd sogleich wieder.

Wir befanden uns allein. Wo, konnte ich nicht sagen, kaum mir denken. Schwarzes Dunkel umgab uns.

Ned Land, wütend über diese Begegnung, machte nun seiner Entrüstung Luft.

»Tausend Teufel!«, schrie er, »das sind Leute, so gastlich wie Kaledonier! Es fehlt nur noch, dass sie uns auffressen. Das würde mich nicht wundern, aber ich erkläre, sie würden mich nicht fressen, ohne dass ich protestiere!«

»Beruhigen Sie sich, Freund Ned«, erwiderte Conseil gelassen.

»Entrüsten Sie sich nicht zu früh. Wir sind noch nicht am Bratspieß!«

»Am Bratspieß zwar nicht«, versetzte der Kanadier, »aber im Bratofen sicherlich! Es ist stockfinster hier. Zum Glück hab’ ich mein Bowiemesser bei mir, und ich sehe noch genug, um mich seiner zu bedienen. Der erste dieser Banditen, der Hand an mich legt ...«

»Ereifern Sie sich nicht so sehr, Ned«, sagt’ ich darauf zum Harpunier, »und bringen Sie uns nicht durch unnütze Gewaltsamkeit in Gefahr. Wer weiß, ob man uns nicht Gehör gibt! Versuchen wir lieber erst zu wissen, wo wir sind!«

Ich ging umher und tastete. 5 Schritte weit stieß ich auf eine eiserne Wand aus zusammengefügtem Blech. Darauf wendete ich mich um und stieß gegen einen hölzernen Tisch, neben dem einige Schemel standen. Der Fußboden war mit einer dichten Matte von neuseeländischem Flachs belegt, sodass man die Tritte nicht hörte.

An den nackten Wänden keine Spur von Tür oder Fenster. Conseil, der in die entgegengesetzte Richtung gegangen war, kam in der Mitte der Kabine, die 20 Fuß lang und 10 breit war, mit mir zusammen. Die Höhe konnte Ned Land trotz seiner Statur nicht messen.

Eine halbe Stunde verlief so, ohne dass unsere Lage sich änderte. Darauf verwandelte sich das dichteste Dunkel auf einmal ins grellste Licht. Unser Gefängnis wurde plötzlich mit einem so lebhaften Leuchtstoff erfüllt, dass mir der Glanz Anfangs unerträglich war. An der weißen Farbe und starken Wirkung erkannte ich die elektrische Beleuchtung, die um das unterseeische Boot herum den prächtigen Schein einer Phosphoreszenz erzeugte. Nachdem ich zuerst unwillkürlich die Augen geschlossen, öffnete ich sie wieder und sah, dass die leuchtende Kraft aus einer geglätteten Halbkugel oben an der Decke der Kabine hervordrang.

»Endlich! Nun ist’s hell!« rief Ned Land, und setzte sich mit dem Messer in der Hand in Verteidigungsstand.

»Ja«, erwiderte ich, »aber die Lage ist drum noch ebenso dunkel.«

»Gedulde sich mein Herr nur«, sagte Conseil gelassen. Bei dieser Beleuchtung konnte man nun das kleinste Detail in der Kabine erkennen. Sie enthielt nur den Tisch und fünf Schemel. Die unsichtbare Tür musste hermetisch verschlossen sein. Kein Geräusch drang zu unseren Ohren. Alles im Innern des Boots schien wie tot.

Fuhr es fort, blieb es an der Oberfläche, versank es in den Tiefen?

Das ließ sich nicht erraten.

Indessen, die Beleuchtung war nicht ohne Grund eingetreten.

Ich schöpfte daraus die Hoffnung, die Bewohner würden wohl bald sich zeigen.

Ich irrte nicht. Die Riegel rasselten, die Tür öffnete sich, zwei Männer traten ein.

Der eine, von kleiner Statur, kräftigen Muskeln, breiten Schultern, starken Gliedmaßen, hatte einen dicken Kopf mit reichlichem schwarzen Haar, dichtem Schnurrbart, lebhaftem durchdringenden Blick, und seine ganze Persönlichkeit war von der südlichen Lebhaftigkeit beseelt, die in Frankreich die Provençalen kennzeichnet.

Er sprach in meiner Gegenwart stets einen sonderbaren, durchaus unverständlichen Dialekt.

Der Zweite hatte sehr entschieden markierte Züge, sodass ein Physiognom darin wie in einem offenen Buch lesen konnte. Ich erkannte leicht als hervorstechende Charaktereigentümlichkeiten: ein Selbstvertrauen, das mit kalter Sicherheit aus den schwarzen Augen strahlte; Gelassenheit, ruhiges Blut, Energie und Mut. Der Mann war stolz, sein fester und ruhiger Blick schien hohe Gedanken zu bergen, und aus all diesem, der Übereinstimmung von Körperbewegungen mit den Gesichtszügen, sprach unbestreitbar eine offene Seele.

Unwillkürlich fühlte ich mich in seiner Gegenwart beruhigt, und ich ahnte nur Gutes von unserer Unterredung.

Ob dieser Mann 35 oder 50 Jahre alt war, hätte ich nicht bestimmt angeben können. Er war von hoher Statur, hatte eine weite Stirn und gerade Nase, klar gezeichneten Mund, prachtvolle Zähne, feine, lange Hände, geeignet, einer hohen und leidenschaftlichen Seele zu dienen. Dieser Mann stellte unstreitig einen bewundernswerten Typus dar, wie ich ihn sonst nirgends getroffen habe. Seine Augen, etwas weit voneinander abstehend, vermochten fast ein Viertel des Horizonts zugleich zu überblicken. Zu dieser Fähigkeit gesellte sich eine Sehkraft, welche die Ned Lands noch weit übertraf, und welcher Blick! Wie vermochte er die durch Entfernung verkleinerten Gegenstände zu vergrößern! Wie drang er tief in die Seele! Er durchschaute klar die für uns dunkeln Gewässer und reichte bis auf den Meeresgrund ...!

Die beiden Unbekannten, mit Mützen von Seeotterfell und in Seestiefeln von Robbenfell, trugen Kleider von einem besonderen Gewebe, die große Freiheit der Bewegungen gestatteten.

Der größere von beiden, offenbar der Anführer der Leute an Bord, prüfte uns mit größter Achtsamkeit, ohne ein Wort zu reden.

Darauf besprach er sich mit seinem Gefährten in einer Sprache, die mir nicht bekannt war. Es war ein volltönender, harmonischer, biegsamer Dialekt mit sehr verschiedenartiger Betonung.

Der andere erwiderte mit Kopfschütteln und fügte einige völlig unverständliche Worte bei. Darauf schien sein Blick mich direkt zu fragen.

Ich erwiderte in gutem Französisch, dass ich seine Frage nicht verstehe; aber er schien mich auch nicht zu verstehen, und wir gerieten in einige Verlegenheit.

»Mein Herr möge immer unsere Geschichte erzählen«, sagte Conseil. »Diese Herren werden vielleicht einige Worte davon begreifen!«

Ich trug also eine Erzählung unserer Erlebnisse vor, artikulierte dabei klar alle Silben und überging dabei nicht das geringste. Ich bezeichnete unsere Namen und Eigenschaften; dann stellte ich in aller Förmlichkeit die Personen vor, den Professor Arronax, seinen Diener Conseil und den Harpunier Meister Ned Land.

Der Mann mit den sanften und ruhigen Augen hörte mir gelassen, selbst höflich und sehr aufmerksam zu. Aber in seinen Zügen konnte man nicht erkennen, dass er meine Geschichte verstanden habe. Als ich fertig war, sagte er kein einziges Wort.

Wir hatten noch das Hilfsmittel des Englischen, das als eine Art Weltsprache vielleicht zur Verständigung führte. Ich kannte die Sprache ebenso wie das Deutsche hinlänglich, um fließend darin zu lesen, verstand sie aber nicht korrekt zu sprechen. Jetzt aber galt es vornehmlich, sich verständlich zu machen.

»Nun«, sagte ich zum Harpunier, »nun kommt an Sie die Reihe.

Ziehen Sie, Meister Land, das beste Englisch, das je ein Angelsachse sprach, aus Ihrer Tasche, und bemühen Sie sich, glücklicher als ich zu sein.«

Ned ließ sich nicht bitten und wiederholte meine Erzählung, dem Inhalt nach dasselbe, aber in etwas abweichender Form. Der Kanadier sprach mit großer Lebendigkeit. Er beschwerte sich heftig, dass man gegen das Völkerrecht ihn gefangenhalte, fragte, welches Gesetz dieses gestatte, berief sich auf die Habeas-Corpus-Akte, drohte mit gerichtlicher Verfolgung, gebärdete sich, schrie, und gab schließlich in ausdrucksvoller Weise zu erkennen, dass wir Hungers sterben würden.

Das war völlig der Wahrheit gemäß, aber wir hatten’s fast vergessen.

Der Harpunier, schien es, wurde zu seinem großen Erstaunen nicht besser als ich verstanden.

Ich war in Verlegenheit, da unsere Sprachkenntnisse erschöpft waren, wusste nicht, was nunmehr anzufangen. Conseil sagte:

»Wenn mein Herr es zufrieden ist, will ich die Sache deutsch erzählen.«

»Wie? Du verstehst deutsch?« rief ich.

»Wie ein Flame, wenn Sie’s erlauben.«

»Es ist mir recht lieb. Fange nur an.«

Und Conseil erzählte in seiner ruhigen Weise die Hauptzüge unserer Geschichte zum dritten Mal. Aber trotz alles Bemühens half auch das Deutsche nichts.

Endlich nahm ich alle Reste meiner Jugendstudien zusammen, und begann auf Lateinisch unsere Abenteuer zu erzählen. Cicero würde mich zwar damit in die Küche geschickt haben, doch brachte ich’s fertig. Es war ebenso fruchtlos.

Nachdem auch dieser letzte Versuch gescheitert war, wechselten die beiden Unbekannten einige Worte in ihrer unverständlichen Sprache und zogen sich ohne irgendein Wort der Beruhigung zurück. Die Tür schloss sich hinter ihnen.

»Infam!«, schrie Ned Land in Zornes-Entrüstung. »Wie! Man spricht zu den Schuften französisch, englisch, deutsch, lateinisch, und keiner ist so höflich zu antworten!«

»Ruhig, Ned«, sagte ich zum aufbrausenden Harpunier, »der Zorn würde zu nichts führen.«

»Aber, wissen Sie, Herr Professor«, fuhr unser zornmütiger Kamerad fort, »wir werden in diesem eisernen Käfig ganz und gar Hungers sterben!«

»Pah!«, sagte Conseil philosophisch, »man kann noch lange aushalten!«

»Liebe Freunde«, sagte ich, »man muss nicht verzweifeln. Wir hatten uns in der allerschlimmsten Lage befunden. Seien Sie so freundlich zu warten, um mir ein Urteil über den Kommandanten und die Mannschaft dieses Fahrzeugs zu bilden.«

»Ich bin mit meinem Urteil fertig«, versetzte Ned Land. »Es sind Schurken ...«

»Gut! Und aus welchem Land?«

»Aus dem Schurkenland!«

»Wackerer Ned, dieses Land ist auf den Karten noch nicht genügend bestimmt, und ich gestehe, dass die Nationalität der beiden Unbekannten schwer zu ermitteln ist! Weder Engländer noch Franzosen, noch Deutsche, das ist alles, was man bis jetzt sagen kann. Doch möchte ich annehmen, dass die beiden einer südlichen Breite angehören, sie haben etwas Südliches in ihrem Wesen. Aber ob Spanier, Türken, Araber oder Inder, lässt sich aus ihrem physischen Typus noch nicht ermessen. Ihre Sprache ist völlig unverständlich.«

»Das ist die unangenehme Folge, wenn man nicht alle Sprachen versteht, oder der Nachteil, dass wir nicht eine einzige Sprache haben!«

»Das würde uns nichts helfen«, erwiderte Ned Land. Sehen Sie nicht, dass diese Leute eine eigene Sprache für sich haben, die sie erfanden, um brave Leute, die zu essen begehren, in Verzweiflung zu bringen! Versteht man doch in allen Sprachen der Welt, was es bedeutet, wenn man den Mund aufsperrt, die Kinnladen bewegt, mit den Zähnen und Lippen schnappt.«

»Oh«, sagte Conseil, »es gibt so dumme Leute ...!«

Wie er dies sagte, öffnete sich die Tür. Ein Steward trat ein und brachte uns Meerkleidung. Hosen und Weste, aus einem mir unbekannten Stoff. Ich zog sie augenblicklich an, und meine Gefährten folgten meinem Beispiel. Unterdessen hatte der Steward – stumm, vielleicht auch taub – den Tisch gedeckt und drei Gedecke aufgesetzt.

»Das ist doch was Ernstliches«, sagte Conseil, »und hat etwas Gutes zu bedeuten.«

»Pah!«, erwiderte der Harpunier im Ärger, »was Teufel meinen Sie denn, was man hier speist? Schildkrötenleber, Lendenstück vom Hai, Beefsteak vom Seehund!«

»Nun, wir werden sehen«, sagte Conseil.

Die Gerichte, mit silbernen Glocken bedeckt, wurden symmetrisch auf das Tischtuch gestellt, und wir setzten uns zu Tisch. Gewiss hatten wir’s mit Leuten von Bildung zu tun, und hätte uns nicht das elektrische Licht umstrahlt, so hätte ich geglaubt, im Speisesaal des Hotels Adelphi zu Liverpool oder des Grand-Hotels zu Paris zu sein. Doch muss ich bemerken, dass Brot und Wein gänzlich mangelten. Das Wasser war frisch und klar, aber es war Wasser – was Ned Land nicht behagte. Unter den Speisen, die uns vorgesetzt wurden, erkannte ich einige köstlich zubereitete Fische; aber über einige Gerichte, die übrigens vortrefflich waren, konnte ich nicht urteilen, ich konnte nicht einmal sagen, ob sie ihrem Stoff nach dem Pflanzen- oder Tierreich angehörten. Das Tafelgeschirr war elegant und geschmackvoll. Jeder Gegenstand, Löffel, Gabel, Messer, Teller, hatte eine Devise als Aufschrift folgendermaßen: beweglich im beweglichen Element! Sie passte genau auf das unterseeische Fahrzeug. Das N war ohne Zweifel der Anfangsbuchstabe des rätselhaften Mannes, der im Meeresgrund herrschte!

Ned und Conseil überlegten nicht so viel. Sie verschlangen, und ich folgte bald ihrem Beispiel. Ich war übrigens über unser Schicksal beruhigt, und es schien klar zu sein, dass unsere Wirte uns nicht würden Hungers sterben lassen.

Jedoch, hienieden nimmt alles ein Ende, selbst der Hunger von Leuten, die seit 14 Stunden nichts gegessen haben. Als unser Appetit befriedigt war, machte sich das Bedürfnis des Schlafs gebieterisch geltend. Ein ganz natürlicher Rückschlag nach der unendlich langen Nacht, während wir mit dem Tod zu ringen hatten.

»Meiner Treu, ich möchte gern schlafen«, sagte Conseil.

»Und ich schlafe schon!« erwiderte Ned Land.

Meine beiden Gefährten streckten sich auf die Matte der Kabine und sanken bald in tiefen Schlummer.

Ich meinesteils vermochte nicht so leicht dem noch so starken Bedürfnis des Schlafs nachzugeben. Es häuften sich zu viele Gedanken in meinem Geist, zu viele unlösbare Fragen drängten sich darin! Wo befanden wir uns? Welche seltsame Macht hatte uns erfasst? Ich fühlte – oder vielmehr glaubte es –, wie das Fahrzeug zum tiefsten Meeresgrund hinabsank. Es befiel mich arge Beklemmung.

Ich erblickte in diesem geheimnisvollen Asyl eine ganze Welt unbekannter Tiere, zu dem dieses Fahrzeug als gleichartig zu gehören schien, lebendig, sich bewegend, furchtbar wie sie ...!

Endlich wurde mein Gehirn ruhig, meine Gedankenbilder verschwammen in eine Schlaftrunkenheit, die mich bald in düsteren Schlummer versenkte.

 


9. KAPITEL

Ned Lands Zorn

Wie lange dieser Schlaf dauerte, weiß ich nicht; aber er musste wohl lange gewährt haben, da er uns von unseren Strapazen völlig wiederherstellte. Ich wachte zuerst auf. Meine Gefährten rührten sich noch nicht und lagen wie träge Massen regungslos hingestreckt.

Als ich kaum von diesem ziemlich harten Lager aufgestanden war, fühlte ich meinen Kopf frei, meinen Geist klar. Ich musterte darauf unsere Zelle genau.

Es war nichts an ihrer inneren Einrichtung geändert. Der Kerker war noch Kerker und die Gefangenen noch in Haft. Der Steward hatte nur während unseres Schlafs die Tafel abgedeckt. Eine baldige Änderung unserer Lage war durch nichts angezeigt, und ich fragte mich ernstlich, ob es unser Los sein werde, ewig in diesem Käfig zu leben.

Diese Aussicht schien mir um so peinlicher, als sich, wenn auch mein Kopf von seiner gestrigen Befangenheit frei war, doch die Brust äußerst beklommen fühlte. Ich atmete schwer. Die schwüle Luft genügte nicht meinen Lungen. War auch unsere Zelle geräumig, so war’s doch klar, dass wir einen großen Teil des Sauerstoffs, der darin gewesen war, verzehrt hatten. Denn jeder Mensch verbraucht binnen einer Stunde den in 100 Liter Luft enthaltenen Sauerstoff, und diese Luft, die dann mit einer fast gleichen Quantität Kohlensäure beschwert ist, wird zum Einatmen untauglich.

Es war also dringend erforderlich, die Luft unseres Kerkers zu erneuern, und ohne Zweifel auch die Atmosphäre des unterseeischen Fahrzeugs.

Es warf sich also meinem Geist die Frage auf: Wie verfuhr der Kommandant dieser schwimmenden Wohnung? Gewann er seine Luft durch chemische Mittel, indem er mittels der Wärme den im chlorsauren Kali enthaltenen Sauerstoff mitentwickelte und durch kaustisches Kali die Kohlensäure verzehrte? In diesem Falle musste er einige Verbindungen mit dem Festland unterhalten haben, um sich die für diese Operation erforderlichen Materialien zu verschaffen? Beschränkte er sich nur darauf, die Luft unter Hochdruck in Behältern gesammelt zu halten, um sie dem Bedürfnis seiner Bemannung gemäß zuzuteilen? Vielleicht. Oder, was bequemer, sparsamer, folglich wahrscheinlicher war, begnügte er sich, wie ein Walfisch auf die Oberfläche des Meeres heraufzukommen und den Bedarf an Atmosphäre für 24 Stunden zu erneuern? Wie dem auch sein und welches Verfahren man anwenden mochte, es schien mir klug, unverzüglich es anzuwenden.

In der Tat war ich schon genötigt, häufiger zu atmen, um den geringen Vorrat von Sauerstoff, den die Zelle noch enthielt, herauszuziehen, als ich plötzlich durch einen Strom reiner und ganz von Salzdünsten durchdrungener Luft erfrischt wurde. Es war wohl die belebende, jodhaltige Seeluft! Ich atmete weit auf, und meine Lungen erquickten sich an dem frischen Element. Zu gleicher Zeit fühlte ich ein regelmäßiges Schwanken von mäßigem Umfang.

Das Fahrzeug, das Ungeheuer von Eisenblech, war offenbar an der Meeresoberfläche gewesen, um nach Art der Walfische zu atmen.

Hiermit war also die Art der Lufterneuerung des Schiffs völlig ermittelt.

Als ich mit voller Brust diese Luft eingeschlürft, suchte ich nach der Luftleitung, der Röhre, die uns diese Erquickung zugeführt hatte, und entdeckte über der Tür ein Luftloch, das eine frische Strömung hereinließ, um so die verdorbene Luft der Zelle zu erneuern.

Soweit war ich mit meinen Beobachtungen gekommen, als Ned und Conseil zu gleicher Zeit durch Einwirkung dieser belebenden Lüftung erwachten. Sie rieben sich die Augen, streckten die Arme und waren in einem Augenblick auf den Füßen.

»Mein Herr hat gut geschlafen?«, fragte mich Conseil mit seiner täglichen Höflichkeit.

»Sehr gut, wackerer Junge«, erwiderte ich. »Und Sie, Meister Ned Land?«

»Tief, Herr Professor. Aber ich weiß nicht, ob ich irre, es kommt mir vor, als atme ich Seeluft?«

Ein Seemann konnte darin nicht irren, und ich erzählte dem Kanadier, was während seines Schlafs vorgegangen war.

»Gut!«, sagte er, »das erklärt vollkommen das zischende Brausen, das wir hörten, als der vermeintliche Narwal in Sicht der ›Abraham Lincoln‹ war.«

»Vollständig, Meister Ned, es war sein Atmen!«

»Nur, Herr Arronax, habe ich keinen Begriff davon, wie viel Uhr es ist, außer zur Zeit des Mittagessens?«

»Des Mittagessens, wackerer Harpunier? Sagen Sie wenigstens des Frühstückens, denn wir sind offenbar am folgenden Tag von gestern.«

»Das beweist«, erwiderte Conseil, »dass wir 24 Stunden geschlafen haben.«

»Das glaub’ ich«, war meine Antwort.

»Ich widerspreche dem nicht«, erwiderte Ned Land. »Aber Mittagessen oder Frühstück, der Proviantmeister wird willkommen sein, bringe er das eine oder das andere.«

»Das eine und das andere«, sagte Conseil.

»Richtig«, erwiderte der Kanadier, »wir haben recht auf beides, und was mich betrifft, werde ich beiden Ehre machen.«

»Nun denn! Ned, warten wir’s nur ab«, versetzte ich. »Es ist offenbar, dass die Unbekannten nicht die Absicht haben, uns Hungers sterben zu lassen, denn sonst hätte das gestrige Abendessen keinen Sinn.«

»Man wollte uns denn mästen!« entgegnete Ned.

»Ich protestiere dagegen«, erwiderte ich. »Wir sind nicht Kannibalen in die Hände gefallen!«

»Einmal ist noch nicht Gewohnheit«, versetzte der Kanadier im Ernst. »Wer weiß, ob nicht diese Leute seit langer Zeit frisches Fleisch entbehren mussten, und dann sind drei gesunde Individuen von guter Leibesbeschaffenheit wie der Herr Professor, sein Diener und ich ...«

»Weg mit solchen Gedanken! Meister Ned«, erwiderte ich dem Harpunier, »und besonders, bringen Sie sich nicht dadurch in Zorn gegen unsere Wirte, denn es könnte unsere Lage nur schlimmer machen.«

»Jedenfalls«, sagte der Harpunier, »hab’ ich einen verteufelten Hunger und Frühstück oder Mittagessen, die Mahlzeit bleibt aus!«

»Meister Land«, entgegnete ich, wir müssen uns nach dem Reglement des Schiffs richten, und ich vermute, unsres Magens Uhr läuft der des Küchenmeisters voraus.«

»Nun! Man wird sie auf die Stunde richten«, erwiderte Conseil gelassen.

»Daran erkenne ich Sie, Freund Conseil«, versetzte der ungeduldige Kanadier. »Sie nützen Ihre Galle und Nerven wenig ab!

Stets ruhig! Sie wären fähig, Gratias vor dem Benedicte herzusagen, und lieber Hungers zu sterben, als sich beklagen!«

»Wozu soll das dienen?«, fragte Conseil.

»Es wird zum Klagen dienen! Das ist schon etwas. Und wann diese Piraten – so nenne ich sie aus Achtung, und um nicht dem Herrn Professor zu widersprechen, der sie Kannibalen zu nennen verbietet –, wenn diese Piraten meinen, sie wollen mich in diesem Käfig, worin ich ersticke, aufbewahren, ohne die Flüche meines Zorns zu hören, so irren sie sich! Sehen Sie, Herr Arronax, reden Sie offen heraus. Glauben Sie, dass sie uns lange in diesem eisernen Käfig einbehalten werden?«

»Die Wahrheit zu sagen, so weiß ich die Dauer so wenig wie Sie, Freund Land.«

»Aber kurz, was vermuten Sie?«

»Ich vermute, dass uns das Schicksal ein wichtiges Geheimnis in die Hand gegeben hat. Wenn nun die Mannschaft dieses unterseeischen Fahrzeugs es bewahren muss und wenn dieses Interesse schwerer wiegt als das Leben dreier Menschen, so halte ich unser Leben für gefährdet. Im entgegengesetzten Fall wird das Ungeheuer, das uns verschlungen hat, uns bei erster Gelegenheit wieder auf die von unseresgleichen bewohnte Welt versetzen.«

»Es sei denn, dass es uns unter seine Bemannung aufnehmen«, sagte Conseil, »und also uns festhalten will ...«

»Bis zu dem Moment«, versetzte Ned Land, »wo eine Fregatte, die rascher oder gewandter ist als die ›Abraham Lincoln‹, sich dieses Piratennestes bemächtigen und seine Mannschaft samt uns an seiner Hauptrah baumeln lassen wird.«

»Richtig geurteilt, Meister Land«, entgegnete ich; »aber man hat uns, soviel ich weiß, noch nicht einen Vorschlag in der Hinsicht gemacht. Es ist also unnütz, darüber zu beraten, wozu wir, wenn der Fall eintreten sollte, uns zu entschließen haben würden. Ich wiederhole daher, warten wir ab, lassen wir uns von den Umständen raten, und tun wir nichts, denn es ist nichts zu tun.«

»Im Gegenteil, Herr Professor«, erwiderte der Harpunier, der nicht ablassen wollte, »es muss etwas getan werden.«

»Nun, was denn, Meister Land?«

»Uns retten.«

»Aus einem Kerker zu Lande entkommen, ist oft schwierig, aber aus einem unterseeischen scheint mir durchaus unausführbar.«

»Nun, Freund Ned«, fragte Conseil, »was haben Sie auf meines Herrn Einwand zu erwidern? Ich meine, einem Amerikaner gehen niemals die Hilfsmittel aus!«

Der Harpunier, in sichtbarer Verlegenheit, schwieg. Ein Entrinnen unter den Verhältnissen, worin wir durch das Schicksal geraten waren, war durchaus unmöglich. Aber ein Kanadier ist ein halber Franzose, das ließ Meister Ned in seiner Antwort wohl erkennen.

»Also, Herr Arronax«, fuhr er, nachdem er eine Weile überlegt hatte, fort, »Sie ahnen nicht, was Leute, die aus ihrem Kerker nicht entrinnen können, zu tun haben?«

»Nein, mein Freund.«

»Es ist sehr einfach, sie müssen sich bequemen zu bleiben.«

»Wahrhaftig!«, sagte Conseil, »besser noch drinnen als darunter oder darüber!«

»Aber nachdem man Kerkermeister, Schließer und Hüter hinausgeworfen«, fügte Ned Land hinzu.«

»Wie, Ned? Sie dächten ernstlich daran, sich dieses Fahrzeugs zu bemächtigen?«

»Sehr ernstlich«, erwiderte der Kanadier.

»Eine unmögliche Sache.«

»Weshalb denn, mein Herr? Es kann sich eine günstige Gelegenheit ergeben, und ich sehe nicht ein, was uns abhalten könnte, sie zu benützen. Wenn nicht mehr als 20 Mann an Bord sind, so werden zwei Franzosen und ein Kanadier, denk ich, ihnen nicht weichen!«

Es war besser, den Vorschlag des Harpuniers gelten zu lassen, als darüber zu reden. Darum erwiderte ich nur:

»Lassen wir die Umstände herankommen, Meister Ned, und wir werden dann sehen. Aber bis dahin, bitte ich, bezähmen Sie Ihre Ungeduld. Man kann nur mit List zum Handeln schreiten, und durch Erzürnen werden Sie nicht bewirken, dass günstige Gelegenheiten sich ergeben. Versprechen Sie mir also, dass Sie ohne allzu viel Zorn sich der Lage fügen wollen.«

»Ich versprech’s Ihnen, Herr Professor«, erwiderte Ned Land in einem Ton, der wenig beruhigen konnte. Kein ungestümes Wort soll aus meinem Mund kommen, keine brutale Bewegung soll mich verraten, wenn auch die Tafel nicht immer nach Wunsch versehen werden sollte.«

»Ich nehme Sie beim Wort, Ned«, erwiderte ich dem Kanadier.

Darauf brach die Unterredung ab, und jeder von uns überlegte für sich besonders. Ich gestehe, dass ich meinerseits, trotz der Versicherungen des Harpuniers, mir keine Illusion mehr machte. Ich gab die günstigen Gelegenheiten, wovon Ned Land gesprochen hatte, nicht zu. Um so sicher zu manövrieren, musste das unterseeische Boot mit zahlreicher Bemannung versehen sein, und folglich hätten wir es im Falle eines Kampfs mit einer zu starken Gegnerschaft zu tun. Übrigens hätten wir vor allen Dingen frei sein müssen, und wir waren’s nicht. Ich sah sogar kein Mittel, um aus dieser hermetisch verschlossenen Zelle zu entrinnen. Und im Falle der seltsame Kommandant dieses Boots ein Geheimnis zu bewahren hätte – was wenigstens wahrscheinlich schien –, so würde er uns an Bord nicht frei handeln lassen. Gegenwärtig war’s unbekannt, ob er sich einmal gewaltsam unserer entledigen oder uns in einem Winkel der Erde aussetzen würde. Diese Hypothesen schienen mir äußerst wahrscheinlich, und man musste eben ein Harpunier sein, um auf Wiedergewinnung seiner Freiheit zu rechnen.

Ich begriff übrigens, dass Ned Lands Ideen durch die Gedanken, die sich seines Gehirns bemächtigen, sich verbitterten. Allmählich hörte ich Flüche aus seiner grollenden Seele, sah ihn drohende Gebärden machen. Er stand auf, drehte sich um wie ein wildes Tier im Käfig, schlug mit der Faust auf den Boden und stampfte mit Füßen. Übrigens, die Zeit floss hin, der Hunger peinigte, und diesmal ließ der Steward auf sich warten. Und wenn man wirklich gute Gesinnung gegen uns hatte, so vergaß man allzu lang unsere Lage als Schiffbrüchige.

Ned Land, von der Pein seines kräftigen Magens getrieben, geriet immer mehr in Zorn, und ich besorgte trotz seines Versprechens wirklich eine Explosion, wenn ihm ein Mann von den Leuten an Bord zu Gesicht käme.

Noch 2 Stunden lang steigerte sich Ned Lands Zorn. Der Kanadier rief, schrie, aber vergebens. Die blechernen Wände waren taub.

Ich vernahm auch nicht das geringste Geräusch im Innern des Fahrzeugs, als sei es ausgestorben. Es lag unbeweglich, sonst hätte man etwas von zitternder Bewegung beim Arbeiten der Schraube gespürt. Ohne Zweifel in die Tiefe versenkt, gehörte es der Erde nicht mehr an. Das düstere Schweigen war zum Erschrecken.

Wie lange unsere Abgeschiedenheit und Verlassenheit im Schoß dieser Zelle dauern werde, getraute ich mir nicht zu schätzen. Allmählich erloschen die Hoffnungen, die ich nach unserer Zusammenkunft mit dem Kommandanten geschöpft hatte. Der milde Blick dieses Mannes, der edle Ausdruck seiner Züge, seine noble Haltung, alles schwand aus meiner Erinnerung. Ich sah diesen rätselhaften Mann wieder so, wie er aus Notwendigkeit sein musste, unerbittlich, grausam. Ich fühlte, wie er außerhalb des menschlichen Verkehrs jedem zarteren Gefühl unzugänglich war, ein unversöhnlicher Feind gegen Leute, denen er ewigen Hass geschworen haben musste.

Aber sollte dieser Mann wirklich im Sinne haben, uns in diesem engen Kerker Hungers sterben zu lassen, uns den gräulichen Versuchungen preiszugeben, wozu des Hungers peinigende Qual treibt?

Dieser grässliche Gedanke erfasste meinen Geist mit fürchterlicher Stärke, und die Fantasie trug dazu bei, dass mich ein wahnsinniges Entsetzen befiel. Conseil blieb gelassen, Ned Land brüllte.

In dem Augenblick ließ sich da außen ein Geräusch vernehmen.

Fußtritte hallten auf dem metallenen Boden. Die Riegel wurden geschoben, die Pforte öffnete sich, der Steward trat ein.

Bevor ich mich nur regen konnte, um ihn zurückzuhalten, war der Kanadier über den Unglücklichen hergefallen, hatte ihn zu Boden geworfen und fasste ihn bei der Kehle. Der Steward drohte zu ersticken.

Conseil war bereits bemüht, das halb erwürgte Opfer den Händen des Harpuniers zu entreißen, und ich war im Begriff, ihm dabei zu helfen, als mich plötzlich eine französische Anrede an meine Stelle fesselte:

»Beruhigen Sie sich, Meister Land, und Sie, Herr Professor, wollen mich anhören!«

 


10. KAPITEL

Der Mann des Meeres

Es war der Kommandant an Bord, der dies sagte.

Auf diese Worte stand Ned Land plötzlich auf. Der Steward verließ auf einen Wink seines Herrn wankend die Zelle; aber – so zauberhaft wirkte der Wink des Kommandanten – nicht eine Gebärde verriet den Groll, den dieser Mensch gegen den Kanadier gefasst haben musste. Conseil, außergewöhnlich teilnehmend, ich voll Bestürzung, harrten wir schweigend auf die Entwicklung der Szene.

Der Kommandant, an eine Ecke des Tischs gelehnt, die Arme gekreuzt, beobachtete uns mit gespannter Achtsamkeit. Nahm er Anstand zu reden? Bereute er die soeben gesprochenen Worte?

Man konnte meinen.

Nach einer kleinen Pause, die niemand unterbrach, sagte er mit ruhigem, eindringlichem Ton:

»Meine Herren, ich spreche französisch, englisch, deutsch und Latein. Ich hätte Ihnen also gleich bei unserer ersten Zusammenkunft antworten können, aber ich wollte Sie erst kennenlernen, sodann überlegen. Ihre vierfache, dem Inhalt nach übereinstimmende Erzählung hat mich auch über Ihre Persönlichkeit versichert. Ich weiß nun, dass der Zufall des Schicksals zu mir geführt hat Herrn P. Arronax, Professor der Naturgeschichte am Museum zu Paris, der mit einer wissenschaftlichen Sendung ins Ausland betraut ist; seinen Diener Conseil und Ned Land aus Kanada, Harpunier an Bord der Fregatte ›Abraham Lincoln‹ von der Nationalmarine der Vereinigten Staaten Amerikas.«

Ich verneigte mich mit dem Ausdruck der Zustimmung. Da mir keine Frage gestellt war, hatte ich nicht zu antworten.

Der Mann sprach mit vollkommener Leichtigkeit, ohne falsche Betonung. Seine Sätze waren klar, seine Ausdrücke richtig, seine Aussprache auffallend leicht. Und dennoch fühlte ich, dass er nicht mein Landsmann war.

Er fuhr folgendermaßen fort:

»Es ist Ihnen, mein Herr, gewiss auffallend gewesen, dass ich so lange mit meinem zweiten Besuch gezögert habe. Allein ich wollte reiflich erwägen, welchen Entschluss ich Ihnen gegenüber zu ergreifen hätte. Ich habe lange geschwankt. Sehr bedauerliche Umstände haben Sie in die Nähe eines Mannes gebracht, der mit der Menschheit gebrochen hat. Sie stören durch Ihre Anwesenheit meine Existenz ...«

»Ohne es zu wollen«, sagte ich.

»Ohne zu wollen?«, erwiderte der Unbekannte mit etwas gehobener Betonung. »Verfolgt mich die ›Abraham Lincoln‹ wider Willen auf allen Meeren? Haben Sie sich wider Willen an Bord dieser Fregatte eingefunden? Sind Ihre Kugeln wider Willen von meinem Schiff abgeprallt? Hat mich Meister Ned Land wider Willen mit seiner Harpune getroffen?«

Ich nahm bei diesen Worten eine fortdauernde Gereiztheit wahr. Doch hatte ich auf alle diese Beschuldigungen eine ganz natürliche Antwort zu geben und gab sie.

»Mein Herr«, sagte ich, »Sie wissen ohne Zweifel nicht, was in Betreff Ihrer in Amerika und Europa geredet worden ist. Sie wissen nicht, dass verschiedene Unfälle, die durch einen Stoß Ihres unterseeischen Fahrzeugs vorkamen, die öffentliche Meinung auf beiden Kontinenten außerordentlich aufgeregt haben. Ich verschone Sie mit den zahllosen Hypothesen, womit man die unerklärliche Erscheinung, deren Geheimnis einzig in Ihrer Hand lag, zu erklären suchte. Aber wissen Sie, dass bei Ihrer Verfolgung die ›Abraham Lincoln‹ meinte, ein starkes Seeungeheuer zu verfolgen, von dem der Ozean um jeden Preis befreit werden müsse.«

Ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen, fuhr der Kommandant in ruhigerem Ton fort:

»Herr Arronax, Sie werden wohl nicht zu behaupten wagen, dass Ihre Fregatte nicht ebenso gut ein unterseeisches Boot verfolgt und kanoniert habe wie ein Ungeheuer?«

Diese Frage setzte mich in Verlegenheit, denn gewiss hätte Kommandant Farragut kein Bedenken getragen, es zu tun. Er hätte für seine Pflicht gehalten, ein Fahrzeug dieser Art ganz ebenso wie einen Riesennarwal zu vernichten.

»Sie begreifen also, mein Herr«, fuhr der Unbekannte fort, »dass ich Sie als Feinde zu behandeln berechtigt bin.«

»Ich blieb die Antwort schuldig. Wozu sollte es dienen, einen solchen Satz zu erörtern, wenn die Gewalt der besten Beweisgründe Meister ist.

»Ich habe lange geschwankt«, fuhr der Kommandant fort. Ich hatte keine Verbindlichkeit, Sie gastlich aufzunehmen. Wenn ich mich von Ihnen scheiden musste, hatte ich kein Interesse daran, Sie wiederzusehen. Ich ließ Sie wieder auf die Plattform meines Schiffs bringen, wohin Sie sich geflüchtet hatten; ich tauchte in die Tiefe und vergaß Ihr Dasein. War ich nicht dazu berechtigt?«

»Es war vielleicht die Berechtigung eines Wilden«, fuhr ich fort, »aber nicht eines zivilisierten Menschen.«

»Herr Professor«, versetzte lebhaft der Kommandant, »ich gehöre nicht zu denen, die Sie zivilisiert nennen! Ich habe mit der ganzen menschlichen Gesellschaft gebrochen, aus Gründen, die ich allein zu würdigen berechtigt bin. Ich befolge also auch nicht ihre Regeln und fordere Sie auf, sich bei mir nie darauf zu berufen.«

Dies sagte er klar und bestimmt. Zorn und Verachtung strahlten aus dem Auge des Unbekannten, und ich sah, dass das Leben dieses Mannes eine furchtbare Vergangenheit hatte. Er hatte sich nicht allein außerhalb der menschlichen Gesetze gestellt, sondern sich auch davon unabhängig gemacht, frei im strengen Sinn des Wortes, ganz unerreichbar! Wer sollte auch wagen, ihn auf den Meeresgrund zu verfolgen, da er auf der Oberfläche die gegen ihn verhängte Verfolgung vereitelte? Welches Schiff könnte einem Stoß seines unterseeischen Monitors widerstehen? Welcher auch noch so starke Panzer könnte die Stöße seines Sporns aushalten? Kein Mensch könnte ihn für seine Taten zur Rechenschaft ziehen. Gott, wenn er an ihn glaubte, sein Gewissen, wenn er eins hatte, waren seine einzigen Richter.

Diese Gedanken durchkreuzten sich rasch in meinem Geist, während der sonderbare Mann, vertieft und in sich selbst versenkt, schwieg. Das Interesse, womit ich ihn betrachtete, war mit Schrecken gemischt.

Nach einer langen Pause ergriff der Kommandant wieder das Wort:

»Ich habe also geschwankt«, sagte er, »aber ich habe gedacht, mein Interesse lasse sich mit dem natürlichen Mitgefühl vereinigen, worauf jedes menschliche Wesen Anspruch hat. Sie sollen an Bord meines Schiffs bleiben, weil das Verhängnis Sie dahin verschlagen hat. Sie sollen da frei sein, und zum Entgelt für diese, übrigens ganz verhältnismäßige, Freiheit will ich Ihnen nur eine einzige Bedingung auferlegen. Ihr Wort, sie anzunehmen, wird mir genügen.«

»Reden Sie, mein Herr«, erwiderte ich, »ich denke, diese Bedingung gehört zu denen, die ein Ehrenmann annehmen kann?«

»Ja, mein Herr, und ich will sie Ihnen mitteilen. Es wäre möglich, dass gewisse unvorhergesehene Ereignisse mich nötigten, Sie auf Stunden oder Tage, nach Bedürfnis, in Ihrer Kabine einzuhalten. Da ich niemals Gewalt anzuwenden wünsche, erwarte ich in diesem Fall mehr wie in jedem andern willigen Gehorsam. Durch dieses Verfahren decke ich Ihre Verantwortlichkeit, entbinde Sie gänzlich, denn ich kann Sie in die Unmöglichkeit versetzen, zu sehen, was nicht gesehen werden darf. Sind Sie mit diesen Bedingungen zufrieden?«

Es gingen also an Bord des Fahrzeugs Dinge vor, die zum Mindesten ganz eigentümlicher Art waren und die von Leuten, die nicht außerhalb der sozialen Gesetze standen, nicht gesehen werden durften!

»Wir nehmen sie an«, erwiderte ich. »Nur möcht’ ich Sie, mein Herr, um die Erlaubnis bitten, eine einzige Frage an Sie zu richten.«

»Reden Sie, mein Herr.«

»Sie haben gesagt, wir sollten frei auf Ihrem Schiff sein?«

»Vollständig.«

»Ich frage Sie also, was Sie unter dieser Freiheit verstehen.«

»Nun, die Freiheit hin und her zu gehen, zu sehen, selbst alles, was hier vorgeht, zu beobachten – außer in manchen seltenen Fällen –, kurz, die Freiheit, die wir selbst genießen, ich samt meinen Genossen.«

Offenbar verstanden wir uns nicht.

»Verzeihen Sie, mein Herr«, fuhr ich fort, »aber diese Freiheit besteht nur in derjenigen, die jeder Gefangene hat, in seinem Kerker hin und her zu gehen! Diese kann uns nicht genügen.«

»Doch muss sie Ihnen genügen!«

»Wie! Sollen wir für immer verzichten, unsere Heimat, Freunde und Verwandten wiederzusehen!«

»Ja, mein Herr. Aber das auf der Erde unerträgliche Joch, das die Menschen Freiheit nennen, sich wieder aufzuladen – darauf zu verzichten ist vielleicht nicht so peinlich, als Sie glauben!«

»Das wäre!«, rief Ned Land. »Niemals werde ich mein Wort darauf geben, dass ich nicht mich zu retten suche!«

»Ich fordere Ihnen nicht Ihr Wort ab, Meister Land«, erwiderte kalt der Kommandant.

»Mein Herr«, versetzte ich, gegen Gewohnheit entrüstet, »Sie missbrauchen Ihre Lage! Das ist Grausamkeit!«

»Nein, mein Herr, Gnade ist’s. Sie sind meine Kriegsgefangenen!

Ich erhalte Sie am Leben, während es mich nur ein Wort kosten würde, Sie im Meeresgrund zu versenken! Sie haben mich angegriffen! Sie sind durch Überraschung in den Besitz eines Geheimnisses gelangt, in das kein Mensch auf der Welt dringen darf, das Geheimnis meines Daseins! Und Sie glauben, dass ich Sie wieder auf die Erde entlassen werde, die keine Kenntnis mehr von mir haben soll! Niemals! Indem ich Sie zurückhalte, schütze ich nicht Sie, sondern mich selbst!«

Diese Worte gaben zu erkennen, dass der Kommandant einen Entschluss gefasst hatte, gegen den kein Argument durchdringen konnte.

»Also, mein Herr«, fuhr ich fort, »Sie geben uns nur die Wahl zwischen Leben und Tod?«

»Ganz einfach.«

»Meine Freunde«, sagte ich, »auf eine so gestellte Frage gibt’s keine Antwort. Aber kein Wort bindet uns an den Herrn dieses Fahrzeugs.«

»Kein Wort, mein Herr«, erwiderte der Unbekannte.

Dann fuhr er in sanfterem Ton fort:

»Jetzt erlauben Sie mir, Herr Arronax, vollständig mitzuteilen, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich kenne Sie, Herr Arronax. Sie, wenn auch nicht Ihre Gefährten, werden sich vielleicht über das Schicksal, das Sie an mein Los fesselt, nicht so sehr zu beklagen haben. Sie finden unter den Büchern, die zu meiner Lieblingslektüre gehören, das Werk über die großen Tiefen des Meeres, das Sie herausgegeben haben. Ich hab’ es öfters gelesen. Sie sind in diesem Werk so weit vorgedrungen, als die Wissenschaft auf der Erde Ihnen möglich machte. Aber Sie wissen nicht alles, haben nicht alles gesehen.

Lassen Sie mich also Ihnen sagen, Herr Professor, dass Sie die an meinem Bord verbrachte Zeit nicht bereuen werden. Sie sollen im Land der Wunder reisen. Staunende Verwunderung wird vielleicht beständig Ihre Seele füllen. Das ununterbrochen Ihren Augen dargebotene Schauspiel wird Sie nicht leicht abstumpfen. Ich will eine nochmalige unterseeische Reise um die Welt – wer weiß, vielleicht die letzte – vornehmen, um meine Studien auf dem Grund dieser so oft befahrenen Meere zu wiederholen, und Sie sollen mein Studiengenosse sein. Von diesem Tag an werden Sie in ein neues Element treten, Sie werden sehen, was noch kein Mensch zu sehen vermochte – denn ich und die Meinigen zählen nicht mehr –, und unser Planet wird Ihnen durch meine Vermittlung seine letzten Geheimnisse mitteilen.«

Ich kann’s nicht leugnen; diese Worte des Kommandanten machten einen starken Eindruck auf mich. Ich war an meiner schwachen Seite gefasst und vergaß auf einen Augenblick, dass die Anschauung dieser erhabenen Dinge die verlorene Freiheit nicht aufwiegen konnte. Übrigens rechnete ich auf die Zukunft, um diese wichtige Frage zu lösen. Daher beschränkte ich mich darauf, zu erwidern:

»Mein Herr, wenn Sie mit der Menschheit gebrochen haben, so will ich glauben, dass sie damit nicht alles menschliche Gefühl abgelegt haben. Wir sind Schiffbrüchige, die an Bord Ihres Fahrzeugs barmherzig aufgenommen wurden, das werden wir nie vergessen.

Was mich betrifft, so verkannte ich nicht, dass, wenn das Interesse an der Wissenschaft den Menschen so weit in Besitz nimmt, dass er das Bedürfnis der Freiheit darüber vergisst – dasjenige, was unsere Zusammenkunft mir verspricht, mir große Vergütungen gewähren würde.«

Ich dachte, der Kommandant werde mir die Hand reichen, um unseren Vertrag zu besiegeln. Er tat’s nicht. Es tat mir leid um seinetwillen.

»Noch eine Frage, die letzte«, sagte ich im Moment, wo dies unerklärliche Wesen Miene machte, sich zurückzuziehen.

»Reden Sie, Herr Professor.«

»Mit welchem Namen darf ich Sie nennen?«

»Mein Herr«, erwiderte der Kommandant, ich bin für Sie nur Kapitän Nemo, und Sie nebst Ihren Gefährten sind für mich nur die Passagiere der ›Nautilus‹.«

Kapitän Nemo rief. Ein Steward erschien. Der Kapitän erteilte ihm seine Befehle in der fremdartigen Sprache, die ich nicht erkennen konnte. Darauf wendete er sich zu dem Kanadier und Conseil mit den Worten:

»Ein Mahl wartet in Ihrer Kabine auf Sie. Folgen Sie gefälligst diesem Mann.«

»Das lässt man sich gern gefallen!«, erwiderte der Harpunier.

Conseil verließ mit ihm endlich diese Zelle, worin sie seit länger als 30 Stunden eingeschlossen waren.

»Und nun, Herr Arronax, unser Frühstück ist bereit. Erlauben Sie mir, dass ich vorausgehe.«

»Wie Sie befehlen, Kapitän.«

Ich folgte Kapitän Nemo, und sowie ich aus der Tür getreten war, gingen wir durch einen elektrisch erleuchteten etwa 10 Meter langen Gang, dann öffnete sich vor uns eine zweite Tür.

Wir traten nun in einen Speisesaal, der in strengem Stil möbliert und ausgeschmückt war. An beiden Seiten befanden sich hohe Anrichttische von Eichenholz mit eingelegten Verzierungen, und auf Fachbrettern prangten Fayence, Porzellan und Glasgefäße von unschätzbarem Wert. Das Silbergeräte glänzte in den Strahlen, die von einer erleuchteten Decke herabfielen, deren Glanz durch feine Gemälde gemildert war.

In der Mitte des Saals stand ein reich besetzter Tisch. Kapitän Nemo wies mir meinen Platz an:

»Setzen Sie sich«, sagte er zu mir, »und essen Sie wie ein Mann, der wohl Hunger zum Sterben haben wird.«

Das Frühstück bestand aus einer Anzahl Gerichte, die lediglich das Meer geliefert hatte, und einigen, deren Beschaffenheit ich nicht erkennen konnte. Ich gebe zu, dass es gut war, aber mit einem besonderen Beigeschmack, woran ich mich leicht gewöhnte. Diese verschiedenen Speisen schienen mir reich an Phosphor zu sein, und ich dachte mir, sie müssten aus dem Meer herkommen.

Kapitän Nemo blickte mich an. Ich richtete keine Frage an ihn, aber er erriet meine Gedanken und antwortete von selbst auf Fragen, die ich gern getan hätte.

»Die meisten dieser Gerichte sind Ihnen wohl unbekannt«, sagte er, »doch können Sie ohne Besorgnis sie genießen. Sie sind gesund und nahrhaft. Auf Nahrungsmittel von der Erde habe ich lange verzichtet, und befinde mich darum nicht übler. Meine kräftige Mannschaft genießt dieselbe Nahrung wie ich.«

»Also«, sagte ich, »sind diese Speisen alle Erzeugnisse des Meeres?«

»Ja, Herr Professor, das Meer befriedigt alle meine Bedürfnisse.

Bald werfe ich meine Zugnetze aus und ziehe sie zum Bersten voll wieder herein. Bald gehe ich mitten in diesem Element, das dem Menschen unzugänglich zu sein scheint, auf die Jagd, und erlege Wild in meinen unterseeischen Waldungen. Meine Herden weiden, wie die des alten Hirten Neptun, ohne Furcht auf dem unermesslichen Wiesenland des Ozeans. Ich habe da ein ungeheures Besitztum, das ich selbst nutzbar mache und das von der Hand des Schöpfers aller Dinge stets eingesät wird.«

Ich blickte Kapitän Nemo mit einigem Erstaunen an und antwortete:

»Ich begreife wohl, mein Herr, dass Ihre Netze Ihnen vortreffliche Fische auf die Tafel liefern; minder begreiflich ist mir, dass Sie Ihr Wasserwild in Ihren unterseeischen Wäldern jagen; aber durchaus unbegreiflich, dass ein Stück Fleisch, so klein es sein mag, unter Ihren Gerichten sich findet.«

»Ich habe auch, mein Herr«, versetzte Kapitän Nemo, »niemals Fleisch von Landtieren auf dem Tisch.«

»Dieses doch«, erwiderte ich, »und wies auf einen Teller, worauf noch einige Schnitt Filet waren.

»Was Sie für Fleisch halten, Herr Professor, ist nichts anders als Meerschildkröte. Ebenso ist dort Leber vom Delfin, die Sie für Schweineragout nehmen würden. Mein Koch versteht sich vortrefflich darauf, diese verschiedenen Produkte des Meeres zuzubereiten und aufzubewahren. Kosten Sie alle diese Speisen. Diese Konserve von Holothurien würde ein Malaie für das beste Gericht auf der Welt halten. Jene Sahne dort ist von der Milch von Seesäugetieren, und der Zucker kommt von dem großen Fucus des Nordmeers; endlich erlauben Sie mir von dem Anemonenkonfekt anzubieten, das dem schmackhaftesten Obst gleichkommt.«

Ich kostete, mehr aus Neugierde, während Kapitän Nemo mich durch seine unwahrscheinlichen Berichte ergötzte.

»Aber dieses Meer, Herr Arronax«, fuhr er fort, »gewährt mir nicht nur die vortreffliche Nahrung, sondern auch Kleidung. Die

Stoffe Ihrer Kleider sind aus den Fasern einiger Muscheln gewebt und mit antikem Purpur gefärbt. Das Parfüm auf der Toilette Ihrer Kabine ist aus Seepflanzen destilliert. So sind Ihr Bett, Ihre Feder und Tinte aus Bestandteilen gemacht, die das Meer liefert. So ist’s mit allem, was ich jetzt bedarf.«

»Sie sind ein Freund des Meeres, Kapitän.«

»Jawohl! Das Meer bedeckt 7/10 der Erdoberfläche, und der Seewind ist rein und gesund. In dieser unermesslichen Einöde ist der Mensch doch nie allein; denn er fühlt das Leben um ihn herum; ein übernatürliches wundervolles Dasein rührt sich darin; es ist nur Bewegung und Liebe. Und wirklich, Herr Professor, finden wir die drei Naturreiche Mineralien, Pflanzen und Tiere darin repräsentiert. Das letztere Reich am stärksten durch vier Gruppen von Pflanzentieren, drei Klassen Gliedertiere, fünf Klassen Mollusken, drei Klassen Wirbeltiere, Säugetiere, Reptilien und die unzählige Menge Fische. Diese Abteilung des Tierreichs zählt 13.000 Gattungen, wovon nur 1/10 den süßen Gewässern angehört. So ist das Meer eine ungeheure Wohnstätte der Natur. Es herrscht darin die äußerste Ruhe. Das Meer ist außerhalb der Macht der Tyrannen.

Auf seiner Oberfläche können sie noch Ungerechtigkeit üben, sich bekämpfen, alle Schrecken verüben. Aber 30 Fuß unterhalb hört ihre Gewalt auf. Ach! Mein Herr, im Meeresschoß allein ist Unabhängigkeit! Da fühlt man sich frei!«

Mitten in diesem Schwung des Enthusiasmus verstummte der Kapitän plötzlich. Hatte er sich zu weit aus seiner gewohnten Rückhaltung herausreißen lassen? Er ging einige Augenblicke in großer Bewegung umher. Darauf, als er wieder ruhig geworden, wendete er sich zu mir mit den Worten:

»Jetzt, Herr Professor, wenn Sie die ›Nautilus‹ besichtigen wollen, stehe ich zu Ihren Diensten.«

 


11. KAPITEL

Die ›Nautilus‹

Kapitän Nemo stand auf. Ich folgte ihm. Eine Doppeltür im Hintergrund des Saals öffnete sich, und ich trat in ein Zimmer von gleicher Größe wie das, welches wir verließen.

Es war eine Bibliothek. An den Wänden ragten hohe Gestelle von schwarzem Palisander mit Kupfer ausgelegt, auf deren Fachbrettern eine große Zahl gleichförmig eingebundener Bücher standen. Sie liefen ringsum an allen Wänden und schlossen sich unten an geräumige, mit dunkelbraunem Leder ausgeschlagene Diwane, welche die bequemsten Polster boten. Leichte, bewegliche Pulte, die man nach Belieben näher oder ferner rücken konnte, dienten beim Lesen zum Auflegen der Bücher. In der Mitte stand ein großer Tisch, der mit Broschüren bedeckt war, worunter sich auch einige bereits alte Zeitschriften befanden. Dies harmonische Ganze war von elektrischem Licht bestrahlt, das aus vier glattpolierten Kugeln, die im Plafond zur Hälfte eingelassen waren, herabfiel. Ich sah mich mit wahrer Bewunderung in dem so sinnreich eingerichteten Saal um.

»Kapitän Nemo«, sagte ich zu meinem Wirt, »das ist eine Bibliothek, die manchem Palast auf der Erde Ehre machen würde; ich bin wahrhaft in Staunen versetzt bei dem Gedanken, sie auf dem Meeresgrund zu finden.«

»Wo fände man einen stilleren, ungestörteren Aufenthalt, Herr Professor?« erwiderte Kapitän Nemo. Finden Sie im Studierzimmer Ihres Museums eine so vollständige Ruhe?«

»Nein, mein Herr; und zugleich ist’s sehr ärmlich gegen das Ihrige. Sie haben da wohl 6- bis 7.000 ...«

»12.000, Herr Arronax. Diese einzigen Bande fesseln mich noch an die Erde. Aber seit dem Tag, wo meine ›Nautilus‹ zum ersten Mal unter die Gewässer tauchte, existiert die Welt für mich nicht mehr. An jenem Tag habe ich meine letzten Bücher, meine letzten Broschüren und Zeitschriften gekauft, und seitdem lebe ich in dem Gedanken, dass die Menschheit nichts weiter gedacht und geschrieben hat. Diese Bücher, Herr Professor, stehen übrigens zu Ihrer Verfügung, um nach Belieben davon Gebrauch zu machen.«

Ich dankte dem Kapitän und trat näher zu den Büchern heran.

Es waren da aus der Moral und Literatur, den exakten Wissenschaften, Schriften aus allen Sprachen in Menge, aber aus der Staatswirtschaft sah ich nicht ein einziges; sie schienen an Bord streng geächtet. Alle diese Bücher waren, ohne Unterschied aus welcher

Sprache, nach Rubriken geordnet; ein Beweis, dass der Kapitän der

›Nautilus‹ die Bände, wie er sie zufällig griff, geläufig lesen konnte.

Unter diesen Büchern bemerkte ich die Meisterwerke alter und neuer Literatur, d. h. alles Schönste, was der menschliche Geist von Homer bis auf die jetzt lebenden Koryphäen geliefert. Aber wissenschaftliche Werke waren darin vorzugsweise bedacht: Mechanik, Ballistik, Meteorologie, Geografie, Geologie usw. waren dabei nicht minder vertreten als die gesamte Naturgeschichte, und ich sah wohl, dass ihnen der Kapitän vorzugsweise seine Studien widmete. Darunter fanden sich denn auch die beiden Bände, die mir eine so gute Aufnahme beim Kapitän Nemo verschafften; und aus einem andern Werk von Jos. Bertrand, dass, wie mir bekannt war, im Laufe des Jahres 1865 ausgegeben wurde, konnte ich entnehmen, dass die Ausstattung der ›Nautilus‹ nicht später vorgenommen wurde, dass also Kapitän Nemo sein unterseeisches Leben seit höchstens 3 Jahren führte. Der Zeitpunkt ließ sich wohl durch weitere Forschung, wofür ich ja Muße genug hatte, noch genauer feststellen. Für jetzt galt es, die Wunder der ›Nautilus‹ zu besichtigen.

»Mein Herr«, sagte ich zum Kapitän, »ich danke Ihnen, dass Sie mir diese Bibliothek zur Verfügung stellen. Sie enthält kostbare Schätze der Wissenschaft, die ich benützen will.«

»Dieser Saal«, sagte der Kapitän, »ist nicht bloß eine Bibliothek, sondern auch ein Rauchzimmer.«

»Ein Rauchzimmer?«, rief ich aus. »Also raucht man an Bord?«

»Allerdings.«

»Dann muss ich wohl glauben, mein Herr, dass Sie noch in einiger Verbindung mit der Havanna stehen.«

»Durchaus nicht«, erwiderte der Kapitän. »Nehmen Sie diese Zigarre, Herr Arronax, und wenn Sie schon nicht aus der Havanna kommt, werden Sie doch, wenn Sie Kenner sind, damit zufrieden sein.«

Ich nahm die Zigarre, die einer Londres ähnlich geformt war, aber aus Goldblättern zu bestehen schien. Ich zündete sie an einem kleinen Brasero an, das ein elegantes Fußgestell von Bronze hatte, und fing an mit dem Wonnegefühl eines Schmauchers, der seit 2 Tagen das Rauchen entbehrt hatte, zu dampfen.

»Das ist vortrefflich«, sagte ich, »aber Tabak ist’s nicht.«

»Nein«, erwiderte der Kapitän, dieser Tabak kommt weder aus der Havanna noch dem Orient. Es ist eine Art nikotinhaltiges Seegras, das mir das Meer, etwas sparsam, liefert. Vermissen Sie die Londres, mein Herr Professor?«

»Kapitän, von jetzt an mag ich sie nicht mehr.«

»So rauchen Sie davon nach Belieben und ohne sich über ihren Ursprung Gedanken zu machen. Sie sind von keiner Verwaltung kontrolliert und sind darum nicht minder gut, denk’ ich.«

»Im Gegenteil.«

Nun öffnete Kapitän Nemo eine Tür gegenüber der, durch die wir in die Bibliothek gekommen waren, und wir traten in einen sehr großen glänzend erleuchteten Saal. Er war vierseitig, mit abgestumpften Ecken, 10 Meter lang, 6 breit, 5 hoch. Ein erleuchteter, mit leichten Arabesken verzierter Plafond spendete helles und mildes Licht auf alle Merkwürdigkeiten dieses Museums. Denn es war wirklich ein Museum, worin eine einsichtige und freigebige Hand alle Schätze der Natur und Kunst vereinigt hatte, samt allerlei künstlerischem Beiwerk, welches das Atelier eines Malers kennzeichnet.

Dreißig Meisterwerke in gleichförmigen Rahmen, um glänzende Panoplien gruppiert, zierten die im strengen Stil tapezierten Wände. Ich sah die Gemälde von höchstem Kunstwert, die in den Sammlungen und Ausstellungen Bewunderung erregt hatten; und in den Ecken des prachtvollen Museums standen köstliche Statuen in Marmor und Bronze, Nachbildungen der schönsten antiken Muster.

»Herr Professor«, sagte darauf der Kommandant der ›Nautilus‹, »entschuldigen Sie die in diesem Salon herrschende Unordnung.«

»Mein Herr«, erwiderte ich, »ohne dass ich weiß, wer Sie sind, darf ich wohl einen Künstler in Ihnen erkennen?«

»Einen Kunstliebhaber höchstens, mein Herr. Vormals machte mir’s Freude, diese schönen Werke der Menschenhand zu sammeln. Ich suchte begierig und unermüdlich, und es gelang mir einiges Wertvolle zusammenzubringen. Dies meine letzten Erinnerungen an die Erde, die nun für mich tot ist.«

»Und diese Musiker?«, sagte ich, und wies auf die Partituren von Weber, Rossini, Mozart, Beethoven, Haydn, Meyerbeer, Herold, Wagner, Auber u. a., die auf einem stattlichen Orgelpiano lagen.

»Diese Musiker«, erwiderte Kapitän Nemo, »gehören wie Orpheus zu einer entschwundenen Zeit, und ich bin tot, ebenso wie die, welche 6 Fuß tief unter der Erde ruhen!«

Der Kapitän, in tiefen Gedanken versunken, vergaß seine Umgebung, indes ich fortfuhr, die Schätze und Merkwürdigkeiten des Salons zu mustern.

Es fanden sich da Seltenheiten aus dem Naturreiche von bedeutendem Wert, hauptsächlich Pflanzen, Muscheln und andere Erzeugnisse des Meeres, die ohne Zweifel der Kapitän persönlich gesammelt hatte. Mitten im Salon sah man in elektrischer Beleuchtung einen Springbrunnen mit einem Becken aus einer einzigen Muschel von einer der größten Molluskenarten, deren fein verzierter Rand 6 Meter Umfang hatte und die demnach größer war als die Riesenweihkessel in der Kirche St. Sulpice zu Paris, die einst die Republik Venedig dem König Franz I. zum Geschenk machte.

Um dieses Becken herum waren unter Glasbehältern mit Kupferbeschlag die kostbarsten Meeresprodukte mit Etiketten geordnet, die je den Blicken der Naturforscher sich boten. Man begreift, welche Freude für den Professor der Naturgeschichte.

Die Zoophyten boten höchst merkwürdige Musterstücke aus den Gruppen der Polypen und Echinodermen dar. Aus der Klasse der Mollusken sah man so äußerst kostbare Stücke, dass sie einen etwas erregbaren Conchyliologen außer sich bringen konnten. –

Seitwärts in besonderen Fachbehältern lagen die schönsten Perlenschnüre gereiht, deren Feuer im elektrischen Licht spielte, rosenfarbene, grüne, gelbe, schwarze, blaue, seltene Producte verschiedener Mollusken aller Meere. Manche dieser Perlen waren von der Größe eines Taubeneies und kamen an Wert den berühmten des Schahs von Persien und des Imams von Mascat gleich. Den Wert dieser Sammlung zu beziffern war fast unmöglich.

Während ich mich fragte, woher dem Kapitän die Summen für solche Liebhabereien geflossen sein konnten, überraschte er mich durch die Äußerung:

»Sie mustern meine Muscheln, Herr Professor. Sie können in der Tat einem Naturforscher Freude machen; für mich haben sie noch den besonderen Reiz, dass ich sie alle eigenhändig gesammelt habe; und es ist kein Meer, das ich nicht dafür durchforscht hätte.«

»Ich begreife, Kapitän, diese Freude, sich inmitten solcher Schätze zu ergehen. Sie haben sie sich selbst gesammelt. Eine gleiche Sammlung von Seeprodukten findet sich in keinem Museum Europas. Aber wenn ich dafür meine Bewunderung erschöpfe, was bleibt mir dann noch für das Schiff, worauf sie sich befindet? Ich will zwar nicht in Ihre Geheimnisse dringen; doch gestehe ich, dass die bewegende Kraft, welche die ›Nautilus‹ in sich schließt, die Vorrichtungen, um seine Bewegungen zu lenken, das mächtige ihn beseelende Agens – dies alles meine Neugierde in hohem Grad auf sich zieht. Ich sehe an den Wänden dieses Salons Instrumente, deren Bestimmung mir unbekannt ist. Darf ich wissen ...?«

»Herr Arronax«, erwiderte Kapitän Nemo, »ich hab’ Ihnen gesagt, dass Sie an Bord meines Schiffs frei sind; folglich ist Ihnen kein Teil der ›Nautilus‹ untersagt. Sie können ihn im Detail besichtigen, und ich mache mir ein Vergnügen daraus, Ihr Cicerone zu sein.«

»Ich weiß nicht, mein Herr, wie ich Ihnen dafür danken kann, aber ich will Ihre Gefälligkeit nicht missbrauchen. Ich möchte Sie nur fragen, zu welchem Gebrauch sind diese physikalischen Instrumente bestimmt ...«

»Herr Professor, dieselben Instrumente finden sich in meinem Zimmer, wo ich mir das Vergnügen machen will, ihren Gebrauch Ihnen zu erklären. Aber zuvor besuchen Sie die Ihnen vorbehaltene Kabine. Sie müssen doch Ihre Einrichtung an Bord der ›Nautilus‹ kennenlernen.«

Ich folgte dem Kapitän, der mich durch den Gang des Schiffs in das Vorderteil führte, und zwar nicht in eine Kabine, sondern in ein elegantes Zimmer mit Bett, Toilette und verschiedenen anderen Möbeln.

Ich konnte meinem Wirt nur dankbar sein.

»Ihr Zimmer stößt an das Meinige«, sagte er, indem er eine Tür öffnete, »und meines führt auf den Salon, worin wir uns eben befanden.«

Ich trat ins Zimmer des Kapitäns. Es sah ernst, fast mönchisch aus. Ein eisernes Lager, ein Arbeitstisch, einige Toilettenmöbel; alles in einem Halbdunkel. Nichts für die Behaglichkeit; nur das streng Notwendige.

Kapitän Nemo wies auf einen Stuhl und sagte: »Belieben Sie, Platz zu nehmen.«

Ich setzte mich nieder, er ergriff das Wort und sprach:

 


12. KAPITEL

Alles durch Elektrizität

»Hier sehen Sie, mein Herr«, sagte Kapitän Nemo, auf die an den Wänden seines Zimmers hängenden Instrumente hinweisend, »den für die Schifffahrt der ›Nautilus‹ erforderlichen Apparat. Ich habe sie hier, wie im Salon, stets unter den Augen, und sie zeigen mir genau, wo ich inmitten des Ozeans mich befinde und in welcher Richtung ich fahre. Einige sind Ihnen wohlbekannt wie Thermometer und Barometer, um die Temperatur und das Gewicht der Luft; das Hygrometer, um die Trockenheit der Atmosphäre zu bestimmen; das Wetterglas, um das Herannahen der Stürme anzukündigen; der Kompass, um mir die Richtung der Fahrt; der Sextant, um durch die Sonnenhöhe den Breitengrad zu zeigen; das Chronometer, um die Länge zu berechnen; und endlich die Fernrohre für Tag und Nacht, die mir dienen, um den Horizont an allen Punkten zu durchforschen, wann die ›Nautilus‹ sich an der Oberfläche befindet.«

»Das sind die gewöhnlichen, dem Seefahrer nötigen Instrumente«, erwiderte ich, »und ich kenne ihren Gebrauch. Aber da sind andere, die dienen ohne Zweifel den besonderen Bedürfnissen der ›Nautilus‹. Dies Zifferblatt mit dem beweglichen umlaufenden Zeiger ist wohl ein Manometer?«

»Jawohl, ein Manometer. Mit dem Wasser in Verbindung gebracht, zeigt es dessen äußeren Druck an, und dadurch die Tiefe, worin sich das Fahrzeug befindet.«

»Und das ist eine neue Art von Sonde?«

»Thermometrische Sonden, welche die Temperatur der verschiedenen Luftschichten angeben.«

»Und diese Instrumente, deren Gebrauch mir völlig unbekannt ist?«

»Hier, Herr Professor, muss ich Ihnen einige Erklärungen geben«, sagte Kapitän Nemo. Belieben Sie mich anzuhören.«

Nach einer kleinen Pause sagte er:

»Es gibt ein starkes, folgsames, rasches, williges, zu allem dienliches Agens, das an meinem Bord herrscht. Es leistet mir alles, beleuchtet, erwärmt, ist die Seele meiner mechanischen Werkzeuge.

Dieses Agens ist die Elektrizität.«

»Die Elektrizität!«, rief ich etwas überrascht.

»Ja, mein Herr.«

»Sie haben jedoch, Kapitän, eine außerordentliche Schnelligkeit der Bewegungen, die zu der Kraft der Elektrizität wenig passen.

Bisher ist ihre dynamische Kraft sehr beschränkt geblieben und hat nur geringe Wirkungen hervorzubringen vermocht!«

»Herr Professor«, erwiderte Kapitän Nemo, »meine Elektrizität ist nicht die, welche jedermann kennt; und das ist alles, was Sie mir Ihnen davon zu sagen gestatten wollen.«

»Ich will Ihnen nicht zusetzen, mein Herr, und mich begnügen, über ein solches Ergebnis sehr zu staunen. Eine einzige Frage jedoch erlauben Sie mir, die Sie, wenn Sie sie unbescheiden finden, nicht zu beantworten brauchen. Die Elemente, die Sie verwenden, um dieses wunderbare Agens hervorzubringen, müssen sich doch bald verbrauchen. Wie ersetzen Sie z. B. Zink, da Sie ohne Verbindung mit der Erde sind?«

»Ich will Ihre Frage beantworten«, erwiderte Kapitän Nemo.

»Fürs Erste will ich Ihnen sagen, dass es auf dem Grund des Meeres Zink-, Eisen-, Silber-, Goldminen gibt, deren Ausbeutung gewiss sehr ausführbar wäre. Aber ich habe von diesen Metallen der Erde nichts entliehen und von dem Meer selbst die Mittel für Erzeugung meiner Elektrizität gewinnen wollen.«

»Von dem Meer?«

»Ja, Herr Professor, und an Mitteln fehlt’s da nicht. Ich hätte zwar, indem ich Drähte aus verschiedenen Tiefen miteinander in Verbindung setzte, Elektrizität aus der Verschiedenheit der Temperaturen erzielen können, aber ich zog ein praktischeres System vor.«

»Und welches?«

»Sie kennen die Bestandteile des Meerwassers. Von 1.000 Gramm sind 96 1/2 Prozent Wasser, etwa 2 2/3 Chlorsodium; sodann in geringer Quantität Chlor-Magnesium und salzsaures Kali, Brom-Magnesium, schwefelsaures Magnesium, schwefelsaurer und kohlensaurer Kalk. Sie sehen also, dass Chlorsodium in ansehnlichem Verhältnis sich dabei befindet. Dieses Sodium nun ziehe ich aus dem Wasser und bereite daraus meine Elemente.«

»Sodium?«

»Ja, mein Herr. Mit Merkur vermischt, bildet es ein Amalgam, das bei den Bunsenschen Elementen das Zink ersetzt. Merkur verbraucht sich nie; nur das Sodium wird verzehrt, und dieses gewinne ich aus dem Meer unmittelbar. Ich bemerke Ihnen weiter, dass die Sodiumsäulen für weit energischer anzusehen sind und dass ihre elektrische Bewegkraft doppelt so stark ist als bei den Zinksäulen.«

»Ich begreife wohl, Kapitän, die Vortrefflichkeit des Sodiums in den Verhältnissen, worin Sie sich befinden. Das Meer enthält es.

Gut. Aber man muss es fabrizieren, herausziehen. Wie bewerkstelligen Sie das? Ihre Säulen könnten offenbar dazu dienen; aber irre ich nicht, so würde der für den elektrischen Apparat erforderliche Aufwand von ... Die gewonnene Quantität überwiegen. Es würde dann der Fall eintreten, dass Sie für die Erzeugung mehr verbrauchten, als Sie dadurch erzeugen!«

»Herr Professor, ich gewinne es auch nicht mittels der Säule und verwende ganz einfach die Wärme der Steinkohle.«

»Steinkohle?«, sagte ich bedeutsam.

»Sagen wir Meerkohle, wenn Sie wollen«, erwiderte Kapitän Nemo.

»Und Sie können unterseeische Kohlenminen ausbeuten?«

»Herr Arronax, Sie sollen sehen, wie ich’s anfange. Ich bitte nur um ein wenig Geduld, denn Sie haben ja Zeit, es geduldig abzuwarten. Behalten Sie nur im Sinn: Dem Meer verdank’ ich alles, es verschafft die Elektrizität, und diese gewährt der ›Nautilus‹ Wärme, Licht, Bewegung, kurz ihr Leben.«

»Aber doch nicht die Luft, die Sie einatmen?«

»Oh! Ich könnte die zu meinem Verbrauch nötige Luft fabrizieren, aber es ist nicht nötig, weil ich, wenn’s mir beliebt, an die Oberfläche des Meeres aufsteigen kann. Jedoch kann mir auch die Elektrizität nicht die zum Einatmen erforderliche Luft liefern, so treibt sie wenigstens gewaltige Pumpen, die sie in besondere Behälter einpressen, wodurch ich in den Stand gesetzt bin, meinen Aufenthalt in der Tiefe nach Bedürfnis oder nach Belieben zu verlängern.«

»Kapitän«, erwiderte ich, »ich kann nur bewundern. Offenbar haben Sie bereits gefunden, was die Menschen auch einmal auffinden werden, die wahre dynamische Kraft der Elektrizität.«

»Ich weiß nicht, ob sie sie entdecken werden«, erwiderte kalt Kapitän Nemo. »Wie dem aber auch sein mag, Sie kennen bereits die erste Anwendung, die ich von diesem schätzbaren Agens gemacht habe. Er leuchtet uns so gleichmäßig und andauernd wie das Sonnenlicht nicht. Jetzt, sehen Sie diese Uhr; sie ist elektrisch und geht so regelmäßig wie die besten Chronometer. Ich habe sie wie die italienischen Uhren in 24 Stunden geteilt, denn für mich existiert weder Nacht noch Tag, noch Sonnen- oder Mondlicht, vielmehr nur dieses künstlich erzeugte Licht, das ich bis auf den Meeresgrund mit mir nehme! Sehen Sie, in diesem Augenblick ist’s 10 Uhr vormittags.«

»Ganz richtig.«

»Eine andere Anwendung der Elektrizität. Dieses Zifferblatt vor unseren Augen gibt mir die Schnelligkeit der ›Nautilus‹ an. Ein elektrischer Draht bringt es in Verbindung mit der Schraube des Log, und sein Zeiger gibt mir die wirkliche Geschwindigkeit des Fahrzeugs an. Und, sehen Sie, in diesem Augenblick fahren wir mit der mäßigen Geschwindigkeit von 15 Meilen die Stunde.«

»Es ist wunderbar«, erwiderte ich, »und ich sehe wohl, Kapitän, dass Sie Grund hatten, dieses Agens zu gebrauchen, dem es bestimmt ist, Wind, Wasser und Dampf zu ersetzen.«

»Wir sind noch nicht fertig, Herr Arronax«, sagte Kapitän Nemo, indem er aufstand, »und wenn’s Ihnen beliebt, mich zu begleiten, wollen wir den hinteren Teil der ›Nautilus‹ auch besichtigen.«

In der Tat kannte ich jetzt den ganzen vorderen Teil des unterseeischen Boots, das von der Mitte aus nach vorne genau folgendermaßen eingeteilt war: der Speisesaal 5 Meter groß, von der Bibliothek durch eine wasserdichte Scheidewand getrennt, sodass kein Wasser eindringen konnte; die Bibliothek war 5 Meter groß, der Hauptsalon 10 Meter vom Zimmer des Kapitäns, das 5 Meter maß, durch eine abermalige wasserdichte Wand geschieden; das Meinige von 2 1/2 Meter; und endlich ein Luftbehälter, 7 1/2 Meter groß, erstreckte sich bis zum Hintersteven. Das machte im ganzen

35 Meter Länge aus. Die wasserdichten Scheidewände mit hermetischem Verschluss gewährten an Bord der ›Nautilus‹ völlige Sicherheit, im Fall ein Leck sich ergab.

Ich begleitete Kapitän Nemo durch die Gänge des vorderen Teils bis zum Mittelpunkt des Schiffs. Hier befand sich zwischen zwei wasserdichten Wänden eine Art Schacht, in dem eine an der Wand befestigte eiserne Leiter zur Mündung führte. Ich fragte den Kapitän, wozu diese Leiter diene.

»Sie endigt beim Boot«, war die Antwort.

»Wie? Sie haben ein Boot?« versetzte ich etwas erstaunt.

»Allerdings. Ein treffliches Fahrzeug, leicht und ohne unterzusinken, das uns zur Spazierfahrt und zum Fischen dient.«

»Aber dann müssen Sie zum Einsteigen sich auf der Meeresoberfläche befinden?«

»Keineswegs. Dieses Boot ist am oberen Teil des Schiffsrumpfs in einer dafür hergerichteten Aushöhlung befestigt. Es ist ganz mit Verdeck versehen, durchaus wasserdicht und mit soliden Bolzen gefügt. Diese Leiter nun führt zu einer im Rumpf der ›Nautilus‹ angebrachten Öffnung, die mit einer gleichen in der Seite des Boots in Verbindung steht, sodass ich durch diese doppelte Öffnung in das Fahrzeug gelange. Dann schließt man wieder die der ›Nautilus‹, und ich schließe hinter mir die des Boots vermittels Stellschrauben. Ich mache die Zapfen los, und das Fahrzeug steigt reißend schnell zur Meeresoberfläche auf. Dann öffne ich einen bisher sorgfältig verschlossenen Lukendeckel des Verdecks, richte einen Mast auf, hisse mein Segel oder nehme meine Ruder zur Hand und fahre spazieren.«

»Aber wie kommen Sie wieder an Bord zurück?«

»Ich komme gar nicht zurück, Herr Arronax, vielmehr die ›Nautilus‹ kommt wieder zu ihm.«

»Auf Ihren Befehl?«

»Auf meinen Befehl. Ein elektrischer Draht hält mich in Verbindung, und es bedarf nur eines Telegramms.«

»Wirklich«, sagte ich, entzückt von diesen Wundern, es gibt nichts Einfacheres!«

Nachdem ich an dem Behälter der zur Plattform führenden Leiter vorüber war, sah ich eine 2 Meter große Kabine, worin Conseil und Ned Land beschäftigt waren, ihr wohlschmeckendes Mahl munter zu verschlingen. Hierauf öffnete sich eine Tür zu der 3 Meter langen Küche, die zwischen den geräumigen Vorratskammern liegt.

Hier verrichtete die Elektrizität, energischer und williger als selbst das Gas, alle Bedürfnisse zum Kochen. Die Drähte, unter den Öfen angelangt, teilten Platinaschwämmen eine Wärme mit, die sich verteilte und regelmäßig andauerte. Sie heizte in gleicher Weise Destillierapparate, die durch Verdunstung ein vortreffliches Trinkwasser verschafften. Neben der Küche öffnete sich ein bequem eingerichteter Badesaal, worin die Hähne nach Belieben kaltes und warmes Wasser spendeten.

Auf die Küche folgte der Posten der Mannschaft, 5 Meter lang.

Aber die Tür war geschlossen, und ich konnte seine Einrichtung nicht sehen, woraus ich wohl die Anzahl der zur Bewegung der

›Nautilus‹ erforderlichen Männer hätte entnehmen können.

Eine vierte wasserdichte Scheidewand befand sich zwischen diesem Posten und dem Maschinenzimmer. Es öffnete sich eine Tür, und ich befand mich in diesem Gemach, wo Kapitän Nemo seine Werkzeuge für die Fortbeförderung aufgestellt hatte. Dieses klar beleuchtete Maschinenzimmer war nicht weniger als 20 Meter lang. Es teilte sich natürlich in zwei Abteilungen, erstens für die Elemente der Elektrizitätserzeugung und zweitens für die mechanische Einrichtung, um die Bewegung zur Schraube zu befördern.

Anfangs war ich betroffen über den eigentümlichen Geruch, der dieses Gemach erfüllte. Der Kapitän bemerkte es und sagte:

»Es ist nur einige Entwicklung von Gas durch die Anwendung des Sodiums; aber die Unannehmlichkeit ist nicht bedeutend, und zudem wird im Schiff täglich durch Ventilation die Luft erneuert.«Inzwischen besuchte ich mit leicht begreiflichem Interesse die Maschine der ›Nautilus‹.

»Sie sehen«, sagte Kapitän Nemo, »ich verwende Bunsensche Elemente, nicht Ruhmkorffsche. Diese würden zu schwach gewesen sein. Jene sind wenig zahlreich, aber stark und groß, was der

Erfahrung gemäß besser ist. Die erzeugte Elektrizität zieht sich nach hinten, wo sie durch sehr große Elektromagnete auf ein besonderes System von Hebeln und Rädergetrieben wirkt, welche die Bewegung auf die Welle der Schraube hinleitet. Diese, deren Durchmesser 6 Meter misst und das Gewinde 7 1/2 Meter, kann in einer Sekunde bis auf 120 Umdrehungen erzeugen.«

»Und damit erhalten Sie?«

»Eine Geschwindigkeit von 50 Meilen in der Stunde.«

Hier fand ein Geheimnis statt, aber ich bestand nicht darauf, es kennenzulernen. Wie wurde es möglich, dass die Elektrizität mit solcher Kraft wirkte? Woher entsprang diese fast unbegrenzte Kraft? Etwa aus einer übermäßigen Spannung durch eine neue Art von Wellen? Oder aus der Hinüberleitung, die durch ein System unbekannter* Hebel bis zum Unendlichen gesteigert werden konnte? Dieses war mir unbegreiflich. [* Eben gerade spricht man von einer Entdeckung dieser Art, indem ein neues System von Hebeln beträchtliche Kräfte entwickelt. Ist der Erfinder also Kapitän Nemo begegnet?]

»Kapitän Nemo«, sagte ich, »ich konstatiere die Ergebnisse und trachte nicht danach, sie zu erklären. Ich habe die ›Nautilus‹ im Angesicht der ›Abraham Lincoln‹ manövrieren gesehen und weiß, was es mit ihrer Geschwindigkeit für eine Bewandtnis hat. Aber das Vorwärtskommen reicht nicht aus. Man muss auch sehen, wohin man fährt! Man muss sich rechts und links, nach oben und unten hinwenden können! Wie erreichen Sie die großen Tiefen, wo ein zunehmender Widerstand stattfindet, der auf Hunderte von Atmosphären anzuschlagen ist? Wie steigen Sie wieder zur Oberfläche des Ozeans empor? Endlich, wie gelingt es Ihnen, sich in der Ihnen beliebigen Umgebung zu halten? Bin ich unbescheiden, indem ich diese Fragen an Sie richte?«

»Keineswegs, Herr Professor«, erwiderte der Kapitän nach kurzem Besinnen, »denn Sie dürfen ja doch niemals dieses unterseeische Boot verlassen. Kommen Sie nur in den Salon. Das ist unser eigentliches Arbeitszimmer, und da sollen Sie auch alles vernehmen, was Sie über die ›Nautilus‹ wissen dürfen!«

 


13. KAPITEL

Einige Zahlen

Nach einer kleinen Weile saßen wir auf einem Diwan des Salons, die Zigarre im Mund. Der Kapitän legte mir den Grundriss, Durchschnitt und Aufriss der ›Nautilus‹ vor Augen. Darauf begann er

seine Erklärung folgendermaßen: »Das Boot, worauf wir uns befinden, Herr Arronax, ist ein langer Zylinder mit zugespitzten Enden. Seine Länge beträgt genau 70, seine größte Breite 8 Meter; also letztere nicht völlig im Verhältnis von 1 zu 10, wie die schnell segelnden Dampfer gewöhnlich gebaut sind, und die Länge ist hinreichend zugespitzt, damit das verdrängte Wasser leicht sich scheidet und dem Lauf nicht hinderlich ist.

Aus diesen Dimensionen ergeben sich durch ein einfaches Rechenexempel die Oberfläche und der Kubikgehalt der ›Nautilus‹.

Der erstere beträgt 1.011,45 Quadratmeter. Der Gehalt 1.500,2 Kubikmeter, d.h., wenn es völlig untertaucht, verdrängt es 1.500 Kubikmeter oder Tonnen.

Als ich die Pläne zu diesem für unterseeische Fahrten bestimmten Schiff machte, war meine Absicht, dass es im Gleichgewicht untergetaucht nur mit einem Zehntel hervorrage. Folglich durfte es unter diesen Verhältnissen nur 9/10 seines Gehalts verdrängen, also 1.356,48 Kubikmeter, d.h., es durfte nur ebenso viel Tonnengewicht haben. Ich habe daher bei seiner Erbauung nach den gegebenen Dimensionen dieses Gewicht nicht überschreiten dürfen.

Die ›Nautilus‹ besteht aus zwei Rümpfen, einem inneren und einem äußeren, die durch eiserne Klammern in Form eines T miteinander verbunden ihr eine außerordentlich große Dauerhaftigkeit geben. In der Tat leistet es infolge dieser Einrichtung Widerstand wie ein Block, als wenn es voll wäre. Seine äußere Hülle kann nicht nachgeben; sie ist in sich selbst zusammenhängend, nicht durch Zusammennieten; und die Gleichartigkeit seiner Konstruktion infolge der vollständigen Zusammenfügung der Materialien macht es fähig, den ungestümsten Wogen zu trotzen.

Diese beiden Rümpfe sind aus Stahlplatten gefertigt, deren Dichte im Verhältnis zum Wasser 7 bis 8 Zehntel beträgt. Der erstere ist mindestens 5 Zentimeter dick und wiegt 394,96 Tonnen.

Der zweite umgebende, nebst dem 50 Zentimeter hohen und 25

breiten Kiel, der für sich allein 62 Tonnen wiegt, die Maschine, der Ballast, die übrigen Nebengegenstände und Gerätschaften, die Verschläge und Strebebretter haben ein Gewicht von 961,62 Tonnen,

was alles zusammenaddiert eine Gesamtsumme von 1.360,48 Tonnen ergibt. Ist dies verständlich?«

»Jawohl.«

»Also«, fuhr der Kapitän fort, »wenn die ›Nautilus‹ unter diesen Bedingungen flott ist, ragt er um ein Zehntel aus dem Wasser hervor. Wenn ich nun Wasserbehälter von gleichem Gehalt mit diesem Zehntel bereit habe, d.h., die 150,62 Tonnen fassen, und ich fülle sie mit Wasser, so wird das Boot, das dann 1.507 Tonnen Gewicht hat, vollständig untergehen. Und so geschieht’s, Herr Professor. Diese Behälter befinden sich am Vorderteil in den unteren Räumen der

›Nautilus‹. Ich drehe die Hähne, sie füllen sich, und das sinkende Schiff kommt mit der Meeresoberfläche in gleiches Niveau.«

»Gut, Kapitän; aber nun kommen wir an die eigentliche Schwierigkeit. Wie Sie aufs Niveau des Meeresspiegels hinabsinken, ist begreiflich. Aber wenn Sie tiefer hinabtauchen, wird doch Ihr Fahrzeug einem Druck begegnen und folglich einem Gegenstoß von unten nach oben ausgesetzt sein, der bei 30 Fuß Wasser auf eine Atmosphäre anzuschlagen ist, was ungefähr ein Kilogramm auf den Quadratzentimeter ausmacht?«

»Ganz richtig so, mein Herr.«

»Folglich, wenn Sie nicht die ›Nautilus‹ vollständig füllen, sehe ich nicht, wie Sie ihn in den Schoß der Wassermassen hinabbringen können.«

»Herr Professor«, erwiderte Kapitän Nemo, »man darf nicht die Statik mit der Dynamik vermengen, ohne sich großen Irrtümern auszusetzen. Es kostet sehr wenig Mühe, um in die unteren Regionen des Ozeans zu gelangen, denn die Körper haben eine Tendenz, auf den Grund zu sinken. Begleiten Sie meine Beweisführung.«

»Ich höre Ihnen zu, Kapitän.«

»Als ich bestimmen wollte, welchen Zuwachs an Gewicht ich der

›Nautilus‹ zu geben hätte, um sie untersinken zu lassen, hatte ich mich nur mit dem geringern Umfang zu befassen, den das Meerwasser einnimmt im Verhältnis wie seine Schichten tiefer liegen.«

»Offenbar«, erwiderte ich.

»Nun aber, wenn auch das Wasser nicht absolut unfähig ist, zusammengedrückt zu werden, so ist es doch wenigstens sehr wenig

dessen fähig. In der Tat beträgt nach den neuesten Berechnungen diese Beschränkung nur 436 Zehnmillionenteile auf eine Atmosphäre oder auf je 30 Fuß Tiefe. Handelt sich’s darum, 1.000 Meter hinabzugehen, so bringe ich dann die Beschränkung des Umfangs unter einem Druck in Anschlag, der dem einer Wassersäule von 1.000 Metern entspricht, d.h. unter einem Druck von 100 Atmosphären. Diese Beschränkung betrüge dann 436 Hunderttausendteile. Ich werde also das Gewicht so weit erhöhen müssen, dass es 1.513,75 Tonnen beträgt, anstatt 1.507,2 Tonnen. Die Erhöhung wird folglich nur 6,57 Tonnen ausmachen.«

»Nicht mehr?«

»Nicht mehr, Herr Arronax, und die Richtigkeit der Berechnung ist leicht zu erkennen. Nun habe ich Wasserbehälter zur Ergänzung, die 100 Tonnen fassen. Damit kann ich in beträchtliche Tiefen mich hinablassen. Will ich wieder zum Meeresspiegel aufsteigen, so brauche ich nur dieses Wasser zu entladen, und wenn ich haben will, dass die ›Nautilus‹ mit einem Zehntel hervorrage, so muss ich die Behälter völlig leer machen.«

Auf diese mit Zahlen begründete Auseinandersetzung hatte ich keinen Einwand.

»Ich lasse Ihre Berechnungen gelten, Kapitän«, erwiderte ich,

»und es würde mir schwerfallen, ihnen zu widersprechen, weil die Erfahrung sie täglich bestätigt. Doch fühle ich mich nun einer wirklichen Schwierigkeit gegenüber.«

»Worin besteht diese, mein Herr?«

»Wenn Sie sich 1.000 Meter tief befinden, so haben die Wände der ›Nautilus‹ einen Druck von 100 Atmosphären auszuhalten.

Wenn Sie nun im Augenblick die Ergänzungsbehälter entleeren wollen, um Ihr Schiff leichter zu machen und aufsteigen zu können, so müssen die Pumpen diesen Druck von 100 Atmosphären überwinden. Dafür ist eine Kraft ...«

»Die Elektrizität allein vermochte mir sie zu gewähren«, sagte der Kapitän hastig. »Ich sage Ihnen nochmals, mein Herr, die dynamische Wirkung meiner Maschinen ist fast unbeschränkt. Die Pumpen der ›Nautilus‹ haben eine wunderbare Kraft, deren Wirkung Sie gespürt haben, als ihre Wassersäulen wie ein reißender

Strom auf die ›Abraham Lincoln‹ stürzten. Übrigens bediene ich mich der Ergänzungsbehälter nur, um in mittlere Tiefen von 1.500

bis 2.000 Meter zu gelangen, und zwar, um meine Maschinen zu schonen. Wenn ich also Lust habe, die Tiefen des Ozeans von 2 bis 3 Lieue unter der Oberfläche zu besuchen, so wende ich mich zu einem umständlicheren, aber nicht minder sicheren Verfahren.«

»Und worin besteht dies, Kapitän?« fragte ich.

»Dies führt mich natürlich darauf anzugeben, wie die ›Nautilus‹

manövriert wird.«

»Ich bin ungeduldig, es zu vernehmen.«

»Um das Boot rechts und links zu lenken, um Schwenkungen in horizontaler Richtung zu machen, bediene ich mich eines gewöhnlichen auf dem Hintersteven befestigten Steuerruders, das durch ein Rad und Taue in Bewegung gesetzt wird. Aber ich kann die

›Nautilus‹ auch in vertikaler Richtung, von unten nach oben und umgekehrt, in Bewegung setzen vermittels zweier geneigter Flächen, die an seinen Seiten auf dem Zentrum seiner Wassertracht angebracht beweglich und alle Lagen anzunehmen geeignet sind und von innen durch kräftige Hebel in Bewegung gebracht werden.

Hält man diese Flächen parallel mit dem Boot, so bewegt sich’s horizontal. Sind Sie geneigt, so ist die ›Nautilus‹ imstande, je nach der Neigung und mit dem Druck seiner Schraube, in einer mir beliebigen Diagonale abwärts oder aufwärtszusteigen. Und sogar, will ich rascher zur Oberfläche emporsteigen, so hemme ich die Schraube, und der Druck des Wassers treibt die ›Nautilus‹ vertikal empor, wie ein mit Gas gefüllter Ballon reißend schnell in die Lüfte steigt.«

»Bravo! Kapitän«, rief ich aus. »Aber wie kann der Steuerer inmitten der Gewässer die Richtung einschlagen, die Sie ihm angeben?«

»Der Steuerer hat seinen Platz in einem mit Fenstern versehenen Gehäuse, das oben auf dem Rumpf der ›Nautilus‹ vorspringt und mit linsenförmigen Gläsern gedeckt ist.«

»Gläser, die solchem Druck widerstehen können?«

»Jawohl. Das beim Anstoßen zerbrechliche Kristallglas enthält doch eine beträchtliche Widerstandsfähigkeit. Bei den im Jahr 1864 angestellten Experimenten mit Fischerei bei elektrischem

Licht hat man gesehen, wie Stücke Glas, die nur 7 Millimeter dick waren, einem Druck von 16 Atmosphären widerstanden und dabei noch wirksame Wärmestrahlen durchließen, die in ungleicherweise die Wärme zuerteilten. Nun sind die Gläser, die ich gebrauche, 30mal so dick, denn sie sind im Zentrum mindestens 21 Zentimeter stark.«

»Zugegeben, Kapitän; aber endlich, um zu sehen, muss Licht die Finsternis vertreiben, und ich frage mich, wie inmitten des Dunkels der Gewässer ...«

»Hinten am Gehäuse des Steuerers ist ein starker elektrischer Reflektor angebracht, dessen Strahlen das Meer eine halbe Meile weit erleuchten.«

»Ah! Bravo, dreimal Bravo! Kapitän. Jetzt ist mir die Phosphoreszenz des vermeintlichen Narwals erklärlich, der den Gelehrten so viel zu schaffen gemacht hat! Bei diesem Anlass erlaube ich mir die Frage, ob der Zusammenstoß der ›Nautilus‹ und der ›Scotia‹, der so großes Aufsehen erregte, Zufall war?«

»Reiner Zufall, mein Herr. Ich fuhr 2 Meter unter der Meeresoberfläche, als der Stoß sich ereignete. Übrigens sah ich, dass er keine beklagenswerten Folgen hatte.«

»Keine, mein Herr. Aber Ihr Zusammenstoß mit der ›Abraham Lincoln‹ ...?«

»Herr Professor, es tut mir leid um eins der besten Schiffe dieser tüchtigen amerikanischen Marine, aber ich wurde angegriffen und musste mich verteidigen! Ich habe mich jedoch darauf beschränkt, die Fregatte außerstand zu setzen, mir zu schaden – es wird sie nicht viel kosten, ihren Schaden im nächsten Hafen auszubessern.«

»Ah! Kommandant«, rief ich mit Überzeugung, »Ihre ›Nautilus‹

ist wirklich ein wundervolles Fahrzeug!«

»Ja, Herr Professor«, erwiderte der Kapitän mit wahrer Rührung, »und ich liebe ihn, wie mein Fleisch und Blut! Wenn auf einem eurer Schiffe, die den Wechselfällen des Ozeans ausgesetzt sind, alles voll Gefahr ist; wenn auf diesem zuerst der Gedanke an das Versinken uns überfällt: so hat da unten an Bord der ›Nautilus‹ das Gemüt des Menschen keinen Grund zur Besorgnis mehr;

da ist kein Leckwerden zu fürchten, keine Beschädigung des Takelwerks oder der Segel, kein Zerspringen der Dampfkessel, keine Feuersbrunst, kein Kohlenmangel, kein Zusammenstoß und kein Sturm. Einige Meter unter der Oberfläche ist unbedingte Ruhe der Gewässer. Das, mein Herr, das ist ein Schiff, wie es sein soll! Und wenn es wahr ist, dass der Ingenieur mehr Vertrauen in das Schiff setzt als der Erbauer und der Erbauer mehr als selbst der Kapitän, so werden Sie begreifen, welches Vertrauen ich zu meiner ›Nautilus‹ hege, da ich dessen Kapitän, Erbauer und Ingenieur in einer Person bin!« –

Kapitän Nemo sprach mit hinreißender Beredsamkeit. Ja, er liebte sein Schiff wie ein Vater sein Kind!

Aber eine vielleicht unbescheidene Frage drängte sich mir auf, und ich konnte nicht umhin, sie an ihn zu richten.

»Sie sind also Ingenieur, Kapitän Nemo?«

»Ja, Herr Professor«, erwiderte er, »ich habe zu London, Paris und New York studiert, zur Zeit, als ich auf dem Festland der Erde wohnte.«

»Aber wie haben Sie diese bewundernswerte ›Nautilus‹ im stillen erbauen können?«

»Ich habe jedes ihrer einzelnen Stücke, Herr Arronax, von einem anderen Ort her und unter falscher Angabe seiner Bestimmung bezogen. Sein Kiel wurde zu Creuzot geschmiedet, die Welle seiner Schraube von Pen & Cie. in London, die Platten für den Rumpf bei Leard zu Liverpool, die Schraube bei Scott in Glasgow. Seine Behälter wurden von Cail & Cie. zu Paris gefertigt, seine Maschine von Krupp in Preußen, sein Schnabel zu Motala in Schweden, seine Instrumente bei Gebrüder Hart in New York usw. Und jeder der Lieferanten bekam meine Pläne unter anderem Namen.«

»Aber«, fuhr ich fort, »als diese Stücke fertig waren, musste man sie zusammensetzen, ineinander passen?«

»Herr Professor, ich hatte meine Werkstätten auf einem einsamen Inselchen im weiten Ozean errichtet. Dort habe ich mit meinen Arbeitern, d.h. meinen braven Gefährten, die ich unterwiesen und abgerichtet habe, unsere ›Nautilus‹ fertiggemacht. Und als die

Arbeit vollendet war, hat das Feuer jede Spur unseres Aufenthalts auf diesem Eiland zerstört.«

»Daher darf ich annehmen, dass die Herstellungskosten des Fahrzeugs über die Maßen hoch sind?«

»Herr Arronax, ein eisernes Schiff kostet 1.125 Franc per Tonne.

Da nun die ›Nautilus‹ 1.500 Tonnen Gewicht hat, so kommt er auf

1.687.000 Franc, und mit Inbegriff seiner Einrichtung 2 Millionen, d.h. mit den Kunstwerken und Sammlungen 4 bis 5 Millionen.«

»Noch eine Frage, die letzte, Kapitän.«

»Reden Sie, Herr Professor.«

»Sie sind also reich?«

»Unendlich reich, mein Herr, und ich könnte, ohne mir wehe zu tun, die 10 Milliarden Schulden Frankreichs übernehmen!«

Ich heftete einen starren Blick auf den seltsamen Mann, der so zu mir sprach. Hatte er meine Leichtgläubigkeit zum besten? Die Zukunft sollte mich’s lehren.

 


14. KAPITEL

Der schwarze Strom

Der vom Wasser bedeckte Teil der Erdoberfläche wird auf 3 Millionen 132.558 Quadratmyriameter, d.h. über 38 Millionen Hektar (à 10.000 Quadratmeter) angeschlagen. Diese flüssige Masse enthält 2 Milliarden 250 Millionen Kubikmeilen und würde eine Kugel mit einem Durchmesser von 60 Lieue bilden und einem Tonnengewicht von 3 Quintillionen. Um diese Zahl zu begreifen, muss man sich sagen, dass die Quintillion sich zur Milliarde verhält wie die Milliarde zur Einheit, d.h., dass ebenso viel Milliarden in einer Quintillion enthalten sind wie Einheiten in einer Milliarde. Diese Wassermasse nun ist ungefähr ebenso viel, als in allen Flüssen der Erde während 40.000 Jahren fließt.

Zur Zeit der geologischen Epochen folgte auf die Periode des Feuers die des Wassers. Der Ozean bedeckte anfangs alles. Darauftraten in der Übergangsepoche die Bergspitzen hervor, die Inseln tauchten auf, verschwanden wieder bei teilweisen Überschwemmungen, zeigten sich von Neuem, setzten sich aneinander an, bildeten Kontinente, und endlich gewannen die Länder die feste Gestalt, wie wir sie jetzt geografisch kennen. Das Feste hatte dem Flüssigen 37 Millionen 657 Quadratmeilen abgewonnen im Betrag von 12.916 Millionen Hektar.

Gemäß der Gestaltung der Kontinente wurden nun die Meere in die fünf großen Teile geteilt: das Nördliche und Südliche Polarmeer, der Indische Ozean, der Atlantik und der Pazifik.

Der letztere, der sich von Norden nach Süden, zwischen den beiden Polarzirkeln, und von Osten nach Westen, zwischen Asien und Amerika, 145 Längengrade weit erstreckt, ist von allen Meeren das ruhigste; seine Strömungen sind weit und langsam, Ebbe und Flut mäßig, Regengüsse reichlich. Diesen Ozean sollte ich unter den seltsamsten Bedingungen zuerst durchfahren.

»Herr Professor«, sagte Kapitän Nemo zu mir, »wenn es Ihnen beliebt, wollen wir den Ort, wo wir uns; befinden, und den Punkt, von dem wir abfahren, genau aufnehmen und feststellen. Es ist drei Viertel auf 12 Uhr mittags. Ich will nun zur Oberfläche des Wassers aufsteigen.«

Der Kapitän drückte dreimal auf die elektrische Uhr. Die Pumpen begannen das Wasser aus den Behältern zu treiben; der Zeiger des Manometers gab durch den verschiedenen Druck die aufsteigende Bewegung der ›Nautilus‹ an, dann blieb er stehen.

»Wir sind oben angelangt«, sagte der Kapitän.

Ich begab mich zu der in der Mitte befindlichen Leiter, die zur Plattform führte, kletterte die metallenen Sprossen hinauf und gelangte oben auf der ›Nautilus‹ an.

Die Plattform ragte nur um 80 Zentimeter hervor. Vorder- und Hinterteil der ›Nautilus‹ zeigten die spindelförmige Gestalt, die ihn einer langen Zigarre vergleichbar machte. Ich bemerkte, wie ihre Eisenplatten mit dachziegelförmigem Aussehen dem Schuppenpanzer glichen, womit der Körper der großen Land-Reptilien bedeckt ist. Ich erklärte mir daher als sehr natürlich, dass trotz der besten Fernrohre dies Fahrzeug stets für ein Seetier gehalten wurde.

Um die Mitte der Plattform bildete das kleine Boot, das zur Hälfte in den Schiffsrumpf eingelassen war, eine leichte Erhöhung.

Vorn und hinten standen zwei Gehäuse von mäßiger Höhe vor, mit schiefen Wänden, die zum Teil mit dicken Linsengläsern geschlos

sen waren: das eine war für den Steuerer bestimmt, der die ›Nautilus‹ leitete, das andere für die glänzende elektrische Schiffslaterne, welche die Fahrt mit Licht umgab.

Das Meer war prachtvoll, der Himmel rein. Das lange Fahrzeug spürte kaum die weiten Wogen des Ozeans. Ein leichter Ostwind runzelte die Oberfläche der Gewässer. Der nebelfreie Horizont begünstigte die Beobachtungen trefflich.

Wir hatten nichts in Sicht. Keine Klippe, kein Eiland. Von der ›Abraham Lincoln‹ keine Spur. Eine unermessliche Öde.

Kapitän Nemo nahm mithilfe seines Sextanten den Höhenstand der Sonne auf, woraus sich ihm die Breite ergab. Er wartete einige Minuten, bis das Gestirn am Rand des Horizonts in gleiche Ebene kam. Während er beobachtete, zitterte keine seiner Muskeln, das Instrument wäre in einer marmornen Hand nicht so unbeweglich gewesen.

»12 Uhr mittags«, sagte er. »Herr Professor, wann Sie belieben ...?«

Ich warf einen letzten Blick auf dieses Meer, das in der Nähe der japanischen Küste etwas gelblich war, und begab mich wieder hinab in den großen Salon.

Hier machte der Kapitän sein Besteck auf und berechnete mithilfe des Chronometers die Länge, die er durch die vorausgehenden Beobachtungen der Stundenwinkel kontrollierte. Hierauf sagte er zu mir:

»Herr Arronax, wir befinden uns unterm 137. Grad und 15 Minuten westlicher Länge ...«

Von welchem Meridian aus«, fragte ich lebhaft, in Hoffnung, seine Antwort werde mir vielleicht seine Nationalität offenbaren.

»Mein Herr«, erwiderte er, »ich habe verschiedene Chronometer, die nach den Meridianen von Paris, Greenwich und Washington gestellt sind. Aber Ihnen zu Ehren will ich mich des Parisers bedienen.«

Aus dieser Antwort konnte ich nichts entnehmen. Ich machte eine Verbeugung, und der Kommandant fuhr fort:

»37 Grad und 15 Minuten westlicher Länge vom Pariser Meridian ab, und 30 Grad, 7 Minuten nördlicher Breite, d.h. etwa 300

Meilen vom Gestade Japans. Heute haben wir den 8. November, da zu Mittag unsere unterseeische Forschungsreise beginnt.«

»Gott sei mit uns!« erwiderte ich.

»Und jetzt, Herr Professor«, fuhr der Kapitän fort, »lasse ich Sie bei Ihren Studien. Ich habe die Richtung Ost-Nord-Ost bei 50

Meter Tiefe angegeben. Hier sind Karten, womit Sie sie begleiten

können. Der Salon steht Ihnen zur Verfügung, und ich bitte um Erlaubnis, mich zurückzuziehen.«

Ich blieb nun allein in meine Gedanken vertieft. Sie waren alle beim Kommandanten der ›Nautilus‹. Sollte ich jemals erfahren, welcher Nation der seltsame Mann angehört, der keiner anzugehören sich rühmt? Wodurch ist sein Hass gegen die menschliche Gesellschaft, ein Hass, der vielleicht auf schreckliche Rache ausging, hervorgerufen worden? War es einer der verkannten Gelehrten, ein Genie, dem man sein Leben verkümmert hat, ein moderner Galilei, oder einer der Männer der Wissenschaft, deren Laufbahn durch politische Revolutionen zertrümmert wurde? Ich konnte noch nichts darüber sagen. Mich, den das Schicksal an sein Bord verschlug, dessen Leben er in der Hand hat, nahm er kalt, aber gastlich auf. Nur ergriff er nie die Hand, die ich ihm reichte. Mir reichte er nie die seine.

Eine volle Stunde blieb ich in diese Gedanken versunken, indem ich das mir so interessante Geheimnis zu durchdringen suchte.

Darauf hefteten sich meine Blicke auf die große über den Tisch gebreitete Karte, und ich bezeichnete mit dem Finger den Punkt, wo die beobachtete Länge und Breite sich kreuzten.

Das Meer hat, wie die Kontinente, seine Flüsse. Es sind besondere Strömungen, die an ihrer Temperatur und Farbe kenntlich sind; der merkwürdigste ist unter dem Namen Golfstrom bekannt. Die Wissenschaft hat auf der Erdkugel die Richtung der fünf Hauptströme bestimmt: einer ist im Norden, ein zweiter im Süden des Atlantiks, ein dritter im Norden, ein vierter im Süden des Pazifiks, ein fünfter im Süden des Indischen. Es ist sogar wahrscheinlich, dass ehemals noch ein sechster Strom im Norden des Indischen Ozeans existierte, zurzeit als der Kaspische und der Uralsee, die nun zu den großen Seen Asiens gehören, nur eine einzige und dieselbe Wasserfläche bildeten.

An dem auf der Karte bezeichneten Punkt nun fließt einer jener Ströme, der Schwarze Fluss, von den Japanesen Kuro-Scivo genannt, der vom Bengalischen Golf her, wo die senkrechten Strahlen der tropischen Sonne ihn wärmen, durch die Enge von Malakka hindurch, längs der Küste Asiens fortläuft, dann im Nor

den des Pazifiks in runder Krümmung bis zur Aleutengruppe hinzieht, Stämme von Kampferbäumen und andere indische Produkte mit sich fortwälzt und mit dem puren Indigo seiner warmen Gewässer von den Fluten des Ozeans absticht. Mit dieser Strömung war die ›Nautilus‹ im Begriff zu fahren. Ich verfolgte sie mit dem Blick, sah, wie sie sich in der Unermesslichkeit des Pazifiks verlor, fühlte mich mit ihr fortgetrieben, als Ned Land und Conseil an der Tür des Salons erschienen.

Meine wackeren Gefährten standen wie versteinert beim Anblick der vor ihren Augen angehäuften Wunder.

»Wo sind wir? Wo sind wir?« rief der Kanadier. »Im Museum zu Quebec?«

»Wenn’s meinem Herrn beliebt«, versetzte Conseil, »wäre es eher im Hotel Sommerard!«

»Meine Freunde«, erwiderte ich, indem ich ihnen winkte einzutreten, »Sie sind weder in Kanada noch in Frankreich, sondern an Bord der ›Nautilus‹, 50 Meter unter dem Meeresspiegel!«

»Ich muss meinem Herrn glauben, weil er’s versichert«, erwiderte Conseil; »aber offen gesagt, dieser Salon ist gemacht, selbst einen Flamen, wie ich bin, in Staunen zu setzen.«

»Staune nur, Freund, und schau, denn für einen so starken Klassifizierer wie du, gibt’s hier zu tun.«

Ich brauchte Conseil nicht aufzumuntern. Der brave Junge, über die Glaskästen gebeugt, murmelte schon Worte aus der Naturforschersprache; Klasse der Gasteropoden, Familie der Buccinoiden usw.Währenddessen fragte mich Ned Land, der wenig Sinn für Conchylien hatte, über meine Unterredung mit Kapitän Nemo: Ob ich entdeckt habe, wer er sei, woher er komme, wohin er gehe, in welche Tiefen er uns hinabziehe? Kurz, tausend Fragen, die ich zu beantworten keine Zeit hatte.

Ich teilte ihm mit, was ich wusste, oder vielmehr, was ich nicht wusste, und fragte ihn, was er seinerseits gehört oder gesehen habe.

»Nichts gesehen, nichts gehört!« erwiderte der Kanadier. Ich

habe nicht einmal die Mannschaft des Boots gesehen. Sollte sie vielleicht auch elektrisch sein?«

»Elektrisch!«

»Wahrhaftig! Man sollte versucht sein, es zu glauben. Aber Sie, Herr Arronax«, fragte Ned Land, der noch immer seine Idee hatte,

»Sie können mir nicht sagen, wie viel Mann an Bord sind? 10? 20?

50? 100?«

»Ich kann darauf keine Antwort geben, Meister Land. Übrigens, glauben Sie mir, geben Sie für jetzt die Idee auf, sich der ›Nautilus‹

zu bemächtigen oder zu fliehen. Dieses Fahrzeug ist ein Meisterwerk der modernen Industrie, und es wäre mir leid, hätte ich es nicht gesehen! Wie mancher würde sich gern unsere Lage gefallen lassen, sei es auch nur, um durch diese Wunder zu spazieren. Also halten Sie sich ruhig, und trachten wir zu sehen, was um uns herum vorgeht.«

»Sehen!« rief der Harpunier, »man sieht ja nichts, man wird auch von diesem eisernen Gefängnis aus nichts sehen! Wir fahren, wir schiffen blind hinaus ...«

Diese letzten Worte sagte Ned Land, als es plötzlich stockfinster wurde. Die Helle am Plafond erlosch, und zwar so rasch, dass meine Augen darüber Schmerz empfanden, gerade so wie bei plötzlichem Übergang aus dem Finstern zum blendenden Licht.

Wir blieben still, rührten uns nicht, da wir nicht wussten, welche angenehme oder unangenehme Überraschung uns bevorstand. Da hörte man ein Hin-und-her-Gleiten, als wenn die Füllungen der Seitenwände sich verschöben.

»Jetzt ist alles aus!« sagte Ned Land.

»Ordnung der Hydromedusen!« murmelte Conseil.

Mit einem Mal wurde es auf beiden Seiten des Salons hell durch zwei längliche Öffnungen. Das Gewässer zeigte sich durch elektrische Einwirkung lebhaft erleuchtet. Wir waren nur durch zwei Glasplatten vom Meer geschieden. Anfangs schauderte mir beim Gedanken an die Zerbrechlichkeit dieser Wand; doch war sie durch starke Kupfereinfassung befestigt, sodass sie fast unendlichen Widerstand zu leisten fähig war.

Das Meer war im Umfang einer Meile um die ›Nautilus‹ herum

klar zu durchschauen. Welch ein Anblick! Mit der Feder nicht zu beschreiben! Wer vermöchte die Lichteffekte durch diese erleuchteten Streifen und die sanften allmählichen Abstufungen bis zu den unteren und oberen Schichten zu schildern!

Die Durchsichtigkeit des Meeres ist bekannt; man weiß, dass es weit klarer ist, als das Felsenquellwasser. Die mineralischen und organischen Bestandteile, die es in aufgelöstem Zustand enthält, erhöhen noch seine Durchsichtigkeit. In manchen Teilen des Ozeans, bei den Antillen, kann man 145 Meter tief den sandigen Meeresgrund mit erstaunlicher Klarheit erkennen, und die durchdringende Kraft der Sonnenstrahlen scheint erst in einer Tiefe von 300

Meter aufzuhören. Aber in der flüssigen Umgebung der ›Nautilus‹

wurde der elektrische Glanz im Schoß der Wogen selbst hervorgebracht: es war nicht erleuchtetes Wasser, sondern flüssiges Licht.

Nimmt man Ehrenbergs Hypothese an, der an eine phosphoreszente Erleuchtung der Meerestiefen glaubt, so hat die Natur gewiss den Bewohnern des Meeres die wundervollste Anschauung vorbehalten, ich konnte hier durch das tausendfache Lichtspiel ein Urteil darüber gewinnen. Auf jeder Seite blickte ich durchs offene Fenster in die unerforschten Abgründe. Das Dunkel im Salon hob die äußere Helle, und wir schauten, als sei dieses reine Spiegelglas das Fenster eines unermesslichen Aquariums.

Die ›Nautilus‹ schien nicht ihre Stelle zu ändern, weil es an Merkpunkten fehlte. Mitunter jedoch ließen die durch seinen Schnabel vor unseren Augen zerteilten Wasserstreifen eine äußerste Schnelligkeit erkennen.

In Staunen versunken lagen wir vor diesen Glasscheiben, keiner unterbrach das bewundernde Schweigen. Dann sagte Conseil:

»Sie wollen schauen, Freund Ned, nun denn, schauen Sie?«

»Merkwürdig! Merkwürdig!« rief der Kanadier aus, der, unwiderstehlich angezogen, seinen Zorn und seine Entweichungsprojekte vergaß – man würde weit herkommen, so Wundervolles zu sehen!«

»Ah!« rief ich aus, »jetzt begreife ich das Leben dieses Mannes!

Er hat sich eine Welt für sich besonders geschaffen, die ihm erstaunliche Wunder vorbehält!«

»Aber die Fische?« bemerkte der Kanadier. »Ich sehe keine Fische!«

»Was liegt Ihnen denn daran, Freund Ned«, erwiderte Conseil,

»Sie kennen sie ja doch nicht.«

»Ich, gewiss! Ein Fischer von Profession!« rief Ned Land.

Und es erhob sich ein Streit zwischen den beiden Freunden,

denn sie kannten beide die Fische, aber jeder in sehr verschiedenerweise.

Es ist jedermann bekannt, dass die Fische die vierte und letzte Klasse der Wirbeltiere ausmachen. Man hat sie richtig definiert:

»Wirbeltiere mit kaltem Blut und doppeltem Umlauf, die durch Kiemen atmen und im Wasser zu leben bestimmt sind.« Sie bestehen aus zwei Abteilungen: Fische mit Knochen, d.h., deren Rückgrat aus knochenartigen Wirbeln gebildet ist; und Knorpelfische mit knorpeligen Rückgratswirbeln.

Conseil, der weit mehr Kenntnisse über den Gegenstand hatte, wollte nun aus Freundschaft nicht dulden, dass Ned darin so wenig Kenntnisse hatte. Er sagte:

»Freund Ned, Sie sind ein sehr geschickter Fischer, verstehen diese Tiere zu töten. Sie haben sie in großer Menge gefangen, aber wie man sie einteilt, wissen Sie wohl nicht.«

»O ja!« erwiderte der Harpunier. Sie werden eingeteilt in Fische, die man isst, und solche, die man nicht isst.«

»Solch eine Einteilung macht ein Fresser«, versetzte Conseil.

»Aber sagen Sie mir, ob Sie den Unterschied von Knochen- und Knorpelfischen wissen?«

»Vielleicht wohl, Conseil.«

»Und die Unterabteilung dieser großen Klasse?«

»Hab’ keinen Begriff davon«, erwiderte der Kanadier.

»Nun so hören Sie, Freund Ned, und behalten Sie. Die Knochenfische zerfallen in sechs Ordnungen:

Die erste, mit vollständigen beweglichen Oberkiefern und Kiemen in Gestalt eines Kammes, begreift fünfzehn Familien, die drei Viertel der bekannten Fische ausmachen, darunter der gemeine Barsch.«

»Schmeckt ziemlich gut«, erwiderte Ned Land.

»Die der zweiten Ordnung, Afterflosser genannt, haben ihre Bauchflossen am Unterleib und hinter den Brustflossen, nicht an die Schulterknochen geheftet. Sie bildet fünf Familien, wozu die meisten Süßwasserfische gehören, darunter der Karpfen, der Hecht.«

»Pfui!« sagte der Kanadier verächtlich, »Süßwasserfische!«

»Drittens, fuhr Conseil fort, »deren Bauchflossen unter den Brustflossen stehen und unmittelbar an die Schulterknochen geheftet sind. Sie machen vier Familien aus, wozu die Butten, Plattfische, Meerzungen gehören usw.«

»Vortrefflich! Vortrefflich!« rief der Harpunier aus, der die Fische durchaus nur nach der Essbarkeit schätzte.

»Viertens«, fuhr Conseil fort, ohne sich irremachen zu lassen,

»die Apoden, mit langem Leib, ohne Bauchflossen, und einer dichten, oft klebrigen Haut. Diese Ordnung bildet nur eine Familie, zu welcher der Aal gehört.«

»Mittelmäßig!« versetzte Ned Land.

»Die der fünften haben vollständige und freie Kiefern, ihre Kiemen aber bestehen aus kleinen Büscheln, die paarweise längs den Kiemenbögen stehen. Diese Ordnung ist nur eine Familie, wozu das Seepferd gehört.«

»Nicht gut! Nicht gut!« versetzte der Harpunier.

»Bei einer sechsten Ordnung endlich ist der Kieferknochen an der Seite festgeheftet und die Gaumenwölbung durch eine Naht mit dem Schädel eingezahnt, sodass sie unbeweglich wird. Diese Ordnung hat keine eigentlichen Bauchflossen und besteht aus zwei Familien, wozu der Mondfisch gehört.«

»Schande für eine Pfanne!« rief der Kanadier.

»Haben Sie begriffen, Freund Ned?« fragte der gelehrte Conseil.»Nicht das Mindeste, Freund Conseil«, war die Antwort. »Aber fahren Sie nur immer fort, Sie sind sehr interessant.«

»Die Knorpelfische«, versetzte Conseil mit unvergleichlicher Ausdauer, »enthalten nur drei Ordnungen.«

»Um so besser«, sagte Ned.

»Bei den ersten sind die Kiefern in einem beweglichen Ring verwachsen, und die Kiemen öffnen sich in zahlreichen Löchern; zu dieser gehört nur die Familie der Lampretten.«

»Die sind zu schätzen«, erwiderte Ned Land.

»Bei der zweiten ist der Unterkiefer beweglich. Die zwei Familien dieser Ordnung sind durch Rochen und Haifisch repräsentiert.«

»Wie!« rief Ned, »Rochen und Hai in derselben Ordnung! Da ist’s rätlich, sie nicht in denselben Behälter zu tun!«

»Die dritten haben wie gewöhnlich Kiemen, die durch eine einzige mit einem Deckel versehene Spalte sich öffnen. Ein Muster dieser Ordnung ist der Stör.«

»Ah, Freund Conseil, Sie haben das Beste bis zuletzt aufgehoben.«

»Ja, wackerer Ned«, erwiderte Conseil. »Merken Sie aber, hiermit weiß man nichts, denn die Familien teilen sich in Gattungen, Arten, Varietäten.«

»Aber, Freund Conseil«, sagte der Harpunier, »da sehen wir ja die Arten und Varietäten vor dem Fenster vorüberziehen!«

»Ja!« rief Conseil. »Man sollte meine, man wäre in einem Aquarium!«

»Nein«, erwiderte ich, »denn das Aquarium ist ein Gefängnis, und diese Fische da sind frei wie die Vögel in der Luft.«

»Ei nun, Freund Conseil, nennen Sie sie doch bei Namen!« sagte Ned Land.

»Ich«, erwiderte Conseil, »verstehe mich nicht darauf ! Das ist eine Sache meines Herrn!«

Und wirklich, trotz allem Klassifizieren war er kein Naturkundiger, und wusste wohl nicht einen Thunfisch von einem Bonit zu unterscheiden. Gerade im Gegenteil verstand der Kanadier diese Fische alle zu benennen.

Ned und Conseil zusammen hätten einen ausgezeichneten Naturkundigen abgegeben.

»Ein chinesischer Hornfisch!« rief Ned Land und irrte nicht.

Ein Trupp Hornfische, mit plattem Körper und einem Stachel auf dem Rücken, trieben sich munter um die ›Nautilus‹ herum und bewegten die vier Reihen Stacheln, die auf beiden Seiten ihres Schwanzes wie Borsten starren. Ihre Haut ist wunderschön, oben grau, unten weiß mit goldenen Flecken, die in den düsteren Wellen glänzten. Zwischen ihnen schwammen Rochen, und darunter bemerkte ich sehr erfreut den chinesischen Rochen, oben gelblich, unten am Bauch zart rosa und hinter dem Auge mit drei Stacheln.

2 Stunden lang gab ein ganzes Heer von Wassertieren der ›Nau

tilus‹ das Geleit. Mitten in ihrem Spiel, ihren Sprüngen, wie sie um die Wette an Schönheit, Glanz und Schnelligkeit sich hervortaten, zeigten sie sich unseren Blicken in reizender Mannigfaltigkeit. Unsere Bewunderung hielt sich unausgesetzt auf ihrem Höhepunkt.

Ned wusste sie zu benennen, Conseil zu klassifizieren, ich entzückte mich an ihren schönen Formen und lustigen Bewegungen.

Diese Tiere lebend, frei in ihrem natürlichen Element zu schauen war ein Genuss, der mir noch nie geworden war. Ich will alle die mannigfaltigen Gattungen nicht aufzählen, die, angelockt wohl vom elektrischen Licht, zahlreicher als die Vögel der Luft um uns her schwammen.

Plötzlich wurde’s wieder hell im Salon. Die eisernen Tafeln schoben sich wieder vor. Das bezaubernde Schauspiel hörte auf.

Aber ich war noch lange wie im Traum, bis meine Blicke auf die an den Wänden hängenden Instrumente fielen. Die Magnetnadel wies stets nach Nord-Nord-Ost, das Manometer zeigte einen Druck von 5 Atmosphären, was eine Tiefe von 50 Meter bedeutete, und das elektrische Log gab eine Schnelligkeit von 15 Meilen die Stunde an.Ich erwartete Kapitän Nemo, aber er erschien nicht. Es war 5 Uhr.

Ned Land und Conseil begaben sich wieder in ihre Kabine, ich in mein Zimmer, wo ich mein Mahl aufgetragen fand. Es bestand aus einer Suppe von Caretschildkröte, Meerbarbe von weißem Fleisch, deren Leber besonders in köstlicher Zubereitung, und Stückchen Kaiser-Holocante, das mir schmackhafter als Salmen vorkam.

Den Abend brachte ich mit Lesen, Schreiben und in Gedanken hin. Als der Schlaf mir kam, streckte ich mich auf mein Seegraslager und schlummerte tief, während die ›Nautilus‹ quer durch die reißende Strömung des Schwarzen Flusses fuhr.

 


15. KAPITEL

Eine briefliche Einladung

Am folgenden Tag, dem 9. November, erwachte ich spät, erst nach 12stündigem Schlaf. Conseil kam, wie gewöhnlich, und erkundigte sich, wie »sein Herr« geschlafen, und um seine Dienste anzubieten.

Der Kanadier schlief noch immer fort als wie ein Mensch, der sein Lebtag nichts anders tut.

Ich ließ den wackeren Jungen nach Belieben schwatzen, ohne ihm viel zu antworten. Die Abwesenheit von Kapitän Nemo während unserer gestrigen Unterhaltung machte mir Gedanken, und ich hoffte ihn heute wiederzusehen.

Ich zog alsbald meine Byssuskleider an. Über die Beschaffenheit dieses Stoffs machte Conseil öfters seine Bemerkungen. Ich belehrte ihn nun, dass er aus den glänzenden seidenartigen Fasern gemacht sei, womit eine Art an den Ufern des Mittelmeers sehr häufiger Muscheln an die Felsen geheftet ist. Früher bereitete man daraus schöne Zeuge, Strümpfe, Handschuhe, denn sie waren zugleich kernhaft und sehr warm. Die Mannschaft der ›Nautilus‹ ließ sich darin billig kleiden, und man konnte die Baumwolle, Schafe und Seidenwürmer der Oberwelt entbehren.

Als ich angekleidet war, begab ich mich in den großen Saal. Er war leer.

Ich vertiefte mich in die Betrachtung der Conchylienschätze, die unter Glasscheiben geordnet waren, musterte auch die umfassenden Herbarien voll der seltensten Meerespflanzen, die, obwohl getrocknet, doch ihre wunderschönen Farben bewahrt hatten.

Diesen ganzen Tag über wurde ich nicht mit einem Besuch von Kapitän Nemo beehrt. Die Fensterläden blieben geschlossen. Man wollte wohl uns nicht mit dem Anblick so schöner Dinge übersättigen.

Die Richtung der ›Nautilus‹ blieb unverändert Ost-Nord-Ost, ihre Geschwindigkeit 12 Meilen, ihre Tiefe 50 bis 60 Meter.

Am 10. November gleiche Verlassenheit, gleiche Einsamkeit.

Kein Mensch von der Bemannung kam mir zu Gesicht. Den größten Teil des Tages verbrachte ich in Gesellschaft von Ned und Con

seil. Sie waren erstaunt über die unerklärliche Abwesenheit des Kapitäns. War der seltsame Mann krank? Wollte er in Beziehung auf uns seine Absicht ändern?

Trotzdem genossen wir, wie Conseil meinte, vollständige Freiheit, köstliche und reichliche Nahrung. Unser Wirt hielt sich innerhalb unseres Vertrags. Wir hatten nicht zu klagen, und zudem gewährten uns noch die besonderen Umstände, womit unser Schicksal verknüpft war, so schöne Entschädigung, dass wir ihm keinen Vorwurf zu machen hatten.

An diesem Tag begann ich mein Tagebuch, sodass ich danach alles mit größter Genauigkeit berichten kann; und ich schrieb es auf Papier, das aus Seegras gefertigt war.

Am 11. November, frühmorgens, gab mir die im Innern der

›Nautilus‹ verbreitete frische Luft zu erkennen, dass wir uns auf die Oberfläche des Meeres begeben hatten, um unseren Vorrat von Sauerstoff zu ergänzen. Ich stieg auf der im Mittelpunkt befindlichen Leiter zur Plattform hinauf.

Es war 6 Uhr. Der Himmel zeigte sich bedeckt, das Meer grau, doch ruhig; kaum eine Bewegung der Wellen. Sollte wohl Kapitän Nemo, wie ich hoffte, sich einfinden? Ich bemerkte nur den Steuerer in seinem Glasgehäuse. Ich setzte mich auf einen Vorsprung, den der Rumpf des Boots gewährte, und atmete mit Behagen die köstliche Seeluft ein.

Allmählich wurde der Nebel durch die Strahlen der Sonne zerstreut, die im Osten am Horizont emporstieg. Das Meer geriet wie durch ein Laufpulver in Flammen. Das in der Höhe zerstreute Gewölk färbte sich in wunderbarer Schattierung der Töne.

Ich bewunderte diesen freundlichen Sonnenaufgang, der so belebend wirkte, als ich jemand die Treppe heraufkommen hörte.

Ich war schon im Begriff, den Kapitän zu begrüßen, aber es war der Schiffsleutnant, den ich bereits beim ersten Besuch des Kapitäns kennengelernt hatte. Er trat vor auf die Plattform und schien meine Anwesenheit nicht zu bemerken. Mit seinem starken Fernrohr forschte er am Horizont mit äußerster Achtsamkeit nach allen Richtungen. Darauf trat er zu der Luke und sagte eine Phrase, die

ich mir buchstäblich gemerkt habe, wie sie jeden Morgen in gleicher Lage gesprochen wurde. Sie lautete:

»Nautron respoc lorni virch.«

Was sie bedeutet, kann ich nicht sagen.

Nachdem der Schiffsleutnent diese Worte gesprochen, stieg er wieder hinab. Ich meinte, die ›Nautilus‹ werde ihre unterseeische

Fahrt fortsetzen, begab mich daher wieder zu der Luke, stieg hinab und ging in mein Zimmer.

So verflossen 5 Tage, ohne dass die Lage sich änderte. Jeden Morgen stieg ich zur Plattform hinauf. Die gleiche Person sagte dieselbe Phrase. Kapitän Nemo erschien nicht.

Ich hatte mich schon darein ergeben, ihn gar nicht mehr zu sehen, als ich am 16. November, beim Eintritt in mein Zimmer, auf dem Tisch ein an mich adressiertes Billett fand.

Ich öffnete es ungeduldig. Die Schriftzüge waren frei und klar, aber etwas gotisch, was an deutsche Schrift erinnerte.

Sein Inhalt war:

Herrn Professor Arronax, an Bord der ›Nautilus‹

16. November 1867

Kapitän Nemo lädt den Herrn Professor Arronax zu einer Jagdpartie ein, die morgen früh in den Wäldern der Insel Crespo stattfinden soll. Er hofft, dass der Herr Professor nicht verhindert sein wird, daran teilzunehmen, und er wird mit Vergnügen sehen, dass seine Gefährten sich ihm anschließen.

Der Kommandant der ›Nautilus‹,

Kapitän Nemo

»Eine Jagd!« rief Ned aus, der nebst Conseil mit mir eingetreten war.

»Und in den Wäldern der Insel Crespo!« fügte Conseil bei.

»Da wird ja der Sonderling doch an Land gehen?« fuhr Ned Land fort.

»Das scheint mir klar angedeutet«, sagte ich bei wiederholtem Lesen des Briefs.

»Jedenfalls muss man das annehmen«, versetzte der Kanadier.

Sind wir einmal auf dem Festland, so werden wir schon wissen, was wir zu tun haben. Übrigens würde mir’s schon ganz recht sein, einige Stücke frisches Wildbret zu genießen.«

Ich bemühte mich nicht, den Widerspruch zwischen dem offenbaren Groll des Kapitäns gegen das Festland und die Inseln und

seiner Einladung zu einer Jagdpartie im Wald – zu vereinigen, und antwortete nur:

»Sehen wir erst, was es mit der Insel Crespo für eine Bewandtnis hat.«

Ich sah mich zuerst auf der Landkarte um, und fand unter 32°

40ʹ nördlicher Breite und 167° 50ʹ westlicher Länge ein im Jahr 1801 vom Kapitän Crespo entdecktes Inselchen, das auf den alten spanischen Karten Rocca de la Plata, d.h. »Silberfelsen«, benannt war. Wir befanden uns also ungefähr 1.800 Meilen von unserem Abfahrtspunkt entfernt, und die etwas geänderte Richtung der

›Nautilus‹ führte sie südöstlich.

Ich zeigte meinen Gefährten den kleinen, mitten im nördlichen Pazifik verlorenen Felsen.

»Wenn Kapitän Nemo sich irgendwo an Land begibt«, sagte ich zu ihnen, »so wählt er wenigstens gänzlich verlassene Inseln.«

Ned Land zuckte mit den Achseln, ohne zu antworten, dann ging er nebst Conseil weg. Nach einem Abendessen, das mir der Steward stumm und mit gleichgültiger Miene auftrug, schlief ich ein, nicht ohne einige Befangenheit.

Am folgenden Tag, dem 17. November, merkte ich beim Erwachen, dass die ›Nautilus‹ vollständig unbeweglich war. Ich kleidete mich rasch an und begab mich in den großen Saal.

Kapitän Nemo befand sich da. Er hatte mich schon erwartet, stand auf, grüßte und fragte mich, ob es mir genehm wäre, ihn zu begleiten.

Da er mit keinem Wort seine 8tägige Abwesenheit berührt hatte, so sagte ich auch kein Wort davon und erwiderte bloß, ich sei nebst meinen Gefährten bereit, ihn zu begleiten.

»Nur, mein Herr«, fügte ich bei, »möchte ich mir eine Frage an Sie erlauben.«

»Fragen Sie nur, Herr Arronax, und wo möglich werde ich darauf antworten.«

»Nun, Kapitän, wie kommt’s, dass Sie, der doch jede Verbindung mit der Erde abgebrochen hat, Wälder auf der Insel Crespo besitzen?«

»Herr Professor«, erwiderte mir der Kapitän, »die Wälder, die

ich besitze, bedürfen weder Licht noch Wärme von der Sonne. Es hausen da weder Löwen noch Tiger, noch Panther oder sonst ein vierfüßiges Tier. Ich allein kenne sie. Es sind nicht Landforsten, sondern unterseeische.«

»Unterseeische Wälder!« rief ich aus.

»Ja, Herr Professor.«

»Und Sie wollen mich dahin führen?«

»Jawohl.«

»Zu Fuß?«

»Und sogar trockenen Fußes.«

»Auf der Jagd?«

»Auf der Jagd.«

»Die Büchse in der Hand?«

»Die Büchse in der Hand.«

Ich sah den Kommandanten der ›Nautilus‹ mit einer Miene an, die nichts Schmeichelhaftes für ihn hatte.

»Ganz gewiss ist der Mann gehirnkrank«, dachte ich. »Seit 8 Tagen hing er einer verrückten Idee nach und dieser Zustand dauert noch fort. Es ist schade! Ich wünschte, er wäre lieber ein Sonderling als ein Narr!«

Diesen Gedanken konnte man auf meiner Stirne lesen, aber Kapitän Nemo beschränkte sich darauf, mich einzuladen, ihn zu begleiten, und ich folgte als ein Mann, der sich in alles ergibt.

Wir kamen in den Speisesaal, wo das Frühstück aufgetragen war.»Herr Arronax«, sagte der Kapitän, »ich bitte Sie, ohne Umstände mit mir zu frühstücken. Wir können beim Essen plaudern.

Ich habe Ihnen eine Jagdpartie im Wald versprochen, aber dass wir dabei ein Restaurant treffen, habe ich Ihnen nicht zugesagt. Frühstücken Sie daher, als würden wir vermutlich sehr spät zum Diner kommen.«

Ich war also beflissen, dem Mahl Ehre zu machen. Es bestand aus verschiedenen Fischen und Stücken Holothurien, trefflichen Tierpflanzen, Beiessen von eröffnenden Algen. Zum Trunk diente klares Wasser, worin ich nach dem Beispiel des Kapitäns einige

Tropfen Likör mischte, der, wie zu Kamtschatka, aus einer Algenart gewonnen war.

Kapitän Nemo aß zuerst, ohne ein Wort zu sprechen. Dann sagte er:

»Herr Professor, als ich Ihnen den Vorschlag einer Jagdpartie auf der Insel Crespo machte, glaubten Sie, ich sei mit mir selbst im

Widerspruch. Als ich Ihnen mitteilte, dass es sich um unterseeische Wälder handle, haben Sie mich für einen Narren angesehen. Herr Professor, man muss nie so leicht ein Urteil über die Menschen fassen.«

»Aber, Kapitän, glauben Sie ...«

»Hören Sie mich gefälligst an, dann werden Sie sehen, ob Sie mir Widerspruch mit mir selbst oder Narrheit vorwerfen dürfen.«

»Ich höre Sie an.«

»Herr Professor, Sie wissen so gut wie ich, dass der Mensch unter dem Wasser leben kann, wenn er seinen Bedarf an Luft zum Einatmen bei sich hat. Bei unterseeischen Arbeiten bekommen die Werkleute, in wasserdichter Kleidung und den Kopf in einer metallenen Kapsel, die Luft von außen vermittels Druckpumpen und Luftregulatoren.«

»Sie meinen den Skaphanderapparat«, sagte ich.

»Allerdings, aber unter diesen Bedingungen ist der Mensch nicht frei. Er ist an die Pumpe gebunden, die ihm die Luft durch einen Schlauch von Kautschuk zusendet, eine wirkliche Kette, die ihn an die Erde fesselt, und wären wir so an die ›Nautilus‹ gebunden, so würden wir nicht weit kommen.«

»Und wie kann man sich frei machen?« fragte ich. –

»Durch den Apparat Rouquayrol-Denayrouze, den zwei Ihrer Landsleute ersonnen, ich aber für meinen Gebrauch verbessert habe, sodass man imstande ist, sich in diese neue physiologische Lage zu wagen, ohne dass die Organe irgend dabei zu leiden haben.

Er besteht in einem Behälter von dickem Blech, worin ich die Luft unter einem Druck von 50 Atmosphären zusammenpresse und aufbewahre. Dieser Behälter wird mit Tragriemen, wie ein Tornister, auf dem Rücken befestigt. Sein oberer Teil bildet eine Kapsel, woraus die Luft vermittels einer Balgvorrichtung nur in normaler Spannung herausdringen kann. Bei dem Apparat Rouquayrol, so wie er in Gebrauch ist, laufen zwei Kautschukröhren von dieser Kapsel aus zu einer Art von Gehäuse, das die Nase und den Mund dessen, der ihn gebraucht, umgibt; der eine dient, um die einzuatmende Luft herbeizuleiten, der andere, um die ausgeatmete fortzuschaffen, und die Zunge schließt, nach Bedürfnis des Einatmens,

den einen oder den andern. Ich aber, der es mit einem so bedeutenden Druck auf dem Meeresgrund zu tun habe, habe meinen Kopf, wie den der Skaphander, mit einer Hohlkugel von Kupfer umgeben müssen, und in dieser Kugel endigen die beiden zum Einatmen bestimmten Röhren.«

»Vollkommen richtig, Kapitän Nemo; aber die Luft, die Sie mitnehmen, muss sich doch bald verbrauchen, und sobald sie nur noch 15 Prozent Sauerstoff enthält, wird sie zum Einatmen unbrauchbar.«

»Allerdings, aber wie ich Ihnen gesagt habe, Herr Arronax, vermittels der Pumpen der ›Nautilus‹ bin ich imstande, sie sehr bedeutend zusammenzupressen, und unter diesen Bedingungen kann der Behälter des Apparates für 9 bis 10 Stunden atmungsfähige Luft liefern.«

»Nun habe ich keinen Einwand mehr. Nur frage ich noch, Kapitän, wie können Sie Beleuchtung für Ihren Weg so tief im Meeresgrund schaffen?«

»Mit dem Ruhmkorffschen Apparat, Herr Arronax. Wie der andere auf dem Rücken, so befestigt man diesen am Gürtel. Er besteht aus einer Bunsenschen Säule, die ich nicht mit doppeltchromsaurem Kali, sondern mit Sodium in Tätigkeit setze. Eine Induktionsröhre sammelt die erzeugte Elektrizität und leitet sie zu einer Laterne von eigentümlicher Einrichtung. In dieser Laterne befindet sich eine gläserne Serpentine, die nur einen Rest von Kohlensäure enthält. Wenn der Apparat in Tätigkeit tritt, wird dieses Glas leuchtend und gibt ein weißliches andauerndes Licht. Auf diese Art versehen, kann ich atmen und sehen.«

»Kapitän Nemo, auf alle meine Einwendungen haben Sie so überwältigende Antworten, dass ich nicht mehr zu zweifeln wage.

Jedoch bin ich auch genötigt, den Apparaten von Rouquayrol und Ruhmkorff ihre Geltung zu lassen, so darf ich doch bezüglich der Büchse, womit Sie mich bewaffnen wollen, einen Vorbehalt machen.«

»Das ist ja kein Feuergewehr«, erwiderte der Kapitän.

»Also eine Windbüchse?«

»Allerdings. Ich kann ja doch an Bord meines Fahrzeugs ohne Salpeter, Schwefel und Kohlen kein Pulver fabrizieren.«

»Zudem«, sagte ich, »um unter Wasser, das 850mal dichter als die Luft ist, zu schießen, müsste man einen sehr bedeutenden Widerstand überwinden.«

»Das gäbe keinen Grund ab. Es gibt Kanonen, die nach Fulton von den Engländern Coles und Burley, von dem Franzosen Turcy, dem Italiener Landi verbessert wurden; diese sind mit einer besonderen Art von Schloss versehen, sodass man unter diesen Bedingungen daraus schießen kann. Aber ich sage Ihnen wiederholt, da ich kein Pulver habe, so ersetze ich es durch komprimierte Luft, die mir die Pumpen der ›Nautilus‹ im Überfluss liefern.«

»Aber diese Luft muss sich bald verbrauchen.«

»Nun, hab’ ich nicht meinen Behälter Rouquayrol, der mir meinen Bedarf liefern kann. Es ist dafür nur ein besonderer Hahn erforderlich. Übrigens, Herr Arronax, werden Sie während dieses unterseeischen Jagens an sich selbst die Erfahrung machen, dass man nicht viel Luft noch Kugeln braucht.«

»Doch will es mich bedünken, in diesem Halbdunkel und innerhalb einer im Verhältnis zur Luft sehr dichten Flüssigkeit können die Schüsse nicht weit reichen und nicht leicht tödlich sein.«

»Mein Herr, bei diesem Gewehr sind alle Schüsse tödlich, und wenn ein lebendes Geschöpf auch noch so leicht getroffen wird, sinkt es sogleich tot nieder.«

»Weshalb?«

»Weil mit diesem Gewehr nicht gewöhnliche Kugeln geschossen werden, sondern kleine Glaskapseln, die von dem österreichischen Chemiker Leniebrock erfunden wurden und wovon ich einen großen Vorrat habe. Diese Glaskapseln, in Stahl gefasst und durch ein bleiernes Bodenstück schwer gemacht, sind in Wahrheit kleine Leydner Flaschen, worin die Elektrizität sehr hoch gesteigert ist.

Sie entladen sich beim leichtesten Stoß, und auch das stärkste Tier sinkt tot nieder. Ich füge bei, dass diese Kapseln nicht größer sind als Nummer vier und dass eine gewöhnliche Flinte davon 10 fassen kann.«

»Ich streite nicht weiter«, erwiderte ich, indem ich aufstand,

»und ich habe nur mein Gewehr zu nehmen. Übrigens, wo Sie hingehen, gehe ich mit!«

Kapitän Nemo führte mich zum Hinterteil der ›Nautilus‹, und im Vorübergehen vor Neds und Conseils Kabine rief ich meine beiden Gefährten ab, und sie schlossen sich sogleich an.

Darauf kamen wir in eine kleine Zelle, die nach vorn hin neben dem Maschinenzimmer lag und worin wir unsere Spazierkleidung anzulegen hatten.

 


16. KAPITEL

Spaziergang im Freien

Diese Zelle war eigentlich Arsenal und Kleiderkammer der ›Nautilus‹. Ein Dutzend Skaphanderapparate, die an der Wand hingen, harrten der Spaziergänger.

Als Ned Land sie erblickte, zeigte er einen offenbaren Widerwillen, einen solchen anzuziehen.

»Mein wackerer Ned«, sagte ich zu ihm, »die Wälder der Insel Crespo sind ja nur unterseeische Wälder.«

»Gut!« sagte der Harpunier enttäuscht, da er seine Träume von frischem Fleisch schwinden sah. »Und Sie, Herr Arronax, wollen sich in diese Kleider stecken?«

»Man muss wohl, Meister Ned.«

»Es steht Ihnen frei, mein Herr«, erwiderte der Harpunier mit Achselzucken, »aber ich meinesteils ziehe sie niemals an, wofern man mich nicht mit Gewalt dazu zwingt.«

»Man wird Sie nicht mit Gewalt nötigen, Meister Ned«, sagte Kapitän Nemo.

»Und Conseil will sich in Gefahr begeben?« fragte Ned.

»Ich bin überall dabei, wo mein Herr hingeht«, erwiderte Conseil.Der Kapitän rief, und zwei Mann von den Schiffsleuten kamen und halfen uns diese schweren undurchdringlichen Kleider anziehen, die aus Kautschuk gefertigt und derart eingerichtet waren, dass sie bedeutenden Druck aushielten. Es war eine Rüstung, geschmeidig und widerstandsfähig zugleich; Hosen und Weste; jene endigten mit einer dichten Fußbekleidung, die mit schweren Bleisohlen besetzt war. Der Stoff der Weste war durch Kupferplättchen geschützt, die der Brust zum Panzer dienten, um den Druck des Wassers auszuhalten und den Lungen ihre freie Tätigkeit zu sichern.

Die Ärmel endigten mit geschmeidigen Handschuhen, welche die Handbewegung durchaus nicht hinderten.

Man sieht, sie waren sehr verschieden von den unförmlichen Skaphandern, die im 18. Jahrhundert erfunden und angepriesen wurden.

Kapitän Nemo, einer seiner Gefährten – eine herkulische Gestalt von außerordentlicher Körperkraft – Conseil und ich zogen rasch die Kleidung an. Es handelte sich nur darum, unsere Köpfe in die metallenen Kugeln zu stecken. Aber bevor wir dazu schritten, bat ich den Kapitän um die Erlaubnis, die für uns bestimmten Gewehre zu untersuchen.

Einer von der Mannschaft der ›Nautilus‹ reichte mir eine einfache Flinte, deren stählerner Kolben innen hohl und ziemlich groß war. Er diente als Behälter der zusammengepressten Luft, die durch eine Klappe mit einer Feder in den metallenen Lauf gelassen wurde. In dem dicken Teil des Kolbens war eine kleine Büchse, die etwa 20 elektrische Kugeln fasste, die vermittels einer Sprungfeder automatisch in den Gewehrlauf gelangten. Sobald ein Schuss losgegangen, war auch schon der folgende zum Abschießen fertig.

»Kapitän Nemo«, sagte ich, »das Gewehr ist vortrefflich und leicht zu handhaben. Ich wünsche nur, es zu probieren. Aber wie gelangen wir auf den Meeresgrund.«

»In diesem Augenblick, Herr Professor, sitzt die ›Nautilus‹ in einer Tiefe von 6 Meter fest, und wir brauchen uns nur auf den Weg zu machen.«

»Aber wie gelangen wir hinaus?«

»Sie werden’s gleich sehen.«

Kapitän Nemo steckte seinen Kopf in die kugelförmige Kappe.

Conseil und ich taten dasselbe, während der Kanadier uns ironisch

»Glück zu der Jagd« wünschte. Unsere Kleidung endigte oben in ein kupfernes, schraubenartig ausgebohrtes Halsband, worauf der metallene Helm eingeschraubt wurde. Drei mit dicken Gläsern versehene Löcher gestatteten nach allen Richtungen zu sehen, indem man nur in der Kugel den Kopf zu drehen hatte. Sobald er aufgesetzt war, fingen die auf unseren Rücken befestigten Apparate Rouquayrol ihre Tätigkeit an, und ich für meinen Teil atmete leicht.

Die Ruhmkorffsche Lampe an meinem Gürtel, das Gewehr in der Hand, war ich fertig zum Fortgehen. Aber von dieser schweren Kleidung umschlossen und mit meinen bleiernen Sohlen an den Boden geheftet, wäre mir’s unmöglich gewesen, nur einen Schritt zu machen.

Doch war dieser Fall vorgesehen; denn ich fühlte, dass man mich in eine kleine neben dem Kleidergemach befindliche Kammer schob. Meine Begleiter folgten, in gleicher Weise bugsiert, mir nach. Ich hörte, wie eine Tür mit festgefugtem Verschluss über uns zugemacht wurde, und tiefes Dunkel umgab uns.

Nach einigen Minuten hörte ich ein lebhaftes Zischen und fühlte eine gewisse Kälte von den Füßen zur Brust aufsteigen. Offenbar hatte man vom Innern des Schiffs aus mit einem Hahn das äußere Wasser eingelassen, sodass es uns umgab und die ganze Kammer füllte. Darauf öffnete sich eine zweite Tür in der Seitenwand der ›Nautilus‹, ein Dämmerlicht umgab uns. Gleich darauf fühlten wir den Meeresgrund unter den Füßen.

Welchen Eindruck dieser Spaziergang in diesen Tiefen auf mich machte, könnte ich unmöglich schildern. Solche Wunder zu erzählen mangelt der Ausdruck. Weder Pinsel noch Feder reichen aus, die diesem Element eigentümlichen Erscheinungen darzustellen.

Kapitän Nemo schritt voran und sein Genosse einige Schritte hinter uns. Conseil und ich blieben dicht beisammen, als hätten wir durch diese metallene Bepanzerung miteinander reden können. Die Schwere meiner Kleidung war mir schon nicht mehr fühlbar; weder meine Fußbekleidung noch mein Luftbehälter, noch die schwere Kugel, innerhalb welcher mein Kopf wie ein Mandelkern in seiner Schale schlotterte, machten mir Beschwerden. Alle diese Gegenstände verloren, ins Wasser getaucht, ebenso viel von ihrem Gewicht, als das von ihnen verdrängte Wasser hatte, und ich empfand die Wohltat dieses von Archimedes entdeckten Naturgesetzes.

Nicht mehr eine träge Masse, hatte ich eine verhältnismäßig große Freiheit der Bewegung.

Ich staunte über die Stärke des Lichts, das bis auf 30 Fuß unter dem Meeresspiegel den Boden erhellte. Die Sonnenstrahlen drangen leicht durch diese Wassermasse, die dadurch ihre Fär

bung verlor. Ich konnte die Gegenstände in einer Entfernung von 100 Metern klar unterscheiden. Weiter hinaus schattierte sich die Grundfarbe in feinen Lasurnuancen, dann in der Ferne hellblau und verschwand zuletzt in unbestimmtem Dunkel. Wahrhaftig, dieses Wasser um mich herum war zwar dichter als die Atmosphäre der Erde, aber fast ebenso durchsichtig. Über mir bemerkte ich die Oberfläche des Meeres ganz ruhig.

Wir schritten über feinen Sand ohne Runzeln, wie an den Meeresküsten der Fall ist, wo Spuren der hohen See zurückbleiben.

Diese blendende Fläche warf, wie ein Reflektor, die Sonnenstrahlen mit auffallender Stärke zurück. Daher der ungeheure Widerschein, der alle Elementarteile durchdrang. Wird man mir glauben, wenn ich behaupte, dass ich in dieser Tiefe von 30 Fuß wie am hellen Tag sehen konnte?

Eine Viertelstunde lang ging ich auf diesem heißen Sand, der mit unbetastbarem Muschelstaub besät war. Die ›Nautilus‹, die wie eine lange Klippe aussah, verschwand allmählich aus den Augen, aber sein Leuchtfeuer musste, wenn in den Gewässern die Nacht eintrat, unsere Rückkehr an Bord erleichtern, indem seine Strahlen vollkommen klar sichtbar waren. Auf dem Land, wo die Luft mit Staub durchdrungen ist, scheint dieses Licht düster, wie vom Nebel getrübt; aber auf dem Meer, wie unter dem Meer, pflanzen sich die elektrischen Lichtstreifen mit unvergleichlicher Reinheit weiter.

Inzwischen gingen wir immer fort, und die ungeheure Sandfläche schien ohne Grenzen zu sein. Ich schob mit der Hand die Wassergardinen zurück, die hinter mir wieder zusammenfielen, und der Druck des Wassers verwischte augenblicklich meine Fußstapfen.

Bald zeigten sich vor meinen Blicken, aus der Ferne in verwischten Umrissen, einige Gegenstände. Ich erkannte prächtige Musterstücke von Felsen, mit Pflanzentieren der schönsten Sorte wie mit einem Teppich bedeckt, sodass ich im ersten Augenblick ganz betroffen war von dem außerordentlichen Anblick.

Es war damals 10 Uhr vormittags. Die Sonnenstrahlen fielen in ziemlich schiefem Winkel auf die Oberfläche des Meeres, und da ihr Licht durch Brechung wie durch ein Prisma sich zerteilte, so

erschienen Blumen, Felsen, Pflänzchen, Muschelwerk, Polypen am Rand mit den sieben Regenbogenfarben geziert. Es war wundervoll zu schauen, eine wahre Augenweide, diese kaleidoskopartige Mischung von Farbentönen, grüngelb, orange, violett, indigo, hellblau!

Bei diesem Anblick war Conseil wie ich stehen geblieben. Der brave Junge war ohne Zweifel im Klassifizieren dieser Mollusken und Zoophyten vertieft. Polypen und Echinodermen bedeckten in Menge den Boden. Die mancherlei Korallenarten, die wie Champignons gestalteten Fongiten, die Anemonen, bildeten einen Blumengrund, bunt verziert mit Porpiten im Schmuck ihres Kragens lasurblauer Fühlfäden, mit Seesternen, womit der Sand besät war.

Es war ein rechter Jammer für mich, die glänzenden Musterstücke von Mollusken, die zu Tausenden auf dem Boden lagen, mit meinen Füßen zu treten. Aber wir mussten vorwärtsschreiten, und wir taten es, während über unseren Häuptern Scharen von Physaliden mit ultramarinblauen Fühlfäden, die mit den Wogen trieben, Medusen mit opal- oder zart rosenfarbenen Schirmen uns gegen die Sonnenstrahlen deckten.

Alle diese Wunder sah ich im Raum einer Viertelmeile, indem ich kaum stehen bleiben konnte, da Kapitän Nemo mich mit einem Wink mahnte, ihm zu folgen. Bald änderte sich die Beschaffenheit des Bodens. Auf die Sandebene folgte eine Lage klebrigen Schlammes, der nur aus kieseligen oder kalkartigen Muscheln bestand.

Hierauf durchwanderten wir eine Wiese von Algen. Diese dichten Rasen waren so weich, dass sie es mit den von Menschenhand gewebten Tapeten aufnehmen konnten. Zu gleicher Zeit breitete sich über unseren Köpfen eine grüne Decke von Seepflanzen aus der überreichen Algenfamilie, deren man über 2.000 Arten kennt, an der Oberfläche des Meeres. Diese Algen, ein wahres Wunder der Schöpfung, gehören zu den größten Merkwürdigkeiten der allgemeinen Flora. Es gehören dieser Familie die kleinsten wie die größten Pflanzen der Erde. Denn wie man einerseits im Raum von 5 Quadratmillimeter 40.000 dieser mit den Augen nicht wahrnehmbaren, mikroskopischen Pflänzchen gezählt hat, so hat man Fucus getroffen, die über 500 Meter lang waren.

Seit etwa 1 1/2 Stunden hatten wir die ›Nautilus‹ verlassen. Es war bald Mittagszeit, wie ich aus den senkrechten Sonnenstrahlen, die sich nicht mehr brachen, abnahm. Der Farbenzauber schwand allmählich, und die Nuancen von Smaragd und Saphir erloschen an unserem Firmament. Wir gingen im regelmäßigen Schritt, der erstaunlich stark auf dem Boden widerhallte. Das geringste Geräusch pflanzte sich mit einer Raschheit fort, woran das Ohr auf der Erde nicht gewöhnt ist. In der Tat ist das Wasser für den Ton ein besserer Leiter als die Luft, und er pflanzt sich darin mit vierfacher Schnelligkeit fort.

In diesem Augenblick senkte sich der Boden in starkem Abfall.

Das Licht nahm eine gleichmäßige Färbung an. Wir kamen bis zu einer Tiefe von 100 Metern und hatten dann einen Druck von 10

Atmosphären zu erleiden. Aber mein Skaphanderkleid war so beschaffen, dass dieser Druck mir in keiner Weise nachteilig war. Ich empfand nur in den Fingergelenken einige Unbehaglichkeit, und auch diese verschwand bald. Der 2stündige Spaziergang in dem ungewohnten Harnisch hatte mich nicht im Mindesten ermüdet.

Das Wasser half dazu, dass die Bewegungen überraschend leicht vor sich gingen.

In der Tiefe von 300 Fuß waren die Sonnenstrahlen nur noch schwach wahrzunehmen. Es folgte ein rötliches Dämmerlicht.

Doch sahen wir hinreichend, um unsere Richtung zu behalten, und wir brauchten noch nicht den Ruhmkorffschen Apparat in Tätigkeit zu setzen.

In diesem Augenblick machte Kapitän Nemo halt. Er wartete, bis ich wieder bei ihm war, und zeigte mir mit dem Finger einige dunkle Massen, die nicht weit von dort im Schatten hervortraten.

Das ist der Wald der Insel Crespo, dachte ich, und irrte nicht.

 


17. KAPITEL

Ein unterseeischer Wald

Endlich waren wir am Saum dieser Waldung angekommen, die ohne Zweifel zu den schönsten der ungeheuren Besitzung von Kapitän Nemo gehörte. Er sah sie als sein eigen an und übte darüber dieselben Rechte, welche die ersten Menschen in den ersten Tagen der Welt hatten. Übrigens, wer hätte ihm den Besitz dieses unterseeischen Eigentums streitig gemacht?

Dieser Wald bestand aus großen baumartigen Pflanzen, und sobald wir unter seine umfassenden Wölbungen kamen, fiel mir sogleich eine eigentümliche Beschaffenheit ihrer Gezweige auf, wie ich sie bisher noch nicht beobachtet hatte.

Keines von den Kräutern des Bodens, keiner von den Zweigen der Gebüsche rankte, bog sich oder wuchs in horizontaler Richtung. Sie stiegen alle aufwärts dem Meeresspiegel zu. Die dünnsten, faden- und bandartigen Pflanzen hielten sich gerade aufrecht, als seien die Stängel von Eisen. Schlingpflanzen und Meergräser nahmen beim Aufwachsen eine streng senkrechte Richtung, wie sie die Dichte des Elements vorschrieb. Sonst unbeweglich, nahmen sie, wenn ich sie mit der Hand auseinanderschob, sogleich ihre frühere Lage wieder ein.

Ich gewöhnte mich bald an diese sonderbare Neigung zum Senkrechten, wie an das verhältnismäßige Dunkel um uns her. Der Boden des Waldes war mit spitzen Blöcken bedeckt, denen man nicht leicht ausweichen konnte. Die unterseeische Flora schien mir sehr vollständig zu sein, reicher sogar als unter den arktischen und tropischen Zonen, wo die Produkte aus dem Pflanzenreich minder zahlreich sind. Aber einige Minuten lang verwechselte ich unwillkürlich das Tierreich mit dem Pflanzenreich, Pflanzentier mit Wasserpflanzen. Fauna und Flora stehen in der unterseeischen Welt dicht nebeneinander!

Ich machte die Beobachtung, dass alle diese Produkte des Pflanzenreichs am Boden nur in einer dünnen Teigschichte hafteten.

Ohne Wurzel, ohne Zusammenhang mit dem festen Körper, Sand, Muschel- oder Kieselgeröll, das die Unterlage bildet, begehren sie

von diesem nur einen Stützpunkt, nicht die Lebensquelle. Diese Pflanzen gehen aus sich selbst hervor, und das Prinzip ihres Daseins liegt im Wasser, das ihnen Kraft und Nahrung gewährt. Die meisten trieben, anstatt Blätter, nur bandartige Streifen von grillenhaften Formen, umgrenzt von einer schmalen Farbenborte, die nur Rosa, Carmin, Grün, Olivenfarbig, Falb und Braun enthielt.

Eine Menge dieser Seepflanzen sind ganz ohne Blüten. »Merkwürdige Regelwidrigkeit, seltsames Element«, sagt ein geistreicher Naturforscher, »wo das Tierreich Blüten treibt, das Pflanzenreich nicht!«

Unter diesen verschiedenen Gesträuchen, die so groß sind wie die Bäume der gemäßigten Zone, und unter ihrem feuchten Schatten befanden sich massenweise wahre Gebüsche lebendiger Pflanzen, Hecken von Pflanzentieren, und, was die Täuschung vollends beförderte – die Mückenfische flogen von Zweig zu Zweig, wie ein Schwarm Kolibris, während andere wie ein Trupp Bekassinen unter unseren Schritten aufzufliegen schienen.

Gegen 1 Uhr gab Kapitän Nemo das Zeichen zum Halt. Ich meinesteils war wohl zufrieden damit, und wir streckten uns nieder.

Dieses Ausruhen schien mir köstlich, nur mangelte uns die Unterhaltung, denn das Anreden war so unmöglich als das Erwidern. Ich näherte nur meinen dicken Kupferkopf dem Conseils. Ich sah bei diesem wackeren Jungen die Augen glänzen vor Befriedigung, und um es kundzugeben, machte er in seiner Schale höchst komische Bewegungen.

Nach einem 4stündigen Spaziergang war ich sehr erstaunt, dass ich nicht heftigen Hunger empfand. Woher diese Stimmung des Magens kam, konnte ich nicht sagen, dagegen spürte ich eine unüberwindliche Neigung zum Schlafen, wie das bei allen Tauchern der Fall ist. Daher schlossen sich auch alsbald meine Augen hinter ihrem dichten Glas, und ich sank in eine unwiderstehliche Schlaftrunkenheit, die bisher nur durch die Bewegung des Gehens zu bekämpfen möglich war. Kapitän Nemo nebst seinem kräftigen Genossen gaben uns hingestreckt im klaren Wasser das Beispiel zum Schlafen.

Wie lange ich in diesem Schlummer lag, konnte ich nicht schät

zen; aber als ich aufwachte, schien mir die Sonne schon sich zum Horizont zu neigen. Kapitän Nemo war bereits aufgestanden, und ich fing an die Glieder zu strecken, als eine unerwartete Erscheinung mich rasch auf die Beine brachte.

Einige Schritte weit war eine riesenhafte, einen Meter hohe Meeresspinne, die bereit mich zu überfallen mit schielenden Augen mich ansah. Obwohl mein Skaphanderkleid dick genug war

zum Schutz gegen die Bisse dieses Tieres, so konnte ich mich doch des Grauens nicht erwehren. In dem Augenblick erwachten Conseil und der Matrose der ›Nautilus‹. Kapitän Nemo zeigte diesen das hässliche Tier, er streckte es mit einem Kolbenschlag augenblicklich nieder, und ich sah die fürchterlichen Füße des Ungeheuers in grässlichen Zuckungen sich winden.

Dieses Begegnen erregte bei mir den Gedanken, dass andere, furchtbarere Tiere in diesen dunkeln Gründen hausen könnten, gegen deren Angriff mein Skaphander mich nicht schützen würde.

Bisher hatte ich nicht daran gedacht, und ich beschloss auf meiner Hut zu sein. Ich vermutete übrigens, dass hier unser Spaziergang sich endigen würde; aber ich täuschte mich, Kapitän Nemo setzte seinen kühnen Ausflug fort.

Der Boden wurde immer niedriger, und sein stärkerer Abhang führte uns in größere Tiefen hinab. Es musste etwa 3 Uhr sein, als wir in ein enges Tal zwischen hohen steilen Wänden kamen, in einer Tiefe von ungefähr 150 Meter. Die Vorzüglichkeit unserer Apparate machte es möglich, dass wir so 90 Meter über die Linie hinausgelangten, die bisher die Natur selbst den unterseeischen Unternehmungen als Grenze gesteckt zu haben schien.

Ich sagte 150 Meter, obschon ich kein Instrument hatte, diese Distanz zu messen. Aber ich wusste, dass selbst in den Meeren vom klarsten Wasser die Sonnenstrahlen nicht tiefer dringen konnten.

Nun wurde es aber völlig dunkel; man konnte nicht mehr auf 10

Schritte einen Gegenstand erkennen. Indem ich tastend vorwärtsschritt, sah ich auf einmal ein weißes lebhaftes Licht erglänzen. Kapitän Nemo hatte seinen elektrischen Apparat in Tätigkeit gesetzt.

Sein Genosse machte es ihm nach, und ich folgte nebst Conseil ihrem Beispiel. Durch Drehen einer Schraube stellte ich die Verbindung der Induktionsröhre mit der gläsernen Serpentine her, und das Meer wurde durch unsere vier Laternen bis auf 25 Meter weit im Umkreis erleuchtet.

Kapitän Nemo drang immer weiter in die Tiefen des Waldes, dessen Gesträuche allmählich seltener wurden. Ich bemerkte, dass das vegetale Leben weit schneller abnahm, als das animale. Die Meerpflanzen verließen bereits den trocken gewordenen Boden,

während eine erstaunliche Menge von Tieren, Zoophyten, Wirbeltieren, Mollusken und Fischen dort wimmelte.

Während wir vorwärtsschritten, fiel mir ein, dass das Licht unserer Ruhmkorffapparate notwendig manche Bewohner dieser dunklen Schichten herbeilocken würde. Sie kamen uns zwar nah, hielten sich aber doch in einer Entfernung, die für Jäger nicht angenehm war. Manchmal bemerkte ich, dass Kapitän Nemo stehen blieb und sein Gewehr anlegte; dann, nachdem er eine Weile beobachtet, setzte er seinen Weg fort.

Endlich, etwa gegen 4 Uhr, fand dieser merkwürdige Ausflug sein Ziel. Eine Wand prachtvoller Felsen von imponierender Masse ragte vor uns empor, riesenhafte Blöcke übereinandergetürmt, ein ungeheurer steiler Granitabhang mit dunklen Grotten, der aber keinen Aufgang, auf dem man irgend fortkommen konnte, bot.

Kapitän Nemo machte plötzlich halt. Mit einem Wink hemmte er unsere Schritte, und sosehr ich gewünscht hätte, über diese Gebirgswand hinaus zu kommen, musste ich mich darein ergeben. Die Besitzungen Kapitän Nemos hatten hier ein Ende. Darüber hinaus wollte er nicht.

Es begann also der Rückweg. Kapitän Nemo hatte sich wieder an die Spitze seiner kleinen Schar gestellt und schritt sicher, ohne sich zu besinnen, voran. Ich glaubte wahrzunehmen, dass wir nicht den gleichen Weg einschlugen, um wieder zur ›Nautilus‹ zu kommen. Dieser neue, sehr steile und folglich mühevolle Weg brachte uns rasch in die Nähe der Meeresoberfläche. Doch geschah diese Rückkehr in die oberen Schichten nicht so rasch, dass der Druck von oben zu stark gewesen wäre, was in unserm Organismus bedenkliche Störungen hätte veranlassen und innere Verletzungen verursachen können, wie sie den Tauchern so nachteilig sind. Sehr bald kam wieder das Sonnenlicht zum Vorschein und nahm zu, und da die Sonne bereits niedrig stand, so wurden durch die Brechung der Strahlen die Gegenstände abermals mit einem bunten Rand umgeben.

Bei 10 Meter Tiefe wandelten wir inmitten eines Schwarms kleiner Fische aller Art, die zahlreicher waren als die Vögel in der Luft,

auch weit beweglicher; aber ein Wildbret, das eines Schusses würdig gewesen wäre, war uns noch nicht aufgestoßen.

In dem Augenblick sah ich, wie Kapitän Nemo lebhaft die Büchse anlegte und auf einen beweglichen Gegenstand im Gebüsch zielte. Der Schuss ging los, ich hörte ein schwaches Pfeifen, und ein Tier fiel in einer Entfernung von einigen Schritten nieder.

Es war ein prächtiger Seeotter, das einzige vierfüßige, nur im Meer lebende Tier. Dieses war ein und einen halben Meter lang.

Sein Fell, oben braun und unten silberfarben, bildet einen der geschätztesten und gesuchtesten Artikel auf dem russischen und chinesischen Pelzmarkt, der mindestens 2.000 Franc gilt. Ich bewunderte das merkwürdige Säugetier mit rundem Kopf und kurzen Ohren, runden Augen, weißen Schnauzborsten, wie die Katzen haben, handförmigen Füßen mit Krallen und buschigem Schwanz.

Dieser kostbare Fleischfresser, von den Fischern aufgetrieben und verjagt, wird äußerst selten, hat sich besonders in die nördlichen Gegenden des Pazifiks geflüchtet, wo die Gattung wahrscheinlich bald aussterben wird.

Der Genosse von Kapitän Nemo nahm das Tier auf seine Schulter, und wir setzten unseren Weg fort.

Eine Stunde lang hatten wir eine Sandebene vor uns. Sie erhob sich oft bis auf 2 Meter unter dem Wasserspiegel. Dann sah ich unser Bild in klarem Wiederschein umgekehrt gezeichnet, und über uns zeigte sich eine ganz gleiche Truppe, die unsere Bewegungen abspiegelte, so wie wir gingen, nur Kopf unten, Füße in der Luft.

Ich hatte damals Gelegenheit, einen der schönsten Schüsse zu beobachten, die je einem Jäger das Herz erfreuten. Ein großer Vogel mit weit ausgespannten Flügeln, der sehr deutlich zu erkennen war, streifte mit schwebenden Fittichen nah über dem Wasser. Des Kapitäns Genosse legte auf ihn an und schoss ihn, als er einige Meter über den Wogen sich befand. Getroffen sank das Tier herab, dass der gewandte Jäger es greifen konnte und mit sich nahm. Es war ein Albatros der schönsten Sorte.

Dieser Zwischenfall unterbrach nicht unseren Weg. 2 Stunden lang gingen wir bald auf Sandflächen, bald auf Wiesen von Meergras, worauf schwer fortzukommen war. Offen gestanden, ich war erschöpft, als ich einen schwachen Lichtschein gewahrte, der eine halbe Meile weit durch die dunklen Gewässer drang. Es war die Leuchte der ›Nautilus‹. Vor Ablauf von 20 Minuten mussten wir an Bord sein, wo ich wieder aufatmen konnte, denn mein Behälter schien mir eine Luft mit wenig Sauerstoff zu gewähren.

Aber es begegnete uns noch ein anderes Ereignis, das uns ein wenig aufhielt.

Ich war etwa 20 Schritt zurückgeblieben, als ich Kapitän Nemo hastig auf mich zukommen sah. Mit kräftiger Hand bog er mich nieder zur Erde, während sein Genosse es ebenso mit Conseil machte. Anfangs wusste ich nicht recht, was ich von dem barschen

Anfall denken sollte, aber ich beruhigte mich, als ich sah, dass der Kapitän sich neben mich legte und sich unbeweglich hielt.

Ich lag also der Länge nach auf dem Boden und oben geschützt von einem Büschel Seegras, als ich den Kopf aufrichtete und bemerkte, wie ungeheure Massen mit lautem Getöse und phosphoreszierendem Schein vorüberzogen.

Das Blut erstarrte mir in den Adern! Es waren fürchterliche Haifische mit ungeheurem Schwanz und düsteren glasartigen Augen, die einen phosphoreszierenden Stoff absondern, der durch Löcher um das Maul herumträufelt. Diese Ungeheuer konnten in ihren eisernen Rachen einen ganzen Menschen zerbröckeln!

Zu unserem Glück haben diese gefräßigen Tiere kein scharfes Gesicht. Sie tosten vorüber, ohne uns zu bemerken, streiften uns nur mit ihren bräunlichen Flossen, und wir entkamen wie durch ein Wunder einer Gefahr, die gewiss größer war, als wenn man einem Tiger im Walde begegnet.

Eine halbe Stunde nachher, geleitet von dem elektrischen Lichtstrahl, langten wir bei der ›Nautilus‹ an. Die äußere Tür war offen geblieben, und Kapitän Nemo schloss sie wieder, sobald wir in das vordere Kämmerchen getreten waren. Darauf drückte er auf einen Knopf. Ich hörte die Pumpen im Schiff arbeiten, fühlte, wie das Wasser um mich herum sank, und in einigen Augenblicken war die Zelle ganz leer. Nun öffnete sich die innere Tür, und wir kamen in die Kleiderkammer.

Hier wurde uns, nicht ohne Beschwerde, die Skaphanderkleidung abgezogen, und ich begab mich, sehr abgemüdet, der Erschöpfung und dem Schlaf erliegend, wieder in mein Zimmer, voll Staunen über diesen merkwürdigen Ausflug auf dem Meeresgrund.

 


18. KAPITEL

4.000 Meilen unterm Pazifik

Am folgenden Morgen, dem 18. November, hatte ich mich von meinen Strapazen völlig erholt, und ich begab mich auf die Plattform, als eben der Leutnant seine tägliche Phrase sagte. Ich dachte mir damals, sie gebe die Beschaffenheit des Meeres an, oder vielmehr sie bedeute: »Wir haben nichts in Sicht.«

Und wirklich, der Ozean war leer; nicht ein Segel am Horizont.

Die Spitzen der Insel Crespo waren während der Nacht verschwunden. Das Meer verschlang die Farben des Prisma mit Ausnahme der blauen Strahlen, warf deren Widerschein in alle Richtungen und nahm eine wunderbare, schöne Indigofarbe an.

Ich bewunderte das prachtvolle Aussehen des Ozeans, als Kapitän Nemo erschien. Er schien meine Anwesenheit nicht zu bemerken und begann eine Reihe von astronomischen Beobachtungen.

Als er damit fertig war, stützte er sich mit dem Ellbogen auf das Gehäuse des Leuchtfeuers, und seine Blicke schweiften über den Meeresspiegel.

Inzwischen waren etwa 20 Matrosen der ›Nautilus‹, lauter kräftige und rüstige Leute, auf die Plattform heraufgekommen. Sie hatten soeben die Fischergarne, welche die Nacht über ausgeworfen waren, hereingezogen. Die Seeleute gehörten augenscheinlich verschiedenen Nationen an, obwohl der europäische Charakter bei allen ausgedrückt war. Ich erkannte, irrte ich nicht, Irländer, Franzosen, einige Slawen, einen Griechen und einen Kandioten. Übrigens waren diese Leute wortkarg und bedienten sich untereinander der seltsamen Sprache, über deren Ursprung ich nicht einmal eine Vermutung haben konnte. Ich musste also verzichten, sie zu fragen.

Die Garne wurden an Bord gezogen. Es waren eine Art Senknetze, weite Taschen, die mittels einer schwimmenden Stange und eingestrickten Schnur offengehalten und auf dem Meeresgrund fortgezogen den Boden kehrten und alle Erzeugnisse mit sich fortzogen. Damals förderten sie merkwürdige Musterexemplare jener fischreichen Gegenden zutage, auch einige größere, wie Skomber und Thunfische, und eine solche Menge, dass man den Fang

auf 1.000 Pfund schätzen konnte. Ein trefflicher Fang fürwahr, sodass wir an köstlicher Nahrung keinen Mangel hatten. Und solche Fischzüge waren bei der Schnelligkeit der ›Nautilus‹ und der anlockenden Kraft des elektrischen Lichts täglich zu wiederholen.

Diese verschiedenen Meeresprodukte wurden unverzüglich durch die Luke in die Vorratskammern hinabgelassen, um teils frisch verspeist, teils aufbewahrt zu werden.

Als der Fischfang beendigt, die Luftvorräte erneuert waren, dachte ich, die ›Nautilus‹ werde nun ihre unterseeische Fahrt fortsetzen, und ich war im Begriff, mich wieder in mein Zimmer zu begeben, als sich Kapitän Nemo ohne Weiteres, ohne guten Morgen, guten Abend, zu mir wendete und sagte:

»Sehen Sie diesen Ozean, Herr Professor, wie er mit wirklichem Leben begabt ist! Er schläft mit uns ein, die Sonne weckt ihn mit Liebkosungen wieder auf, und er gewinnt durch sie neues Leben jeden Tag. Es ist ein interessantes Studium, das Spiel seines Organismus zu verfolgen.«

Offenbar erwartete Kapitän Nemo keine Antwort von mir; er sprach vielmehr mit sich selbst, er dachte laut.

»Ja«, sagte er, »es findet im Ozean eine wahre Zirkulation statt, und um sie hervorzubringen, hat der Schöpfer ihm vielfach mehr Wärmestoff, Salz und die kleinen Tierchen gegeben. Der Wärmestoff bringt verschiedene Dichtheit hervor, welche die Ströme und Gegenströmungen verursacht. Die Ausdünstung, in den Nordpolgegenden gleich Null, in den heißen Zonen sehr tätig, ist der Grund einer fortdauernden Wechselströmung der tropischen und polaren Gewässer. Ferner habe ich das Geheimnis der Strömungen von oben nach unten und von unten nach oben wahrgenommen, die ein wahres Atmen des Ozeans bildet. Ich habe bemerkt, wie das Elementarteilchen des Meerwassers, an der Oberfläche erwärmt, wieder in die Tiefe sinkt, bei 2 Grad unter Null seine größte Dichtheit erreicht, dann sich noch weiter abkühlt, wodurch es leichter wird und wieder aufwärtssteigt. An den Polen sehen Sie die Folgen dieser Erscheinung und begreifen, weshalb nach diesem Gesetz der vorsorgenden Natur das Gefrieren nur an der Oberfläche des Wassers vorgehen kann!«

Hierauf betrachtete der Kapitän schweigend dieses so vollständig und so unablässig von ihm studierte Meer. Dann fuhr er fort:

»Die Salze sind in beträchtlicher Menge im Meer vorhanden, Herr Professor, und wenn man alles herauszöge, was es in aufgelöstem Zustand an Salzen enthält, so würde man eine Masse von 4 1/2 Millionen Kubiklieue bekommen, die, auf die Erdoberfläche verbreitet, eine 10 Meter dicke Schicht bilden würden. Und glauben Sie nicht, dass diese Salze nur infolge einer Laune der Natur im Meer vorhanden seien. Nein, sie machen, dass das Meerwasser wieder leicht verdunstet, und verhindern, dass die Winde ihm eine zu große Menge von Dünsten entziehen, die, indem sie sich im Wasser auflösen, die gemäßigten Zonen in Überschwemmung versetzen würden. Diese bedeutende ausgleichende Rolle spielen die Salze bei dem allgemeinen wirtschaftlichen System des Erdballs!«

Der Kapitän brach hier ab, stand auf, ging einige Schritte auf der Plattform, kam dann wieder zu mir und fuhr fort:

»Was die Infusionstierchen betrifft, diese Milliarden von Geschöpfen, die millionenweise in einem Tropfen existieren, von denen 800.000 1 Milligramm wiegen, so ist ihre Rolle nicht minder bedeutend. Sie verzehren die Meersalze, gesellen sich die festen Teile des Wassers zu, und indem sie die kalkartigen Bestandteile in Zusammenhang bringen, verfertigen sie Korallen und Madreporen! Wenn nun dem Wassertropfen seine mineralogische Nahrung entzogen ist, wird er dadurch leichter, steigt wieder zur Oberfläche auf, verschlingt da das durch Verdunstung aufgegebene Salz, wird dadurch schwer, sinkt wieder hinab und führt den Tierchen neue Elemente zum Verzehren zu. Daraus entsteht eine doppelte Strömung, aufwärts und abwärts, stets Bewegung, stets Leben! Das Leben tritt im Ozean innerlich stärker auf, üppiger strömend, unbegrenzter nach allen Richtungen sich verbreitend. Der Ozean, sagt man, ist ein Todeselement für den Menschen, ein Lebenselement für Myriaden Tiere – und für mich!«

Bei diesen Worten verklärte sich des Kapitäns Angesicht, was in mir eine außerordentliche Rührung hervorrief. Darauf, als wolle er einen schlimmen Gedanken verscheuchen, wendete er sich hastig zu mir und sagte:

»Herr Arronax, wissen Sie, wie tief der Ozean ist?«

»Ich weiß wenigstens, Kapitän, was die hauptsächlichen Sondierungen ergeben haben.«

»Könnten Sie mir diese angeben, um sie nötigenfalls zu berichtigen?«

»Ich will Ihnen einige mitteilen«, erwiderte ich, »die mir gerade einfallen. Irre ich nicht, so hat man eine mittlere Tiefe von 200 Meter im Norden des Atlantiks, und von 2.500 Meter im Mittelmeer angetroffen. Die merkwürdigsten Sondierungen sind im Süden des Atlantiks nächst dem 35. Grad vorgenommen worden, welche 12.000 Meter, 14.091 Meter und 15.149 Meter ergaben. Überhaupt genommen schätzt man, dass, wenn der Meeresgrund nivelliert wäre, seine mittlere Tiefe etwa 7 Kilometer betragen würde.«

»Gut, Herr Professor«, erwiderte Kapitän Nemo, »wir wollen Ihnen, hoffe ich, mehr zeigen als dies. Was die durchschnittliche Tiefe in diesem Teil des Pazifiks betrifft, so will ich Ihnen zeigen, dass sie nur 4.000 Meter beträgt.«

Nach diesen Worten ging Kapitän Nemo zu der Luke hin und verschwand die Leiter hinab. Ich folgte ihm nach und begab mich in den großen Saal. Die Schraube fing alsbald ihre Tätigkeit an, und das Log zeigte eine Schnelligkeit von 20 Meilen in der Stunde.

Während der folgenden Tage und Wochen war der Kapitän mit Besuchen sehr sparsam. Ich sah ihn nur in seltenen Zwischenräumen. Sein Leutnant machte regelmäßig die Aufnahme, die ich dann auf der Karte eingetragen fand, sodass ich die Fahrt der ›Nautilus‹

genau bestimmen konnte.

Conseil und Land brachten viel Zeit bei mir zu. Conseil erzählte seinem Freunde die merkwürdigen Begebenheiten unseres Spaziergangs, und nun tat es dem Kanadier leid, dass er uns nicht begleitet hatte. Doch hoffte ich, es werde sich noch einmal Gelegenheit ergeben, die Wälder des Ozeans zu besuchen.

Fast täglich öffneten sich einige Stunden lang die Läden des Salons, und unsere Augen konnten sich nicht sattsehen an den Geheimnissen der unterseeischen Welt.

Die allgemeine Richtung der ›Nautilus‹ war südöstlich, und sie hielt sich in der Tiefe von 100 bis 150 Meter. Einmal jedoch, ich

weiß nicht aus welcher Laune, kam er bis in die 2.000 Meter tiefen Schichten. Das Thermometer zeigte eine Temperatur von 4,25

Grad Celsius, welche Temperatur in dieser Tiefe unter allen Breitengraden gleich zu sein scheint.

Am 26. November, um 3 Uhr früh, fuhr die ›Nautilus‹ unter 172°

Länge über den Wendekreis des Krebses. Am 27. hatte sie die Sandwichinseln in Sicht, wo der Weltumsegler Cook am 14. Februar 1779 seinen Tod fand. Wir hatten damals seit unserer Abfahrt 4.860

Meilen zurückgelegt. Als ich morgens früh auf die Plattform kam, bemerkte ich, 2 Meilen unterm Wind, Hawai, die ansehnlichste von den sieben Inseln, die diesen Archipel bilden. Ich erkannte deutlich ihren angebauten Küstenrand, die verschiedenen Bergketten, die parallel zur Küste verlaufen, und seine Vulkane, die der Mouma Rea beherrscht, der 5.000 Meter über den Meeresspiegel ragt.

Die Richtung der ›Nautilus‹ blieb fortwährend südöstlich. Sie durchschnitt am 1. Dezember den Äquator, unter 142° Länge, und am 4. desselben Monats, nach einer raschen Fahrt ohne Zwischenfall, bekamen wir die Gruppe der Marquesasinseln zu sehen. In einer Entfernung von 3 Meilen, unter 8° 57ʹ südlicher Breite und 139° 32ʹ westlicher Länge, gewahrte ich die Spitze Martin von Nukahiva, der Hauptinsel dieser Frankreich angehörigen Gruppe. Ich sah nur die bewaldeten Berge, die sich am Horizont abzeichneten, denn Kapitän Nemo hatte keine Lust, dem Land näher zu kommen.

Nachdem wir diese reizenden, unterm Schutz der französischen Flagge stehenden Inseln verlassen hatten, legte die ›Nautilus‹ vom 4. bis 11. Dezember etwa 2.000 Meilen zurück. Bei dieser Fahrt stießen wir auf eine ungeheure Menge Kalmar, merkwürdige Mollusken, die den Tintenfischen nahkommen. Die ›Nautilus‹ traf in der Nacht vom 9. zum 10. Dezember auf dieses Molluskenheer; man konnte ihrer Millionen zählen. Sie zogen aus den gemäßigten Strichen nach den wärmeren, indem sie dem Zug der Heringe und Sardinen folgten. Wir betrachteten sie durch die dichten Glasfenster, wie sie äußerst schnell rückwärts schwammen, mittels ihrer Bewegungsröhre sich fortbewegten, die Fische und Mollusken verfolgten, indem sie die kleinen fraßen, von den großen gefres

sen wurden, und in einem unbeschreiblichen Gewimmel die zehn Füße bewegten, die ihnen die Natur auf den Kopf gesetzt hat. Die ›Nautilus‹ fuhr, ungeachtet ihrer Schnelligkeit, doch mehrere Stunden lang mitten durch diese Truppe, und ihre Garne fingen eine ungeheure Menge von ihnen.

Man sieht, während dieser Fahrt ließ uns das Meer unablässig

seine Merkwürdigkeiten reichlich schauen, in unendlicher Abwechslung. Die Szenen und Dekorationen änderten sich zu unserer Augenweide, und wir waren dadurch imstande, nicht nur die Werke des Schöpfers mitten in ihrem Element zu betrachten, sondern auch in die gefürchtetsten Geheimnisse des Ozeans zu dringen.Während des 11. Dezember war ich im großen Saal mit Lesen beschäftigt. Ned Land und Conseil betrachteten die erleuchteten Gewässer durch die Fenster bei geöffneten Läden. Die ›Nautilus‹

war unbeweglich. Als ihre Behälter gefüllt waren, hielt sie sich in einer Tiefe von 1.000 Metern, einer wenig bewohnten Region des Ozeans, wo die großen Fische selten erscheinen.

Ich las eben ein reizendes Buch von Jean Macé, als Conseil mich mit einem sonderbaren Ton unterbrach.

»Mein Herr, kommen Sie doch einen Augenblick«, sagte er.

»Was gibt’s da, Conseil?«

»Schauen Sie doch, mein Herr.«

Ich stand auf, setzte mich vor das Fenster und schaute.

Umgeben vom elektrischen Licht schwebte eine große schwärzliche Masse mitten im Gewässer. Ich betrachtete sie aufmerksam, bemüht, die Beschaffenheit dieses riesenhaften Tieres zu erkennen.

Da fuhr ein Gedanke plötzlich mir durch den Kopf.

»Ein Schiff !« rief ich aus.

»Ja«, erwiderte der Kanadier, ein reedeloses Fahrzeug, das untergesunken ist.«

Ned Land irrte nicht. Wir hatten ein Schiff vor uns, dessen abgehauene Taue noch an ihren Ketten herabhingen. Sein Rumpf schien in gutem Zustand, und der Schiffbruch musste erst vor wenigen Stunden erfolgt sein. Drei Reststücke der 2 Fuß über dem Verdeck abgehauenen Masten zeigten, dass dies Schiff in seiner Not hatte seine Masten opfern müssen. Aber es hatte sich, auf der Seite liegend, gefüllt. Sein Verdeck zeigte den traurigen Anblick von vier Leichen, die im Tauwerk festgehalten, noch dalagen! Ich zählte deren vier – vier Männer, von denen einer am Steuerruder aufrecht stand – sodann eine Frau, die halb aus der Luke des Hinterverdecks herausgekommen, ein Kind in den Armen hielt. Es war eine junge

Frau. Ich konnte bei der hellen Beleuchtung durch die ›Nautilus‹

ihre noch nicht entstellten Züge erkennen. Mit äußerster Anstrengung hatte sie ihr Kind über den Kopf gehoben. Die vier Matrosen sahen schrecklich aus, da sie mit krampfhaften Bewegungen von dem Tauwerk, das sie fesselte, sich loszumachen getrachtet hatten.

Nur der Steuerer, mit ernstem Gesicht, ruhig das Steuerruder in der krampfhaften Hand, schien noch seinen Dreimaster zu leiten.

Stumm, mit klopfendem Herzen starrten wir den hier gleichsam fotografierten Schiffbruch an! Schon sah ich mit gierigen Blicken Haifische, vom Menschenfleisch herbeigelockt, herankommen!

Indessen fuhr die ›Nautilus‹ um das gesunkene Schiff herum, und ich konnte auf einem Schild lesen:

Florida, Sunderland.

 


19. KAPITEL

Vanikoro

Dieser fürchterliche Anblick war das Vorspiel zu Katastrophen, denen die ›Nautilus‹ auf ihrer Fahrt begegnen sollte. Seit sie sich in stärker befahrenen Gegenden bewegte, gewahrten wir oft gescheiterte Schiffsrümpfe, die ganz verfault waren, und mehr in der Tiefe Kanonen, Kugeln, Anker, Ketten und tausend andere eiserne, von Rost zerfressene Gegenstände.

Inzwischen kamen wir, in ununterbrochener rascher Fahrt auf der ›Nautilus‹ isoliert, am 11. Dezember zu dem Pomotou-Archipel, der früher »gefährlichen Gruppe« Bougainville, die sich über 500 Meilen weit von Ost-Süd-Ost nach West-Nord-West hin erstreckt, zwischen 13° 30ʹ und 23° 50ʹ südlicher Breite und 125°

30ʹ und 151° 30ʹ westlicher Länge. Dieser Archipel nimmt eine Fläche von 370 Quadratlieue ein und besteht aus etwa 60 Inselgruppen, worunter die Gruppe Gambier, die unter französischem Protektorat steht. Diese Inseln sind aus Korallen entstanden. Die langsame, aber ununterbrochene Arbeit der Polypen wird sie einst miteinander in Verbindung bringen. Dann wird diese neue Insel später mit den benachbarten Archipelen zusammenwachsen, und von Neuseeland und Neu-Caledonien bis zu den Marquesas wird ein neuer Kontinent entstehen.

Als ich diese Ansicht gegenüber Kapitän Nemo äußerte, entgegnete er kalt:

»Nicht neuer Kontinente bedarf’s auf der Erde, sondern neuer Menschen!«

Die ›Nautilus‹ gelangte weiter auf ihrer Fahrt zur Insel Clermont-Tonnère, einer der merkwürdigsten der im Jahr 1822 von Kapitän Bell auf der Minerva entdeckten Gruppe. Da konnte ich recht studieren, wie die Inseln dieses Ozeans aus Madreporen oder Seesternen entstanden sind.

Die Madreporen, die man ja nicht mit den Korallen verwechseln darf, haben ein mit Kalküberzug bekleidetes Gewebe, und nach Verschiedenheit der Struktur desselben hat Milne-Edwards sie in fünf Abteilungen geordnet. Die kleinen Tierchen, die diese Polypengehäuse durch Absonderung bilden, leben zu Milliarden im Innern ihrer Zellen, und was sie an Kalkgebilden absetzen, wird zu Felsen, Riffen, Eilanden, Inseln. Hier bilden sie einen kreisrunden Ring, der einen Binnensee umgibt, der durch Lücken mit dem Meer in Verbindung gesetzt ist; dort gestalten sich Schutzmauern von Riffen wie diejenigen, die sich an den Küsten Neu-Caledoniens und verschiedener Pomotou-Inseln finden. An anderen Stellen, wie bei Réunion und St. Moritz, errichten sie ausgezackte Riffe, hohe, gerad aufgebaute Felswände neben unergründlichen Tiefen des Ozeans.

Indem wir nur einige Kabellängen weit von den steilen Küsten der Insel Clermont-Tonnère vorüberfuhren, konnte ich das Riesenwerk, das diese mikroskopischen Arbeiter vollführten, staunend bewundern. Diese Felswände waren speziell das Werk von Madreporenarten, die mit besonderen Namen Milleporen, Poriten, Mäandrinen genannt werden. Diese Polypen entwickeln sich vorzugsweise in den bewegten Schichten der Meeresoberfläche, und folglich fangen sie ihre unterseeischen Bauten von oben an, und sie dringen mit den Trümmern von Ablagerungen, welche die Grundlagen bilden, allmählich immer tiefer. Dies ist wenigstens die Theorie Darwins, welche die Bildung der Atolle erklärt – eine Theorie, die meines Erachtens den Vorzug vor derjenigen hat, die von der Annahme ausgeht, die Basis der madreporischen Arbeiten seien Gipfel von Bergen oder Vulkanen, die einige Fuß unter dem Meeresspiegel sich befänden.

Ich konnte diese merkwürdigen Felswände ganz aus der Nähe beobachten, denn an ihrer senkrechten Seite ließ die Sonde mehr als 300 Meter Tiefe erkennen, und in unseren elektrischen Streiflichtern erglänzte der schimmernde Kalkstein.

Conseil fragte mich über die Dauer, seit diese kolossalen Felswände aufgewachsen seien, und geriet in großes Staunen, als ich ihm sagte, die Gelehrten schlügen diesen Zuwachs auf ein Achtel eines Zolls binnen einem Jahrhundert an.

»Also, um diese Wände aufzubauen«, sagte er, »bedurfte es ...?«

»192.000 Jahre, mein wackerer Conseil, wodurch die Tage der Bibel sehr lange werden. Übrigens hat die Braunkohlenbildung, d.h. die Mineralisation der von den Überschwemmungen versunkenen Wälder, eine weit beträchtlichere Zeit erfordert. Aber ich füge bei, dass die in der Bibel als Tage bezeichneten Zeiträume nur Epochen bedeuten und nicht die Zeit von einem Sonnenaufgang bis zum folgenden, denn laut ebendieser Bibel war die Sonne am ersten Schöpfungstage noch nicht vorhanden.«

Als die ›Nautilus‹ wieder zur Meeresoberfläche kam, konnte ich die Insel Clermont-Tonnère, die niedrig und bewaldet ist, in ihrer ganzen Ausdehnung überblicken. Ihre madreporischen Felsen wurden offenbar durch Tromben und Stürme zur Fruchtbarkeit gebracht. Einst fiel ein Samenkörnlein, vom Sturmwind aus benachbartem Festland hergetragen, auf Kalkgrund vermischt mit verwesten Teilen von Fischen und Seepflanzen, die Pflanzen nährenden Humus bildeten. Eine Kokusnuß trieb auf den Wellen an diese neue Küste. Der Keim wurzelte. Der heranwachsende Baum hemmte die Wasserverdunstung. Es entstand ein Bach. Allmählich nahm die Vegetation zu. Einige Tierchen, Würmer, Insekten kamen auf Baumstämmen, die der Wind von den Inseln weggetrieben hatte. Es kamen Schildkröten und brüteten ihre Eier aus.

Vögel nisteten in dem jungen Baumschlag. Dergestalt kam das animale Leben zur Entwickelung, und angezogen vom Grünen und der Fruchtbarkeit, erschien der Mensch. Also bildeten sich diese Inseln, unermessliche Werke mikroskopischer Tiere.

Gegen Abend schwand Clermont-Tonnère in der Ferne aus den Augen, und die Fahrt der ›Nautilus‹ änderte merklich ihre Rich

tung. Nachdem sie unterm 135. Grad der Länge den Wendekreis des Steinbocks berührt hatte, wendete sie sich nach West-Nord-West und durchlief nochmals die ganze tropische Zone. So reichlich die Sommersonne ihre Strahlen warf, so hatten wir durchaus nicht von der Hitze zu leiden, denn 30 bis 40 Meter unterm Wasserspiegel stieg die Temperatur nicht über 10 bis 12 Grad.

Am 15. Dezember ließen wir östlich den reizenden Archipel der Gesellschaftsinseln und das anmutige Tahiti. Frühmorgens erblickte ich einige Meilen unterm Wind die hohen Gipfel dieser Insel. Ihre Gewässer lieferten den Tafeln an Bord köstliche Fische, Makrelen, Bonite und Varietäten einer Meerschlange, Munerophis genannt.

Die ›Nautilus‹ hatte damals 8.100 Meilen zurückgelegt. Als das Log 9.720 Meilen zeigte, fuhr sie durch den Archipel von Tonga-Tabou, wo die Mannschaften der ›Argo‹, der ›Port-au-Prince‹ und der ›Duke of Portland‹ umkamen, und den Archipel der Schifferinseln, wo La Pérouses Freund, der Kapitän de Langle, seinen Tod fand. Darauf bekam er den Archipel Viti in Sicht, wo die Matrosen der Union und der Kommandant der ›Aimable Josephine‹, Kapitän Bureau, von den Wilden erschlagen wurden.

Dieser Archipel, der aus einer Anzahl Inseln, Eilande und Klippen besteht, worunter Viti-Levou und Vanoua-Levou bemerkenswert, liegt zwischen 6 ůnd 20° südlicher Breite und 174° bis 179°

westlicher Länge. Die Gruppe wurde von Tasman im Jahr 1643 entdeckt, dem Jahr der Thronbesteigung Ludwigs XIV. und der Erfindung des Barometers durch Toricelli. Welches von diesen drei Ereignissen der Menschheit nützlicher gewesen, steht zu erwägen.

Darauf kamen Cook im Jahr 1714, d’Entrecasteaux 1793, und endlich entwirrte Dumont d’Urville 1827 das ganze geografische Chaos dieses Archipels. Die ›Nautilus‹ näherte sich der Bai Wailon, dem Schauplatz der fürchterlichen Erlebnisse des Kapitäns Dillon, der zuerst das Geheimnis von La Pérouses Schiffbruch aufklärte.

Diese Bai liefert treffliche Austern in reichlicher Menge. Wir genossen sie im Übermaß, und wenn Meister Ned dabei nicht seine Gefräßigkeit zu bereuen hatte, so kam es daher, weil die Auster das einzige Gericht ist, das niemals Verdauungsbeschwerden macht.

Und wirklich bedarf es nicht weniger als 16 Dutzend dieser Mollusken, um die 315 Gramm Stickstoff zu liefern, die ein einziger Mensch zur Tagesnahrung braucht. Sie gehören zu der bekannten, in Korsika sehr häufigen Gattung Ostrea lamellosa. Diese Austernbänke, die bedeutende Anhäufungen bilden, sind imstande, wenn nicht vielfache Ursachen ihre Zerstörung bewirken, die Baien auszufüllen, denn man zählt in einem einzigen Stück bis 2 Millionen Eier.Am 25. Dezember schiffte die ›Nautilus‹ mitten durch den Archipel der Neu-Hebriden, die 1606 von Quirot entdeckt, 1768 von Bougainville erforscht wurden und von Cook 1773 ihren jetzigen Namen bekamen. Diese Gruppe besteht hauptsächlich aus neun großen Inseln, die in einer Reihe zwischen 15 ůnd 2° südlicher Breite und 164° bis 168° Länge liegen. Wir kamen ziemlich nah bei der Insel Aurou vorbei, die mir wie eine Masse grüner Waldung vorkam, woraus ein hoher Pik hervorragte.

Es war diesen Tag Weihnachten, und Ned Land schien mir sehr das Christfest zu vermissen, diese Familienfreude, worauf die Protestanten so viel halten.

Seit 8 Tagen hatte ich Kapitän Nemo nicht gesehen, als er am 27.

morgens früh in den großen Salon trat, wie ich eben auf der Karte die Fahrt der ›Nautilus‹ zu verfolgen beschäftigt war. Der Kapitän trat herzu, legte einen Finger auf einen Punkt der Karte und sprach nur das Wort:

»Vanikoro.«

Dieser Name wirkte magisch. Er bezeichnete die Eilande, wo einst La Pérouses Schiffe verloren gingen. Ich stand augenblicklich auf.»Die ›Nautilus‹ fährt nach Vanikoro?« fragte ich.

»Ja, Herr Professor«, erwiderte der Kapitän.

»Und ich könnte die berühmten Inseln besuchen, wo die ›Boussole‹ und die ›Astrolabe‹ zugrunde gingen?«

»Wenn es Ihnen beliebt, Herr Professor.«

»Wenn werden wir zu Vanikoro anlangen?«

»Wir sind schon da, Herr Professor!«

Ich begleitete Kapitän Nemo auf die Plattform, wo meine Blicke begierig über den Horizont schweiften.

Nordöstlich kamen zwei vulkanische Inseln von ungleicher Größe zum Vorschein, um die sich ein Korallenriff von 40 Meilen Umfang zog. Wir befanden uns vor der eigentlich Vanikoro genannten Insel, der Dumont d’Urville den Namen ›Recherche‹ gab,

und gerade vor dem kleinen Hafen Vanou, unter 16° 4ʹ südlicher Breite und 164° 32ʹ Länge. Das Land schien von der Küste bis zu den Gipfeln des Innern mit Grün bedeckt, die der 2.850 Fuß hohe Kapogo überragt.

Nachdem die ›Nautilus‹ durch eine enge Fahrt in den äußeren Felsengürtel eingefahren war, befand sie sich innerhalb der Brandung, wo das Meer 30 bis 40 Klafter tief war. Unter dem grünen Schatten üppigen Baumwuchses gewahrte ich einige Wilde, die, bei unserer Annäherung eine außerordentliche Bestürzung zeigten.

Sie sahen wohl in dem langen schwärzlichen Körper, der auf dem Meeresspiegel herankam, nur ein fürchterliches Seetier, das sie mit Misstrauen ansahen.

In dem Augenblick fragte mich Kapitän Nemo, was ich von La Pérouses Schiffbruch wisse.

»Was jedermann weiß, Kapitän«, erwiderte ich.

»Und können Sie mir sagen, was jedermann weiß?« fragte er mit etwas ironischem Ton.

»Sehr leicht.«

Ich erzählte ihm, was die letzten Arbeiten Dumont d’Urvilles mitgeteilt hatten, wie ich kurz hier berichten will.

La Pérouse und sein Unterbefehlshaber, Kapitän de Langle, wurden von Ludwig XVI. im Jahr 1785 ausgeschickt, um eine Weltumsegelung vorzunehmen. Sie fuhren mit den Corvetten ›Boussole‹

und ›Astrolabe‹ ab, kehrten aber nicht wieder zurück.

Im Jahr 1791 rüstete die französische Regierung, die mit Recht um das Schicksal der beiden Corvetten besorgt war, zwei große Schiffe aus, ›Recherche‹ und ›Espérance‹, die am 28. September unter dem Kommandanten Bruni d’Entrecasteaux von Brest absegelten. 2 Monate nachher vernahm man durch die Aussage eines gewissen Bowen, Kommandant des ›Albermale‹, dass die Trümmer gescheiterter Schiffe an den Küsten Neu-Georgiens gesehen worden waren. Aber d’Entrecasteaux, der von dieser – zudem ziemlich unbestimmten – Mitteilung nichts wusste, fuhr in der Richtung der Admiralitätsinseln, die in einem Bericht des Kapitäns Hunter als die Gegend des Schiffbruchs La Pérouses bezeichnet waren.

Seine Nachforschungen waren fruchtlos. Die ›Espérance‹ und

›Recherche‹ fuhren selbst vor Vanikoro vorüber, ohne dort anzuhalten, und überhaupt war diese Fahrt sehr unglücklich, denn sie kostete das Leben des Kommandanten, zweier Unterbefehlshaber und einiger Leute von der Bemannung.

Ein alter, im Pazifik sehr bewanderter Kapitän, Dillon, fand zuerst unbestreitbare Spuren der Schiffbrüchigen. Am 15. Mai 1825

fuhr er auf dem St. Patrick bei der Insel Tikopia vorüber, die zu den Neu-Hebriden gehört. Hier kam ein Laskare auf einem Boot und verkaufte ihm einen silbernen Degengriff mit einer eingegrabenen Inschrift. Er versicherte auch, er habe 6 Jahre zuvor, während eines Aufenthalts zu Vanikoro, zwei Europäer gesehen, denen Schiffe angehörten, die vor langen Jahren an den Riffen der Insel gescheitert seien.

Dillon vermutete, dass es sich um die Schiffe La Pérouses handle, an deren Verschwinden die ganze Welt Anteil genommen hatte. Er wollte sich nach Vanikoro begeben, wo nach Angabe des Laskaren zahlreiche Reste von dem Schiffbruch her sich finden sollten; aber die Winde und Strömungen verhinderten es.

Dillon kam nach Calcutta zurück, wo er die Asiatische Gesellschaft und die Indische Kompanie für seine Entdeckung zu interessieren wusste. Es wurde ihm ein Schiff, dem er den Namen

›Recherche‹ gab, zur Verfügung gestellt, und er fuhr am 23. Januar 1827 in Begleitung eines französischen Agenten ab.

Die ›Recherche‹ warf, nachdem sie an verschiedenen anderen Punkten angehalten, am 7. Juli 1827 vor Vanikoro Anker in demselben Hafen Vanou, wo die ›Nautilus‹ eben lag.

Hier sammelte er zahlreiche Reste des Schiffbruchs, eiserne Geräte, Anker, Steinböller, eine 18pfündige Kugel, Trümmer von astronomischen Instrumenten, eine bronzene Glocke mit der Inschrift: »Bazin hat mich verfertigt«, die das Kennzeichen der Gießerei des Arsenals zu Brest um 1785 war. Es war also ferner kein Zweifel mehr statthaft.

Dillon blieb zur Vervollständigung seiner Nachforschungen noch bis zum Oktober an der Unglücksstätte, darauf verließ er Vanikoro, fuhr über Neuseeland nach Calcutta, wo er am 7. April 1828

ankerte, und kehrte nach Frankreich zurück, wo er von Karl X.

höchst freundlich empfangen wurde.

Bereits aber war Dumont d’Urville, ohne dass er von Dillons Bemühungen etwas wusste, abgesegelt, um den Schauplatz des Schiffbruchs anderwärts zu suchen. Und in der Tat hatte man aus Berichten eines Walfischfängers entnommen, dass sich Medaillen und ein Kreuz des heiligen Ludwig in Händen der Wilden Neu-Caledoniens und der Louisiade befänden.

Dumont d’Urville, Kommandant der ›Astrolabe‹, war also auf der Fahrt und ankerte, 2 Monate nachdem Dillon Vanikoro verlassen hatte, vor Hobart Town. Hier bekam er Kunde von den Resultaten der Bemühungen Dillons und erfuhr weiter, ein gewisser James Hobbs, Unterbefehlshaber der Union zu Calcutta, habe bei einer Landung auf einer Insel unter 8° 18ʹ südlicher Breite und 156° 30ʹ östlicher Länge eiserne Stangen und rote Stoffe in den Händen der Eingeborenen jener Gegenden wahrgenommen.

Dumont d’Urville, etwas verlegen, da er nicht wusste, ob den wenig zuverlässigen Zeitungsberichten Glauben beizumessen sei, entschloss sich, Dillons Spur zu folgen.

Am 10. Februar 1828 erschien die ›Astrolabe‹ vor Tikopia, nahm zum Führer und Dolmetscher einen auf dieser Insel sesshaften Deserteur, fuhr weiter nach Vanikoro, das sie am 12. Februar in Sicht bekam, hielt sich etwas auf den Riffen auf, und kam erst am 20. im Hafen von Vanou an, wo sie ankerte. Am 23. begaben sich einige Offiziere auf die Insel und brachten einige unbedeutende Trümmer mit. Die Eingeborenen verlegten sich auf Ausflüchte und Ableugnen und wollten sie nicht an die Unglücksstätte führen. Dies verkehrte Benehmen ließ glauben, sie hätten die Schiffbrüchigen misshandelt; und sie schienen in der Tat Angst zu haben, Dumont d’Urville sei gekommen, um La Pérouse und seine Unglücksgenossen zu rächen.

Doch ließen sie sich am 26. durch Geschenke und beruhigende Versicherungen bestimmen, den Unterbefehlshaber Jacquinot auf die Stätte des Schiffbruchs zu führen.

Dort lagen 3 bis 4 Klafter tief, zwischen den Riffen Pacou und Vanou, Anker, Kanonen, Blöcke, Eisen und Blei, von Kalksteinmasse umgeben. Die Schaluppe und das Walfischboot der ›Astrolabe‹ wurden an diese Stelle entsendet, und es gelang der Bemannung nur nach langen Beschwerden, einen Anker von 18 Zentnern, eine Kanone von 8, Bleiblöcke und 2 kupferne Steinmörser herauszuziehen.

Dumont d’Urville vernahm auf Befragen der Eingeborenen, dass La Pérouse, nachdem er seine beiden Schiffe auf den Riffen der Insel verloren, ein kleineres Fahrzeug bauen ließ, um damit abermals zugrunde zu gehen ... Wo? Wusste man nicht.

Der Kommandant der ›Astrolabe‹ ließ darauf unter einem Buschwerk von Mangobäumen ein Denkmal zum Andenken an den berühmten Seefahrer und seine Genossen errichten. Es bestand in einer einfachen vierseitigen Pyramide auf einer Korallenbasis; und es wurde nichts von Eisen dabei angebracht, was die Begierde der Eingeborenen reizen konnte.

Als darauf Dumont d’Urville abreisen wollte, wurde er durch Krankheiten seiner Mannschaft zurückgehalten und selbst sehr krank, sodass er erst am 17. März unter Segel gehen konnte.

Inzwischen hatte die französische Regierung, in Besorgnis, Dumont d’Urville habe keine Kenntnis von Dillons Arbeiten, die Corvette La Bayonnaise unter dem Kommando von Legoarant de Tromelin nach Vanikoro geschickt. Sie kam dort einige Monate nach der Abfahrt der ›Astrolabe‹ an und überzeugte sich, dass die Wilden das Grabdenkmal La Pérouses unverletzt gelassen hatten.

Dies ist der Inhalt dessen, was ich Kapitän Nemo berichtete.

»Also«, sagte er, »man weiß noch nicht, wo das dritte, von den Schiffbrüchigen erbaute Schiff zugrunde gegangen ist?«

»Nein.«

Kapitän Nemo, ohne mir zu antworten, winkte mir, ihm in den großen Saal zu folgen. Die ›Nautilus‹ tauchte einige Meter unter das Wasser, und die Läden öffneten sich.

Ich eilte an das Fenster und erkannte unter Korallen versenkt, mit Seepflanzen überdeckt, mitten unter zahllosen reizenden Fischen etliche Trümmer, welche die Suchmaschinen nicht hatten fassen können, lauter Gegenstände gescheiterter Schiffe.

Und während ich diese öden Reste anschaute, sagte Kapitän Nemo mit ernster Stimme:

»Der Kommandant La Pérouse fuhr am 7. Dezember 1785 mit seinen Schiffen ›Boussole‹ und ›Astrolabe‹ ab. Er ankerte zuerst in der Botany Bay, besuchte den Freundschaftsarchipel, Neu-Caledonien, wendete sich dann gegen Santa Cruz und hielt zu Namouka an, einer Insel der Hapaï-Gruppe. Darauf gerieten seine Schiffe auf die ihm unbekannten Riffe von Vanikoro. Die ›Boussole‹, die voran fuhr, blieb bei der südlichen Küste stecken. Die ›Astrolabe‹ kam ihr zum Beistand und scheiterte ebenfalls. Das erstere Schiff ging fast unverzüglich in Trümmer. Das zweite, das unterm Wind festsaß, widerstand einige Tage. Die Eingeborenen nahmen die Schiffbrüchigen ziemlich gut auf. Diese richteten sich auf der Insel ein und erbauten ein anderes, kleineres Schiff aus den Trümmern der beiden großen. Einige Matrosen blieben freiwillig zu Vanikoro zurück; die anderen, erschöpft und krank, fuhren mit La Pérouse. Sie wendeten sich zu den Salomonsinseln und gingen samt und sonders auf der Ostküste der Hauptinsel dieser Gruppe, zwischen Kap Deception und Kap Satisfaction, zugrunde!«

»Und woher wissen Sie dies?« rief ich aus.

»Hier sehen Sie, was ich an der Stelle des zweiten Schiffbruchs gefunden habe!«

Darauf zeigte mir Kapitän Nemo eine blecherne Büchse, die mit dem Wappen Frankreichs gestempelt und ganz von Salzwasser zerfressen war. Er öffnete sie, und ich sah einen Pack vergilbter, doch noch lesbarer Papiere. Es waren die Originalinstruktionen des Marineministers für Kommandant La Pérouse, mit Randbemerkungen von der Hand Ludwigs XVI.

»Ach! Ein schöner Tod für einen Seemann!« sagte darauf Kapitän Nemo. Dieses Korallengrab ist eine ruhige Gruft, und gebe der Himmel, dass ich mit meinen Gefährten nie ein anderes bekomme!«

 


20. KAPITEL

Die Torresstraße

Während der Nacht vom 27. zum 28. Dezember fuhr die ›Nautilus‹ mit außerordentlicher Schnelligkeit aus den Gewässern von Vanikoro heraus in südwestlicher Richtung, und in 3 Tagen legte sie die 750 Lieue zurück, welche die Gruppe La Perouse von der südöstlichen Spitze Papuasiens trennen.

Am 1. Januar 1868 kam in aller Früh Conseil auf die Plattform zu mir.

»Mein Herr«, sagte zu mir der wackere Junge, »darf man Ihnen ein glückliches neues Jahr wünschen?«

»Warum nicht, Conseil, aber gerade als wäre ich zu Paris in meinem Kabinett des Jardin des Plantes. Ich nehme deine Wünsche an und danke dir dafür. Nur will ich dich fragen, was verstehst du unter ›einem glücklichen neuen Jahr‹ unter den Umständen, worin wir uns befinden? Meinst du damit, dass dies Jahr unsere Gefangenschaft endigen würde oder dass wir dies Jahr eine Fortsetzung dieser seltsamen Reise erleben werden?«

»Wahrhaftig«, erwiderte Conseil, »ich weiß meinem Herrn nicht darauf zu antworten. Zuverlässig erleben wir merkwürdige Dinge, und seit 2 Monaten hatten wir nicht die Zeit, uns zu langweilen.

Das letztere Wunder ist stets das staunenswertere, und wenn diese Steigerung so fortdauert, weiß ich nicht, wie dies endigen wird. Ich bin der Meinung, wir werden eine solche Gelegenheit nie wieder bekommen.«

»Niemals, Conseil.«

»Zudem, Herr Nemo, der wohl seinen lateinischen Namen rechtfertigt, geniert uns ebenso wenig, als wenn er nicht auf der Welt wäre.«

»Wie du sagst, Conseil.«

»Ich denke also, wenn’s meinem Herrn beliebt, ein gutes Jahr wäre ein Jahr, das uns alles zu sehen vergönnte ...«

»Alles zu sehen, Conseil? Das würde vielleicht zu lange dauern.

Aber was hält Meister Ned Land davon?«

»Ned Land ist genau der entgegengesetzten Meinung wie ich«, erwiderte Conseil. »Es ist ein positiver Geist und ein gebieterischer Magen. Die Fische betrachten und stets solche verzehren genügt ihm nicht. Der Mangel an Wein, Brot und Fleisch will einem würdigen Sachsen, der an Beefsteaks gewöhnt und dem eine mäßige Portion Branntwein nicht zuwider ist, nicht zusagen!«

»Ich meinesteils, Conseil, finde darin keine Pein, und ich richte mich gern nach der Regel an Bord.«

»Ich gleichfalls«, erwiderte Conseil. »Auch denke ich ebenso eifrig an das Hierbleiben, als Ned Land ans Entfliehen. Demnach, wenn das beginnende Jahr nicht glücklich für mich ist, wird es für ihn gut sein, und umgekehrt. Dann ist stets einer befriedigt. Endlich, zum Schluss, wünsche ich meinem Herrn, was ihm das Herz erfreut.«

»Danke, Conseil. Nur muss ich dich bitten, die Frage des Neujahrsgeschenks zu verschieben und es einstweilen durch einen herzlichen Handschlag ersetzen zu lassen. Etwas anderes hab’ ich nicht bei mir.«

»Mein Herr ist nie so freigebig gewesen«, erwiderte Conseil.

Hierauf entfernte sich der gute Junge.

Am 2. Januar hatten wir 11.340 Meilen seit unserer Abfahrt aus den Gewässern Japans zurückgelegt. Vor dem Schnabel der ›Nautilus‹ lagen die gefährlichen Gegenden des Korallenmeers an der Nordostküste Australiens. Unser Fahrzeug fuhr einige Meilen weit neben dieser fürchterlichen Bank her, an der Cooks Schiffe am 10.

Juni 1770 beinah gescheitert wären. Das Fahrzeug, worauf Cook sich befand, stieß auf einen Felsen, und dass es nicht untersank, war dem Umstand zu verdanken, dass das durch den Stoß losgetrennte Korallenstück in dem Leck des Rumpfs stecken blieb.

Ich hätte lebhaft gewünscht, dieses 360 Lieue lange Riff zu besuchen, an dem das stets unruhige Meer mit fürchterlicher Stärke und donnerähnlichem Getöse sich brach. Aber in diesem Augenblick wurden wir von der ›Nautilus‹ in eine große Tiefe hinabgezogen, und ich konnte von den hohen Korallenwänden nichts mehr sehen.

2 Tage nachdem wir durch das Korallenmeer gefahren, am 4. Januar, bekamen wir die Küsten von Papuasien in Sicht. Kapitän Nemo ließ mich wissen, dass er durch die Straße Torres den Indischen Ozean besuchen wolle. Diese gilt für ebenso gefährlich durch ihre Klippen als durch ihre wilden Bewohner. Sie scheidet Neu-Holland von der großen Insel Papuasien, die auch Neuguinea genannt wird.

Die Insel Papuasien ist 400 Lieue lang bei 130 Breite, und ihr Flächeninhalt beträgt 40.000 geografische Meilen. Sie liegt zwischen 0° 19ʹ und 10° 2ʹ südlicher Breite und zwischen 128° 23ʹ

und 146° 15ʹ Länge. Um 12 Uhr, als der Schiffsleutnant den Stand der Sonne aufnahm, gewahrte ich die Gipfel des Gebirges Arfalxs, das aus den Ebenen stufenmäßig zu steilen Spitzen aufsteigt.

Dieses Land wurde 1511 von den Portugiesen entdeckt, und seitdem häufig von den Entdeckungsreisenden besucht, neuerdings von Duperrey 1823 und Dumont d’Urville 1827. Es ist, wie man gesagt hat, »der Herd der Schwarzen, die ganz Malayenland bewohnen«, und ich zweifelte nicht, dass ich bei dieser Fahrt die gefürchteten Andamanen kennenlernen würde.

Die ›Nautilus‹ war also am Eingang der gefährlichsten Enge des ganzen Erdballs, in welche die kühnsten Seefahrer kaum zu dringen wagen, worin 1840 die Corvetten Dumont d’Urvilles scheiterten und auf dem Punkt waren, völlig zugrunde zu gehen. Dennoch war die ›Nautilus‹, die allen Gefahren gewachsen war, im Begriff sich mit den Korallenriffen bekannt zu machen.

Die Straße Torres ist ungefähr 30 Lieue breit, aber mit einer unzähligen Menge Inseln, Eilanden, Klippen, Felsen bedeckt, welche die Durchfahrt sehr schwierig machen. Deshalb traf auch Kapitän Nemo alle möglichen Vorsichtsmaßregeln. Die ›Nautilus‹ fuhr an der Oberfläche nur langsam vorwärts.

Ich benutzte mit meinen beiden Gefährten diesen Umstand, um auf der Plattform mich umzusehen. Vor uns befand sich das Gehäuse des Steuerers, und irre ich nicht sehr, so befand sich der Kapitän selbst darinnen, seine ›Nautilus‹ zu leiten.

Ich hatte die vortrefflichen Karten der Torresstraße vor mir, die von Vincendon Dumoulin und Coupvent-Desbois, die zu dem Stab Dumont d’Urvilles bei seiner letzten Reise gehörten, herausgegeben wurden und neben denen von Kapitän King die besten sind, um in dem Gewirre dieser Straße sich zu orientieren.

Das Meer brauste wütend um die ›Nautilus‹ her. Die Strömung der Wogen, die mit einer Geschwindigkeit von 2 1/2 Meilen von Süd-Ost nach Nord-West trieb, brach sich an den Korallen, deren Spitzen hier und da hervorragten.

»Das ist ein schlimmes Meer!« sagte Ned Land.

»Abscheulich«, erwiderte ich, »und für ein Fahrzeug wie die

›Nautilus‹ wirklich nicht passend.«

»Der verdammte Kapitän«, versetzte der Kanadier, »muss wohl seiner Fahrt sehr sicher sein, denn ich sehe da Korallenklumpen, die seinen Rumpf zertrümmern könnten, wenn er nur daran herstriche!«

Die Lage war in der Tat gefährlich, aber die ›Nautilus‹ schien wie durch Zauber inmitten der fürchterlichen Klippen hindurchzugleiten. Sie folgte nicht genau der Linie, welche die ›Astrolabe‹

eingeschlagen hatte und ihr verderblich geworden war, sondern hielt sich mehr nördlich, an der Insel Murray vorbei, und dann wieder südwestlich nach der Cumberlandstraße zu. Ich glaubte, er wolle in diese einlaufen, als er wieder in nordwestlicher Richtung durch eine große Menge Inseln und wenig bekannter Eilande auf die Insel Tound und den schlimmen Kanal zufuhr.

Ich fragte mich schon, ob Kapitän Nemo, unvorsichtig bis zum Wahnsinn, sich in diese Enge wagen wolle, wo die beiden Corvetten Dumont d’Urvilles scheiterten, als er mit abermals veränderter Richtung gerade westlich auf die Insel Queboroar zufuhr.

Es war 3 Uhr nachmittags; die Wogen brachen sich, die Flut war fast voll. Die ›Nautilus‹ kam in die Nähe dieser Insel, wir fuhren keine 2 Meilen weit an ihr vorüber.

Plötzlich warf mich ein Stoß zu Boden. Die ›Nautilus‹ war auf eine Klippe gestoßen und saß fest, neigte ein wenig auf die linke Seite.

Als ich wieder aufgestanden war, sah ich Kapitän Nemo mit seinem Leutnant auf der Plattform. Sie untersuchten die Lage des Schiffs und besprachen sich in ihrem unverständlichen Dialekt.

Die Lage war folgende. 2 Meilen rechts sah man die Insel Queboroar, deren Küste sich von Norden nach Westen wie ein ungeheurer Arm abrundete. Nach Süden und Osten hin kamen schon einige Korallenspitzen zum Vorschein, die bei Ebbe unbedeckt waren.

Wir saßen völlig fest in einem Meer, wo Ebbe und Flut mäßig sind, ein schlimmer Umstand, um wieder flott zu werden. Doch hatte das Schiff durchaus keinen Schaden bekommen, da sein Rumpf so

solid gebaut war. Aber konnte es auch nicht untersinken oder leck werden, so war es doch sehr in Gefahr, für immer auf diesen Felsen festzusitzen, und dann war der unterseeische Apparat von Kapitän Nemo zwecklos.

Ich stellte diese Betrachtungen an, als der Kapitän, kalt und ruhig, stets sich selbst beherrschend, ohne eine Unruhe oder Verlegenheit zu zeigen, herantrat:

»Ein Unfall?« sagte ich.

»Nein, ein Zwischenfall«, erwiderte er.

»Aber ein Zwischenfall«, entgegnete ich, »der Sie vielleicht nötigen wird, wieder ein Bewohner des Landes zu werden, das Sie fliehen.«

Kapitän Nemo sah mich mit befremdlicher Miene an und machte eine verneinende Bewegung. Er sagte mir damit klar genug, dass ihn nichts in der Welt zwingen würde, seine Füße je wieder auf einen Kontinent zu setzen. Dann sagte er:

»Übrigens, Herr Arronax, die ›Nautilus‹ ist nicht in gefährlicher Lage. Sie ist noch imstande, Ihnen alle Wunder des Ozeans zu zeigen. Unsere Reise fängt erst an, und ich wünschte nicht so bald mich der Ehre Ihrer Gesellschaft zu berauben.«

»Indessen, Kapitän Nemo«, fuhr ich fort, ohne die ironische Wendung seiner Antwort zu beachten, die ›Nautilus‹ sitzt fest zur Zeit der vollen Flut. Aber im Pazifik ist die Flut nicht so stark, und wenn Sie nicht Ballast auszuwerfen haben – was mir nicht möglich scheint –, so sehe ich nicht ab, wie sie wieder flott werden kann.«

»Sie haben recht, die Flut ist im Pazifik nicht so stark, Herr Professor«, erwiderte Kapitän Nemo, aber in der Torresstraße findet man noch einen Unterschied von ein und einem halben Meter zwischen dem Niveau des Höchststands und dem niedrigsten. Heute haben wir den 2. Januar, und in 5 Tagen ist Vollmond. Dann soll mich’s doch sehr wundern, wenn dieser gefällige Trabant nicht das Wasser zu hinreichender Höhe emporheben und damit mir einen Dienst erweisen sollte, den ich nur ihm allein zu verdanken haben will.«

Nach diesen Worten begab sich Kapitän Nemo in Begleitung seines Leutnants wieder ins Innere der ›Nautilus‹. Das Fahrzeug wich und wankte nicht, saß unbeweglich fest, als hätten die Korallenpolypen es bereits in ihren unzerstörbaren Kitt fest eingemauert.

»Nun, mein Herr?« sagte Ned Land zu mir, indem er nach dem Weggang des Kapitäns zu mir kam.

»Nun, Freund Ned, wir warten ruhig die Flut am 9. ab, denn es scheint, Luna wird so gefällig sein, uns wieder flottzumachen.«

»Nichts weiter?«

»Nichts weiter.«

»Und der Kapitän wird nicht seine Anker auswerfen und seine Maschinen anstrengen und alles aufbieten, um sich herauszuziehen?«

»Die Flut wird ja ausreichen!« erwiderte Conseil.

Der Kanadier warf Conseil einen Blick zu und zuckte die Achseln. Dann sagte er weiter mit der Miene des Seemanns:

»Mein Herr, Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dies Stück Eisen wird nimmer, weder auf noch unter der Meeresfläche, fahren. Man wird’s nur nach dem Pfund verkaufen. Ich denke demnach, dass nun die Zeit gekommen ist, im stillen die Gesellschaft des Kapitäns aufzugeben.«

»Freund Ned«, erwiderte ich, ich habe noch nicht, wie Sie, das Vertrauen zu dieser tapferen ›Nautilus‹ sinken lassen, und in 4 Tagen werden wir wissen, wie wir im Pazifik mit der Flut daran sind.

Übrigens würde der Rat, zu entfliehen, angemessen sein können, wenn wir im Angesicht der Küste Englands oder der Provence wären; aber in Papuasien ist’s etwas anderes, und es wird immer noch Zeit zu solch einem äußersten Mittel sein, wenn es der ›Nautilus‹

nicht gelingt, wieder flott zu werden, was ich als ein bedeutendes Ereignis ansehen würde.«

»Aber man könnte wohl zum Mindesten eine Probe mit diesem Land machen?« entgegnete Ned Land. Wir sehen, es ist eine Insel.

Darauf sind Bäume, und unter diesen gibt’s Landtiere, die Koteletts und Roastbeefs tragen, die ich längst gern einmal zum Imbiss nehmen wollte.«

»Hierin hat Freund Ned recht«, sagte Conseil, und ich teile seine Ansicht. Wäre es meinem Herrn nicht möglich, von seinem Freund, dem Kapitän Nemo, auszuwirken, uns an Land zu setzen, sei’s auch nur, um nicht gänzlich die Gewohnheit zu verlieren, die festen Teile unseres Planeten zu betreten?«

»Ich kann ihn darum bitten«, erwiderte ich, »aber er wird’s abschlagen.«

»Wenn mein Herr es wagen will«, sagte Conseil, »so werden wir wissen, woran wir uns zu halten haben in Hinsicht der Liebenswürdigkeit des Kapitäns.«

Zu meinem großen Erstaunen gab mir Kapitän Nemo die erbetene Erlaubnis, und er tat es sehr gefällig und eifrig, ohne nur das Versprechen der Rückkehr an Bord abzunehmen. Aber eine Flucht durch Neuguinea würde sehr gefährlich gewesen sein und ich würde Ned Land nicht geraten haben, sie zu versuchen. Als Gefangener an Bord der ›Nautilus‹ zu bleiben, würde doch dem Los vorzuziehen sein, dass man den Eingeborenen Papuasiens in die Hände fiele.

Das Landungsboot wurde uns für den folgenden Morgen zur Verfügung gestellt. Ich fragte nicht danach, ob Kapitän Nemo uns begleiten wolle. Ich dachte sogar, es werde uns jemand von der Mannschaft beigegeben werden und Ned Land nur beauftragt die Landung zu leiten. Übrigens da das Land nur höchstens 2 Meilen entfernt war, so war es für den Kanadier nur ein Spiel, das leichte Boot zwischen den Riffen durchzubringen, die für die großen Schiffe so gefährlich sind.

Am folgenden Tag, dem 5. Januar, wurde das Boot ohne Verdeck aus seinem Gehäuse genommen und von der Plattform herab ins Meer gelassen. Zwei Mann reichten dafür aus. Die Ruder befanden sich darinnen, und wir brauchten uns nur hineinzusetzen.

Um 8 Uhr fuhren wir, mit Büchsen und Beilen bewaffnet, von der ›Nautilus‹ ab. Das Meer war ziemlich ruhig. Vom Land her wehte ein leichter Wind. Conseil und ich saßen bei den Rudern und führten sie kräftig, und Ned steuerte in dem schmalen Fahrwasser, das zwischen den Klippen frei war. Das Boot ließ sich gut leiten und fuhr rasch.

Ned Land war vor Freude außer sich. Er war ein dem Kerker entwischter Gefangener, und er dachte gar nicht daran, dass er wieder dorthin zurückkehren müsse.

»Fleisch!« rief er wiederholt. »Nun werden wir wieder Fleisch essen, und was für Fleisch! Echtes Wildbret! Allerdings wohl kein Brot! Ich will nicht sagen, ein Fischgericht sei nicht etwas Gutes, aber man darf des Guten nicht zu viel tun, und ein Stück frisches

Wildbret, über glühenden Kohlen auf dem Rost gebraten, gebe eine angenehme Abwechslung unseres Tischs.«

»Leckermund!« erwiderte Conseil, »er macht, dass mir auch der Mund danach wässert.«

»Es steht auch noch dahin, ob es Wild in diesen Wäldern gibt und ob nicht das Wild dort von so starkem Wuchs ist, dass ihm der Jäger selbst zur Beute werden könnte.«

»Richtig, Herr Arronax!« erwiderte der Kanadier, dessen Zähne scharf gewetzt schienen wie die scharfe Schneide eines Beils; aber ich würde Tigerfleisch, Lendenbraten von Tigern essen, wenn’s auf dieser Insel keinen andern Vierfüßler gibt.«

»Freund Ned versetzt uns in Unruhe«, erwiderte Conseil.

»Wie dem auch sein mag«, fuhr Ned Land fort, »jedes vierfüßige ungefiederte oder zweifüßige gefiederte Tier wird meinem ersten Schuss willkommen sein.«

»Gut!« erwiderte ich, »da sehen wir Meister Lands Unvorsichtigkeiten wieder von vorn anfangen!«

»Haben Sie kein Angst, Herr Arronax«, erwiderte der Kanadier,

»und rudern Sie nur tüchtig. Ich brauche keine 25 Minuten, um Ihnen ein Gericht nach meinem Geschmack vorzulegen.«

Um 8 Uhr 30 lief das Boot der ›Nautilus‹, nachdem es glücklich über den Korallenring, der die Insel Queboroar umgibt, hinausgekommen war, an einer Sandbank sanft auf den Strand.

 


21. KAPITEL

Einige Tage an Land

Es machte doch lebhaften Eindruck auf mich, als ich wieder den Erdboden betrat. Ned Land probierte den Boden mit dem Fuß, als wolle er ihn in Besitz nehmen. Und doch waren es erst 2 Monate, dass wir, wie Kapitän Nemo sich ausdrückte, »Passagiere der ›Nautilus‹« waren, d.h. in Wirklichkeit Gefangene ihres Kommandanten.In einigen Minuten waren wir einen Flintenschuss weit bei der Küste. Der Boden war fast madreporisch, aber einige ausgetrock

nete Strombette, worin sich granitene Trümmer fanden, bewiesen, dass die Bildung dieser Insel der Urzeit angehörte. Der ganze Horizont war hinter einem Vorhang staunenswerter Waldung verborgen. Ungeheure Bäume, oft bis zu 200 Fuß hoch, reihten sich durch Girlanden von Lianen aneinander, natürliche Hängeketten, die ein leichter Wind schaukelte. Es waren Mimosen, Ficus, Thok, Hibis

cus, Pendacus, Palmbäume, und unter ihrer grünen Wölbung, am Fuß ihres riesigen Stammes, wuchsen Orchideen, Hülsengewächse, Farnkräuter.

Aber der Kanadier bemerkte alle diese schönen Musterstücke der papuasischen Flora gar nicht, gab das Angenehme fürs Nützliche hin. Er bemerkte einen Kokosbaum, schlug einige seiner Früchte ab, zerbrach sie, und wir tranken ihre Milch, aßen ihren Kern, mit einem Vergnügen, das gegen den gewöhnlichen Tisch der ›Nautilus‹ protestierte.

»Vortrefflich!« sagte Ned Land.

»Ausgesucht«, erwiderte Conseil.

»Und ich denke nicht«, sagte der Kanadier, »dass Ihr Nemo etwas dagegen hat, dass wir eine Ladung von Kokos an seinen Bord einführen.«

»Ich glaub’s nicht«, erwiderte ich, »aber er wird nicht Lust haben, sie zu kosten.«

»Zu seinem eigenen Nachteil«, sagte Conseil.

»Um so besser für uns!« entgegnete Ned Land.

»Nur ein Wort, Meister Land«, sagte ich zum Harpunier, der schon im Begriff war, noch einen Kokosbaum zu plündern. Kokos ist gut, aber bevor wir das Boot damit füllen, wäre es, dünkt mir, klug, zu untersuchen, ob nicht andere, nicht minder nützliche Produkte sich finden. Frisches Gemüse würde der Küche der ›Nautilus‹ willkommen sein.«

»Mein Herr hat recht«, sagte Conseil, »und ich schlage vor, drei Plätze in unserem Boot freizuhalten, einen für Obst, einen zweiten für Gemüse und den dritten für Wildbret, wovon ich noch kein Pröbchen gesehen habe.«

»Conseil, man darf an nichts verzweifeln«, erwiderte der Kanadier.»So setzen wir unseren Ausflug fort«, versetzte ich, »aber hüten wir uns vor einem Überfall! Obwohl die Insel unbewohnt scheint, so könnten sich doch Leute da finden, die hinsichtlich der Beschaffenheit des Wildbrets weniger wählerisch wären als wir!«

»He! He!« rief Ned Land, mit sehr bezeichnender Bewegung der Kinnbacken.

»Ei! Ned!« rief Conseil.

»Meiner Treu!« entgegnete der Kanadier, »ich fange an zu begreifen, dass das Menschenfleisch gut schmecken mag!«

»Ned! Ned! Was sagen Sie«, versetzte Conseil. »Sie Menschenfresser! Dann bin ich ja nicht mehr in der Kabine sicher vor Ihnen!

Da könnte ich einmal morgens halb gefressen aufwachen?«

»Freund Conseil, ich liebe Sie sehr, doch nicht so arg, um ohne Not Sie aufzuzehren.«

»Darauf verlass’ ich mich nicht«, erwiderte Conseil. »Auf die Jagd! Wir müssen durchaus ein Wildbret zur Befriedigung dieses Kannibalen auftreiben, oder eines schönen Morgens wird mein Herr nur noch einige Stücke seines Dieners finden.«

Während dieser Unterhaltung drangen wir unter düsterem Gewölbe tiefer in den Wald und durchstreiften ihn 2 Stunden lang in allen Richtungen.

Der Zufall begünstigte das Suchen nach Pflanzennahrung, und eins der nützlichsten Produkte der tropischen Zone gewährte uns eine kostbare Speise, die an Bord völlig mangelte.

Ich meine den Brotbaum, der auf der Insel Queboroar sehr reichlich wächst; besonders fiel mir die Varietät ohne Körner auf, die im Malayischen »Rima« genannt wird.

Dieser Baum unterscheidet sich von den anderen durch einen geraden, 40 Fuß hohen Stamm. Seine stattlich gerundete, aus großen vielfach gezackten Blättern gebildete Krone lässt den Naturforscher leicht den »artocarpus« erkennen, die auf den Maskarenen mit Glück angepflanzt worden ist. Aus seinem grünen Laub ragten große kugelrunde Früchte vom Durchmesser eines Dezimeter mit rauer Schale hervor, deren Unebenheiten sechseckige Form zeigten. Die Natur hat die Gegenden, wo kein Getreide wächst, mit diesem nützlichen Nahrungsbaum versehen, der ohne alle Pflege 8 Monate im Jahr seine Früchte spendet.

Ned Land kannte diese Frucht wohl. Er hatte sie bei seinen zahlreichen Reisen kennengelernt und verstand sich darauf, sie schmackhaft zuzubereiten. Darum regte auch ihr Anblick sein Verlangen an, das er nicht zurückhalten konnte.

»Mein Herr«, sagte er zu mir, »ich bin des Todes, wenn ich nicht ein wenig Pastete von dieser Brotfrucht koste!«

»Koste nur, Freund Ned, koste nach Belieben. Unser Zweck hier ist, Experimente zu machen. Machen Sie nur einen Versuch.«

»Das soll nicht lange währen«, erwiderte der Kanadier.

Und er zündete mit einem Brennglas ein Feuer an, das mit dürrem Holz lustig aufflackerte. Währenddessen sammelte ich nebst Conseil die schönsten Früchte des Baums. Manche waren noch nicht völlig reif, die enthielten in dicker Schale ein weißes, wenig faseriges Fleisch, andere, in großer Anzahl, gelblich und gallertartig, warteten nur, dass man sie einsammelte.

Diese Früchte hatten gar keinen Kern. Conseil brachte Ned Land ein Dutzend, der sie in dicke Schnitten zerlegte und über Kohlenfeuer setzte. Dabei sagte er wiederholt:

»Sie werden sehen, mein Herr, wie gut dies Brot ist!«

»Zumal wenn man lange keins genossen hat«, sagte Conseil.

»Es ist kein Brot mehr«, fuhr der Kanadier fort, »es ist eine kostbare Pastete. Sie haben noch nie welche gegessen, mein Herr?«

»Nein, Ned.«

»Nun, halten Sie sich gefasst, etwas Saftiges zu verzehren.

Schmeckt Ihnen das nicht, so bin ich nicht mehr König der Harpuniere!«

Nach einigen Minuten waren die übers Feuer gesetzten Früchte völlig mit Kohle umgeben. Darinnen zeigte sich ein weißer Teig, eine zarte Krume von Geschmack gleich der Artischocke.

Ich muss gestehen, dies Brot war vortrefflich, und ich aß es sehr gern.

»Leider«, sagte ich, »lässt sich diese Speise nicht frisch erhalten, und es scheint mir unnütz, viel davon an Bord zu nehmen.«

»Das wäre, mein Herr«, rief Ned Land. »Sie reden da wie ein Gelehrter, ich aber will’s machen wie ein Bäcker. Conseil, sammeln Sie nur recht viel von dieser Frucht, dass wir sie bei der Rückkehr mitnehmen.«

»Und wie wollen Sie sie zubereiten?« fragte ich den Kanadier.

»Ich mache aus ihrem Fleisch einen gegorenen Teig, der hält sich sehr lange, ohne zu verderben. Wann ich davon brauche, röste

ich ihn in der Küche, und dieses Gebäck wird Ihnen, trotz seines etwas säuerlichen Geschmacks, vortrefflich munden.

»Dann, Freund Ned, fehlt’s, wie ich sehe, diesem Brot an nichts ...«

»Ja, Herr Professor«, erwiderte der Kanadier, »man vermisst dabei etwas Obst oder wenigstens Gemüse!«

»Suchen wir also Obst und Gemüse.«

Als wir mit dem Einsammeln fertig waren, machten wir uns auf den Weg, um unsere »Landmahlzeit« zu vervollständigen.

Wir suchten nicht vergeblich; um Mittag hatten wir reichlich Bananen gesammelt. Diese kostbaren Erzeugnisse der heißen Zone reifen das ganze Jahr über, und die Malayen, die sie Pisang nennen, verspeisen sie ungekocht. Neben diesen Bananen sammelten wir ungeheure Jack von vortrefflichem Geschmack, delikate Mangobeeren und Ananas von unglaublicher Größe. Aber dieses Einsammeln nahm unsere Zeit viel in Anspruch, was wir übrigens nicht zu bedauern hatten.

Conseil hatte Ned stets im Auge. Der Harpunier ging voran und sammelte während seines Gangs durch den Wald mit sicherem Griff vortreffliches Obst, das seinen Proviant vervollständigen sollte.

»Endlich, Freund Ned«, sagte Conseil, »wird Ihnen doch nichts mehr mangeln?«

»Hm!« sagte der Kanadier.

»Wie? Sie sind nicht zufrieden?«

»Alle diese Pflanzen können ein Mahl nicht vollständig machen«, erwiderte Ned. »Dieses ist das Dessert. Aber die Suppe? Der Braten?«

»In der Tat«, sagte ich, »Ned hatte uns Koteletts versprochen, die mir jetzt in Zweifel gestellt scheinen.«

»Mein Herr«, erwiderte der Kanadier, »die Jagd ist nicht nur noch nicht zu Ende, sondern nicht einmal angefangen. Geduld!

Wir werden bald endlich ein gefiedertes oder behaartes Tier treffen, wo nicht hier, so anderswo ...«

»Und wo nicht heute, doch morgen«, fügte Conseil bei, »denn

wir dürfen uns nicht zu weit entfernen. Ich schlage sogar vor, nach unserem Boot zurückzukehren.«

»Wie? Schon!« rief Ned.

»Wir müssen vor Abend wieder zu Hause sein«, sagt’ ich.

»Aber wie viel Uhr ist’s denn?« fragte der Kanadier.

»2 Uhr wenigstens«, erwiderte Conseil.

»Wie auf diesem festen Boden die Zeit rasch verläuft!« rief Meister Ned Land mit Seufzen und Bedauern.

»Marsch!« erwiderte Conseil.

Wir begaben uns also durch den Wald auf den Heimweg und vervollständigten unsere Ernte, indem wir eine Razzia von Palmkohl machten, die auf den Gipfeln der Bäume zu holen waren, von kleinen Bohnen und einer vorzüglichen Sorte Yams.

Überreich beladen kamen wir beim Boot an. Doch war Ned Land noch nicht mit dem Vorrat zufrieden. Aber das Schicksal war ihm günstig. Als wir eben einsteigen wollten, bemerkte er einige 25 bis 30 Fuß hohe Bäume, die zu den Palmen gehörten. Diese, so wertvoll wie der Brotfruchtbaum, werden mit Recht zu den nützlichsten Produkten des Malayenlandes gezählt.

Es waren Sagobäume, die ohne Anbau sich wie die Maulbeerbäume durch Sprösslinge und Körner selbst fortpflanzen.

Ned Land verstand sich darauf, diese Bäume zu behandeln. Er nahm sein Beil, und mit kräftigen Hieben hatte er bald zwei bis drei Bäume auf den Boden gelegt, deren Reife an dem weißen Staub, der ihre Blätter bepuderte, zu erkennen war.

Ich sah ihm zu mit dem Blick des Naturforschers. Er schnitt zuerst von jedem Stamm einen Streifen Rinde, die einen Zoll dick ein Netz von langen Fasern bedeckte, die verwickelte Knoten bilden, von einer Art gummihaltigem Mehl zusammengekittet. Dieses Mehl, Sago genannt, ist essbar und dient den Einwohnern als ein Hauptnahrungsmittel.

Ned Land beschränkte sich für den Augenblick darauf, die Stämme in Stücke zu zerhauen wie beim Brennholz, indem er sich vorbehielt, das Mehl später herauszuklauben, es durchzusieben, um es von den Fasern zu trennen, die Feuchtigkeit an der Sonne verdunsten und es in Formen hart werden zu lassen.

Endlich, um 5 Uhr abends, verließen wir mit all unseren Schätzen beladen das Ufer und langten eine halbe Stunde nachher bei der ›Nautilus‹ an. Der enorme Blechzylinder schien verlassen. Wir schafften unsere Vorräte an Bord, ich begab mich auf mein Zimmer, wo mein Abendessen schon bereit stand. Ich aß und legte mich schlafen.

Am folgenden Morgen, dem 6. Januar, nichts Neues an Bord.

Kein Geräusch im Innern, kein Lebenszeichen. Das Boot war neben dem Fahrzeug an derselben Stelle geblieben, wo wir es gelassen hatten. Wir beschlossen, uns nochmals auf die Insel Queboroar zu begeben. Ned Land hoffte, als Jäger glücklicher als gestern zu sein, und wünschte eine andere Gegend des Waldes zu besuchen.

Bei Sonnenaufgang waren wir schon unterwegs. Das Fahrzeug, durch die Flut höher gehoben, brachte uns bald zur Insel.

Wir stiegen aus und hielten es fürs beste, uns auf den Instinkt des Kanadiers zu verlassen; wir ließen uns daher von Ned Land führen, dessen lange Beine uns stets vorauseilten.

Ned Land ging längs der Küste westwärts, dann wateten wir durch einige Bäche und erreichten die Hochebene, die von bewundernswerter Waldung umgeben war. Einige Eisvögel streiften längs den Gewässern, ließen uns aber nicht ihnen nah kommen. Ihre Vorsicht gab zu erkennen, dass sie wussten, wie sie mit den Zweifüßlern unserer Rasse daran waren, und ich schloss daraus, dass wenn die Insel nicht bewohnt, sie doch von Menschen besucht sei.

Nachdem wir über eine ziemlich fette Wiese gekommen, gelangten wir an den Rand eines kleinen, von Vögeln munter belebten Gehölzes.

»Das sind nur erst Vögel«, sagte Conseil.

»Aber es gibt darunter auch essbare!« erwiderte der Harpunier.

»Nein, Freund Ned«, entgegnete Conseil; »denn ich sehe da nur Papageien.«

»Freund Conseil«, erwiderte Ned ernsthaft, »ein Papagei ist für die, welche nichts anderes zu essen haben, so gut wie ein Fasan.«

»Und ich füge bei«, sagte ich, »dass dieser Vogel, wenn er nur gehörig zubereitet ist, es verdient, dass man um ihn seine Klinge schlägt.«

In der Tat flatterten unterm dichten Laubdach dieses Gehölzes eine Menge Papageien von Zweig zu Zweig, die bei besserer Erziehung auch die menschliche Sprache erlernt haben würden.

Nunmehr freilich schwatzten sie in Gesellschaft mit Verwandten aller Farben, Kakadus, Loris, Kolaos, lasurblauen Papuas und einer

Mannigfaltigkeit reizenden Geflügels, das im allgemeinen wenig essbar war.

Doch ein diesen Ländern eigentümlicher Vogel mangelte dieser Sammlung. Aber es war mir vorbehalten, ihn bald darauf zu bewundern.

Nachdem wir ein Stück Wald, der nicht besonders dicht war, durchschritten, gelangten wir an eine mit Gebüsch bewachsene Ebene. Da sah ich prachtvolle Vögel auffliegen, die durch die Eigentümlichkeit ihrer langen Federn genötigt waren, ihren Flug gegen den Wind zu richten. Ihr wellenförmiger Flug, die Anmut der krummen Linien, die sie in der Luft beschrieben, ihre schillernden Farben zogen an und entzückten den Blick. Ich erkannte sie leicht.

»Paradiesvögel!« rief ich aus.

»Ordnung der Sperlingsartigen ...« erwiderte Conseil.

»Familie der Rebhühner?« fragte Ned Land.

»Ich glaube nicht, Meister Land. Demungeachtet zähle ich auf Ihre Geschicklichkeit, um eins der reizendsten Erzeugnisse der Tropennatur zu erwischen!«

»Man wird’s versuchen, Herr Professor, obwohl ich mehr geübt bin, mit der Harpune, als mit der Flinte umzugehen!«

Die Malayen, die mit diesem Vogel viel Handel nach China treiben, bedienen sich, um sie zu fangen, verschiedener Mittel, die wir nicht anwenden konnten. Bald legen sie Schlingen auf die Gipfel hoher Bäume, wo sich die Paradiesvögel vorzugsweise aufhalten. Bald fangen sie sie mittels eines Leims, der ihre Bewegungen hemmt. Sie gehen sogar so weit, dass sie die Quellen vergiften, wo diese Vögel zu trinken pflegen! Wir waren darauf angewiesen, sie im Flug zu schießen, wobei wir wenig Aussicht hatten, sie zu, treffen. Und in der Tat, wir verbrauchten vergeblich einen Teil unserer Munition.

Gegen 11 Uhr vormittags war der vordere Teil der Berge, die das Zentrum der Insel bilden, durchschritten, und wir hatten noch nichts erlegt. Der Hunger spornte uns. Die Jäger hatten sich auf das Ergebnis ihrer Jagd verlassen, und sie hatten unrecht. Glücklicherweise gelang Conseil, zu seiner großen Überraschung, ein doppelter Schuss, und er sicherte damit das Frühstück. Er erlegte

eine weiße Täubin und eine Holztaube. Diese wurden rasch entfiedert, und an einen Bratspieß gesteckt, brieten sie bei einem hellen Feuer von dürrem Holz. Währenddessen bereitete Ned die Frucht des Brotfruchtbaums zu. Darauf wurde das Geflügel bis auf die Knochen verzehrt und vortrefflich befunden. Die Muskatnuss, die sie gern fressen, gibt ihrem Fleisch einen feinen Würzgeschmack, macht es zu einem köstlichen Essen.

»Wie wenn die jungen Hühner sich von Trüffeln nährten«, sagte Conseil.

»Und jetzt, Ned, was mangelt Ihnen?« fragte ich den Kanadier.

»Ein vierfüßig Wildbret, Herr Arronax«, erwiderte Ned Land.

All dies Geflügel ist nur Beiessen und Zeitvertreib. Darum bin ich auch nicht zufrieden, solange ich nicht ein Tier für Koteletts erlegt habe!«

»Ich auch nicht, Ned, wenn ich nicht einen Paradiesvogel erhasche.«

»So wollen wir unsere Jagd fortsetzen«, erwiderte Conseil, »aber uns wieder zum Meer hinwenden. Wir sind am ersten Abhang des Gebirgs angekommen, und ich denke, es ist besser, wieder in die Waldgegend uns zu ziehen.«

Es war dies ein vernünftiger Rat, und er wurde befolgt. Nachdem wir eine Stunde gegangen, kamen wir in einen wahren Wald von Sagobäumen. Einige ungefährliche Schlangen flohen unter unseren Tritten. Die Paradiesvögel verloren sich, als wir in die Nähe kamen, und wahrhaftig, schon gab ich die Hoffnung auf, sie zu erreichen, als Conseil, der voranging, sich plötzlich bückte, und jubelnd zu mir zurückkam, einen prachtvollen Paradiesvogel in der Hand.

»Ah! Bravo! Conseil«, rief ich aus.

»Mein Herr ist sehr gütig«, erwiderte Conseil.

»Aber nein, lieber Junge. Da hast du einen Meistergriff getan.

Einen solchen Vogel lebendig und mit der Hand zu fangen!«

»Wenn mein Herr es näher untersuchen will, wird er sehen, dass mein Verdienst dabei nicht groß ist.«

»Und warum, Conseil?«

»Weil der Vogel betrunken ist.«

»Betrunken?«

»Ja, mein Herr, betrunken von den Nüssen des Muskatbaums, unter dem ich ihn gefangen habe. Sehen Sie, Freund Ned, was die Unmäßigkeit für Wunder tut!«

»Tausend Teufel!« entgegnete der Kanadier, »was ich seit 2 Monaten an Gin zu mir genommen, verdient nicht einen solchen Vorwurf !«

Inzwischen untersuchte ich den merkwürdigen Vogel, Conseil irrte nicht. Der Paradiesvogel war betrunken von dem Saft, der ihm zu Kopf stieg, und dadurch seiner nicht mächtig, konnte er nicht fliegen, kaum gehen. Das kümmerte mich aber wenig, und ich ließ ihn seinen Rausch ausschlafen.

Dieser Vogel gehört zu den schönsten der acht Arten, die man auf Papuasien und den benachbarten Inseln zählt. Der »große Smaragdvogel« ist einer der seltensten.

Er war 3 Dezimeter lang, sein Kopf verhältnismäßig klein, seine Augen ebenfalls klein nächst der Öffnung des Schnabels. Seine Färbung aber zeigte Nuancen zum Erstaunen: Der Schnabel gelb, Füße und Krallen braun, die Flügel nussfarbig mit purpurfarbenen Spitzen, Kopf und Hinterhals blassgelb, die Kehle smaragden, Bauch und Brust kastanienbraun. Zwei lange, sehr leichte Federn mit hornartigem Stiel und äußerst feinem Flaum besetzt, ragten aus seinem Schwanz hervor, die Schönheit des merkwürdigen Vogels zu vollenden, dem die Eingeborenen den Namen »Sonnenvogel« gegeben haben.

Ich wünschte sehr, dieses prächtige Exemplar des Paradiesvogels nach Paris heimbringen zu können, um es dem Jardin des Plantes zu schenken, der ein lebendiges nicht besitzt.

»Er ist also sehr rar?« fragte der Kanadier im Ton eines Jägers, der das Wild vom Standpunkt der Kunst aus nicht zu schätzen weiß.

»Sehr rar, wackerer Kamerad, und zudem sehr schwer lebendig zu fangen. Und selbst tot sind diese Vögel noch ein wichtiger Handelsartikel. Darum sind auch die Eingeborenen auf den Gedanken gekommen, solche Vögel zu fabrizieren, wie man Perlen oder Diamanten nachmacht.«

»Wie?« rief Conseil, »man verfertigt falsche Paradiesvögel?«

»Ja, Conseil.«

»Und mein Herr weiß, wie die Eingeborenen es machen?«

»Sehr wohl. Zur Zeit der Ostpassatwinde verlieren die Paradiesvögel ihre prachtvollen Schwanzfedern. Diese werden von den Fälschern gesammelt und einem zugestutzten Papagei geschickt angepasst. Dann verstehen sie die Anfügung zu färben, firnissen den

Vogel und schicken diese Erzeugnisse ihrer sonderbaren Industrie den Museen und Liebhabern in Europa zu.«

»Richtig«, sagte Ned, »ist’s auch nicht der Vogel, so sind’s doch seine Federn, und insofern der Gegenstand nicht zum Essen bestimmt ist, sehe ich dabei kein so arges Übel!«

Waren nun auch meine Wünsche durch den Besitz dieses Vogels erfüllt, so war’s mit den Wünschen des Kanadiers nicht ebenso.

Zum Glück erlegte Ned Land gegen 2 Uhr ein stattliches Waldschwein, das die Eingeborenen »Bari-Outang« nennen. Das Tier kam uns erwünscht, um uns mit echtem Vierfüßlerfleisch zu versehen, und wir hießen es willkommen. Ned Land war stolz auf seinen Schuss, der mit einer elektrischen Kugel augenblicklich tötete.

Der Kanadier weidete es geschickt aus und nahm davon ein halbes Dutzend Koteletts zu einem Rostbraten für den Abend. Darauf wurde die Jagd fortgesetzt, bei der Ned und Conseil noch Ausgezeichnetes leisten sollten.

Als die beiden Freunde den Wald durchstreiften, scheuchten sie einen Trupp Kängurus auf, die mit elastischen Sprüngen entflohen. Aber ihre Flucht war doch nicht rasch genug, um sie den elektrischen Kugeln zu entziehen.

»Ei! Herr Professor«, rief Ned Land in der Begeisterung des Jägers, »was für ein treffliches Wildbret, geschmort zumal! Welchen Vorrat für die ›Nautilus‹! Zwei, drei, fünf liegen auf dem Boden!

Und diese Braten werden wir allein verzehren, da die Dummköpfe an Bord keinen Bissen davon bekommen!«

Ich glaube, hätte der Kanadier nicht so viel gesprochen, so hätte er mit seiner Freude den ganzen Trupp erlegt! Aber er begnügte sich mit einem Dutzend dieser interessanten Tiere.

Sie gehörten zu der kleinen Sorte, Känguruh-Lapins genannt, die meist in hohlen Bäumen haust und äußerst schnell ist; sie liefern ein vortreffliches Fleisch.

Wir waren mit den Ergebnissen unserer Jagd sehr zufrieden.

Ned nahm in seiner Freude sich vor, den folgenden Tag diese Zauberinsel wieder zu besuchen, um sie ihrer essbaren Vierfüßler zu berauben. Aber er machte seine Rechnung ohne den Wirt.

Um 6 Uhr abends waren wir wieder am Ufer angelangt. Unser

Boot lag an seiner Stelle am Strand. Die ›Nautilus‹ ragte 2 Meilen entfernt wie eine lange Klippe aus den Wellen hervor.

Ned Land machte sich unverzüglich an die Bereitung des Mahles, worauf er sich vortrefflich verstand. Die auf dem Rost gebratenen Koteletts von »Bari-Outang« verbreiteten bald einen angenehmen Geruch in der Luft umher ...!

Man halte mir zugute, dass ich mich wie der Kanadier durch Rostbraten frischen Wildes begeistern lasse!

Kurz, es war eine vortreffliche Mahlzeit. Zwei Waldtauben vervollständigten noch die Nebengerichte. Die Sagopastete, das Brot von Artokarpus, einige Mango, ein halbes Dutzend Ananas, und der gegorene Trank aus einigen Kokosnüssen machten uns lustig.

Ich glaube sogar, dass die Gedanken meiner wackeren Kameraden nicht mehr ganz klar waren.

»Wenn wir diesen Abend nicht auf die ›Nautilus‹ zurückkönnen?« fragte Conseil.

»Wenn wir nie wieder dahin zurückkehrten!« fügte Ned Land hinzu.

In diesem Augenblick fiel ein Stein zu unseren Füßen nieder und brach die Unterredung ab.

 


22. KAPITEL

Kapitän Nemos Blitzstrahl

Wir richteten, ohne aufzustehen, unsere Blicke nach dem Walde hin; meine Hand hielt inne mit der Bewegung nach dem Mund, die Ned Lands fuhr fort, ihre Verrichtung zu üben.

»Ein Stein fällt nicht vom Himmel«, sagte Conseil, »es müsste denn ein Meteorstein sein.«

Es kam ein zweiter, sorgfältig abgerundeter Stein und schlug Conseil einen Taubenschenkel aus der Hand. Dies gab meiner Bemerkung noch mehr Gewicht.

Wir sprangen miteinander auf, das Gewehr an der Schulter bereit, den Angriff zurückzuweisen.

»Sind’s Affen?« rief Ned Land.

»Fast dasselbe«, erwiderte Conseil, »Wilde sind es.«

»Zum Boot!« sagte ich und eilte nach dem Meeresufer.

Es war in der Tat notwendig, den Rückzug anzutreten, denn etwa 20 Eingeborene, mit Bogen und Schleudern bewaffnet, zeigten sich am Rand eines Gehölzes, das kaum hundert Schritte weit den Horizont zur Rechten verdeckte.

Unser Boot befand sich 10 Klafter von uns entfernt auf dem Strand.

Die Wilden näherten sich, ohne zu laufen; aber an feindlichen Drohungen fehlte es nicht. Es regnete Steine und Pfeile.

Ned Land wollte seine Vorräte nicht im Stich lassen, nahm trotz der drohenden Gefahr sein Schwein und seine Kängurus mit und schleppte sie ziemlich rasch fort.

In 2 Minuten waren wir am Strand. In einem Augenblick waren die Vorräte und Waffen im Boot, dieses im Meer und die Ruder in Tätigkeit. Wir waren noch keine 2 Kabellängen weit, als hundert Wilde mit Geheul und drohenden Gebärden bis zum Gürtel ins Wasser drangen. Ich sah nach der ›Nautilus‹, ob nicht einige Mannschaft auf der Plattform sich zeigen werde. Aber nein. Das enorme Fahrzeug blieb durchaus leer.

Nach 20 Minuten waren wir an Bord. Die Luken standen offen.

Nachdem wir das Boot befestigt, begaben wir uns ins Innere hinab.Ich begab mich in den Salon, woher ich einige Akkorde vernahm. Kapitän Nemo, über die Orgel gebeugt, war in seine Musik vertieft.

»Kapitän!« sagte ich.

Er hörte mich nicht.

»Kapitän!« wiederholte ich und berührte ihn mit der Hand.

Er fuhr zusammen, wendete sich um und sagte:

»Ah! Sie sind’s, Herr Professor? Nun, haben Sie Glück auf der Jagd gehabt, haben Sie nach Wünschen Kräuter gesammelt?«

»Ja, Kapitän«, erwiderte ich, »aber wir haben leider einen Trupp Zweifüßler herbeigezogen, deren Nähe mir besorglich scheint.«

»Was für Zweifüßler?«

»Wilde.«

»Wilde!« erwiderte Kapitän Nemo in ironischem Ton. »Und Sie wundern sich, Herr Professor, dass Sie, sowie Sie einen Fuß an Land setzen, Wilde darauf antreffen? Wo gibt’s denn nicht Wilde? Und zudem, sind denn die, die Sie Wilde nennen, schlimmer als die anderen?«

»Aber, Kapitän ...«

»Ich meinesteils, mein Herr, habe überall solche angetroffen.«

»Nun«, erwiderte ich, »wollen Sie sie nicht an Bord der ›Nautilus‹ haben, so werden Sie wohltun, einige Vorkehrungen zu treffen.«

»Seien Sie ganz ruhig, Herr Professor, es ist kein Grund zu Besorgnissen vorhanden.«

»Aber diese Eingeborenen sind zahlreich.«

»Wie viel haben Sie gezählt?«

»Mindestens hundert.«

»Herr Arronax«, erwiderte Kapitän Nemo, der schon wieder in die Tasten der Orgel griff, »wenn alle Bewohner Papuasiens am Ufer beisammen wären, hätte die ›Nautilus‹ nichts von ihren Angriffen zu fürchten!«

Die Finger des Kapitäns liefen nun wieder über die Tasten, und ich bemerkte, dass er nur die schwarzen anschlug, was seinen Melodien eine wesentlich schottische Färbung gab. Bald versenkte er sich, meine Anwesenheit vergessend, in sein Träumen, worin ich ihn nicht mehr zu stören trachtete.

Ich begab mich wieder auf die Plattform. Die Nacht war schon angebrochen, denn unter so niedrigen Breitengraden geht die Sonne rasch und ohne Dämmerung unter. Ich konnte nur noch unklar die Insel Queboroar wahrnehmen. Doch bezeigten zahlreiche am Ufer angezündete Feuer, dass die Eingeborenen es nicht zu verlassen gedachten.

Ich blieb so einige Stunden allein, dachte bald an die Eingeborenen – aber ohne sie weiter zu fürchten, da die unverwüstliche Zuversicht des Kapitäns auf mich überging – bald vergaß ich sie in Bewunderung des Glanzes dieser tropischen Nacht. Der Mond glänzte, umgeben von den Sternbildern des Zenit. Ich dachte, dieser treue, gefällige Trabant werde übermorgen wieder an dieser Stelle erscheinen, um die Wogen zu heben und damit die ›Nautilus‹

von ihrem Korallenlager loszumachen. Gegen Mitternacht, als ich alles ruhig sah, sowohl auf den düsteren Wogen als unter den Bäumen am Ufer, begab ich mich in mein Schlafgemach und schlief ruhig ein.

Die Nacht verlief ohne Unfall. Die Papuas gerieten ohne Zwei

fel schon beim Anblick des in der Bai gestrandeten Ungeheuers in Schrecken, denn da die Luken offenblieben, so hätten sie wohl leicht ins Innere der ›Nautilus‹ dringen können.

Um 6 Uhr morgens, dem 8. Januar, stieg ich wieder auf die Plattform. Das Morgendämmerlicht schwand. Die Insel ließ bald durch den zerstreuten Nebel erst ihre Ufer, dann ihre Höhen erkennen.

Die Eingeborenen befanden sich noch immer da, zahlreicher als am Abend zuvor – wohl 5- bis 600. Einige benutzten die Ebbe, näherten sich auf den Spitzen der Korallen auf kaum 2 Kabellängen der ›Nautilus‹. Ich konnte sie leicht erkennen. Es waren wohl echte Papuas von athletischem Wuchs, ein schöner Menschenschlag, mit breiter, hoher Stirn, dicker, aber nicht platter Nase, weißen Zähnen.

Ihr wolliges, rotes Haar stach gegen die Hautfarbe ab, die schwarz und glänzend wie bei den Nubiern war. In den durchstochenen Ohrlappen trugen sie bleierne Gehänge. Im allgemeinen gehen diese Wilden nackt. Ich bemerkte unter ihnen einige Frauen, die von den Hüften bis zum Knie mit einer Krinoline von Kräutern, die von einem Gürtel aus Pflanzen festgehalten wurde, bekleidet waren. Einige Anführer trugen als Zierrat am Hals einen Halbmond und Halsbänder von rotem und weißem Glas, fast alle waren mit Bogen, Pfeilen und Schilden bewaffnet und trugen an der Schulter eine Art Netz mit runden Steinen, die sie vermittels einer Schleuder geschickt zu werfen verstehen.

Einer dieser Häuptlinge kam ziemlich nah an die ›Nautilus‹ heran und forschte aufmerksam. Es musste ein »mado« von hohem Rang sein, denn er ging umhüllt mit einer Matte von Bananenblättern, die am Rand mit Fransen von grellen Farben geziert waren.

Ich hätte diesen Mann, der ganz nah herankam, leicht erlegen können; aber ich hielt für besser, wirkliche Feindseligkeiten abzuwarten. Europäer dürfen die Wilden nicht zuerst angreifen.

Während der ganzen Zeit der Ebbe trieben sich diese Eingeborenen in der Nähe der ›Nautilus‹ herum, aber ohne Lärm. Ich hörte sie oft das Wort »assai« sprechen und entnahm aus ihren Gebärden, dass sie mich einluden, zu ihnen an Land zu kommen; ich glaubte aber diese Einladung ablehnen zu müssen.

An diesem Tag also blieb unser Boot an Bord, zu großem Leid

wesen des Meisters Land, der gern seine Vorräte noch vermehrt hätte. Der geschickte Kanadier brachte also seine Zeit damit hin, das Fleisch und Mehl, das er von der Insel Queboroar geholt hatte, zuzubereiten. Die Wilden begaben sich gegen 11 Uhr vormittags wieder an Land, sobald die Korallenspitzen bei steigender Flut zu verschwinden anfingen. Aber am Ufer sah ich ihre Zahl bedeutend anwachsen. Vermutlich kamen sie von den benachbarten Inseln oder dem eigentlichen Papuasien. Doch hatte ich keine einheimischen Nachen gesehen.

Da wir nichts Besseres zu tun hatten, dachte ich in dem klaren Wasser, wo ich eine Menge Muscheln, Pflanzentiere und Seepflanzen sah, ein wenig aufzuräumen. Ich rief daher Conseil, und er brachte mir ein kleines leichtes Scharrnetz, wie man beim Austernfang gebraucht.

»Und diese Wilden?« fragte mich Conseil. »Mit Erlaubnis, sie scheinen nicht sehr schlimm!«

»Doch sind’s Menschenfresser, guter Junge.«

»Man kann Menschen fressen und doch ein braver Mann sein«, erwiderte Conseil. »Eines schließt nicht das andere aus.«

»Gut! Conseil, ich gebe zu, dass es brave Menschenfresser geben kann, die ihre Gefangenen mit Anstand verzehren. Doch da ich nicht eben Lust habe gefressen zu werden, wenn auch mit Anstand, so will ich mich hüten, denn der Kommandant der ›Nautilus‹ scheint keine Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. Doch ans Werk!«

Wir fingen also an, eifrig zu fischen, und waren eben darin versunken, die heraufgebrachten Gegenstände zu untersuchen, als ein von einem Eingeborenen geschleuderter Stein eine kostbare Muschel in der Hand Conseils zerschmetterte.

Ich stieß einen Schrei aus. Conseil fiel über mein Gewehr her, und zielte auf einen Menschen, der 10 Meter entfernt seine Schleuder schwang. Ich suchte ihn abzuhalten.

»Ei was!« rief Conseil, »sieht mein Herr nicht, dass dieser Kannibale zuerst angegriffen hat?«

»Eine noch so kostbare Muschel wiegt ein Menschenleben nicht auf !« erwiderte ich.

Unterdessen hatte sich aber die Lage geändert, ohne dass wir es bemerkt hatten. Etwas 20 Pirogen – lange, schmale, aus einem Baumstamm gefertigte Boote – umgaben die ›Nautilus‹, von geschickten Ruderern geleitet, sodass ich sie nicht ohne Unruhe sah.

Offenbar versahen sich diese Papuas von dem langen eisernen Zylinder nichts Gutes, und sie hielten sich anfangs in achtungsvoller Entfernung. Aber allmählich wurden sie keck und versuchten

sich näher mit ihm bekannt zu machen. Dies aber gerade war zu verhindern.

Die Pirogen kamen nah heran und überschütteten die ›Nautilus‹ mit einem Hagel von Pfeilen.

»Teufel! Das hagelt!« sagte Conseil, »und vielleicht sind die Pfeile vergiftet.«

»Ich muss es dem Kapitän melden«, sagte ich, und stieg hinab, begab mich in den Salon. Da ich hier niemand fand, wurde ich so kühn, am Zimmer des Kapitäns zu klopfen.

»Herein!« rief er, und ich trat ein, fand Kapitän Nemo ganz in Berechnungen mit algebraischen Zeichen vertieft.

»Ich störe?« sagte ich aus Höflichkeit.

»Wirklich, Herr Arronax«, erwiderte der Kapitän, »aber ich denke, Sie haben wichtige Gründe, mich aufzusuchen?«

»Sehr wichtige. Diese Pirogen der Eingeborenen umgeben uns, und in einigen Minuten werden unfehlbar einige hundert Wilde uns angreifen.«

»Ah!« erwiderte er ruhig, »sie sind mit Booten gekommen?«

»Ja, mein Herr.«

»Nun, mein Herr, wir brauchen nur die Luken zu schließen.«

»Allerdings, und ich kam zu dem Zweck ...«

»Das ist sehr leicht«, sagte der Kapitän.

Und er drückte auf einen elektrischen Knopf, wodurch er an seine Mannschaft den Befehl gelangen ließ.

»Nun ist’s schon geschehen, mein Herr«, sagte er nach einigen Augenblicken. Unser Boot ist geborgen, und die Luken sind geschlossen. Sie werden wohl nicht besorgen, denk’ ich, dass diese Leute Eisenwände zertrümmern, denen die Kugeln Ihrer Fregatte nichts anhaben konnten.«

»Nein, Kapitän, aber es gibt noch eine Gefahr.«

»Worin besteht die, mein Herr?«

»Morgen zu derselben Zeit muss man zur Lufterneuerung der

›Nautilus‹ die Luken öffnen ...«

»Allerdings, mein Herr, weil unser Fahrzeug dergestalt Luft schöpfen muss.«

»Wenn nun aber zu der Zeit die Papuas auf der Plattform sind, sehe ich nicht, wie Sie sie abhalten können einzudringen.«

»Also, mein Herr, Sie nehmen an, dass sie an Bord kommen?«

»Ich bin’s überzeugt.«

»Nun denn, so mögen sie kommen. Ich habe keinen Grund, sie daran zu hindern. Im Grund sind diese Papuas arme Teufel, und

ich will nicht, dass mein Besuch der Insel Queboroar nur einem einzigen dieser Unglücklichen das Leben koste!«

Hierauf wollte ich mich zurückziehen; aber Kapitän Nemo hielt mich zurück und lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen. Er fragte mich mit Interesse über unsere Ausflüge an Land, unsere Jagden und schien die Leidenschaft nicht zu begreifen, womit der Kanadier auf Fleisch versessen war. Darauf berührte die Unterhaltung noch verschiedene Gegenstände, und der Kapitän zeigte sich, ohne sich weiter auszusprechen, doch liebenswürdiger.

Unter anderem kamen wir auf die Lage der ›Nautilus‹ zu sprechen, die gerade an derselben Stelle festsaß, wo Dumont d’Urville beinah zugrunde gegangen wäre. Bei diesem Anlass sagte er:

»Dieser d’Urville ist einer Ihrer großen Seeleute gewesen, Ihrer einsichtsvollsten Seefahrer. Der arme Gelehrte! Nachdem er mutig die Eisbänke des Südpols, die Korallen Ozeaniens, die Kannibalen des Pazifiks bestanden hatte, musste er jämmerlich auf einer Eisenbahn verunglücken!«

Bei diesen Worten schien Kapitän Nemo von Rührung ergriffen.Darauf verfolgten wir auf der Karte die Arbeiten des französischen Seefahrers, seine Weltumsegelungen, sein doppeltes Unternehmen nach dem Südpol, was zur Entdeckung der Landschaften Adelaide und Louis Philipp führte, endlich seine hydrografischen Aufnahmen der Halbinsel Ozeaniens.

»Was Ihr d’Urville auf der Meeresoberfläche tat«, sagte darauf Kapitän Nemo, »habe ich in der Tiefe ausgeführt, und leichter, vollständiger. Seine unaufhörlich von den Stürmen umhergeworfenen Schiffe, ›Astrolabe‹ und ›Zélée‹, konnten der ›Nautilus‹

nicht gleichkommen mit ihrem ruhigen Arbeitskabinett inmitten der Gewässer!«

»Doch, Kapitän«, sagte ich, »in einem Punkt sind d’Urvilles Korvetten und die ›Nautilus‹ einander gleich.«

»In welchem, mein Herr?«

»Darin, dass die ›Nautilus‹ wie sie strandete!«

»Die ›Nautilus‹ ist nicht gestrandet, mein Herr«, erwiderte kalt Kapitän Nemo. Die ›Nautilus‹ ist für den Meeresgrund gebaut, und

die mühseligen Arbeiten, die Manöver, wozu d’Urville genötigt war, um seine Korvetten wieder flottzumachen, brauche ich nicht vorzunehmen. Meine ›Nautilus‹ ist durchaus nicht in Gefahr. Morgen, am bestimmten Tag und zur bestimmten Stunde, wird die Flut sie ruhig heben, und sie wird ihre Fahrt durch die Meere fortsetzen ...«

»Kapitän«, sagte ich, »ich zweifle nicht ...«

»Morgen«, fuhr der Kapitän fort, indem er aufstand, »morgen um 2 Uhr 40 nachmittags wird die ›Nautilus‹ flott sein und unversehrt aus der Torresstraße fahren.«

Nach diesen mit entschiedenem Ton gesprochenen Worten verbeugte sich der Kapitän ein wenig. Das hieß mich verabschieden, und ich begab mich wieder auf mein Zimmer.

Hier traf ich Conseil, der begierig war, das Resultat meiner Unterredung mit dem Kapitän zu erfahren.

»Lieber Junge«, erwiderte ich, »als ich zu glauben schien, seine

›Nautilus‹ sei von den Eingeborenen Papuasiens bedroht, hat mir der Kapitän eine ganz ironische Antwort gegeben. Ich habe daher nur das eine zu sagen: Vertrau ihm, und geh ruhig schlafen.«

»Mein Herr bedarf meiner Dienste nicht weiter?«

»Nein, mein Freund. Was macht Ned Land?«

»Entschuldigung, mein Herr«, erwiderte Conseil, »aber Freund Ned bereitet eine Kängurupastete, die zum Erstaunen sein wird!«

Ich blieb allein, legte mich zu Bett, schlief aber schlecht. Ich vernahm das Lärmen der Wilden, die auf der Plattform mit betäubendem Geschrei mit den Füßen stampften. So verging die Nacht, ohne dass die Mannschaft von ihrer gewöhnlichen Untätigkeit abließ. Sie kümmerte sich um die Anwesenheit dieser Kannibalen so wenig, als die Soldaten eines festen Platzes um die Ameisen, die über seine Bollwerke laufen.

Um 6 Uhr früh stand ich auf. Die Luken waren nicht geöffnet worden. Die Luft war daher innen nicht erneuert, aber die für alle Fälle gefüllten Behälter wirkten rechtzeitig und warfen einige Kubikmeter Sauerstoff in die verschlechterte Atmosphäre der ›Nautilus‹.

Ich arbeitete bis zu Mittag in meinem Zimmer, ohne Kapitän Nemo auch nur einen Augenblick zu sehen. Man schien an Bord keine Vorbereitungen zur Abfahrt zu treffen.

Ich wartete noch eine Weile, dann begab ich mich in den großen Salon. Die Wanduhr zeigte 2 Uhr 30. In 10 Minuten musste die Flut auf ihrem Höhestand sein, und hätte Kapitän Nemo nicht ein unbesonnenes Versprechen gegeben, so würde die ›Nautilus‹ unverzüglich flott sein. Wo nicht, so könnten wohl viele Monate verfließen, ohne dass er die Korallenbank verlassen konnte.

Doch spürte man im Rumpf des Boots bereits eine Erschütterung als Vorbote. Ich hörte an seiner Verkleidung den rauen Kalkstein des Korallengrunds kratzen.

Um 2 Uhr 35 erschien Kapitän Nemo im Salon.

»Wir sind im Begriff abzufahren«, sagte er.

»Ah!« erwiderte ich.

»Ich habe befohlen, die Luken zu öffnen.«

»Und die Papuas?«

»Die Papuas?« erwiderte der Kapitän mit leichtem Achselzucken.

»Werden die nicht ins Innere der ›Nautilus‹ dringen?«

»Und wie?«

»Durch die geöffneten Luken.«

»Herr Arronax«, erwiderte ruhig Kapitän Nemo, »man dringt nicht so durch die Luken in die ›Nautilus‹, selbst wenn sie offen sind.«

Ich sah den Kapitän an.

»Sie verstehen nicht?« sagte er.

»Durchaus nicht.«

»Nun! So kommen Sie und werden’s sehen.«

Ich begab mich zur Haupttreppe. Hier waren Ned Land und Conseil in großer Verlegenheit, als sie einige Mann die Luken öffnen sahen, während draußen wütendes Geschrei und fürchterlicher Lärm tobte.

Die Läden wurden außen zurückgeschlagen. Es zeigten sich zwanzig fürchterliche Gestalten. Aber der erste dieser Eingeborenen, der die Hand an das Treppengeländer legte, wurde durch eine

unsichtbare Gewalt zurückgeworfen und entfloh mit grässlichem Geschrei und entsetzlichen Sprüngen.

Zehn seiner Genossen machten’s ihm nach und hatten das gleiche Schicksal.

Conseil war außer sich. Ned Land ließ sich von seinem heftigen Temperament fortreißen, stürzte auf die Treppe. Aber sowie er das

Geländer mit beiden Händen angefasst hatte, wurde er gleichfalls zurückgeschleudert.

»Tausend Teufel!« schrie er auf. »Ich bin vom Blitz getroffen!«

Jetzt war mir alles verständlich. Es war nicht bloß ein Geländer, sondern ein Kabel von Metall, ganz mit Elektrizität geladen bis zur Mündung an der Plattform. Wer es da anrührte, empfand einen fürchterlichen Schlag, ja ein solcher konnte tödlich werden, wenn Kapitän Nemo diesen Konduktor mit aller Elektrizität, die ihm zu Gebote stand, lud. Man kann mit Wahrheit sagen, dass er zwischen sich und seine Angreifer ein elektrisches Garn gespannt hatte, über das niemand ungestraft hinauskam.

Indessen hatten die Papuas voll Entsetzen sich zurückgezogen.

Wir trösteten, halb mit Lachen, und rieben den unglücklichen Ned Land, der wie ein Besessener fluchte. Aber in diesem Moment verließ die ›Nautilus‹, durch die Wogen der Flut gehoben, ihr Korallenlager, genau in der 40. Minute, wie Kapitän Nemo bestimmt hatte. Seine Schraube schlug majestätisch langsam die Gewässer.

Seine Schnelligkeit nahm nach und nach zu, und er verließ an der Oberfläche fahrend unverletzt und wohlbehalten die gefährliche Straße Torres.

 


23. KAPITEL

Fieberträume

Am folgenden Tag, 10. Januar, setzte die ›Nautilus‹ ihre Fahrt fort, aber mit einer merkwürdigen Geschwindigkeit, die ich nicht geringer als auf 35 Meilen die Stunde anschlagen kann. Die Schnelligkeit seiner Schraube war dergestalt, dass ich ihre Umdrehungen nicht beobachten konnte.

Wenn ich daran dachte, dass diese merkwürdige elektrische Kraft, nachdem sie der ›Nautilus‹ Bewegung, Wärme, Licht gegeben, ihn auch noch gegen äußere Angriffe schützte und ihn in eine heilige Arche verwandelte, woran kein Uneingeweihter rühren konnte, ohne vom Blitz getroffen zu werden, so war meine Bewun

derung ohne Grenzen und wendete sich vom Apparat sogleich zu dem Meister, der ihn geschaffen hatte.

Wir fuhren gerade westwärts, und am 11. Januar kamen wir am Kap Wessel vorüber, das unter 135° Länge und 10° nördlicher Breite die westliche Spitze des Golfs von Carpentaria bildet. Die Riffe waren noch zahlreich, aber minder dicht beieinander und auf der Karte mit äußerster Genauigkeit aufgenommen. Die ›Nautilus‹

vermied leicht die Klippen von Morny links, und die Riffe Victoria rechts unter 130° Länge und dem 10. Breitengrad, an dem wir uns streng hielten.

Am 13. Januar kam Kapitän Nemo in das Meer von Timor und hatte die Insel dieses Namens unter 122° Länge in Sicht. Diese Insel mit einem Flächeninhalt von 1.625 Quadratlieue wird von Radjahs beherrscht. Diese Fürsten nennen sich Söhne der Krokodile, d.h., ihre Abstammung hat den höchsten Ursprung, wonach ein menschliches Wesen streben kann. Daher wimmeln auch diese schuppigen Ahnen in den Flüssen der Inseln und sind Gegenstand besonderer Verehrung. Man schützt, verehrt, nährt sie, bietet ihnen junge Mädchen zur Nahrung an, und wehe dem Fremden, der Hand an diese heiligen Tiere legt!

Aber die ›Nautilus‹ bekam nichts mit diesen hässlichen Tieren zu schaffen. Timor war nur einen Augenblick sichtbar, während der Leutnant seine Lage aufnahm. Ebenso konnte ich die kleine Insel Rotti, die zu dieser Gruppe gehört und deren Frauen auf den malayischen Märkten im Rufe außerordentlicher Schönheit stehen, nur oberflächlich ansehen.

Von diesem Punkt aus richtete sich die Fahrt der ›Nautilus‹ weiter nach Südwesten, geradezu nach dem Indischen Ozean. Wohin wollte Kapitän Nemo uns führen? Nach den Küsten Asiens? Gegen die Gestade Europas? Dies wohl schwerlich, da er die bewohnten Kontinente vermied. Sollte er sich südwärts wenden? Das Kap der Guten Hoffnung und Kap Horn umfahren und dem antarktischen Pol zusteuern? Würde er endlich in den Pazifik zurückkehren, wo seine ›Nautilus‹ leichte und ungestörte Fahrt hatte? Die Zukunft sollte uns es offenbaren.

Nachdem wir an den Klippen Cartier, Hibernia, Seringapatam,

Scott vorübergefahren, am 14. Januar waren wir über alle Länder hinaus. Die Schnelligkeit der ›Nautilus‹ wurde auffallend mäßiger, und sehr launig schwamm sie bald mitten im Wasser, bald auf der Oberfläche.

Während dieser Zeit der Fahrt machte Kapitän Nemo interessante Experimente über die verschiedenen Temperaturen des Meeres in seinen verschiedenen Schichten. Unter gewöhnlichen Verhältnissen macht man diese Aufnahmen vermittels sehr komplizierter Instrumente, deren Angaben wenigstens zweifelhaft sind, z.B. thermometrische Sonden, deren Gläser oft unterm Druck der Gewässer zerbrechen; oder Apparate, die sich auf den verschiedenen Widerstand stützen, den die Metalle den elektrischen Strömungen entgegensetzen. Diese so gewonnenen Resultate lassen sich nicht hinreichend kontrollieren. Dagegen begab sich Kapitän Nemo persönlich in die verschiedenen Tiefen hinab, um da die Temperatur aufzusuchen, und sein Thermometer gab, sobald es in Berührung mit den verschiedenen Wasserschichten kam, ihm unmittelbar und sicher den gesuchten Grad an.

So stellte er also, indem er nacheinander Tiefen von 3-, 4-, 5-, 7-, 9- und 10.000 Meter besuchte, an diesen Stellen seine Beobachtungen an, und das definitive Resultat dieser Untersuchungen bestand darin, dass das Meer eine gleichmäßige Temperatur von 4 1/2

Grad in einer Tiefe von 1.000 Meter unter allen Breiten hat.

Ich begleitete diese Beobachtungen mit dem lebhaftesten Interesse. Kapitän Nemo hatte dafür eine wahre Leidenschaft. Ich fragte mich oft, zu welchem Zweck er diese Beobachtungen anstellte. Zum Besten des Menschengeschlechts? Wahrscheinlich nicht, denn früher oder später mussten seine Arbeiten in irgendeinem unbekannten Meer mit ihm zugrunde gehen! Es sei denn, dass er das Resultat seiner Erfahrungen mir anvertraute. Dieses setzte aber voraus, dass meine seltsame Reise ein Ende nehme; ein solches Ziel konnte ich aber noch nicht wahrnehmen. Wie dem auch sein mag, Kapitän Nemo machte mich demungeachtet mit einigen Ziffern bekannt, die er ermittelt hatte und die das Verhältnis der Dichtheit des Wassers in den Hauptmeeren des Erdballs feststellten. Diese Mitteilung

diente zu meiner persönlichen Belehrung und hatte nichts Wissenschaftliches.

Am 15. Januar während des Vormittags, als ich mit Kapitän Nemo auf der Plattform spazieren ging, fragte er mich, ob ich die verschiedenen Grade der Dichtheit kenne, welche die Gewässer des Meeres bieten. Ich verneinte seine Frage mit dem Beifügen, es mangele der Wissenschaft an strengen Beobachtungen über diesen Punkt.

»Ich habe diese Beobachtungen angestellt«, sagte er, »und kann für ihre Zuverlässigkeit bürgen.«

»Gut«, erwiderte ich, »aber die ›Nautilus‹ ist eine Welt für sich, und die Geheimnisse ihrer Gelehrten gelangen nicht bis auf die Erde.«

»Sie haben recht, Herr Professor«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Er ist eine Welt für sich, der Erde so fremd wie die Planeten, welche diese in ihrer Bahn um die Sonne begleiten, und man wird niemals die Arbeiten der Gelehrten des Saturn oder Jupiter kennenlernen. Indessen, da der Zufall unser Dasein aneinandergeknüpft hat, so kann ich Ihnen das Resultat meiner Beobachtungen mitteilen.«

»Mein Ohr lauscht Ihnen, Kapitän.«

»Sie wissen, Herr Professor, dass das Meerwasser dichter ist als das süße, aber diese Dichtheit ist nicht gleichförmig. In der Tat, wenn ich die Dichtheit des Süßwassers mit 1 bezeichne, so finde ich 1/28.000 für die Gewässer des Atlantiks, 1/26.000 für die des Pazifiks, 1/30.000 für die des Mittelmeers ...«

»Ach!« dachte ich, »er wagt sich ins Mittelmeer?«

»1/18.000 befindet sich im Ionischen Meer, und 1/29.000 in der Adria.«Offenbar vermied die ›Nautilus‹ nicht die viel befahrenen europäischen Meere, und ich schloss daraus, er werde uns – vielleicht in der Kürze – den zivilisierten Kontinenten zuführen. Ich dachte, Ned Land werde diesen Punkt mit sehr natürlicher Befriedigung vernehmen.

Einige Tage lang brachten wir unsere Zeit mit Experimenten aller Art hin, in Beziehung auf die Grade des Salzgehalts der Gewässer in verschiedenen Tiefen, ihre Elektrisation, ihre Färbung, ihre Durchsichtigkeit, und in jeder Hinsicht entwickelte Kapitän Nemo einen Scharfsinn, dem nichts gleichkam als sein Wohlwollen gegen mich. Darauf sah ich ihn während einiger Tage nicht mehr und blieb von Neuem wie isoliert an seinem Bord.

Am 16. Januar schien die ›Nautilus‹, nur einige Meter unter dem Meeresspiegel, einzuschlafen. Sein elektrischer Apparat war nicht mehr in Tätigkeit und seine Schraube unbeweglich; er war dem Belieben der Strömung hingegeben. Ich vermutete, die Mannschaft sei mit inneren Reparaturen beschäftigt, die durch die Heftigkeit der mechanischen Bewegungen der Maschine notwendig geworden.Ich konnte damals nebst meinen Gefährten eine merkwürdige Erscheinung beobachten. Die Läden des Salons waren offen, und da die Leuchte der ›Nautilus‹ nicht in Tätigkeit war, so herrschte ein unbestimmtes Dunkel inmitten der Gewässer. Der stürmische und mit dichtem Gewölk bedeckte Himmel ließ in die obersten Schichten des Ozeans nur ungenügendes Licht dringen.

In diesem Zustand beobachtete ich das Meer, und die größten Fische kamen mir nur wie Schatten vor, als die ›Nautilus‹ plötzlich in voller Beleuchtung stand. Ich glaubte anfangs, die Leuchte sei wieder angezündet und werfe ihren elektrischen Glanz in die Masse des Wassers. Ich irrte mich und erkannte nach einer leichten Beobachtung, worin mein Irrtum bestand.

Die ›Nautilus‹ schwamm mitten in einer phosphoreszierenden Schicht, die in der damaligen Dunkelheit um so mehr blendend war. Sie kam von Myriaden leuchtender Tierchen, deren Funkeln zunahm, wenn sie an den metallenen Rumpf des Fahrzeugs streiften. Ich nahm damals blitzende Erscheinungen wahr inmitten dieser Streifen, die so sehr mit Licht erfüllt waren wie strömender Bleiguss im Glühofen oder Metallmassen in rot-weißer Glut; dergestalt, dass in dieser feurigen Umgebung, die jeden Schatten auszuschließen schien, infolge des Gegensatzes manche erleuchtete Teile doch einen Schatten darstellten. Es war nicht mehr die ruhige Bestrahlung unseres gewöhnlichen Lichts! Es war dabei eine ungewohnte

Kraft und außerordentliche Bewegung im Spiel! Man fühlte, es war ein lebendiges Licht!

In der Tat war es eine unendliche Schar See-Infusionstierchen, nachtleuchtend, durchsichtige Gallertkügelchen, mit fadenförmigen Fühlhörnern, wie man ihrer bis 25 in 30 Kubikzentimeter Wasser gezählt hat. Und ihr Leuchten wurde noch verdoppelt durch den Schimmer, der den Medusen, Asterien, Aurelien und anderen phosphoreszierenden Zoophyten eigentümlich ist.

Einige Stunden lang fuhr die ›Nautilus‹ auf diesen glänzenden Wogen, und unsere Bewunderung stieg noch, als wir die großen Seetiere sich darin ergötzen sahen wie Salamander. Da sah ich mitten im Feuer, das nicht brannte, zierliche, rasche Delfine und 3 Meter lange Segelträger, die kundigen Vorboten der Stürme; sodann von kleineren bunte Hornfische, Klippfische und tausend andere, die das erleuchtete Element durchstreiften.

Es war ein zauberisch blendender Anblick! Vielleicht erhöhte ein Zustand der Atmosphäre noch die Stärke des Phänomens? War ein Gewitter auf der Oberfläche entfesselt? Doch in dieser Tiefe von einigen Metern spürte die ›Nautilus‹ dessen Wüten nicht und schaukelte sich ruhig mitten in stillen Wassern.

So fuhren wir, unaufhörlich von neuen Wundern bezaubert.

Conseil beobachtete und klassifizierte seine Zoophyten, seine Gliedertiere, Mollusken, Fische. Die Tage verflossen rasch, und ich zählte sie nicht mehr. Ned war wie gewöhnlich bemüht, Abwechslung in das Gewöhnliche zu bringen. Wahrhafte Schnecken, waren wir an unser Gehäuse gebannt, und ich behaupte, es ist leicht eine vollendete Schnecke zu werden.

So kam uns also diese Lebensweise leicht und natürlich vor, und wir dachten nicht mehr daran, dass es auf der Erdoberfläche eine andere Lebensweise gebe, als ein Ereignis uns das Seltsam-Außergewöhnliche unserer Lage zu erneuertem Bewusstsein brachte.

Am 18. Januar befand sich die ›Nautilus‹ unter 105° Länge und 15° südlicher Breite. Das Wetter war drohend, die rauen Wogen gingen hohl. Von Osten wehte ein starker Wind. Das Barometer kündigte einen nahen Kampf der Elemente an.

Ich kam auf die Plattform im Moment, wo der Leutnant die

Stundenwinkel maß. Ich erwartete, dass er, wie gewöhnlich, die täglich gehörte Phrase sprach. Aber diesmal hörte man statt ihrer eine andere, ebenso unverständliche. Augenblicklich sah ich auch Kapitän Nemo heraufkommen, der seine bewaffneten Augen sofort nach dem Horizont richtete.

Einige Minuten blieb er unbeweglich, ohne von dem Punkt, den sein Fernrohr betrachtete, zu weichen. Darauf senkte er es und wechselte einige Worte mit dem Leutnant. Dieser schien in einer Aufregung die er vergeblich zu bemeistern suchte. Kapitän Nemo blieb kalt, seiner Bewegung Meister. Er schien übrigens einige Einwendungen zu machen, auf die der Leutnant durch förmliche Versicherungen antwortete. Wenigstens nahm ich dies aus ihrem Ton und Gebärden ab.

Ich hatte sorgfältig in der beobachteten Richtung geschaut, ohne etwas zu bemerken. Himmel und Wasser flossen an einer Linie des Horizonts völlig zusammen.

Unterdessen ging Kapitän Nemo auf der Plattform von einem Ende bis zum anderen auf und ab, ohne mich anzusehen, vielleicht ohne mich zu sehen. Sein Schritt war sicher, doch weniger regelmäßig als gewöhnlich. Bisweilen blieb er stehen und betrachtete mit gekreuzten Armen das Meer. Die ›Nautilus‹ befand sich damals einige Hundert Meilen von der nächsten Küste entfernt!

Der Schiffsleutnant hatte wieder sein Fernrohr zur Hand genommen und forschte unablässig am Horizont, ging hin und her, stampfte mit dem Fuß, in einer Nervenaufregung, die sehr von der kalten Ruhe des Kapitäns abstach.

Übrigens musste das Geheimnis notwendig sich bald aufklären, denn auf Befehl von Kapitän Nemo verstärkte die Maschine ihre Kraft, dass die Schraube reißend schnell sich drehte.

In dem Augenblick regte der Leutnant von Neuem die Aufmerksamkeit des Kapitäns an. Dieser blieb stehen und richtete sein Fernrohr nach der bezeichneten Stelle und beobachtete lange Zeit.

Ich meinerseits, sehr ernstlich besorgt, ging in den Salon hinab und holte ein treffliches Fernrohr, das ich gewöhnlich im Gebrauch hatte Darauf legte ich es auf das Gehäuse der Leuchte, das vorn auf

der Plattform einen Vorsprung bildete, und schickte mich an, die ganze Linie des Himmels und Meeres zu durchlaufen.

Aber mein Auge befand sich noch nicht vor dem Okularglas, als mir das Instrument hastig aus der Hand gerissen wurde.

Ich wendete mich um. Kapitän Nemo stand vor mir, aber ich erkannte ihn nicht, so waren seine Gesichtszüge entstellt. Sein von düsterem Feuer sprühendes Auge verdeckte sich unter den gerun

zelten Brauen, seine Zähne waren zur Hälfte sichtbar. Sein straffer Körper, seine geballten Fäuste, sein zwischen die Schultern gezogener Kopf bezeugten den ungestümen Hass, den seine Seele atmete: Er rührte sich nicht. Mein Fernrohr, das ihm aus der Hand fiel, rollte zu seinen Füßen.

Hatte ich, ohne es zu wollen, diese zornige Haltung veranlasst?

Bildete sich der unbegreifliche Mann ein, ich hätte ein den Gästen der ›Nautilus‹ verborgenes Geheimnis entdeckt?

Nein! Ich konnte nicht Gegenstand des Hasses sein, denn er sah mich nicht an, und sein Auge blieb unverwandt auf den undurchdringlichen Punkt des Horizonts gerichtet.

Endlich wurde Kapitän Nemo wieder Meister seiner Stimmung.

Seine so ergriffenen Züge wurden wieder ruhig wie gewöhnlich. Er sprach zu seinem Leutnant einige Worte in der fremden Sprache, dann wendete er sich wieder an mich.

»Herr Arronax«, sagte er zu mir in sehr gebieterischem Ton, »ich nehme nun eine der Verbindlichkeiten in Anspruch, die Sie gegen mich eingegangen sind.«

»Worum handelt sich, Kapitän?«

»Sie müssen sich nebst Ihren Gefährten einsperren lassen, bis ich es später statthaft finden werde, Sie wieder in Freiheit zu setzen.«

»Sie haben zu befehlen«, erwiderte ich und sah ihn mit festem Blick an. »Aber darf ich mir eine Frage erlauben?«

»Keine, mein Herr.«

Hierauf hatte ich nicht zu disputieren, sondern zu gehorchen, weil jeder Widerstand unmöglich gewesen wäre.

Ich begab mich hinab in die Kabine, wo Ned Land und Conseil sich befanden, und teilte ihnen die Verfügung des Kapitäns mit.

Man kann sich denken, welchen Eindruck diese Mitteilung auf den Kanadier machte. Übrigens war keine Zeit zu Erörterungen. Vier Mann warteten schon an der Tür, um uns in die Zelle zu führen, wo wir unsere erste Nacht an Bord der ›Nautilus‹ zugebracht hatten.

Ned Land wollte protestieren, aber statt einer Antwort schloss sich die Tür hinter ihm.

»Wird mein Herr uns sagen, was dies bedeutet?« fragte mich Conseil.

Ich erzählte meinen Gefährten, was vorgegangen war. Sie waren ebenso erstaunt wie ich, wussten aber ebenso wenig etwas weiter.

Indessen versank ich tief in Gedanken, und die befremdliche Besorgnis in den Zügen von Kapitän Nemo kam mir nicht aus dem Kopf. Ich war unfähig, zwei Ideen logisch zu verbinden, und verlor mich in den absurdesten Hypothesen, als ich aus der Spannung meines Geistes durch Ned Lands Worte gerissen wurde:

»Sieh da! Das Frühstück ist schon aufgetragen!«

Wirklich war der Tisch gedeckt und versehen. Offenbar hatte der Kapitän den Auftrag dazu zu gleicher Zeit gegeben, als er den Befehl erteilte, die Fahrt der ›Nautilus‹ zu beschleunigen.

»Darf ich meinem Herrn etwas anempfehlen?« fragte mich Conseil.

»Ja, lieber Junge«, erwiderte ich.

»Nun! Mein Herr möge speisen. Es ist klug, denn wir wissen nicht, was sich ereignen kann.«

»Du hast recht, Conseil.«

»Leider«, sagte Ned Land, »hat man uns nur gegeben, was der Schiffsküchenzettel enthält.«

»Freund Ned«, versetzte Conseil, »was würden Sie denn sagen, wenn das Frühstück ganz ausgeblieben wäre!«

Dieser Grund beseitigte jeden Einwand des Harpuniers. Wir setzten uns zu Tisch. Es ging ziemlich still beim Essen her. Ich aß wenig. Conseil tat sich Gewalt an, stets aus Vorsorge, und Ned Land ließ es, trotz allem nicht an der Tätigkeit seiner Zähne fehlen. Darauf, als das Frühstück beendigt war, lagerte sich jeder in einen Winkel.In diesem Augenblick erlosch die Kugel, welche die Zelle erleuchtete, und ließ uns in tiefem Dunkel. Ned Land schlief unverzüglich ein, und zu meinem Staunen verfiel auch Conseil in schweren Schlummer. Als ich darüber grübelte, fühlte auch ich meinen Kopf von Betäubung befallen. Meine Augen, die ich offenhalten wollte, schlossen sich trotz meines Widerstrebens. Offenbar waren den Speisen, die wir genossen, Einschläferungsmittel beigemischt!

Ich hörte noch die Luken sich schließen. Der Wellenschlag des Meeres, der ein leichtes Schwanken hervorrief, hörte auf. Hatte die

›Nautilus‹ die Meeresoberfläche verlassen?

Unmöglich konnte ich mich des Schlafs erwehren. Mein Atmen wurde schwächer. Ein Gefühl eisiger Kälte durchdrang meine schweren Glieder, die wie gelähmt waren. Meine Augenlider san

ken wie bleierne Deckel über meine Augen. Ein leichter Schlummer voll Traumgesichter bemeisterte sich meiner. Darauf verschwanden die Gesichter, und ich lag wie völlig vernichtet.

 


24. KAPITEL

Das Korallenreich

Den folgenden Morgen wachte ich mit auffallend freiem Kopf auf.

Zu meiner Überraschung befand ich mich in meinem Zimmer.

Meine Gefährten waren ohne Zweifel ebenso, ohne es zu merken, in ihre Kabine gebracht worden. Was während dieser Nacht vorgegangen war, wussten sie wohl ebenso wenig wie ich.

Ich dachte nun mein Zimmer zu verlassen. War ich wieder frei oder Gefangener? Völlig frei. Ich öffnete die Tür, ging durch die Gänge, stieg die Leiter im Zentrum hinauf. Die am Abend zuvor geschlossenen Luken waren offen. Ich kam auf die Plattform.

Ned Land und Conseil warteten da auf mich. Ich fragte sie. Sie wussten nichts. Sie waren so tief im Schlaf versunken, dass sie keine Erinnerung mehr hatten, und wie ich sehr überrascht, sich wieder in ihrer Kabine zu befinden.

Die ›Nautilus‹ schien uns ruhig und geheimnisvoll wie stets. Sie schwamm an der Oberfläche der Wellen mit mäßiger Geschwindigkeit. An Bord schien nichts geändert.

Ned Land beobachtete mit seinem scharfen Blick das Meer. Es war leer. Der Kanadier gewahrte nichts Neues am Horizont, kein Segel, kein Land. Ein Westwind wehte stark, und hohe Wellen versetzten das Schiff in merkliches Schwanken.

Die ›Nautilus‹ hielt sich, nachdem er seine Luft erneuert, in einer durchschnittlichen Tiefe von 15 Meter, sodass sie rasch wieder an der Oberfläche erscheinen konnte. Dies geschah während dieses Tages, am 19. Januar, gegen Gewohnheit öfters. Der Leutnant stieg dann auf die Plattform, und man hörte im Innern die gewohnte Phrase.

Kapitän Nemo erschien nicht. Von den Leuten an Bord sah ich

niemand als den phlegmatischen Steward, der mich so pünktlich und so schweigsam wie gewöhnlich bediente.

Gegen 2 Uhr befand ich mich im Salon und war beschäftigt, meine Notizen zu ordnen, als Kapitän Nemo öffnete und eintrat.

Ich grüßte ihn. Er erwiderte kaum vernehmlich meinen Gruß, ohne ein Wort mit mir zu reden. Ich begab mich wieder an meine Arbeit, in Hoffnung, er werde mir vielleicht Auskunft über die Begebenheiten der vorigen Nacht geben. Es geschah nicht. Ich sah ihn an. Sein Aussehen schien ermüdet; seine geröteten Augen waren nicht durch Schlaf erquickt, seine Gesichtszüge hatten den Ausdruck tiefer Traurigkeit, eines wirklichen Kummers. Er ging hin und her, setzte sich und stand wieder auf, nahm ein beliebiges Buch und legte es gleich wieder hin, befragte seine Instrumente, ohne, wie gewöhnlich, Notizen zu machen, und schien sich nicht einen Augenblick am Platz halten zu können.

Endlich trat er zu mir und sagte:

»Sind Sie Arzt, Herr Arronax?«

Ich war so wenig auf diese Frage gefasst, dass ich ihn eine Weile ansah, ohne zu antworten.

»Sind Sie Arzt?« fragte er nochmals. »Manche Ihrer Kollegen haben Medizin studiert.«

»In der Tat«, sagte ich, »ich bin Doktor und in Spitälern bewandert. Ich habe einige Jahre praktiziert, ehe ich beim Museum angestellt wurde.«

»Gut, mein Herr.«

Meine Antwort hatte offenbar den Kapitän befriedigt. Aber da ich nicht wusste, was er damit wollte, wartete ich auf weitere Fragen und behielt mir vor, den Umständen gemäß zu antworten.

»Herr Arronax«, sagte sodann Kapitän Nemo, »würden Sie die Gefälligkeit haben, einem meiner Leute Ihren Rat zu erteilen?«

»Sie haben einen Kranken?«

»Ja.«

»Ich bin bereit, Sie zu begleiten.«

»Kommen Sie.«

Ich gestehe, dass mein Herz klopfte. Ich weiß nicht, warum ich einen gewissen Zusammenhang zwischen dieser Krankheit eines

Mannes von der Besatzung und dem sah, was gestern sich begeben hatte; und dies Geheimnis beschäftigte meine Gedanken wenigstens ebenso wie der Kranke.

Kapitän Nemo führte mich in den hinteren Teil der ›Nautilus‹

und ließ mich in eine Kabine neben dem Posten der Matrosen treten.Hier lag auf einem Bett ein Mann von etwa 40 Jahren und energischen Zügen, ein echter Angelsachse.

Ich bog mich über ihn. Der Mann war nicht allein krank, sondern verwundet. Sein Kopf, in blutige Leinwand gewickelt, ruhte auf einem doppelten Kissen. Ich nahm die Leinwand hinweg, und der Verwundete starrte mich mit großen Augen an und ließ mich ohne einen einzigen Klagelaut gewähren. Es war eine grässliche Wunde. Der Schädel war mit einem stoßenden Werkzeug zerschmettert, das Gehirn lag offen, und die Gehirnsubstanz hatte eine tiefe Verletzung erlitten. Blutklumpen hatten sich in der zerfließenden Masse gebildet, die an Farbe der Weinhefe glich. Es lag nicht allein eine Quetschung, sondern auch eine Erschütterung des Gehirns vor. Der Kranke atmete langsam, und seine Gesichtsmuskeln waren etwas krampfhaft bewegt. Die Entzündung des Gehirns war vollständig und hatte die Lähmung des Gefühls und der Bewegung zur Folge.

Der Puls des Kranken war unterbrochen. Die äußeren Teile des Körpers wurden schon kalt, und ich sah den Tod herannahen, ohne dass es möglich schien, ihn zu hemmen. Ich verband den Unglücklichen, legte die Leinwandumhüllung seines Kopfs wieder zurecht und begab mich darauf zum Kapitän Nemo.

»Woher kommt die Verwundung?« fragte ich.

»Was liegt daran?« versetzte der Kapitän ausweichend. »Ein Stoß der ›Nautilus‹ hat einen Hebel der Maschine zerbrochen, und dieser hat den Mann getroffen. Aber was halten Sie von seinem Zustand?«

Ich nahm Anstand mich auszusprechen.

»Sie können reden«, sagte der Kapitän. »Dieser Mann versteht nicht französisch.«

Ich sah den Verwundeten nochmals an, dann sagte ich:

»Binnen 2 Stunden wird der Mann sterben.«

»Ist er nicht zu retten?«

»Nein.«

Die Hand von Kapitän Nemo zuckte krampfhaft, und einige Tränen rannen aus seinen Augen.

Einige Augenblicke beobachtete ich noch den Sterbenden.

Seine Blässe nahm zu bei dem elektrischen Licht, das auf sein Sterbebett fiel. Ich betrachtete sein verständiges Antlitz, das frühzeitig mit tiefen Runzeln bedeckt war, die das Unglück, das Elend vielleicht, seit langer Zeit gegraben hatten. Ich trachtete aus den letzten Worten des Sterbenden das Geheimnis seines Lebens zu erlauschen.

»Sie können sich nun zurückziehen, Herr Arronax«, sagte der Kapitän zu mir.

Ich verließ ihn also im Sterbezimmer und begab mich wieder in mein Zimmer, sehr ergriffen von der Szene. Den ganzen Tag über war ich von bangen Ahnungen gequält. Die Nacht schlief ich unruhig mit häufig unterbrochenen Träumen.

Am anderen Morgen früh begab ich mich aufs Verdeck. Kapitän Nemo war schon da. So wie er mich sah, kam er auf mich zu.

»Herr Professor«, sagte er, »belieben Sie heute einen Ausflug unterm Meer mitzumachen?«

»Mit meinen Genossen?« fragte ich.

»Wenn es Ihnen beliebt.«

»Zu Ihrem Befehl, Kapitän.«

»So kommen Sie, Ihre Skaphander anzuziehen.«

Vom Sterbenden oder Toten war nicht die Rede. Ich begab mich zu Ned Land und Conseil, teilte ihnen den Vorschlag von Kapitän Nemo mit. Conseil nahm eifrigst an, und diesmal zeigte sich auch der Kanadier geneigt, sich anzuschließen.

Es war 8 Uhr vormittags. In einer halben Stunde waren wir für diesen wiederholten Gang angekleidet und mit den Apparaten zur Beleuchtung und zum Atmen versehen. Die doppelte Tür wurde geöffnet, und in Begleitung von Kapitän Nemo mit einem Gefolge von zwölf Leuten der Mannschaft stellten wir uns in einer Tiefe von 10 Metern auf den festen Grund auf, wo die ›Nautilus‹ ruhig lag.Ein sanfter Abhang endigte an einem unebenen Grund etwa 15

Klafter tief. Er war völlig verschieden von dem, den ich bei meinem ersten Ausflug unterm Pazifik angetroffen hatte. Hier nichts von dem feinen Sand, nichts von unterseeischen Wiesen, kein Meerwald. Ich erkannte sogleich die merkwürdige Region, deren

Bekanntschaft uns Kapitän Nemo nun machen ließ. Es war das Korallenreich.

Die Korallen gehören zu den Zoophyten. Die merkwürdige Substanz wurde der Reihe nach dem Mineral-, dem Pflanzen- und dem Tierreich zugezählt. Im Altertum ein Heilmittel, in neueren Zeiten ein Zierrat, wurde ihr erst 1694 von dem Marseiller Prysonnet definitiv ihre Stelle im Tierreich angewiesen.

Die Koralle ist eine Versammlung kleiner Tierchen, die in einem Gehäuse zerbrechlicher und steiniger Art beisammen sind. Diese Polypen haben einen einzigen Erzeuger, von dem sie durch Sprossen ausgegangen sind; sie haben eine eigene, gesonderte Existenz und nehmen doch am gemeinsamen Leben teil. Wir sehen also hier eine Art Sozialismus in der Natur. Ich kannte die letzten Arbeiten über diese sonderbaren Zoophyten, die, während sie Zweige treiben, zum Mineral werden, und es konnte mir nichts angenehmer sein, als einmal einen dieser versteinerten Wälder zu besuchen, welche die Natur auf dem Meeresgrund angepflanzt hat.

Die Apparate Ruhmkorff wurden in Tätigkeit gesetzt, und wir gingen längs einer in Bildung begriffenen Korallenbank, die eines Tages diesen Teil des Indischen Ozeans abschließen wird. Neben dem Weg standen unentwirrbare Gebüsche mit durcheinandergeflochtenem Gezweige, die mit kleinen weißstrahligen Sternblumen bedeckt waren. Nur war’s mit diesem Baumwuchs gerade umgekehrt wie bei den Erdpflanzen: festsitzend an den Felsen sprossten sie alle in der Richtung von oben nach unten.

Indem das Licht inmitten dieser so lebhaft gefärbten Gezweige spielte, erzeugten sich tausend reizende Effekte. Es kam mir vor, als sähe ich diese zylindrischen Röhren unter dem Wellenspiegel zittern. Ich war versucht, diese frischen Blumenkelche mit zarten Staubfäden zu pflücken; aber wenn meine Hand sich den lebenden Blumen näherte, kam sogleich die ganze Kolonie in Aufruhr. Die weißen Blumenkronen zogen sich in ihre roten Gehäuse zurück, die Blumen verschwanden vor meinen Blicken, und das Gebüsch verwandelte sich in einen Block mit steinigen Warzen.

Der Zufall ließ mich hier die kostbarsten Muster von Zoophyten antreffen. Diese Korallen kommen an Wert denen gleich, die

man im Mittelmeer an den Küsten Frankreichs, Italiens und der Berberei fischt. Ihre lebhaften Farben rechtfertigen die poetischen Namen »Blutblumen« und »Blutschaum«, die der Handel ihren schönsten Produkten gibt. Die Korallen kosten bis zu 500 Franc das Kilogramm.

Bald wurden die Gebüsche dichter, der Baumwuchs höher.

Wahre versteinerte Waldschläge und langes Sparrenwerk einer fantastischen Architektur öffnete sich vor unseren Schritten. Kapitän Nemo trat unter eine dunkle Galerie mit sanftem Abfall, die uns 100 Meter tief hinabführte. Das Licht unserer Serpentinen erzeugte mitunter zauberhafte Effekte, wenn es sich an den rauen Vorsprüngen der natürlichen Bogen oder an den gleich Lüstern herabhängenden Teilen brach. Unter dem Korallengebüsch gewahrte ich noch andere Polypen, die nicht minder merkwürdig sind, Meliten, Iris, Büsche von Korallinen, grün und rot, wahre Algen mit einer Kruste von kalkhaltigem Salz, welche die Naturforscher nach langem Streiten dem Pflanzenreich zugeteilt haben.

Endlich, nach einem Weg von 2 Stunden, hatten wir eine Tiefe von 300 Meter erreicht, d.h. die äußerste Grenze, wo die Korallenbildung beginnt. Aber da gab’s nicht mehr einzelne Büsche noch niedere Schläge. Es war hier ein ungeheurer Wald, mineralischer Hochwuchs, enorme versteinerte Bäume, durch Girlanden zierlicher Plumaria, dieser Seelianen, miteinander verbunden. Unter ihrem hohen Gezweig gingen wir frei und hatten zu unseren Füßen einen förmlichen Teppich von Tubiporen, Meandrinen, Caryophyllen und anderen wie Edelstein glänzenden Blumen.

Inzwischen hatte Kapitän Nemo haltgemacht. Ich blieb mit meinen Gefährten auch stehen, und als ich mich umwendete, sah ich, dass seine Leute einen Halbkreis um ihn bildeten. Als ich sie genauer betrachtete, nahm ich wahr, dass vier von ihnen einen länglichen Gegenstand auf den Schultern trugen.

Wir befanden uns hier im Mittelpunkt einer geräumigen, lichten Stelle, die von hohem Baumwuchs umgeben war. Unsere Lampen verbreiteten eine Art Dämmerschein, in dem lange Schatten über den Boden fielen. An der Grenze dieser Lichtung begann wieder tiefes Dunkel.

Ned Land und Conseil befanden sich neben mir. Wir sahen zu als Zeugen einer merkwürdigen Szene. Der Boden hatte an verschiedenen Stellen leichte mit einer Kalkkruste überzogene Erhöhungen in regelmäßiger Ordnung, als wie von Menschenhand gefertigt.

In der Mitte der Lichtung war auf einem Piedestal roh aufgeschichteter Steinblöcke ein Kreuz von Korallen errichtet.

Auf einen Wink von Kapitän Nemo trat einer der Männer vor und begann einige Schritte vor dem Kreuz mit einer Hacke, die er von seinem Gürtel nahm, ein Loch zu graben.

Jetzt wurde mir’s klar: Diese Lichtung war ein Friedhof, dies Loch ein Grab, der längliche Gegenstand die Leiche des verstorbenen Mannes. Der Kapitän mit seinen Leuten war damit beschäftigt, den Kameraden an dieser unzugänglichen Stelle des Meeresgrunds zu bestatten.

Inzwischen wurde das Grab langsam fertig. Als es weit, tief und lang genug war, traten die Träger hinzu, und der Leichnam, in weiße Byssus gehüllt, wurde in die nasse Stätte eingesenkt. Kapitän Nemo, mit über der Brust gekreuzten Armen, und alle Freunde des Verstorbenen sanken gleich Betenden auf die Knie ... Meine Gefährten und ich, wir neigten uns in frommer Ehrerbietung.

Darauf wurde das Grab wieder zugeschüttet, sodass es eine leichte Erhöhung bildete.

Hierauf stand der Kapitän mit seinen Leuten wieder auf; dann stellten sie sich nah um das Grab, bogen alle ihre Knie und streckten ihre Hand aus zum letzten Abschied ...

Sodann begab sich die Leichenbegleitung wieder auf den Heimweg zur ›Nautilus‹, unter dem gewölbten Bogengang, inmitten des Baumschlags und längs der Korallengebüsche, stets bergan.

Endlich zeigten sich die Leuchten an Bord der ›Nautilus‹. Ihr Lichtschein führte uns bis zu ihr. Um 1 Uhr waren wir wieder zurück.

Sobald ich meine Kleidung gewechselt, begab ich mich auf die Plattform, und von Gedanken überwältigt wollte ich mich neben der Leuchte niedersetzen.

Kapitän Nemo kam auf mich zu. Ich stand auf und sagte:

»Also, wie ich es voraussah, ist der Mann in der Nacht gestorben?«

»Ja, Herr Arronax«, erwiderte der Kapitän.

»Und nun ruht er bei seinen Genossen auf dem Korallenfriedhof ?«

»Ja, vergessen von der Welt, außer uns! Wir graben das Grab, und die Polypen bestatten unsere Toten für ewig!«

Und sein Gesicht mit den Händen bedeckend, versuchte der Kapitän vergebens sein Schluchzen zu verbergen. Dann fügte er bei:

»Hier ist unser Friedhof, einige hundert Fuß unter dem Meeresspiegel!«

»Ihre Toten ruhen da gewiss friedlich, Kapitän, unangefochten von den Haifischen!«

»Ja, mein Herr«, erwiderte ernst Kapitän Nemo, »von den Haifischen und den Menschen!«

 

 

TEIL II


1. KAPITEL

Der Indische Ozean

So verlief also das ganze Leben von Kapitän Nemo im Schoß des unermesslichen Meeres bis zum Grab in unergründlicher Tiefe, an der stillen Stätte, wohin kein Ungeheuer des Ozeans drang, den

letzten Schlummer der Genossen der ›Nautilus‹ zu stören, seiner Freunde, die im Tod wie im Leben fest miteinander verbunden waren! »Auch kein Mensch sollte sie da stören«, hatte der Kapitän beigefügt.

Stets dasselbe Misstrauen, das wilde, unversöhnliche, gegen die menschliche Gesellschaft!

Ich beruhigte mich nicht bei der Annahme, die Conseil befriedigte, der Kommandant der ›Nautilus‹ sei nur einer der verkannten Gelehrten, die den Menschen ihre Gleichgültigkeit mit Verachtung erwidern. Er hielt ihn ferner für ein unverstandenes Genie, das der Täuschungen der Erdenwelt müde, sich in dieses unzugängliche Gebiet hatte flüchten müssen, wo den Trieben seines Geistes ein freies Wirken vergönnt war. Allein, meines Erachtens, erklärte diese Annahme nur eine der Seiten seines Charakters.

In der Tat, das Geheimnis dieser letzten Nacht, während deren wir im Gefängnis und durch Schlaf gefesselt waren, die so gewaltsam ausgeübte Vorsicht, mir das Fernrohr, womit ich den Horizont zu betrachten im Begriff war, von den Augen wegzureißen, die tödliche Verwundung des Mannes, die von einem unerklärlichen Stoß der ›Nautilus‹ herrühren sollte – alles dies drängte mich in eine neue Bahn. Nein! Kapitän Nemo beschränkte sich nicht darauf, die Menschen zu fliehen! Sein furchtbares Fahrzeug diente nicht allein seinem Freiheitsbedürfnis, sondern vielleicht auch der Absicht gewisser fürchterlicher Repressalien.

In diesem Augenblick ist mir noch nichts mit Gewissheit klar, ich sehe in diesem Dunkel nur unbestimmten Lichtschimmer, und ich muss mich darauf beschränken zu schreiben, was mir gewissermaßen die Ereignisse diktieren.

Übrigens sind wir durch nichts an Kapitän Nemo gebunden.

Er weiß, dass ein Entrinnen unmöglich ist. Wir sind nicht einmal auf Ehrenwort eingehalten; keine Ehrenverbindlichkeit fesselt uns.

Wir sind nur Gefangene, deren Eigenschaft als solche durch einen Anschein von Höflichkeit mit der Benennung »Gäste« verdeckt ist.

Dennoch hat Ned Land die Hoffnung nicht aufgegeben, wieder die Freiheit zu erlangen. Gewisslich wird er die erste Gelegenheit dazu benutzen, die ihm das Schicksal bietet. Ohne Zweifel werde ich es

genauso machen. Doch werde ich nur mit gewissem Leidwesen mit mir nehmen, was uns von den Geheimnissen der ›Nautilus‹ durch das Vertrauen des Kapitäns mitgeteilt worden. Denn, kurz zu reden, muss man diesen Mann hassen oder bewundern? Ist er ein Opfer oder ein Henker? Und dann, offen gesagt, ich möchte gern, bevor ich ihn auf immer verließe, diese unterseeische Fahrt um die Welt, die so prächtig begonnen hat, erst vollenden. Ich möchte gern zuvor die in den Tiefen der Meere des Erdballs vorhandenen Wunder vollständig beobachten. Ich möchte sehen, was noch kein Mensch gesehen hat, und sollte ich dieses unersättliche Bedürfnis zu lernen mit meinem Leben bezahlen! Was hab’ ich bis jetzt entdeckt? Nichts, oder so gut wie nichts, denn wir haben erst 6.000

Meilen durch den Pazifik zurückgelegt.

Doch weiß ich wohl, dass die ›Nautilus‹ sich den bewohnten Ländern nähert und dass, wenn sich eine Aussicht zur Rettung bietet, es grausam wäre, meine Gefährten meiner Leidenschaft für das Unbekannte zu opfern. Ich muss mich ihnen anschließen, vielleicht sie anführen. Aber wird sich eine solche Gelegenheit jemals ergeben? Der gewaltsam seiner freien Verfügung beraubte Mensch sehnt sich nach einer solchen, aber der Gelehrte in seinem Wissensdrang fürchtet sie.

An diesem Tag, dem 21. Januar 1868, war um Mittag der Schiffslieutenant beschäftigt, den Höhenstand der Sonne aufzunehmen.

Ich begab mich auf die Plattform, zündete eine Zigarre an und sah der Verrichtung zu. Es schien mir klar, dass dieser Mann französisch nicht verstand, denn einige Mal machte ich laut in dieser Sprache Bemerkungen, die ihm unwillkürlich Zeichen der Beachtung entlockt haben würden, wenn er sie verstanden hätte; aber er blieb gleichgültig und stumm.

Während er mit dem Sextanten seine Beobachtungen anstellte, kam einer der Matrosen der ›Nautilus‹ – jener kräftige Mann, der uns bei unserem ersten unterseeischen Ausflug auf die Insel Crespo begleitet hatte – und reinigte die Fenster der Leuchte. Da betrachtete ich die Einrichtung dieses Apparates, dessen Wirkungskraft durch linsenförmige Ringe hundertfach verstärkt wurde, die wie bei den Leuchttürmen angebracht waren und das Licht in der erforderlichen Ebene hielten. Die elektrische Lampe war derart eingerichtet, dass sie alle ihre Leuchtkraft hingab. Ihr Licht erzeugte sich wirklich im leeren Räume, wodurch seine Regelmäßigkeit und Stärke gesichert wurde. Dieser leere Raum sparte auch die Grafitspitzen, zwischen denen die Lichtströmung sich entwickelt. Eine um so wichtigere Sache für Kapitän Nemo, da er sie nicht leicht hätte erneuern können. Aber unter diesen Verhältnissen war ihre Abnutzung fast unmerklich.

Während die ›Nautilus‹ sich vorbereitete, ihre unterseeische Fahrt fortzusetzen, begab ich mich wieder in den Saal hinab. Die Luken wurden wieder geschlossen, und es wurde gerade westliche Richtung gegeben.

Wir durchschnitten also die Wogen des Indischen Ozeans, eine Fläche von 550 Millionen Hektar Gehalt von so durchsichtigem Wasser, dass man den Schwindel bekommt, wenn man an der Oberfläche sich darüberbeugt. Die ›Nautilus‹ hielt sich im allgemeinen 100 bis 200 Meter tief. So ging es 5 Tage lang. Jedem anderen, der nicht so große Freude am Meer hatte wie ich, würden die Stunden gewiss langweilig und einförmig vorgekommen sein; aber dieser tägliche Spaziergang auf der Plattform, wo ich mich in der erfrischenden Seeluft erquickte, der Anblick der reichen Gewässer durch die Fenster des Salons, die Lektüre in der Bibliothek, die Ausarbeitung meines Tagebuchs beschäftigten mich die ganze Zeit über und ließen mir nicht einen einzigen Augenblick Langeweile.

Unser Gesundheitszustand hielt sich allerseits sehr befriedigend. Die tägliche Kost sagte uns vollkommen zu, und ich meinesteils hätte ganz wohl die Abwechselung entbehren können, die Ned Land aus Widerspruchsgeist hineinzubringen beflissen war. Ferner war bei der gleichmäßigen Temperatur nicht einmal ein Katarrh zu befürchten. Zudem hätte das madreporische Gewächs, das in der Provence unter dem Namen Meerfenchel bekannt ist und wovon man einigen Vorrat an Bord genommen hatte, mit dem saftigen Fleisch seiner Polypen ein vortreffliches Mittel gegen den Husten gegeben.

Einige Tage lang bekamen wir eine große Menge Seevögel zu sehen, Plattfüßer, Meerschwalben oder Seemöwen. Es gelang einige

zu schießen, und gehörig zubereitet gaben sie ein sehr annehmliches Seewildbret ab. Unter den Weitseglern, die allerwärts her aus weiter Ferne verschlagen, von dem ermüdenden Flug auf den Wellen ausruhen, bemerkte ich prächtige Albatrosse, die so disharmonisch schreien wie ein Esel; sodann Fregatten, die in reißendschnellem Flug die Fische von dem Meeresspiegel fangen, und zahlreiche

Phaeton, unter anderen den rot gesprengten von der Größe einer Taube, dessen weiße Flaumfedern mit rosa Tönen schattiert sind, welche die schwarze Färbung der Flügel hervorheben.

Die Netze der ›Nautilus‹ lieferten einige Sorten Seeschildkröten von der Karettgattung mit gewölbtem Rücken und sehr geschätzter Schale. Diese Tiere tauchen leicht unter und können sich lange unter Wasser halten, indem sie die fleischige Klappe an der äußeren Mündung ihres Nasenkanals schließen. Ihr Fleisch war meist nicht viel wert, aber ihre Eier bildeten eine treffliche Erfrischung.

Die Fische erregten stets unserer Bewunderung, wenn wir bei geöffneten Läden sie bei den Geheimnissen ihres Wasserlebens belauschten. Ich bemerkte einige Arten, die ich bisher noch nicht zu beobachten Gelegenheit hatte.

Ich hebe daraus die dem Roten und Indischen Meer eigentümlichen Beinfische hervor. Diese sind gleich den Schildkröten, Gürteltieren, Meerigeln, Schaltieren mit einem Panzer geschirmt, der weder kreideartig noch steinartig, sondern wirklich von Knochenstoff ist. Er hat bald die Form eines dreieckigen, bald eines viereckigen Körpers. Von den dreieckigen waren manche einen halben Dezimeter lang, von gesundem Fleisch und ausgesuchtem Geschmack, mit braunem Schwanz und gelben Flossen. Unter den viereckigen führe ich die mit vier Buckeln auf dem Rücken an; die Dromedare mit dicken kegelförmigen Höckern, von hartem, zähem Fleisch; ferner Trigonen, die mit Stacheln versehen sind, die durch Verlängerung ihrer beinigen Schale entstehen, und die man ihres eigentümlichen Grunzens wegen »Meerschweine« genannt hat.

Meister Conseil hatte in seinem Tagebuch eine sehr große Menge der schönsten und merkwürdigsten Fische verzeichnet, von denen ich noch manche anführen möchte, aber es würde allzu weitläufig sein.

Vom 21. bis 23. Januar fuhr die ›Nautilus‹ im Verhältnis von 250

Lieue binnen 24 Stunden, also 540 Meilen oder 22 Meilen in der Stunde. Die mancherlei Fische, die uns begleiteten, waren durch das elektrische Licht angelockt: die meisten blieben bald zurück, manche konnten sich jedoch eine Zeit lang neben ihr halten.

Am 24. früh bekamen wir, unter 12° 5ʹ südlicher Breite und

94° 33ʹ Länge, die Insel Keeling in Sicht; sie ist madreporischen Ursprungs, mit prachtvollen Kokosbäumen bepflanzt, aber menschenleer und mit steilen Küsten, an denen die ›Nautilus‹ nah vorbeifuhr. Darwin und der Kapitän Fitz-Roy hatten sie besucht. Sie verschwand uns rasch am Horizont, und wir fuhren nordwestlich auf die Spitze der indischen Halbinsel zu.

»Zivilisierte Länder«, sagte damals Ned Land zu mir. »Das wird besser sein als Papuasien, wo man mehr Wilde als Wildbret antrifft! Auf diesem indischen Land, Herr Professor, gibt’s Landstraßen, Eisenbahnen, englische, französische und Hindu-Städte. Da würde man keine 5 Meilen zu machen haben, um auf einen Landsmann zu stoßen. Nun? Ist da nicht der rechte Zeitpunkt, sich von dem Kapitän im Stillen zu entfernen?«

»Nein, Ned, nein«, erwiderte ich in sehr bestimmtem Ton. »Die ›Nautilus‹ nähert sich bewohnten Landschaften. Sie kommt nach Europa zurück, mag uns dahin führen. Sind wir einmal in unseren heimatlichen Meeren, werden wir sehen, was die Klugheit uns raten wird zu versuchen. Übrigens nehme ich nicht an, dass Kapitän Nemo uns gestatten wird, an der Küste von Malabar oder Coromandel auf die Jagd zu gehen, wie er in den Wäldern von Neuguinea erlaubte.«

»Ah! Herr, kann man’s nicht ohne seine Erlaubnis tun?«

Ich gab dem Kanadier keine Antwort weiter; ich wollte nicht darüber hin und her reden. Im Grunde hatte ich mir vorgenommen, bis zu Ende die Wechselfälle des Schicksals mitzumachen, das mich an Bord der ›Nautilus‹ verschlagen hatte.

Von der Insel Keeling an wurde unsere Fahrt im allgemeinen langsamer. Sie war auch launenhafter und zog uns oft in große Tiefen hinab. Wir kamen so bis auf 2 bis 3 Kilometer, aber ohne jemals die großen Tiefen dieses Indischen Meeres festzustellen, die durch Sondieren mit 13.000 Meter nicht hatte erreicht werden können.

Was die Temperatur der niederen Schichten betraf, so zeigte das Thermometer stets unverändert 4 Grad über Null. Ich beobachtete nur, dass in den oberen Lagen das Wasser unter der Oberfläche stets kälter war als oberhalb.

Am 25. Januar, da der Ozean völlig leer war, brachte die ›Nau

tilus‹ den ganzen Tag auf der Oberfläche zu, und seine gewaltige Schraube warf bei ihren Schlägen die Wellen hoch empor.

Da konnte man ihn wohl für ein Riesenungeheuer ansehen. Ich brachte drei Viertel des Tages auf der Plattform zu. Mein Blick schweifte über dem Meer. Nichts am Horizont, als gegen 4 Uhr abends ein langes Dampfboot, das uns westlich entgegenfuhr. Seine Masten waren einen Augenblick sichtbar, aber es konnte die ›Nautilus‹ nicht sehen, weil er zu flach, über die Oberfläche des Wassers wenig hervorragte. Ich glaubte, dies Boot gehörte der Linie an, welche die Fahrten von Ceylon nach Sidney macht.

Um 5 Uhr abends, vor der Dämmerung, die in den Tropengegenden so kurz ist, wurden wir, Conseil und ich, durch einen merkwürdigen Anblick in Staunen versetzt.

Es gibt ein reizendes Tierchen, dessen Begegnung die Alten als ein glückliches Wahrzeichen ansahen. Sie nannten es ›Nautilus‹

und Pompylius. Aber die neuere Wissenschaft hat ihm einen anderen Namen gegeben; die Molluske heißt jetzt Argonaut, der zu derselben Familie gehört wie der Kalmar und der Tintenfisch. Einer solchen Truppe von Argonauten, die auf der Oberfläche des Ozeans wanderte und mehrere Hunderte zählte, begegneten wir damals.

Diese zierlichen Mollusken bewegten sich vermittels ihrer Fortbewegungsröhre rückwärts, indem sie durch diese Röhre das eingesaugte Wasser entfernen. Von ihren acht Fühlfäden schwammen sechs lange und feine oben auf dem Wasser, während die beiden andern blattförmig zusammengerollt wie ein leichtes Segel im Wind aufgespannt waren. Ich sah genau ihre spiralförmige gefältelte Muschel, die Cuvier richtig mit einer eleganten Schaluppe vergleicht.

In der Tat ist’s ein wirkliches Boot, worin das Tier, das es durch Absonderung geschaffen hat, fährt, ohne dass es ihm anhängt.

Etwa eine Stunde lang schwamm die ›Nautilus‹ inmitten dieser Molluskenschar. Darauf befiel sie ein plötzlicher Schrecken. Wie auf ein Signal verschwanden auf einmal alle Segel, die Arme zogen sich ein, die Körper schrumpften zusammen, die Muscheln änderten durch Umkehren ihren Schwerpunkt, und die ganze Flottille sank unter. Dies geschah in einem Augenblick und mit einer glei

chen Gemeinsamkeit des Manövers, wie man’s bei einem Schiffsgeschwader noch nie gesehen hat.

Am folgenden Tag, dem 26, Januar, durchschnitten wir unterm 82. Meridian den Äquator und kamen wieder auf die nördliche Hemisphäre.

Während dieses Tages hatten wir eine fürchterliche Schar von

Haifischen im Gefolge, Ungeheuer, die in diesen Meeren massenweise vorkommen und sie sehr gefährlich machen. Oft schossen diese gewaltigen Tiere mit beunruhigendem Ungestüm gegen die Fenster des Salons. Dann hielt sich Ned Land nicht länger, wollte auf die Oberfläche des Wassers, um die Ungetüme mit seiner Harpune zu treffen. Aber die ›Nautilus‹ bekam durch Verstärkung seiner Schnelligkeit leicht einen Vorsprung vor den raschesten dieser Tiere.

Am 27. Januar, bei der Einfahrt in den ungeheuren bengalischen Golf, stießen wir mehrmals auf Leichname, die auf der Meeresoberfläche schwammen. Es waren Leichen aus den indischen Städten, die der Ganges bis ins hohe Meer getrieben hatte und welche die Geier, die einzigen Bestatter des Landes, nicht alle hatten verschlingen können. Die Haifische waren beflissen, sie in ihrem leidigen Geschäfte zu unterstützen.

Gegen 7 Uhr abends fuhr die ›Nautilus‹ halb unter Wasser mitten durch ein Milchmeer. So weit man sehen konnte, schien der Ozean aus Milch zu bestehen. War’s nur Wirkung des Mondlichts?

Nein, denn der Mond, erst seit 2 Tagen im Wachsen begriffen, befand sich noch unterhalb des Horizonts. Der ganze Himmel, obgleich in der Beleuchtung des Sternenlichts, schien schwarz im Gegensatz mit diesem weißen Gewässer.

Conseil konnte seinen Augen nicht trauen und fragte mich über die Ursachen dieser auffallenden Erscheinung. Glücklicherweise war ich imstande ihm seine Frage zu beantworten.

»Man nennt das ein Milchmeer«, sagte ich, »weiße Meereswellen in weitem Umfang, wie man’s häufig an den Küsten von Amboina und in diesen Gegenden zu sehen bekommt.«

»Aber«, fragte Conseil, »kann mein Herr mich darüber belehren, welche Ursache eine solche Wirkung hervorbringt, denn das Wasser hat sich nicht in Milch umgewandelt, denk’ ich mir.«

»Nein, lieber Junge; diese weiße Farbe, die dir auffällt, rührt nur von Myriaden Infusionstierchen her, eine Art Leuchtwürmchen, die farblos sind und wie Gallerte aussehen, haardünn und nicht länger als 1/5 Millimeter. Manche dieser Tierchen hängen meilenweit miteinander zusammen.«

»Meilenweit«, rief Conseil aus.

»Ja, mein Junge, und gib dir nicht die Mühe, die Zahl dieser Tierchen auszurechnen! Du würdest es nicht fertigbringen, denn, irre ich nicht, so sind manche Seefahrer mehr als 40 Meilen weit über solche Milchmeere gefahren.«

Ich weiß nicht, ob Conseil meiner Mahnung Rechnung trug,

aber er schien in tiefes Nachdenken versenkt, indem er ohne Zweifel auszurechnen bemüht war, wie viel Fünftel von Millimetern in 40 Quadratmeilen enthalten sind. Ich meinesteils fuhr fort, das Phänomen zu beobachten. Einige Stunden lang fuhr die ›Nautilus‹ über solchen weißen Wogen, und ich bemerkte, dass sie ganz geräuschlos durch dieses seifenartige Wasser glitt, als führe sie in den Schaumwirbeln, die mitunter zwischen den Strömungen und Gegenströmungen der Baien entstehen.

Gegen Mitternacht nahm das Meer plötzlich seine gewöhnliche Farbe wieder an, aber hinter uns bis zu den Grenzen des Horizonts schien der Himmel im Widerschein der weißen Wogen lange Zeit mit dem unbestimmten Nordlichtschimmer überzogen.

 


2. KAPITEL

Ein neuer Vorschlag von Kapitän Nemo

Am 28. Februar, als die ›Nautilus‹ zur Mittagszeit unter 9° 4ʹ nördlicher Breite wieder an die Oberfläche des Meeres kam, befand sie sich im Angesicht eines Landes, das 8 Meilen westlich lag. Ich gewahrte zuerst einen Haufen etwa 2.000 Fuß hoher Berge, deren Formen sich sehr launenhaft änderten. Als die Lage aufgenommen war, begab ich mich wieder in den Salon und erkannte auf der Karte, dass wir im Angesicht der Insel Ceylon waren, dieser Perle an der unteren Spitze der indischen Halbinsel.

Ich suchte in der Bibliothek nach einem Buch über diese Insel, die eine der fruchtbarsten der Erde ist, und fand gerade einen Band von Sir H. O. Esq., mit dem Titel ›Ceylon und Cingalesen‹.

Als ich wieder in den Salon trat, erschienen gleich auch Kapitän Nemo und sein Lieutenant.

Der Kapitän warf einen Blick auf die Karte und sagte zu mir:

»Die Insel Ceylon ist durch ihre Perlenfischereien berühmt?

Würde es Ihnen angenehm sein, Herr Arronax, eine solche Fischerei zu besuchen?«

»Jawohl, Kapitän.«

»Gut. Es kann leicht geschehen. Nun, sehen wir zwar die Fische

reien, so können wir doch nicht die Fischer sehen. Die jährlich vorgenommene Ausbeutung hat noch nicht begonnen.

Tut nichts. Ich will nach dem Golf Manaar fahren, wo wir in der Nacht ankommen werden.«

Der Kapitän sprach mit seinem Lieutenant einige Worte, der ging sogleich hinaus, und die ›Nautilus‹ tauchte alsbald in ihr Element hinab. Das Manometer zeigte, dass er sich in einer Tiefe von 30 Fuß hielt.

Ich suchte auf der Karte den Golf von Manaar. Er findet sich im Nordwesten unterm 9. Breitengrad, gebildet durch einen langen Streifen des Inselchens Manaar. Man musste, um hinzukommen, das ganze westliche Ufer von Ceylon hinauffahren.

»Herr Professor«, sagte darauf Kapitän Nemo, »man fischt Perlen im Golf von Bengalen, im Indischen Meer, dem Chinesischen und Japanischen, in den Meeren Südamerikas, in den Golfen von Panama und Kalifornien; aber zu Ceylon mit dem schönsten Erfolg.

Wir kommen dafür zwar etwas zu früh. Die Fischer versammeln sich erst im März im Golf von Manaar, und dann widmen sich ihre 300 Boote 300 Tage lang ganz dem gemeinsamen Geschäft, diese Kostbarkeiten des Meeres zu holen. Jedes Boot ist mit zehn Ruderern und zehn Fischern besetzt. Die letzteren sind in zwei Rotten geteilt, die im Untertauchen miteinander abwechseln, und begeben sich in eine Tiefe von 12 Metern mithilfe eines schweren Steins, den sie zwischen ihre Füße nehmen und der mit einem Tau an dem Fahrzeug befestigt ist.«

»Also«, sagte ich, »ist immer noch das ursprüngliche Verfahren in Brauch.«

»Immer noch«, erwiderte Kapitän Nemo, »obwohl diese Fischereien dem gewerbverständigsten Volk der Welt angehören, den Engländern, denen sie im Vertrag zu Amiens, 1802, abgetreten worden sind.«

»Es scheint mir doch, dass der Skaphander, wie Sie ihn im Gebrauch haben, dabei große Dienste leisten würde.«

»Jawohl, denn die armen Fischer können’s nicht lange unter Wasser aushalten. Der Engländer Parceval spricht zwar von einem Kaffer, der 5 Minuten lang unter Wasser bleiben konnte, aber es

scheint mir dies nicht sehr glaubhaft. Ich weiß, dass manche Taucher es bis auf 57 Sekunden und sehr geschickte bis 87 bringen; doch sind solche selten, und wenn die armen Kerle wieder an Bord kommen, strömt ihnen Wasser mit Blut vermischt aus Nase und Ohren. Ich glaube, dass die Durchschnittszeit, die diese Fischer es aushalten können, nur 30 Sekunden beträgt, währenddessen sie in aller Eile mit einem kleinen Netz alle Perlmuscheln, deren sie habhaft werden können, zusammenraffen; aber im allgemeinen werden diese Fischer nicht alt; sie bekommen schwache Sehkraft, es bilden sich Geschwüre an ihren Augen und zeigen sich Wunden über dem ganzen Körper; und oft auch werden sie auf dem Meeresgrund vom Schlag getroffen.«

»Ja«, sagte ich, »’s ist ein trauriges Gewerbe und dient doch nur, um einige Launen zu befriedigen. Aber, sagen Sie mir, Kapitän, wie viel Muscheln kann ein Boot während eines Tages fischen?«

»Etwa 40- bis 50.000. Man sagt sogar, dass im Jahr 1814, als die englische Regierung auf eigene Rechnung fischen ließ, ihre Taucher binnen 20 Tagen 76 Millionen Muscheln zutage förderten.«

»Da finden sich wenigstens«, fragte ich, »diese Fischer hinreichend belohnt.«

»Schwerlich, Herr Professor. Zu Panama verdienen sie nur einen Dollar die Woche. Meistens bekommen sie nur einen Sou für die Muschel mit einer Perle, und wie viele bringen Sie herauf, die keine enthalten!«

»Ein Sou den armen Leuten, die ihre Herren bereichern! Das ist abscheulich!«

»Also, Herr Professor«, sagte zu mir Kapitän Nemo, »Sie werden mit Ihren Gefährten die Bank von Manaar besuchen, und wenn sich vielleicht ein erwerbsamer Fischer schon dort befindet, so werden wir ihn sehen, wie er’s macht.«

»Einverstanden, Kapitän.«

»Beiläufig, Herr Arronax, Sie fürchten sich doch nicht vor den Haifischen?«

»Vor den Haifischen?« rief ich aus.

Diese Frage schien mir zum Mindesten recht müßig.

»Nun?« wiederholte der Kapitän.

»Ich muss Ihnen gestehen, Kapitän, dass ich mich mit dieser Art Fische noch nicht sehr befreundet habe.«

»Wir sind daran gewöhnt«, versetzte Kapitän Nemo, »und mit der Zeit werden Sie sich dareinfinden. Übrigens sind wir ja bewaffnet, und wir können unterwegs vielleicht einen Hai erlegen; ’s ist das eine recht interessante Jagd. Also, auf morgen, Herr Professor, und in aller Frühe.«

Das sagte der Kapitän so leichthin und verließ den Saal.

Lädt man uns ein, im Schweizer Gebirge einen Bären zu jagen, so sagen wir: »Recht gern! Morgen gehen wir auf die Bärenjagd.«

Lädt man uns zu einer Löwenjagd auf den Hochebenen des Atlas oder zu einer Tigerjagd in den Niederungen Indiens ein, so sagen wir: »Ei nun! wir werden wohl dabei sein!« Aber lädt man uns ein, den Haifisch in seinem natürlichen Element zu jagen, so erbitten wir uns vielleicht Bedenkzeit aus, bevor wir die Einladung annehmen.

Ich für meinen Teil fuhr mit der Hand über meine Stirn und fühlte da einige Tropfen kalten Schweißes.

»Wir wollen’s überlegen«, sagte ich bei mir, »und übereilen wir uns nicht. Fischotter in unterseeischen Wäldern zu jagen, wie wir’s auf der Insel Crespo getan, geht noch an. Aber sich auf den Meeresgrund zu begeben, wenn man fast sicher ist, dort auf Haifische zu stoßen, ist doch etwas anderes! Ich weiß wohl, dass in manchen Ländern, besonders auf den Andamanen, die Neger bei der Hand sind, einen Dolch in einer Hand, eine Schlinge in der anderen, einen Haifisch anzugreifen, aber ich weiß auch, dass viele, die keck genug sind, mit diesen furchtbaren Ungeheuern anzubinden, nicht mit dem Leben davonkommen! Übrigens bin ich auch kein Neger, und wenn ich einer wäre, so würde, glaube ich, in diesem Falle eine leichte Bedenklichkeit meinerseits wohl an der Stelle sein.«

Ich stellte mir also in Gedanken die Haifische vor, ihre ungeheuren Kinnbacken mit vielen Reihen Zähnen, die einen Menschen mit einem Biss in zwei Teile zerlegen können. Da kam mir schon ein Schmerzgefühl um die Lenden. Sodann wollte mir doch die Gleichgültigkeit nicht behagen, womit der Kapitän diese leidige Einladung gemacht hatte! Hätte man nicht meinen sollen, es

handle sich nur darum, in einem Buschwerk einen Fuchs zu prellen?»Gut!« dachte ich, »Conseil wird sich nie entschließen mitzugehen, und das wird mich beim Kapitän entschuldigen.«

In Beziehung auf Ned Land, gestehe ich, fühlte ich mich nicht so sicher seiner Klugheit. Eine noch so große Gefahr hatte für seine kampffertige Natur stets einen Reiz.

Ich machte mich wieder an die Lektüre des Buchs von Sier, aber ich blätterte nur mechanisch darin. Ich sah zwischen den Zeilen die fürchterlichen Kinnbacken aufgesperrt.

In diesem Augenblick traten Conseil und der Kanadier ein, mit ruhiger, selbstheiterer Miene. Sie wussten nicht, was ihnen bevorstand.

»Meiner Treu, mein Herr«, sagte Ned Land zu mir, »Ihr Kapitän Nemo – hol ihn der Teufel – hat uns soeben einen sehr annehmlichen Vorschlag gemacht.«

»Ah!« sagt’ ich, »Sie wissen ...«

»Nehmen Sie’s nicht übel, mein Herr«, erwiderte Conseil, »der Kommandant der ›Nautilus‹ hat uns eingeladen, morgen in Gesellschaft meines Herrn die prächtigen Fischereien von Ceylon zu besuchen. Er hat die Einladung in seinen Worten gemacht und sich wie ein echter Gentleman benommen.«

»Sonst hat er euch nichts gesagt?«

»Nein, mein Herr«, erwiderte der Kanadier, »außer dass er von dem kleinen Ausflug mit Ihnen gesprochen habe.«

»In der Tat«, sagte ich. »Und er hat Ihnen nichts Besonderes gesagt über ...«

»Nichts, Herr Naturforscher. Sie werden doch mit dabei sein, nicht wahr?«

»Ich ... ohne Zweifel! Ich sehe, dass Sie Geschmack daran bekommen, Meister Land.«

»Ja! ’s ist merkwürdig, sehr merkwürdig.«

»Gefährlich vielleicht!« fügte ich mit schmeichelndem Ton bei.

»Gefährlich«, erwiderte Ned Land, »ein bloßer Ausflug auf eine Austernbank!«

Offenbar hatte Kapitän Nemo für unzuträglich gehalten, den

Gedanken an Haifische bei meinen Gefährten anzuregen. Ich sah sie mit besorgtem Auge an, als wenn ihnen schon ein Glied mangele. Sollte ich sie warnen? Ja gewiss, aber ich wusste nicht recht, wie es anzufangen.

»Wird mein Herr«, sagte Conseil, »die Güte haben, uns Näheres über die Perlenfischerei zu sagen?«

»Über das Fischen selbst«, fragte ich, »oder über das, was dabei vorfallen ...«

»Über das Fischen«, versetzte der Kanadier. »Ehe man auf etwas eingeht, muss man den Grund kennenlernen.«

»Nun denn! Setzten Sie sich nieder, meine Freunde, und ich will Ihnen mitteilen, was ich von dem Engländer Sier selbst soeben gelernt habe.«

Ned und Conseil setzten sich auf einen Diwan, und zuerst sagte der Kanadier zu mir:

»Mein Herr, was ist denn eigentlich eine Perle?«

»Lieber Ned«, erwiderte ich, »für den Dichter ist die Perle eine Träne des Meeres; für die Orientalen ein fest gewordener Tautropfen; für die Frauen ein längliches Kleinod von durchsichtigem Glanz und Perlmutterstoff, das sie am Finger, Hals oder am Ohr tragen; für den Chemiker eine Mischung von phosphorsaurem und kohlensaurem Salz mit ein wenig Leim, und endlich für den Naturkundigen nur eine krankhafte Ausscheidung des Organes, das bei einigen zweischaligen Muscheln die Perlmutter erzeugt.«

»Abteilung der Mollusken«, sagte Conseil, »Klasse der Kopflosen, Ordnung der Schaltiere.«

»Ganz richtig, gelehrter Conseil. Unter diesen Schaltieren nun sind alle die, welche Perlmutter ausscheiden, d.h. die blaue, bläulich violette oder weiße Substanz, die das Innere ihrer Schalen auskleidet, fähig, Perlen zu erzeugen.«

»Auch die Muscheln?« fragte der Kanadier.

»Ja, die Muscheln einiger Bäche in Schottland, Wales, Irland, Sachsen, Böhmen, Frankreich.«

»Gut! Das wird man sich merken«, erwiderte der Kanadier.

»Aber«, fuhr ich fort, »die Molluske, die vorzugsweise Perlen absondert, ist die Perlenauster, meleagrina Margaritifera, die kostbare

Perlmuttermuschel. Die Perle ist nur eine Perlmutterausscheidung, die Kugelform annimmt. Entweder sitzt sie an der Schale fest oder befindet sich als Verhärtung im Fleisch des Tieres frei. Zum Kern hat sie stets ein kleines hartes Körperchen, sei’s ein unfruchtbares Eichen oder ein Sandkorn, um das sich der Perlmutterstoff binnen einigen Jahren nach und nach in kleinen konzentrischen Ringen absetzt.«

»Finden sich mehrere Perlen in derselben Auster?« fragte Conseil.»Ja, lieber Junge. Es gibt Perlmuscheln, die einen wahren Schrein bilden. Man hat sogar eine Auster angeführt, aber ich bin so frei, es in Zweifel zu ziehen, die nicht minder als 150 Haifische enthielt.«

»150 Haifische!« rief Ned Land aus.

»Hab’ ich Haifische gesagt?« versetzte ich lebhaft. »Ich meine 150 Perlen. Haifische wäre ja sinnlos.«

»Jawohl«, sagte Conseil. »Will mein Herr uns nun lehren, wie man diese Perlen herausbekommt?«

»Man verfährt auf verschiedene Weise, und oft, wenn die Perlen an den Schalen anhängen, reißen die Fischer sie mit den Zangen ab. Aber zumeist werden die Perlmuscheln über Matten von Pfrimmenkraut gebreitet, die am Ufer liegen. So sterben sie in der freien Luft, und nach Verlauf von 10 Tagen befinden sie sich in einem befriedigenden Zustand von Fäulnis. Darauf tut man sie in ungeheure Behälter voll Meerwasser, öffnet und wäscht sie. Jetzt beginn die doppelte Arbeit der Aussonderung. Zuerst lösen sie die Perlmutterblätter ab, die in Kisten von 125 bis 150 Kilogramm geliefert werden. Nachher entfernen sie das Fleisch der Auster, sieben sie ab und sieben sie durch, um auch die kleinsten Perlchen herauszubekommen.«

»Der Preis der Perlen richtet sich nach ihrer Größe?« fragte Conseil.

»Nicht allein nach ihrer Größe«, erwiderte ich, »sondern auch nach ihrer Form, ihrem Wasser, ihrer Farbe, und nach ihrem Orient, d.h. dem schillernden farbenreichen Glanz, der sie dem Auge so reizend macht. Die schönsten Perlen werden Jungfernperlen genannt; sie bilden sich vereinzelt im Fleisch der Molluske; sie sind

weiß, oft undurchsichtig, doch manchmal auch durchsichtig, opalfarbig und zumeist kugel- oder birnförmig. Die kugelrunden werden zu Armbändern verwendet, die birnförmigen zu Gehängen, und die kostbarsten werden nach dem Stück verkauft. Die anderen Perlen hängen an der Schale der Auster, und außergewöhnlich werden sie nach dem Gewicht verkauft. Endlich zur geringsten Sorte gehören die Sandperlen, die nach dem Maß verkauft und ganz besonders zu Stickereien auf kirchlichem Schmuck gebraucht werden.«

»Aber das Aussondern der Perlen nach der Größe muss eine langwierige Arbeit sein«, sagte der Kanadier.

»Nein, mein Freund, sie geschieht vermittels 11 Sieben, die eine unterschiedliche Anzahl Löcher haben. Die Perlen, die in den Sieben mit 20 bis 80 Löchern zurückbleiben, sind ersten Ranges; die bei 100 bis 800 nicht durchfallen, bilden die zweite Sorte; für die dritte Sorte endlich, die Saatperlen, gebraucht man Siebe mit 900

bis 1.000 Löchern.«

»Das ist sinnreich«, sagte Conseil; »ich sehe, dass hier das Klassifizieren mechanisch vor sich geht. Könnte uns mein Herr auch sagen, was die Ausbeutung der Perlausternbänke einträgt?«

»Laut Siers Buch sind die Fischereien Ceylons jährlich für eine Summe von 3 Millionen Haifische verpachtet.«

»Franc!« versetzte Conseil.

»Ja, Franc!« 3 Millionen Franc wiederholte ich. »Aber ich glaube, diese Fischereien tragen jetzt nicht mehr so viel ein wie früher.

Ebenso ist es mit den amerikanischen, die unter Karl V. 4 Millionen Franc brachten, gegenwärtig auf zwei Drittel herabgesunken sind.

Im ganzen kann man den allgemeinen Ertrag der Ausbeutung der Perlen auf 9 Millionen Franc anschlagen.«

»Aber«, sagte Conseil, »man führt ja doch einzelne Perlen von sehr hohem Preis an?«

»Ja, Lieber. Man sagt, Cäsar habe der Servilia eine Perle überreicht, die nach heutiger Münze auf 120.000 Franc geschätzt wurde.«

»Ich habe«, versetzte der Kanadier, »meiner Braut, Kat Tender –

die übrigens einen anderen geheiratet hat, ein Perlenhalsband ge

kauft, das kostete nur ein und einen halben Dollar, und doch – der Herr Professor kann mir’s kecklich glauben – wären diese Perlen nicht durch ein Sieb mit 20 Löchern gegangen.«

»Guter Ned«, erwiderte ich lachend, »das waren unechte Perlen, bloß Glaskugeln, innen mit orientalischer Essenz bestrichen.«

»Ach! diese Essenz«, erwiderte Ned, »muss teuer sein.«

»Sie kostet so viel wie nichts. Es ist nur die silberweiße Substanz der Schuppen des Weißfisches die man im Wasser sammelt und in Salmiak aufhebt. Sie ist ganz wertlos.«

»Vielleicht hat Kat Tender deshalb einen anderen geheiratet«, erwiderte Meister Land nachdenklich.

»Aber«, sagte ich, um auf den hohen Preis von Perlen zurückzukommen, »ich glaube nicht, dass je ein Fürst eine von höherem Wert besaß als die im Besitz von Kapitän Nemo.«

»Diese hier«, sagte Conseil, und wies auf das prachtvolle Kleinod in seinem Glaskasten.

»Ich irre gewiss nicht, wenn ich ihren Wert auf 2 Millionen anschlage ...«

»Franc!« sagte Conseil lebhaft.

»Ja«, sagte ich, »2 Millionen Franc, und ohne Zweifel hat sie den Kapitän nur die Mühe des Einsamseins gekostet.«

»Ah!« rief Ned Land, »könnten wir nicht morgen bei dem Ausflug eine gleiche finden?«

»Pah!« sagte Conseil.

»Und warum nicht?«

»Was sollen uns an Bord der ›Nautilus‹ Millionen nützen?«

»An Bord nicht«, sagte Ned Land, »aber ... sonst wo.«

»Oh! Sonst wo!« versetzte Conseil mit Kopfschütteln.

»In der Tat«, sagte ich, »hat Ned Land recht. Und wenn wir jemals eine Perle von einigen Millionen Wert nach Europa oder Amerika bringen, so gäbe das mindestens ein starkes Beweismittel der Echtheit und zugleich der Erzählung von unseren Abenteuern einen hohen Wert.«

»Das glaub’ ich wohl«, sagte der Kanadier.

»Aber«, sagte Conseil, der stets auf das Belehrende bei den

Dingen zurückkam, »ist diese Perlenfischerei mit Gefahr verbunden?«

»Nein«, versetzte ich lebhaft, »zumal bei einigen Vorsichtsmaßregeln.«

»Was hat man bei dieser Arbeit zu riskieren?« sagte Ned Land,

»höchstens, dass man einige Schluck Seewasser zu verschlingen hat!«

»So ist’s Ned. Beiläufig«, fuhr ich fort, indem ich Kapitän Nemos leichten Ton anzunehmen suchte, »fürchten Sie sich vor den Haifischen, wackerer Ned?«

»Ich!« erwiderte der Kanadier, »ein Harpunier von Profession!

Es ist ja mein Geschäft, ihrer zu spotten!«

»Es handelt sich nicht darum«, sagte ich, »sie mit einem Haken zu fangen, auf das Verdeck zu ziehen, ihnen den Schwanz abzuhauen, den Leib aufzuschlitzen und ihr Herz ins Meer zu werfen!«

»Es handelt sich also ...?«

»Ja, das ist’s eben.«

»Im Wasser?«

»Ja, im Wasser.«

»Meiner Treu, mit einer tüchtigen Harpune! Sie wissen, mein Herr, diese Haifische sind sehr ungeschlachte Tiere. Sie müssen sich umdrehen auf den Bauch, um nach Ihnen zu schnappen, und unterdessen ...«

Ned Land sprach das Wort »schnappen« auf eine Weise aus, dass es einem kalt über den Rücken lief.

»Nun, Conseil, was denkst du von diesen Haifischen?«

»Ich bin ganz auf der Seite meines Herrn.«

»Das ist mir schon recht«, dachte ich.

»Wenn mein Herr den Haifischen Trotz bietet«, sagte Conseil,

»so sehe ich nicht ein, warum sein treuer Diener nicht mit dabei wäre!«

 


3. KAPITEL

Eine Perle von 10 Millionen

Die Nacht kam heran, ich legte mich zu Bett und schlief ziemlich schlecht. In meinen Träumen spielten die Haifische eine bedeutende Rolle.

Am folgenden Morgen weckte mich um 4 Uhr der Steward, den Kapitän Nemo besonders zu meinen Diensten bestellt hatte. Ich stand rasch auf, kleidete mich an und ging in den Salon.

Kapitän Nemo wartete schon auf mich.

»Herr Arronax«, sagte er zu mir, »sind Sie bereit zu gehen?«

»Ja.«

»Folgen Sie mir gefälligst.«

»Und meine Gefährten, Kapitän?«

»Sie sind schon in Kenntnis gesetzt und erwarten uns.«

»Werden wir nicht unsere Skaphander anziehen?« fragte ich.

»Noch nicht. Ich habe die ›Nautilus‹ jener Küste nicht zu nah kommen lassen, und wir sind von der Bank von Manaar ziemlich weit ab in hoher See; aber ich habe unseren Nachen zurechtmachen lassen, der uns genau an den Punkt bringen wird, wo wir ausschiffen werden, dadurch wird uns eine weite Überfahrt erspart. Er bringt unsere Tauchapparate mit, die wir in dem Moment, wo diese unterseeische Untersuchung beginnt, anziehen werden.«

Kapitän Nemo führte mich zu der Mittelleiter, die auf die Plattform führte. Ned und Conseil befanden sich schon da, voll Freude über »die Vergnügungspartie«, die vorbereitet wurde. Fünf Matrosen der ›Nautilus‹ warteten, die Ruder in der Hand, in dem Nachen, der mit einem Tau an Bord befestigt war.

Es war noch dunkle Nacht. Wolkenstreifen bedeckten den Himmel und ließen nur hie und da Sterne erblicken. Ich wendete meinen Blick dem Land zu, sah aber nur einen trüben Streifen, der drei Viertel des Horizonts von Südwest nach Nordwest schloss. Die

›Nautilus‹, die während der Nacht die Westküste Ceylons hinaufgefahren war, befand sich im Westen der Bai oder vielmehr des Golfs, der durch dieses Land und die Insel Manaar gebildet wird. Dort,

unter düsterem Gewässer, befand sich die Perlmuschelbank, ein unerschöpfliches Feld, das über 20 Meilen weit sich erstreckt.

Kapitän Nemo nebst mir, Conseil und Ned Land, wir saßen im hinteren Teil des Boots; dessen Führer stand beim Steuer, seine vier Genossen fassten ihre Ruder; das Bindseil wurde losgeknüpft, und wir fuhren ab.

Das Boot steuerte in südlicher Richtung nicht sehr eilig. Ich beobachtete, dass die kräftig unterm Wasser geführten Ruderschläge nur von 10 zu 10 Sekunden aufeinander folgten, nach der allgemein bei den Kriegsmarinen üblichen Weise. Ein leichtes Wogen von der offenen See her brachte das Boot in einiges Schwanken, und einiges Wellengeräusch lief ihm voraus.

Wir verhielten uns schweigend. Worauf hafteten Kapitän Nemos sinnende Gedanken? Vielleicht bei dem Land, dem er sich näherte und das er allzu nah fand, umgekehrt wie bei Ned, dem es noch allzu fern vorkam. Conseil war in neugieriger Spannung.

Gegen halb 6 ließ die erste Färbung des Horizonts den oberen Streifen der Küste klarer erkennen. Ziemlich flach im Osten, hob sie sich etwas nach dem Süden zu. 5 Meilen war sie noch entfernt, und ihr Gestade zerfloss noch im nebligen Gewässer. Das Meer zwischen uns war leer: kein Fahrzeug, kein Taucher zu sehen. Völlig verlassen war die Stelle, wo die Perlenfischer zusammenzukommen pflegten. Wir kamen, wie Kapitän Nemo mir bemerkt hatte, 1 Monat zu früh in diese Gegend.

Um 6 Uhr wurde es plötzlich Tag, so rasch, wie es den Tropengegenden eigentümlich ist, wo man weder Dämmerung noch Morgenröte kennt. Die Sonnenstrahlen drangen durch den Vorhang des über den Horizont zerstreuten Gewölks, und das strahlende Gestirn stieg rasch empor.

Ich sah deutlich das Land mit hie und da zerstreuten Bäumen.

Das Boot fuhr weiter auf die Insel Manaar zu, die südlich sich abrundete. Kapitän Nemo war aufgestanden und beobachtete das Meer.

Auf ein gegebenes Zeichen wurde der Anker hinabgelassen, der nicht viel zu sinken hatte; denn der Meeresgrund, der an dieser Stelle einen der höchsten Punkte der Perlenbank bildete, war nur ein Meter tief. Das Boot schwenkte sich sogleich der Ebbe gemäß, die nach dem hohen Meer hintrieb.

»Nun sind wir an Ort und Stelle, Herr Arronax«, sagte darauf Kapitän Nemo. »Sie sehen hier diese enge Bai. An dieser Stelle hier werden in 1 Monat die zahlreichen Fischerbarken der Ausbeutenden sich einfinden, und in diesen Gewässern werden ihre Taucher

mit kühner Ausdauer suchen. Diese Bai ist für diese Art Fischerei günstig gelegen und geeignet. Im Schutz vor den stärksten Winden, ist das Meer da nie sehr unruhig, ein Umstand, welcher der Arbeit der Taucher sehr zustattenkommt. Jetzt wollen wir unsere Skaphander anlegen und unseren Spaziergang vornehmen.«

Ich erwiderte nichts, und in stetem Hinblick auf diese verdächtigen Wogen fing ich an mithilfe der Bootsleute meine schwere Seekleidung anzuziehen. Kapitän Nemo und meine beiden Gefährten legten ebenfalls die Kleidung an. Von der Mannschaft der

›Nautilus‹ durfte uns bei diesem Ausflug niemand begleiten.

Bald steckten wir bis an den Hals in der Kautschukkleidung, und der Luftapparat war mit Bändern auf unseren Rücken befestigt. Vom Ruhmkorffschen Apparat war keine Rede. Bevor ich meinen Kopf in die kupferne Kapsel steckte, bemerkte ich es dem Kapitän.

»Dieser Apparat würde uns nicht dienlich sein«, erwiderte der Kapitän. »Wir begeben uns in keine große Tiefe, und die Sonnenstrahlen werden schon ausreichen, unseren Weg zu beleuchten. Zudem ist’s nicht klug, unter diese Gewässer eine elektrische Lampe mitzunehmen, weil deren heller Schein unversehens einen gefährlichen Bewohner dieser Meeresgegend herbeilocken könnte.«

Während der Kapitän diese Äußerung machte, wendete ich mich um nach Conseil und Ned Land. Aber diese beiden Freunde hatten schon ihren Kopf in die metallene Kappe gesteckt, und sie konnten weder hören noch antworten.

Ich hatte noch eine letzte Frage an Kapitän Nemo zu richten:

»Und unsere Waffen«, fragte ich, »unsere Gewehre?«

»Gewehre! Wozu? Bekämpfen Ihre Gebirgsbewohner nicht den Bären mit dem Dolch in der Hand, und ist nicht der Stahl eine zuverlässigere Waffe, als das Blei? Hier ist eine gute Klinge, die stecken Sie in Ihren Gürtel, und nun vorwärts.«

Ich blickte auf meine Gefährten. Sie waren wie wir in Rüstung, und dazu schwang Ned Land eine ungeheure Harpune, die er, bevor er die ›Nautilus‹ verließ, in das Boot gelegt hatte.

Hierauf ließ ich mir, nach dem Beispiel des Kapitäns, den Kopf

in die schwere Kupferkugel stecken, und unsere Luftbehälter wurden sofort in Tätigkeit gesetzt.

Alsbald darauf brachten die Bootsleute uns der Reihe nach aus dem Fahrzeug, und wir fassten 1 1/2 Meter tief Grund auf ebenem Sand. Kapitän Nemo winkte uns mit der Hand, wir folgten ihm und verschwanden auf sanft abhängigem Boden unter dem Gewässer.

Hier verließen mich die schlimmen Gedanken, die meinen Kopf belagert hatten. Ich wurde wieder zum Erstaunen ruhig. Die Leichtigkeit meiner Bewegungen hob mein Vertrauen, und das Fremdartige des Schauspiels fesselte meine Einbildungskraft.

Die Sonnenstrahlen brachten schon hinreichende Helle unter die Gewässer. Die geringsten Gegenstände waren erkennbar. Nachdem wir 10 Minuten weit gegangen, befanden wir uns in einer Tiefe von 5 Meter, und der Boden wurde fast eben.

Unter unseren Tritten wurden, gleich Bekassinen im Sumpf, Schwärme merkwürdiger Fische aufgescheucht, aus der Gattung der Einflosser, die außer am Schwanz sonst keine Flossen haben. Ich erkannte eine 8 Dezimeter lange Meerschlange mit blauschwarzem Bauch, die man leicht mit dem Meeraal verwechseln könnte, hätte nicht dieser goldfarbene Streifen an den Seiten. Von Deckfischen mit sehr plattem, ovalem Körper bemerkte ich Golddecken mit grellen Farben, die essbar sind und ein vortreffliches Gericht liefern.

Inzwischen war die Sonne höher gestiegen und erleuchtete mehr und mehr die Masse der Gewässer. Der Boden änderte sich allmählich, und an die Stelle des Sandes trat eine ordentliche Straße mit runden Felsstücken, überkleidet mit einem Teppich von Mollusken und Zoophyten. Mitten unter diesen lebendigen Pflanzen und unter den Wölbungen von Wassergewächsen liefen Legionen unbeholfener Gliedertiere, zum Teil hässlich anzusehen. So stieß ich mehrmals auf den enormen, von Darwin beobachteten Meerkrebs, dem die Natur die erforderliche Kraft und den Instinkt gegeben hat, um sich von Kokosnüssen zu nähren. Er klettert am Ufer an den Bäumen hinauf, wirft die Nuss herab, die beim Fallen zerbricht, worauf er sie mit seinen ungeheuren Scheren öffnet.

Hier unter den klaren Fluten bewegte sich die Krabbe mit einer Behändigkeit ohnegleichen.

Gegen 7 Uhr beschritten wir endlich die Perlmuschelbank, worauf Perlenaustern zu Millionen erzeugt werden. Diese kostbaren Mollusken waren durch braunen Byssus fest angeheftet, sodass sie ihre Stelle nicht wechseln konnten. Die Muscheln sind rund, haben dicke, sehr runzelige Schalen, beide von fast gleicher Größe.

Manche waren mit grünlichen, von oben herablaufenden Streifen geziert; sie gehörten jungen Austern. Die anderen mit rauer und schwarzer Oberfläche, 10 Jahre alt oder noch älter, waren bis zu 15

Zentimeter breit.

Kapitän Nemo zeigte mir mit der Hand diese erstaunlich reich aufgeschichtete Masse von Perlmuscheln, und es war mir begreiflich, dass diese Fundgrube wahrhaft unerschöpflich ist. – Ned Land beeilte sich, mit den schönsten Mollusken ein Garn zu füllen, das er an der Seite hängen hatte.

Aber wir konnten uns nicht aufhalten. Wir mussten dem Kapitän folgen, der auf ihm bekannten Pfaden zu gehen schien. Der Boden wurde allmählich wieder höher, und manchmal reichte mein Arm, wenn ich ihn aufhob, über den Meeresspiegel heraus. Nachher wurde die Bank wieder niedriger; wir stießen auf hohe, zugespitzte Felsen, aus deren dunkeln Schlupfwinkeln ungestaltete Schaltiere mit starren Augen uns anblickten.

In diesem Augenblick öffnete sich vor unseren Augen eine ungeheure Grotte zwischen malerisch getürmten Felsen, die mit allem Schmuck der unterseeischen Flora geziert waren. Die Grotte kam mir anfangs ganz dunkel vor, die Sonnenstrahlen schienen darin allmählich zu erlöschen.

Kapitän Nemo trat in sie ein; wir nach ihm. Meine Augen gewöhnten sich bald an das verhältnismäßige Dunkel. Wir befanden uns unter einem Gewölbe, das von natürlichen Pfeilern getragen wurde, die gleich den schwerfälligen Säulen toskanischer Architektur auf breiter Granitbasis ruhten. Weshalb zog uns unser rätselhafter Führer ins Innere dieser unterseeischen Grotte? Wir sollten’s bald erfahren.

Nachdem wir einen ziemlich steilen Abhang hinabgestiegen waren, betraten wir den Boden einer Art kreisrunden Schachts. Kapitän Nemo blieb stehen und wies mit der Hand auf einen Gegenstand, den ich noch gar nicht einmal wahrgenommen hatte.

Es war eine Auster von außerordentlicher Größe, eine Riesentridacne, ein Weihkessel, der einen See von Weihwasser fasste, ein Becken, das mehr wie 2 Meter groß war und folglich größer als dasjenige, welches den Salon der ›Nautilus‹ zierte.

Ich näherte mich der phänomenalen Molluske. Sie war mit ihrem Byssus an einer Granitplatte befestigt und entwickelte sich da abgesondert im ruhigen Wasser der Grotte. Ich schätzte ihr Gewicht auf 300 Kilogramm. Eine solche Auster enthält 15 Kilo Fleisch, und es gehörte wohl ein Riesenmagen dazu, einige Dutzend solcher Austern zu verschlingen.

Kapitän Nemo war ohne Zweifel schon mit dem Dasein dieses Schaltieres bekannt und besuchte es nicht jetzt zum ersten Mal, und ich dachte, er wolle, indem er uns dahin führte, uns nur eine Naturmerkwürdigkeit zeigen. Ich irrte mich. Der Kapitän hatte ein besonderes Interesse, sich von dem gegenwärtigen Zustand des Tieres zu überzeugen.

Die beiden Schalen der Molluske waren ein wenig geöffnet. Der Kapitän näherte sich und steckte seinen Dolch zwischen die Schalen, um sie zu hindern, sich wieder zu schließen; dann hob er mit der Hand die häutige und bekränzte Umhüllung auf, die das Tier wie ein Mantel bedeckte.

Hier sah ich zwischen blätterigen Falten eine freiliegende Perle von der Größe einer Kokosnuss. Ihre kugelrunde Form, vollkommene Klarheit, ihr bewundernswertes Wasser machte sie zu einem Kleinod von unschätzbarem Wert. Voll Neugierde streckte ich die Hand aus, um sie zu fassen, zu betasten; aber der Kapitän hielt mich zurück, machte ein, verneinendes Zeichen und zog rasch seinen Dolch heraus, dass die Schalen sich wieder schlossen.

Ich begriff die Absicht des Kapitäns. Er wollte die Perle in ihrer Umhüllung allmählich größer werden lassen, indem das Tier jedes Jahr durch fortgesetzte Absonderung neue konzentrische Schichten zufügte. Kapitän Nemo allein war die Grotte bekannt, wo diese staunenswerte Frucht der Natur »reif wurde«; er allein zog sie so gewissermaßen groß, um ihr eines Tages in seinem Museum ihren Platz anzuweisen. Vielleicht hatte er sogar, nach dem Beispiel der Chinesen und Inder, die Bildung dieser Perle hervorgerufen, indem er ein Stückchen Glas oder Metall zwischen die Falten der Molluske schob, das sich allmählich mit dem Perlmutterstoff bedeckte.

Jedenfalls, verglich ich diese Perle mit den mir bereits bekannten, mit denen, die in der Sammlung des Kapitäns glänzten, so schätzte ich ihren Wert auf mindestens 10 Millionen Franc. Eine prachtvolle Naturmerkwürdigkeit, kein persönlicher Schmuck, denn welche Frauenohren hätten diese Perle tragen können?

Als der Besuch bei der stattlichen Tridacne abgestattet war, verließ Kapitän Nemo die Grotte, und wir begaben uns wieder auf

die Muschelbank inmitten des klaren, von dem Werk der Taucher noch nicht getrübten Wassers.

Wir gingen einzeln, indem jeder nach Belieben stehen blieb oder sich entfernte. Ich hatte nicht die geringste Angst vor den Gefahren, die meine Fantasie so lächerlich übertrieben hatte. Die Bodenerhebung zog sich merklich der Meeresoberfläche zu, und bald war mein Kopf nur noch einen Meter von ihr entfernt. Conseil kam zu mir und grüßte mich freundlich, indem er sein dickes Kopfgehäuse an das Meinige hielt. Aber diese hohe Stelle war nur einige Toisen groß, und bald kamen wir wieder abwärts in unser Element.

10 Minuten später blieb Kapitän Nemo plötzlich stehen. Ich glaubte, er wolle wieder umkehren. Nein. Mit einem Wink befahl er, an seiner Seite in einer Krümmung uns auf den Boden zu ducken. Er wies mit der Hand auf einen Punkt hin, und ich schaute aufmerksam.

In einer Entfernung von 5 Metern zeigte sich ein Schatten und kam bis zum Boden herab. Es fuhr mir der ängstliche Gedanke an Haifische durch den Kopf. Aber ich irrte mich, und diesmal noch hatten wir es nicht mit Seeungeheuern zu tun.

Es war ein Mensch, ein leibhaftiger Mann, ein Inder, ein Schwarzer, wohl ein armer Teufel, der die Absicht hatte, vor der Ernte eine Nachlese zu halten. Ich bemerkte, wie sein Canot, das einige Fuß über seinem Kopf ankerte, ihm als Rückhalt diente. Von da aus tauchte er unter, kehrte dahin zurück. Ein gleich einem Zuckerhut zugehauener Stein, den er mit dem Fuß festhielt und der mit einem Strick an seinem Boot befestigt war, beförderte sein rascheres Hinabsteigen. Darin bestand sein ganzer Apparat. Sowie er, etwa 5 Meter tief, auf den Grund kam, fiel er auf die Knie und füllte seinen Sack mit rasch zusammengerafften Muscheln. Dann eilte er wieder hinauf, leerte seinen Sack aus, zog seinen Stein nach und wiederholte seine Verrichtung, die nur 30 Sekunden dauerte.

Der Taucher sah uns nicht; wir waren durch den Schatten des Felsens seinen Blicken entzogen. Und wie hätte auch der arme Kerl sich denken können, dass Menschen dort unter den Gewässern sich befänden, die seine Bewegungen belauerten, seine Arbeit genau beobachteten!

So tauchte er öfters auf und ab. Mehr wie ein Dutzend Muscheln bekam er bei einem Tauchen nicht, denn er musste sie von der Bank, wo sie mit ihrem starken Byssus befestigt waren, losreißen. Und wie viele Muscheln waren ohne Perlen, für die er sein Leben wagte!

Ich sah ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er verrichtete sein Geschäft regelmäßig, und eine halbe Stunde lang schien ihn keine Gefahr zu bedrohen. Das Schauspiel dieser Fischerei war mir interessant. Da auf einmal, als der Inder eben auf dem Boden kniete, sah ich ihn mit Entsetzen aufspringen und sich aufwärts schwingen zur Rückkehr an die Oberfläche.

Ich erkannte bald den Grund seines Schreckens. Ein riesenmäßiger Schatten zeigte sich über dem unglücklichen Taucher. Es war ein Hai erster Größe, der mit feurigen Augen, offenem Rachen schräg herbeischoss!

Ich starrte stumm vor Schrecken, unfähig mich zu regen.

Das gefräßige Tier stürzte mit einem kräftigen Schlag seiner Flossen auf den Inder, der zwar dem Biss des Ungetüms seitwärts auswich, aber von seinem Schwanz auf die Brust getroffen zu Boden fiel.

Diese Szene dauerte kaum einige Sekunden. Der Hai kam wieder, legte sich auf den Rücken und schickte sich an, den Inder zu zerfleischen, als Kapitän Nemo, der neben mir kauerte, plötzlich aufsprang. Den Dolch in der Hand, ging er gerade auf das Ungeheuer los, um es im Kampf mit ihm aufzunehmen.

Im Augenblick, als der Hai im Begriff war, nach dem unglücklichen Fischer zu schnappen, gewahrte er seinen neuen Gegner, legte sich wieder um auf den Bauch und schoss auf ihn los.

Kapitän Nemo nahm seine Stellung. Rückwärts gebogen erwartete er mit staunenswerter Kaltblütigkeit das fürchterliche Tier, und als dieses auf ihn zustürzte, bog er sich mit wunderbarer Behändigkeit seitwärts, wich dem Stoß aus und bohrte ihm seinen Dolch in den Bauch. Aber damit war’s noch nicht aus. Es entspann sich ein furchtbarer Kampf. Der Haifisch wurde wütend. Das Blut strömte aus seinen Wunden, das Meer färbte sich rot, und ich konnte in dem dunkeln Schein nichts mehr sehen.

Nichts mehr, bis zu dem Moment, wo ich durch eine lichte Stelle den kühnen Kapitän im Zweikampf mit dem Ungeheuer begriffen erblickte. Angeklammert an eine der Flossen des Tieres, bearbeitete er den Bauch seines Gegners mit Dolchstößen, ohne jedoch durch einen Stich ins Herz die Entscheidung geben zu können. Der

wütend zappelnde Hai regte die Wassermasse dergestalt auf, dass der Wogenwirbel mich hinzuwerfen drohte.

Ich hätte dem Kapitän zu Hilfe eilen mögen; aber vor Schrecken starr, vermochte ich mich nicht zu regen.

Ich blickte mit verstörten Augen hin, sah die Erfolge des Kampfs schwanken. Der Kapitän fiel zu Boden, von der Wucht der enormen Masse über ihm niedergedrückt. Der Rachen des Ungetüms öffnete sich über die Maßen weit gleich der Blechschere eines Hüttenwerks, und es war um den Kapitän geschehen, wäre nicht, flink wie ein Gedanke, Ned Land mit seiner Harpune auf den Hai gestürzt, um ihm den Todesstoß zu versetzen.

Die Wogen mischten sich mit dem massenweis strömenden Blut; sie gerieten durch die Schläge des mit unbeschreiblicher Wut sich bewegenden Tieres in heftige Aufregung. Ned Land hatte sein Ziel nicht verfehlt; das Todesröcheln des Ungeheuers trat ein. Ins Herz getroffen zappelte es in fürchterlichen Zuckungen, sodass Conseil durch den Gegenstoß zu Boden geworfen wurde.

Inzwischen hatte Ned Land den Kapitän frei gemacht. Dieser stand unverletzt auf, ging stracks auf den Inder zu, schnitt rasch den Strick entzwei, womit er an seinen Stein gebunden war, nahm ihn in seine Arme und versetzte ihm einen kräftigen Tritt mit der Ferse, wodurch er zur Oberfläche des Meeres emporkam.

Wir drei folgten ihm nach, und wie durch ein Wunder gerettet erreichten wir in einigen Augenblicken die Fischerbarke.

Kapitän Nemo war vor allem darauf bedacht, den Unglücklichen wieder ins Leben zu rufen. Ob’s gelingen würde, stand dahin. Man konnte es hoffen, da der arme Teufel nicht lange unter Wasser gewesen war. Aber der Hai konnte ihm mit seinem Schwanz einen Streich versetzt haben, der tödlich war.

Glücklicherweise war dem nicht so, und das kräftige Reiben Conseils und des Kapitäns brachte es allmählich dahin, dass der Ertrunkene wieder zum Bewusstsein kam. Er schlug die Augen auf.

Wie musste er überrascht, ja erschrocken sein, als er die vier dicken Kupferköpfe über sich gebeugt sah!

Und was musste er gar denken, als Kapitän Nemo ein Säckchen voll Perlen aus der Tasche zog und es ihm in die Hand drückte?

Dieses hochherzige Almosen des Mannes der Gewässer wurde von dem armen Inder Ceylons mit zitternder Hand angenommen.

Seine scheuen Blicke gaben übrigens zu erkennen, dass er nicht wusste, welchen übermenschlichen Wesen er Leben und Glück verdankte. Auf ein Zeichen des Kapitäns begaben wir uns wieder zu der Perlmuschelbank, und indem wir denselben Weg einschlugen, den wir gemacht hatten, gelangten wir nach einer halben Stunde zu dem Anker, woran das Boot der ›Nautilus‹ befestigt war.

Sobald wir uns in dem Fahrzeug befanden, entledigten wir uns mithilfe der Bootsleute der schweren Bepanzerung.

Kapitän Nemo richtete sein erstes Wort an den Kanadier.

»Dank, Meister Land«, sagte er zu ihm.

»Es ist eine Vergeltung gewesen, Kapitän«, erwiderte Ned Land,

»und meine Schuldigkeit.«

Ein bleiches Lächeln auf den Lippen des Kapitäns, das war alles.»Zur ›Nautilus‹«, sagte er.

Das Boot flog rasch über die Wellen. Nach einigen Minuten stießen wir auf den toten Haifisch, der auf der Oberfläche schwamm.

An der schwarzen Farbe der Spitzen seiner Flossen erkannte ich den furchtbaren Schwarzflosser des Indischen Meeres, der zur Gattung der eigentlichen Haifische zählt. Er war über 25 Fuß lang; sein entsetzlich großes Maul machte den dritten Teil seines Körpers aus. Er war ausgewachsen, was an den sechs Reihen Zähnen zu erkennen war, die in gleichschenkeligen Dreiecken auf der oberen Kinnlade saßen.

Conseil betrachtete ihn mit rein wissenschaftlichem Interesse, und ich bin überzeugt, dass er ihn unter den Knorpelfischen richtig zu klassifizieren verstand.

Während ich diese träge Masse betrachtete, zeigte sich ein Dutzend dieser gefräßigen Schwarzflosser plötzlich rings um das Boot herum; doch ohne sich um uns zu bekümmern, fielen sie über den Leichnam her und stritten sich um seine Fetzen.

Um halb 9 Uhr befanden wir uns wieder an Bord der ›Nautilus‹.Hier überließ ich mich meinen Gedanken über die Vorfälle

bei unserem Ausflug zur Bank von Manaar. Zwei Bemerkungen drängten sich mir dabei unwillkürlich auf. Die eine betraf die unvergleichliche Kühnheit von Kapitän Nemo, die andere seine aufopfernde Hingebung für ein menschliches Wesen, einen Repräsentanten der Rasse, vor der er sich unter das Meer flüchtete. Was er auch darüber sagen mochte, dieser seltsame Mann hatte es noch nicht dahin gebracht, sein Menschenherz ganz zu vernichten.

Als ich ihm diese Bemerkung machte, antwortete er mir mit etwas gerührtem Ton:

»Dieser Inder, Herr Professor, ist Bewohner eines Landes von Unterdrückten, und ich bin noch, und werde es bis zu meinem letzten Atemzug sein, diesem Land angehörig.«

 


4. KAPITEL

Das Rote Meer

Während des 29. Januar verschwand die Insel Ceylon unterm Horizont, und die ›Nautilus‹, mit einer Geschwindigkeit von 20 Meilen in der Stunde, bewegte sich vorsichtig in dem Labyrinth von Kanälen, welche die Malediven von den Lakadiven trennen. Sie fuhr selbst längs der Insel Kittan, die von madreporischem Ursprung, von Vasco da Gama im Jahr 1499 entdeckt, eine der 19 Hauptinseln dieses Archipels der Lakadiven, unter 10 ůnd 14° 30ʹ nördlicher Breite und 69° bis 50° 72ʹ östlicher Länge liegt.

Wir hatten damals 16.200 Meilen oder 7.500 Lieue seit unserer Abfahrt im Japanischen Meer zurückgelegt.

Am folgenden Tag, dem 30. Januar, als sich die ›Nautilus‹ wieder auf die Oberfläche des Ozeans erhob, hatte sie kein Land mehr in Sicht. Sie fuhr nordnordwestlich in der Richtung des Meeres von Oman, das zwischen Arabien und der indischen Halbinsel den Eingang zum Persischen Golf bildet.

Von hier aus war es nicht möglich weiterzufahren. Wohin führte uns Kapitän Nemo? Ich hätte es nicht sagen können. Das konnte den Kanadier nicht befriedigen, der die Frage aufwarf.

»Wir fahren, Meister Ned, wohin das Belieben des Kapitäns uns führt.«

»Dies Belieben kann hier hinaus nicht weit führen. Der Persische Golf hat keinen Ausgang, und wenn wir hineinfahren, müssen wir bald wieder denselben Weg zurückmachen.«

»Nun, so werden wir wieder rückwärtsfahren, Meister Land, und wenn die ›Nautilus‹ nach dem Persischen Golf dem Roten Meer einen Besuch abstatten will, so ist die Straße von Bab el Mandeb nicht fern, um in sie einzufahren.«

»Ich brauche Sie es nicht zu lehren, mein Herr«, erwiderte Ned Land, »dass das Rote Meer ebenso wie der Golf geschlossen ist, da der Isthmus von Suez noch nicht durchstoßen ist und, wäre er es, ein so geheimnisvolles Fahrzeug, wie das unserige, nicht in einen Kanal mit Schleusen sich wagen würde. Demnach ist das Rote Meer noch nicht der Weg, uns nach Europa zu führen.«

»Ich hab’ auch nicht gesagt, wir würden nach Europa zurückfahren.«

»Was vermuten Sie denn?«

»Ich vermute, dass die ›Nautilus‹ nach einem Besuch in den merkwürdigen Gegenden von Arabien und Ägypten sich wieder in den Indischen Ozean begeben wird, vielleicht durch den Kanal von Mozambique, vielleicht in hoher See bei den Mascarenen zu dem Kap der Guten Hoffnung.«

»Und sind wir am Kap der Guten Hoffnung!« fragte der Kanadier besonders dringlich.

»Nun, so werden wir in den Atlantik fahren, den wir noch nicht kennen. Ei! Freund Ned, diese Reise unterm Meer ist Ihnen wohl langweilig? Sie sind also gleichgültig gegen den unaufhörlich wechselnden Anblick der unterseeischen Wunder? Mir an meinem Teil würde es sehr leid sein, wenn diese Reise, die zu machen wenig Menschen vergönnt ist, schon zu Ende wäre.«

»Aber wissen Sie, Herr Arronax«, erwiderte der Kanadier, »dass wir nun seit beinah 3 Monaten an Bord der ›Nautilus‹ Gefangene sind?«

»Nein, Ned, ich weiß es nicht, will’s auch nicht wissen, und ich zähle weder die Tage noch die Stunden.«

»Aber was soll daraus am Ende werden?«

»Das wird sich zu seiner Zeit zeigen. Übrigens können wir dabei nichts ab- oder zutun, und es ist fruchtlos darüber hin- und herzureden. Kämen Sie, wackerer Ned, und sagten mir: ›Da ist eine Aussicht zu entkommen‹, so würde ich mit Ihnen es besprechen. Aber dieser Fall liegt nicht vor, und, offen zu reden, ich glaube nicht, dass Kapitän Nemo sich jemals in die europäischen Meere wagen wird.«

Man sieht, ich war der ›Nautilus‹ schon so befreundet, als steckte ich in der Haut seines Kommandanten.

Ned sagte zu sich selber: »Das ist alles schön und gut, aber ich meine doch, wo Zwang ist, hört das Vergnügen auf.«

4 Tage lang, bis zum 3. Februar, befand sich die ›Nautilus‹ im Meer von Oman, mit verschiedener Schnelligkeit und in verschiedener Tiefe. Es schien, als fahre sie aufs Geratewohl, als habe sie über die Fahrt geschwankt; doch kam sie nicht über den Wendekreis des Krebses hinaus.

Indem wir dieses Meer verließen, bekamen wir einen Augenblick Mascat zu sehen, die bedeutendste Stadt im Land Oman. Ich bewunderte ihr seltsames Aussehen, mitten in einer Umgebung schwarzer Felsen weiße Häuser und Festungswerke in grellem Abstich, ich sah die runden Kuppeln ihrer Moscheen mit den schlanken Spitzen ihrer Minarette, ihren Terrassen in frischem Grün.

Aber es war nur ein Gesicht meiner Fantasie, denn die ›Nautilus‹

tauchte bald unter die dunkeln Wellen dieser Gegenden.

Hierauf fuhr sie in einer Entfernung von 6 Meilen längs der arabischen Küsten von Mahra und Hadramaut und dessen wellenförmiger Gebirgsreihe mit einigen alten Ruinen. Am 5. Februar liefen wir endlich in den Golf von Aden ein, der einem Trichter gleicht im Hals von Bab el Mandeb, um die indischen Gewässer ins Rote Meer zu gießen.

Am 6. Februar schwamm die ›Nautilus‹ im Angesicht Adens, das auf der Spitze eines Vorgebirges liegt, das durch eine schmale Landenge mit dem Festland zusammenhängt, eine Art von unzugänglichem Gibraltar, dessen Befestigungswerke die Engländer, nachdem sie sich ihrer im Jahr 1839 bemächtigt hatten, wieder

hergestellt und verstärkt haben. Ich sah die achtseitigen Minarette dieser Stadt, die einst, wie der Geschichtsschreiber Edrisi berichtet, der reichste und belebteste Stapelplatz der Küste war.

Ich glaubte wohl, Kapitän Nemo werde, nachdem wir so weit gekommen, zurückkehren, aber ich irrte, und zu meiner großen Überraschung war es anders.

Am folgenden Tag, dem 7. Februar, fuhren wir in die Straße Bab el Mandeb ein. Diese ist bei einer Breite von 20 Meilen nur 52 Kilometer lang, sodass die ›Nautilus‹ bei Schnellfahrt sie binnen einer Stunde zurücklegte. Aber ich bekam nichts zu sehen, nicht einmal die Insel Parim, welche die englische Regierung zur Verstärkung des Platzes befestigt hat. Es fuhren zu viele englische oder französische Dampfboote der Linien Suez–Bombay, Calcutta, Melbourne, Bourbon, St. Moritz die enge Fahrstraße, als dass die ›Nautilus‹ sich zu zeigen gewagt hätte. Auch hielt sie sich vorsichtig in einiger Tiefe.

Endlich, zu Mittag, fuhren wir auf den Wogen des Roten Meeres.Das durch die Überlieferungen der Bibel berühmte Rote Meer wird durch keinen Regen erfrischt, von keinem erheblichen Fluss bespült, durch eine übermäßige Verdunstung unaufhörlich ausgepumpt, sodass es jährlich eine Schicht Wasser von 1 1/2 Meter einbüßt. Wäre der merkwürdige Golf geschlossen und in den Verhältnissen eines Sees, so wäre er vielleicht bereits völlig ausgetrocknet; es ist mit ihm anders als mit dem Kaspischen Meer, dessen Niveau gerade nur um so viel gesunken ist, dass die Ausdunstung und der Zufluss sich aufwiegen.

Dieses Rote Meer ist 2.600 Kilometer lang, bei einer durchschnittlichen Breite von 240. Zur Zeit der Ptolemäer und der römischen Kaiser war es die Hauptstraße des Welthandels, und die Durchstechung des Isthmus von Suez wird ihm diese Bedeutung wiedergeben, die durch die Eisenbahnen bereits zum Teil wieder gewonnen ist.

Es war mir gar nicht darum zu tun, über die Laune von Kapitän Nemo zu grübeln, dass er uns in diesen Golf führte; aber ich billigte unverhohlen, dass die ›Nautilus‹ hineinfuhr. Sie hielt sich bei einer

mittleren Geschwindigkeit bald auf der Oberfläche, bald tauchte sie, um einem Schiff auszuweichen, unter, und ich konnte also das merkwürdige Meer in seiner Tiefe und auf seiner Oberfläche beobachten.

Am 8. Februar in den ersten Morgenstunden hatten wir Mocca im Angesicht, eine jetzt verfallene Stadt, deren Mauern schon durch den Kanonendonner zusammenstürzen und die hier und da von einigen grünen Dattelbäumen beschattet ist. Zur Zeit ihrer früheren Bedeutung hatte sie 6 öffentliche Märkte, 26 Moscheen, und ihre mit 14 Forts versehenen Mauern hatten einen Umfang von 3 Kilometer.

Darauf näherte sich die ›Nautilus‹ den afrikanischen Küsten, wo das Meer bedeutend tiefer ist. Hier, wo das Wasser in einiger Tiefe durchsichtig wie Kristall ist, ließ sie uns bei geöffneten Läden merkwürdiges Gebüsch glänzender Korallen betrachten und ungeheure Felswände, die mit einem glänzenden Teppich von Tang und Algen bedeckt waren. Welch unbeschreiblicher Anblick, welch mannigfaltiger Wechsel von Landschaften und Gegenden beim Vorbeifahren an diesen Klippen und vulkanischen Eilanden, welche die libyschen Küsten besäumen! Aber an dem östlichen Gestade, wohin die ›Nautilus‹ sich alsbald wendete, zeigte sich der Baumwuchs in seiner vollen Schönheit. Welch reizende Stunden brachte ich so an dem Fenster des Salons hin! Wie hatte ich da nur Musterstücke der unterseeischen Flora und Fauna beim Licht unserer elektrischen Leuchte zu bewundern! Außer diesen Prachtstücken konnte ich unzählige Arten eines bisher noch nicht von mir beobachteten Polypengeschöpfs betrachten, des gewöhnlichen Schwammes.

Der Schwamm gehört nicht dem Pflanzenreich an, wie noch manche Naturforscher annehmen, sondern ist ein Tier der letzten Ordnung, ein Polypengeschöpf, das noch niedriger steht als die Koralle. Seine Eigenschaft als Tier ist nicht zu bezweifeln, und man kann auch nicht die Ansicht der Alten gelten lassen, die ihn als ein Geschöpf ansahen, das in der Mitte zwischen Pflanze und Tier den Übergang bilde. Doch muss ich beifügen, dass die Naturforscher über die Art der Organisation des Schwammes nicht einig sind. Die

einen nehmen ihn als ein Gesellschaftstier, die andern, wie Milne Edwards, für ein allein bestehendes einheitliches Individuum.

Die Klasse der Schwammtiere enthält ungefähr 300 Arten, die sich in vielen Meeren und sogar in einigen Flüssen finden. Vorzugsweise sind sie in den Gewässern des Mittelmeers, dem griechischen Archipel, an den Küsten Syriens und des Roten Meeres. Da

wachsen die feinen, weichen Schwämme, deren Wert bis auf 150

Franc steigt, der blonde Schwamm Syriens, der harte Schwamm der Barbarei. Aber weil ich keine Aussicht hatte, sie in der Levante zu studieren, so begnügte ich mich, sie in den Gewässern des Roten Meeres zu beobachten.

Ich rief daher Conseil zu mir, während die ›Nautilus‹ bei einer durchschnittlichen Tiefe von 8 bis 9 Meter langsam an allen schönen Felsen der orientalischen Küste vorüberfuhr.

Da wuchsen Schwämme von allen Formen, gestielte, blattförmige, kugelrunde, gefingerte, die ziemlich genau den Namen entsprechen, welche die Fischer ihnen geben, nämlich Körbe, Kelche, Spindeln, Elendshorn, Löwenfuß, Pfauenschweif, Neptunshandschuhe. Aus ihrem faserigen, mit einer gallertartigen, halbflüssigen Substanz gefüllten Gewebe, träufelten unablässig kleine Wassertröpfchen, die, nachdem sie jedes Zellchen belebt hatten, durch eine zusammenziehende Bewegung daraus ausgestoßen werden. Diese Substanz verschwindet nach dem Tod des Polypen und verfault, indem sie Salmiak entwickelt. Dann bleiben nur diese horn- oder gallertartigen Gewebe, woraus der Hausschwamm besteht, der eine rötliche Farbe bekommt und nach dem verschiedenen Grad seiner Elastizität, Durchdringlichkeit oder Sprödigkeit beim Einweichen zu verschiedenem Gebrauch verwendet wird.

Diese Polypengebilde saßen fest an Felsen, Muscheln von Mollusken, selbst an Stielen von Wasserpflanzen, und zwar bis in die kleinsten Spalten hinein, sich ausbreitend, bald aufwärts, bald abwärtsgerichtet, wie korallenartige Auswüchse. Ich belehrte Conseil, dass diese Schwämme auf zwei Arten gefischt würden, mit dem Kratzgarn und mit der Hand. Dieses letztere Verfahren, das Taucher erforderlich macht, ist vorzuziehen, weil sie weit höher an Wert sind, wenn das Gewebe, so wie es gewachsen ist, geschont wird.

Die anderen Zoophyten, die neben den Schwammgebilden in Menge sprossten, bestanden hauptsächlich in einer sehr zierlichen Art Medusen; die Mollusken waren durch eine besondere Art Kalmar vertreten, die nach d’Orbigny dem Roten Meer eigentümlich

sind; und die Reptilien durch eine Schildkrötenart, die unserer Tafel ein gesundes und schmackhaftes Gericht lieferte.

Die Fische waren zahlreich und oft merkwürdig. Von den in unseren Garnen gefangenen hebe ich hervor: Rochen von eiförmiger Gestalt und ziegelsteinfarbig mit blauen Flecken am Leib und einem doppelten gezahnten Stachel; Stechrochen mit getüpfeltem

Schwanz; Dromedarbeinfische mit einem Buckel, der in einem rückwärts gebogenen Stachel endigt; Schlangenfische, echte Muränen mit silbernem Schwanz, bläulichem Rücken, braunen grau bordierten Brustflossen; Streifdecken mit geraden Goldstreifen und den drei Farben Frankreichs geziert; Trichterfische u.a.

Am 9. Februar fuhr die ›Nautilus‹ an der weitesten Stelle des Roten Meeres, zwischen Suakin an der Westküste und Quonfodah an der östlichen, wo der Durchmesser 190 Meilen beträgt.

An diesem Tag, zur Mittagsstunde, kam Kapitän Nemo auf die Plattform, wo ich bereits mich befand. Ich nahm mir vor, ihn nicht wieder hinabgehen zu lassen, ohne ihn wenigstens über seine weiteren Pläne ausgeforscht zu haben. Er kam, sowie er mich bemerkte, gleich auf mich zu, bot mir freundlich eine Zigarre an, und sagte zu mir:

»Nun, Herr Professor, gefällt Ihnen dieses Rote Meer? Haben Sie seine Wunder schon recht beobachtet, seine Fische und Zoophyten, Schwämme und Korallenwälder? Haben Sie auch die Städte an seinen Ufern gesehen?«

»Ja, Kapitän Nemo«, erwiderte ich, »und die ›Nautilus‹ hat sich diesem Studium zum Erstaunen willig gezeigt. Ach! Es ist ein verständiges Fahrzeug.«

»Ja, mein Herr, verständig, kühn und unverwundbar! Es scheut weder die fürchterlichen Stürme des Roten Meeres noch seine Strömungen, noch seine Klippen.«

»In der Tat«, sagte ich, »ist dieses Meer als sehr schlimm verrufen, und irre ich nicht, im Altertum als abscheulich.«

»Jawohl, Herr Arronax. Die griechischen und lateinischen Geschichtsschreiber reden nicht günstig von ihm. Der arabische Historiker Edrisi, der es unter der Benennung Golf von Colzun schildert, berichtet, es gingen zahlreiche Schiffe auf seinen Sandbänken zugrunde, und niemand wage bei Nacht darauf zu fahren. Dies Meer ist, behauptet er, von schrecklichen Stürmen heimgesucht, mit ungastlichen Inseln bedeckt und hat nichts Gutes an sich, weder in der Tiefe noch an der Oberfläche. Und wirklich, so wird es von Arrian, Agatharchides und Artemidorus geschildert.«

»Man sieht wohl«, erwiderte ich, »dass diese Historiker nicht an Bord der ›Nautilus‹ gefahren sind.«

»Allerdings«, versetzte lächelnd der Kapitän, »und in dieser Hinsicht sind die modernen Schriftsteller nicht weiter als die alten.

Viele Jahrhunderte hat’s gedauert, bis man die mechanische Kraft des Dampfs fand! Wer weiß, ob binnen 100 Jahren eine zweite

›Nautilus‹ zu sehen sein wird! Die Welt macht ihre Fortschritte langsam, Herr Arronax.«

»Sie haben recht«, erwiderte ich, »Ihr Schiff ist ein Jahrhundert, mehrere vielleicht, seiner Zeit zuvorgekommen. Um so mehr schade, wenn ein solches Geheimnis mit seinem Erfinder wieder untergehen soll!«

Kapitän Nemo blieb die Antwort schuldig. Nach einer Pause von einigen Minuten sagte er:

»Sie sprachen mir von der Ansicht der alten Historiker über die Gefahren der Schifffahrt auf dem Roten Meer?«

»So ist’s«, erwiderte ich, »aber waren ihre Befürchtungen nicht übertrieben?«

»Ja und nein, Herr Arronax«, versetzte Kapitän Nemo, der sein Rotes Meer gründlich zu kennen schien. »Was für ein modernes, solid gebautes, wohleingerichtetes Schiff, das Dank der willfährigen Dampfkraft seiner Leitung Meister, nicht mehr gefährlich ist, bot den Fahrzeugen der Alten Gefahren aller Art dar. Man denke nur, wie mangelhaft die Barken, worauf die ersten Seefahrer sich wagten, beschaffen waren, aus Brettern mit Stricken zusammengebunden, mit gestampftem Harz kalfatert und mit Seehundsfell überzogen. Sie besaßen nicht einmal Instrumente, um ihre Richtung aufzunehmen, und sie fuhren nach Gutdünken mitten durch Strömungen, von denen sie kaum etwas wussten. Unter solchen Verhältnissen fielen notwendig zahlreiche Schiffbrüche vor. Aber heutzutage haben die Dampfboote, die zwischen Suez und den südlichen Meeren fahren, von der Wut dieses Golfs, trotz widriger Passatwinde, nichts mehr zu fürchten!«

»Ich bin einverstanden«, sagte ich, »und der Dampf scheint mir die Dankbarkeit in den Herzen der Seeleute erstickt zu haben.

Doch, Kapitän, da Sie dieses Meer so genau studiert haben, kön

nen Sie mir wohl auch sagen, woher die Benennung ›Rotes‹ Meer kommt? Denn die Angabe, dass, nachdem Pharao darin umgekommen, es so benannt worden sei, befriedigt mich nicht.«

»Meine persönliche Ansicht, Herr Arronax, will ich Ihnen sagen. Der Name enthält eine Übersetzung des hebräischen Wortes

›Edrom‹, und die Alten haben ihm den wegen der besonderen Färbung seiner Gewässer gegeben.«

»Bis jetzt habe ich aber doch nur klare Wellen ohne irgend besondere Färbung gesehen.«

»Allerdings, aber wenn wir weiter in den Golf hineinkommen, werden Sie diesen besonderen Schein erkennen. Ich erinnere mich, die Bai von Tor völlig rot wie einen Blutsee gesehen zu haben.«

»Und diese Farbe ist wohl einer mikroskopischen Pflanze zuzuschreiben?«

»Jawohl. Es ist ein schleimiger, purpurfarbener Stoff, der von jenen kleinen Pflänzchen, Trichodesmion genannt, herrührt, von denen 40.000 den Raum eines Quadratmillimeters einnehmen.

Vielleicht werden wir solche zu Tor finden.«

»Also, Kapitän Nemo, Sie befahren nicht zum ersten Mal an Bord der ›Nautilus‹ das Rote Meer?«

»Nein, mein Herr.«

»Dann möcht’ ich, da Sie vorhin vom Untergang der Ägypter im Roten Meer sprachen, Sie fragen, ob Sie unter Wasser die Spuren dieses großen historischen Ereignisses gesehen haben?«

»Nein, Herr Professor, und zwar aus einem triftigen Grund.«

»Und der ist?«

»Weil gerade die Stelle, wo Moses mit seinem Volk hindurchgegangen, nun dergestalt versandet ist, dass die Kamele darin kaum ihre Beine benetzen. Natürlich hätte da meine ›Nautilus‹ nicht Wasser genug gehabt.«

»Und diese Stelle? ...« fragte ich.

»Befindet sich ein wenig oberhalb Suez in dem Arm, der früher, als das Rote Meer sich bis zu den Bitteren Seen erstreckte, eine tiefe Meerlache bildete. Ich glaube wohl, dass man durch Nachgrabungen in diesem Sande eine große Menge Waffen und Instrumente ägyptischen Ursprungs zutage fördern würde.«

»Ohne Zweifel«, erwiderte ich, »und die Archäologen mögen hoffen, dass solche Nachgrabungen früher oder später angestellt werden, wenn nach dem Durchstich des Kanals von Suez neue Städte auf diesem Isthmus entstehen werden. Für eine ›Nautilus‹

freilich wäre ein solcher Kanal wenig nütze!«

»Allerdings, aber für die ganze Welt«, sagte Kapitän Nemo. »Bereits die Alten hatten begriffen, wie nützlich es für ihren Großhandel sein würde, eine Verbindung zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer herzustellen; aber sie dachten nicht daran, einen neuen Kanal zu graben, sondern bedienten sich der Vermittelung des Nils. Wahrscheinlich wurde, der Sage zufolge, der Kanal, der den Nil mit dem Roten Meer verband, unter Sesostris angefangen.

Ausgemacht ist, dass 615 Jahre vor Christus Necho die Arbeiten eines Kanals begann, der von dem Wasser des Nils gespeist, durch die nach Arabien hin liegende Ebene führte. Man fuhr ihn aufwärts in 4 Tagen, er war so breit, dass zwei Triremen sich darin ausweichen konnten. Er wurde von Darius fortgeführt und wahrscheinlich von Ptolemäus II. vollendet. Zu Strabos Zeit wurde er von Schiffen befahren; aber der geringe Fall seines Wassers von seinem Anfang, zu Bubastis, bis zum Roten Meer veranlasste, dass man ihn nur einige Monate im Jahr benutzen konnte. Bis zurzeit der Antonine diente er dem Handelszweck; hernach versandet und verödet, wurde er vom Kalifen Omar wiederhergestellt, aber im Jahr 761 oder 762

vom Kalifen Almansor verschüttet, um seinem aufständischen Gegner die Lebensmittel abzuschneiden. Bonaparte fand in der Wüste von Suez seine Spuren, und von der Flut überrascht, wäre er, einige Stunden ehe er nach Hadzaroth kam, beinah umgekommen, an derselben Stelle, wo Moses 3.300 Jahre zuvor sein Lager gehabt hatte.«

»Nun, Kapitän, was die Alten nicht zu unternehmen vermochten, eine Verbindung der beiden Meere, wodurch der Weg von Cadix nach Indien um 9.000 Kilometer abgekürzt werden wird, hat Herr Lesseps zustande gebracht, und in kurzem wird er Afrika zu einer ungeheuren Insel gemacht haben.«

»Ja, Herr Arronax, Sie dürfen stolz auf Ihren Landsmann sein.

Solch ein Mann gereicht einer Nation mehr zum Ruhme als die

größten Feldherren! Seine Willenskraft hat über die Hindernisse triumphiert, und ein Werk, das eine internationale Unternehmung hätte sein sollen, ist nur durch die Energie eines einzigen Mannes zustande gekommen.«

»Ja, Ehre dem großen Bürger«, erwiderte ich, überrascht über die warme Betonung, mit der Kapitän Nemo gesprochen.

»Leider«, fuhr er fort, »kann ich nicht durch diesen Kanal von Suez mit Ihnen fahren; aber doch können Sie bis übermorgen, da wir im Mittelmeer sein werden, die langen Dämme von Port Said sehen.«

»Im Mittelmeer!« rief ich aus.

»Ja, Herr Professor. Wundern Sie sich darüber?«

»Ich wundere mich, dass wir übermorgen dort sein sollen.«

»Wirklich?«

»Ja, Kapitän, obwohl ich, seit ich an Ihrem Bord bin, mir das Staunen hätte abgewöhnen können!«

»Aber was ist denn dabei zum Erstaunen?«

»Die entsetzliche Schnelligkeit, womit Sie um Afrika herum bis ins Mittelmeer fahren wollen.«

»Und wer sagt denn, Herr Professor, dass die ›Nautilus‹ um das Kap der Guten Hoffnung herumfahren will?«

»Doch, wenn er nicht zu Land oder über den Isthmus fahren will ...«

»Oder drunter her, Herr Arronax.«

»Drunter?«

»Allerdings«, erwiderte ruhig Kapitän Nemo. »Längst hat die Natur unter dieser Landenge geschaffen, was der Mensch jetzt darüber in Ausführung bringt.«

»Wie? Es bestände eine Durchfahrt?«

»Ja, eine unterirdische Durchfahrt, die ich ›Arabischen Tunnel‹

genannt habe. Er fängt unterhalb Suez an und endet im Golf von Pelusium.«

»Aber auf dem Isthmus ist ja nur Flugsand?«

»Bis zu einer gewissen Tiefe. Nur 50 Meter tief findet sich eine unerschütterlich feste Lage Felsen.«

»Haben Sie diesen Durchweg zufällig gefunden?« fragte ich immer mehr erstaunt.

»Durch Zufall und Überlegung, Herr Professor, und sogar mehr durch Überlegung als durch Zufall.«

»Kapitän, ich höre Ihnen zu, obwohl mein Ohr sich dagegen sträubt.«

»Diese Durchfahrt existiert; ich habe sie auch schon einige Mal benutzt. Sonst hätte ich mich auch nicht jetzt in diese Enge gewagt.«

»Darf man fragen, wie Sie diese Entdeckung gemacht haben?«

»Mein Herr«, erwiderte der Kapitän, zwischen Leuten, die sich nicht mehr voneinander trennen dürfen, gibt’s kein Geheimnis.«

Ohne diese Andeutung zu beachten, hörte ich zu.

»Herr Professor«, sagte er, »eine einfache Beobachtung brachte mich auf die Entdeckung dieser Durchfahrt. Ich hatte bemerkt, dass es im Roten Meer und Mittelmeer gewisse Arten von Fischen gibt, die sich völlig gleich sind, Streifdecken, Schlangenfische, Meeradler, Barsche u.a. Diese Tatsache führte auf die Frage, ob nicht eine Verbindung zwischen beiden Meeren bestehe. Bestand sie, so musste die Strömung notwendig vom Roten Meer zum Mittelmeer gehen, lediglich wegen der verschiedenen Höhe des Meeresspiegels. Ich fing nun eine Menge Fische in der Nähe von Suez, legte ihnen am Schwanz einen kupfernen Ring an und warf sie dann wieder ins Meer. Einige Monate später fing ich an der Syrischen Küste etliche Exemplare meiner mit dem Ring gezierten Fische wieder.

Damit war die Verbindung der beiden Meere bewiesen. Ich suchte sie mit meiner ›Nautilus‹ auf, wagte mich hinein, und es wird nicht lange dauern, Herr Professor, werden Sie ebenfalls durch meinen Arabischen Tunnel fahren!«

 


5. KAPITEL

Der Arabische Tunnel

Noch denselben Tag teilte ich Conseil und Ned den sie zunächst interessierenden Teil dieser Unterhaltung mit. Als ich ihnen sagte, dass wir in 2 Tagen uns mitten im Mittelmeer befinden würden,

klatschte Conseil mit den Händen, aber der Kanadier zuckte die Achseln.

»Ein unterseeischer Tunnel!« rief er aus, »eine Verbindung beider Meere! Wer hat jemals so etwas gehört?«

»Freund Ned«, erwiderte Conseil, »hatten Sie jemals von der ›Nautilus‹ reden gehört? Nein! – und doch existiert sie. Darum zucken Sie nicht so leicht die Achseln.«

»Wir werden’s wohl sehen!« versetzte Ned Land mit Kopfschütteln. »Trotzdem will ich recht gern an diesen Durchweg glauben und wünsche nur, dass der Kapitän uns wirklich ins Mittelmeer führen möge.«

Noch denselben Abend fuhr die ›Nautilus‹, unter 21° 30ʹ nördlicher Breite, auf der Oberfläche in die Nähe der arabischen Küste.

Ich erblickte Djedda, das mächtige Comptoir des ägyptischen, syrischen, türkischen und indischen Handels. Ich konnte klar ihre sämtlichen Bauten, die längs den Kais ankernden und die auf der Reede liegenden Schiffe unterscheiden. Die ziemlich niedrig am Horizont stehende Sonne beleuchtete hell die Häuser der Stadt, deren weiße Farbe um so greller hervorstach. Außerhalb von ihr ließen einige Hütten von Holz oder Rohr das von den Beduinen bewohnte Quartier erkennen.

Bald verschwand Djedda im Abenddunkel, und die ›Nautilus‹

tauchte unter das leicht phosphoreszierende Wasser.

Am folgenden Tag, dem 10. Februar, zeigten sich einige Schiffe, die auf uns zufuhren. Die ›Nautilus‹ tauchte wieder unter; aber zu Mittag begab sie sich, da das Meer leer war, wieder an die Oberfläche.

In Begleitung von Ned und Conseil setzte ich mich auf die Plattform. Die Ostküste zeigte sich im feuchten Nebel wie eine unklar gezeichnete Masse.

Gegen die Seiten des Boots gelehnt plauderten wir von diesem und jenem, als Ned Land mit der Hand auf einen Punkt wies und sagte:

»Sehen Sie da etwas, Herr Professor?«

»Nein, Ned«, erwiderte ich, »aber Ihr Gesicht reicht auch weiter als das Meinige, wie Sie wissen.«

»Schauen Sie wohl«, fuhr Ned fort, »dort rechts vor uns, so hoch wie die Leuchte! Sehen Sie da nicht eine Masse, die sich zu bewegen scheint?«

»Wirklich«, sagte ich, »nachdem ich achtsam geschaut, ich gewahre etwas auf der Oberfläche des Wassers, das sieht wie ein langer, schwärzlicher Körper aus.«

»Noch eine ›Nautilus‹?« sagte Conseil.

»Nein«, erwiderte der Kanadier, »aber ich müsste mich sehr irren, wenn es nicht ein Seetier ist.«

»Gibt’s denn Walfische im Roten Meer?« fragte Conseil.

»Ja, mein Lieber«, erwiderte ich, »bisweilen.«

»Es ist kein Walfisch«, versetzte Ned Land, der den wahrgenommenen Gegenstand nicht aus den Augen verlor. »Mit Walfischen stehe ich in vertrauter Bekanntschaft, und ich würde ihre Bewegungen leicht erkennen.«

»Warten wir nur«, sagte Conseil. »Die ›Nautilus‹ fährt da hinaus, und wir werden bald wissen, wie es damit steht.«

Wirklich, der schwärzliche Gegenstand war bald nur noch 1 Meile von uns entfernt. Er sah aus wie eine große Klippe im Meer.

Was war es? Ich konnte mich noch nicht darüber aussprechen.

»Ah! Es schwimmt! Es taucht unter!« rief Ned Land. »Tausend Teufel! Was mag dies für ein Tier sein? Es hat nicht den zweispaltigen Schwanz der Walfische oder Pottfische, und seine Flossen sehen aus wie verstümmelte Gliedmaßen.«

»Aber dann ...« sagte ich.

»Richtig«, fuhr der Kanadier fort, »es liegt auf dem Rücken und streckt seine Brüste empor!«

»Eine Sirene«, rief Conseil, »eine echte Sirene, nehmen Sie’s nicht übel, mein Herr.«

Dies Wort brachte mich auf den rechten Weg, und ich sah, dass dies Tier zu den Seegeschöpfen gehörte, woraus die Fabel Sirenen, Fischweibchen, gemacht hat.

»Nein«, sagte ich zu Conseil, »eine Sirene ist’s nicht, aber ein merkwürdiges Geschöpf, von dem es kaum noch einige Exemplare im Roten Meer gibt. Es ist ein Dugong.«

»Ordnung der Sirenen, Gruppe der Fischförmigen, Unterklasse der Menodelphine, Klasse der Säugetiere, Abteilung der Wirbeltiere«, erwiderte Conseil.

Doch Ned Land schaute unverwandten Blicks hin. Beim Anblick des Tieres glänzten seine Augen vor Begierde. Seine Hand zuckte schon, um es zu harpunieren. Man hätte meinen können, er

warte nur auf den Moment, sich ins Meer zu werfen, um es da in seinem Element anzugreifen.

»Oh, mein Herr«, sagte er zu mir mit vor Unruhe zitternder Stimme, »so etwas hab’ ich noch nie erlegt.«

In dieser Äußerung zeigte sich der ganze Harpunier.

In diesem Augenblick zeigte sich Kapitän Nemo auf der Plattform. Er bemerkte den Dugong, verstand die Haltung des Kanadiers und sagte zu ihm:

»Wenn Sie eine Harpune hätten, Meister Land, würde Ihnen da nicht die Hand zucken?«

»Allerdings, mein Herr.«

»Und es würde Ihnen nicht unangenehm sein, für einen Tag einmal wieder Ihr Fischergeschäft zu treiben und dieses Tier zu den von Ihnen erlegten hinzuzufügen?«

»Es wäre mir das ganz recht.«

»Nun, Sie mögen’s versuchen.«

»Dank, mein Herr«, erwiderte Ned Land mit sprühenden Blicken.

»Nur«, fuhr der Kapitän fort, »fordere ich Sie auf, dies Tier nicht zu fehlen, und zwar in Ihrem eigenen Interesse.«

»Ist’s gefährlich, diesen Dugong anzugreifen?« fragte ich trotz des Kanadiers Achselzucken.

»Ja, mitunter«, erwiderte der Kapitän. »Das Tier stürzt sich wiederholt auf seine Angreifer und wirft ihr Fahrzeug um. Aber für Meister Land ist keine Gefahr zu besorgen. Er hat einen raschen Blick, einen sicheren Arm. Ich empfehle es ihm nur deshalb, weil man es als ein feines Gericht ansieht, und ich weiß, dass Meister Land die guten Bissen nicht verschmäht.«

»Ah!« sagte der Kanadier, »dies Tier hat auch den Vorzug, dass es gut schmeckt?«

»Ja, Meister Land, sein Fleisch, ein wirkliches Fleisch, ist ausnehmend geschätzt, und im ganzen Malayenland hebt man’s für die Tafel der Fürsten auf. Darum macht man auch so hitzig Jagd auf das vortreffliche Tier, dass es, wie der Manati, sein Stammesgenosse, immer seltener wird.«

»Herr Kapitän«, sagte darauf Conseil im Ernst, »wenn vielleicht

dieses das Letzte seiner Rasse wäre, würde es dann nicht besser sein, es zu schonen, im Interesse der Wissenschaft?«

»Vielleicht«, entgegnete der Kanadier; »aber im Interesse der Küche ist’s besser, es zu erlegen.«

»Gehen Sie nur ans Werk, Meister Land«, erwiderte Kapitän Nemo.

In dem Augenblick kamen sieben Mann von den Bootsknechten, stumm und ausdruckslos wie immer, auf die Plattform. Einer trug eine Harpune und eine Schnur, wie sie die Walfischfänger brauchen. Das Boot wurde aus seinem Gehäuse genommen und ins Meer hinabgelassen. Sechs Ruderer besetzten die Bänke und der Steuerer nahm seinen Platz ein. Ned, Conseil und ich setzten uns hinten hin.

»Sie kommen nicht, Kapitän?« fragte ich.

»Nein, mein Herr, aber ich wünsche Glück zur Jagd.«

Das Boot stieß ab und fuhr mit seinen sechs Ruderern pfeilschnell auf den Dugong zu, der damals 2 Meilen von der ›Nautilus‹

entfernt schwamm.

Als wir bis auf einige Klafter dem Tier nah gekommen waren, fuhren wir langsamer, und die Ruder griffen geräuschlos ins ruhige Wasser. Ned Land stellte sich, die Harpune in der Hand, auf dem Vorderteil des Boots auf. Die Harpune, womit man nach einem Walfisch wirft, ist gewöhnlich an einen sehr langen Strick befestigt, der sich rasch abwickelt, wenn das verwundete Tier sie mit sich fortschleppt. Aber hier maß der Strick nur etwa 10 Ellen und war an eine kleine Tonne angeschlagen, die schwimmend angab, in welcher Richtung der Dugong sich unter Wasser bewegte.

Ich war aufgestanden und betrachtete genau den Gegner des Kanadiers. Dieser Dugong hatte viel Ähnlichkeit mit dem Manati.

Sein länglicher Leib endigte sich in einen sehr langen Schwanz und seine Seitenflossen in wirkliche Finger. Vom Manati unterschied er sich durch zwei lange, spitze Zähne seines Oberkiefers.

Der Dugong nun, auf den Ned Land Jagd machte, war bei einer Länge von mindestens 7 Meter von kolossalen Verhältnissen. Er rührte sich nicht und schien zu schlafen.

Das Boot kam dem Tier vorsichtig bis auf 3 Ellen nah. Ich rich

tete mich halb auf. Ned Land bog sich ein wenig rückwärts und warf seine Harpune mit geübter Hand.

Man hörte ein Zischen, und der Dugong verschwand. Die kräftig geschwungene Harpune hatte wohl nur das Wasser gestreift.

»Tausend Teufel!« schrie der Kanadier wütend, »ich hab’ ihn gefehlt.«

»Nein«, sagte ich, »das Tier ist verwundet, hier sieht man Blut, aber Ihre Waffe ist nicht stecken geblieben.«

»Meine Harpune! Meine Harpune!« schrie Ned Land.

Die Matrosen ruderten wieder, und der Steuerer lenkte das Boot auf die schwimmende Tonne. Die Harpune wurde wieder aufgefischt, und das Boot verfolgte das Tier.

Es kam von Zeit zu Zeit zum Atmen an die Oberfläche; es war durch die Wunde nicht entkräftet, denn es schwamm äußerst schnell. Das Boot folgte, von kräftigen Armen der Ruderer gefördert, ihm eilig auf der Spur. Manchmal kam es ihm auf einige Ellen nah, und der Kanadier war gefasst zu werfen; aber der Dugong entwischte durch plötzliches Untertauchen, und es wurde unmöglich, ihn zu erreichen.

Man kann sich denken, wie zornig der ungeduldige Ned Land wurde; er schleuderte die kräftigsten Flüche der englischen Sprache dem Tier nach. Ich meinesteils ärgerte mich nur, dass der Dugong sich all unseren Nachstellungen entzog.

Man verfolgte ihn eine Stunde lang unablässig, und ich fing an zu glauben, es werde sehr schwierig sein, seiner Meister zu werden, als dem Tier der unglückselige Gedanke sich zu rächen kam, den es jedoch zu bereuen hatte.

Der Kanadier merkte gleich seine Absicht.

»Aufgepasst!« rief er.

Der Bootsführer sagte einige Worte in seiner seltsamen Sprache, womit er vermutlich seine Leute warnte, auf der Hut zu sein.

Als der Dugong noch 20 Fuß vom Boot entfernt war; machte er halt, zog hastig mit seinen oben auf der Schnauze stehenden ungeheuren Nasenlöchern Luft ein. Darauf nahm er seinen Anlauf und stürzte sich auf uns.

Das Boot konnte den Stoß nicht aushalten, schöpfte einige Tonnen Wasser, das man wieder ausleeren musste; aber Dank der Geschicklichkeit des Bootsführers schlug es nicht um. Ned Land, an den Vordersteven geklammert, stach mit seiner Harpune auf das riesige Tier los, das mit seinen Zähnen, den Deckbord packend, das Fahrzeug aus dem Wasser heraushob. Wir waren übereinander geworfen, und ich weiß nicht, welchen Ausgang das Abenteuer

genommen haben würde, hätte nicht der Kanadier, der unablässig dem Tier hitzig zusetzte, es endlich ins Herz getroffen.

Ich hörte das Knirschen seiner Zähne am Eisenblech, der Dugong verschwand und zog die Harpune mit sich. Aber bald kam die Tonne wieder auf die Oberfläche, und nach wenigen Augenblicken kam auch, auf dem Rücken liegend, der Körper des Tieres zum Vorschein. Das Boot kam herbei, nahm ihn ins Schlepptau und kehrte zur ›Nautilus‹ zurück.

Man bedurfte sehr starker Taue, um den Dugong auf die Plattform zu ziehen. Er wog 5.000 Kilogramm. Man zerlegte das Tier vor den Augen des Kanadiers, der allen Details der Verrichtung aufmerksam zusah. Denselben Tag noch setzte mir der Steward beim Diner einige Stücke von diesem Fleisch vor, das der Schiffskoch kundig zubereitet hatte. Ich fand es vortrefflich und sogar vorzüglicher als Kalbfleisch, wo nicht Rindfleisch.

Am folgenden Tag, dem 11. Februar, wurde die Küche der ›Nautilus‹ mit noch einem köstlichen Wildbret bereichert. Ein Schwarm Seeschwalben ließ sich auf der ›Nautilus‹ nieder. Es war eine Art der in Ägypten einheimischen; ihr Schnabel ist schwarz, der Kopf grau getüpfelt, Rücken, Flügel und Schwanz graulich, Bauch und Kehle weiß, die Füße rot. Man fing auch einige Dutzend Nilenten, deren Hals und Kopf oben weiß und schwarz gefleckt sind.

Die ›Nautilus‹ fuhr damals mit mäßiger Schnelligkeit. Ich bemerkte, dass das Wasser des Roten Meeres an Salzgehalt mehr und mehr abnahm, je näher wir Suez kamen. Gegen 5 Uhr abends gewahrten wir nördlich das Kap Ras-Mohammed, das zwischen dem Golf von Suez und dem von Acabah das Ende des Peträischen Arabiens bildet. Die ›Nautilus‹ fuhr durch die Enge von Jubal, die zum Golf von Suez führt. Ich bemerkte deutlich einen hohen Berg, der zwischen den beiden Golfen den Ras-Mohammed beherrschte. Es war der Berg Horeb, jener Sinai, auf dessen Gipfel Moses Gott von Angesicht zu Angesicht schaute und den man sich beständig von Blitzen umzuckt vorstellt.

Um 6 Uhr fuhr die ›Nautilus‹ bald über, bald unter dem Wasserspiegel auf hoher See bei Tor vorüber, das in der Tiefe einer Bucht

liegt, deren Wasser, wie der Kapitän bereits bemerkte, rot gefärbt erscheint.

Darauf trat die Nacht ein, in tiefer Stille, die nur mitunter vom Geschrei des Pelikans und einiger Nachtvögel, vom Geräusch der am Felsen abprallenden Wogen oder vom Wellenschlag eines in der Ferne segelnden Dampfers unterbrochen wurde.

Von 8 bis 9 Uhr blieb die ›Nautilus‹ einige Meter unter Wasser. Meiner Berechnung nach mussten wir ganz nah bei Suez sein.

Durch die Fensterluken des Salons sah ich den Felsengrund von unserem elektrischen Licht hell erleuchtet. Es schien mir, als werde die Enge immer schmäler.

Als um 9 Uhr 15 das Boot wieder auf die Oberfläche kam, begab ich mich auf die Plattform. Vor Ungeduld, den Tunnel von Kapitän Nemo zu durchfahren, hielt ich’s innen nicht aus und suchte die frische Nachtluft zu atmen.

Bald gewahrte ich im Dunkeln ein blasses, vom Nebel halb ersticktes Licht 1 Meile weit von uns.

»Ein schwimmender Pharus«, sagte jemand in meiner Nähe. Ich drehte mich um und erkannte den Kapitän.

»Der schwimmende Pharus von Suez«, wiederholte er. »Wir werden gleich zur Mündung des Tunnels gelangen.«

»Die Fahrt darin muss schwierig sein?«

»Ja, mein Herr. Darum pflege ich selbst am Platz des Steuerers die Leitung zu übernehmen. Und jetzt, wenn Sie gefälligst hinabgehen wollen, Herr Arronax, wird die ›Nautilus‹ untertauchen und erst wieder an die Oberfläche kommen, nachdem sie durch den Tunnel hindurchgefahren ist.«

Ich folgte Kapitän Nemo. Die Luke schloss sich, die Wasserbehälter füllten sich, und das Fahrzeug tauchte etwa 10 Meter hinab.

Als ich eben im Begriff war, mich auf mein Zimmer zu begeben, redete mich der Kapitän an.

»Herr Professor«, sagte er zu mir, »wäre es Ihnen gefällig, mich in das Gehäuse des Steuerers zu begleiten.«

»Ich wagte nicht, Sie darum zu bitten«, erwiderte ich.

»So kommen Sie. Da werden Sie alles sehen, was man von dieser zugleich unterirdischen und unterseeischen Fahrt sehen kann.«

Der Kapitän führte mich zur Mittelstiege. Auf der Hälfte öffnete er eine Tür und schritt durch die oberen Gänge bis zum Steuermannsgehäuse, das, wie wir wissen, am Ende der Plattform hervorragte.

Es war eine Kabine von 6 Quadratfuß, ungefähr wie die der Steuerer bei den Dampfern auf dem Mississippi oder Hudson.

In der Mitte drehte sich in senkrechter Richtung ein Rad, das in die Stücktaue des Steuerruders eingriff, die bis zum Hinterteil der

›Nautilus‹ liefen, vier Luken mit Linsengläsern, die in den Wänden der Kabine angebracht waren, gewährten dem Steuermann die Aussicht nach allen Richtungen.

Diese Kabine war dunkel; aber meine Augen gewöhnten sich schnell an dieses Dunkel, und ich gewahrte den Steuerer, einen kräftigen Mann, dessen Hände sich auf die Radfelgen stützten. Außen schien das Meer von der Leuchte hell bestrahlt, die hinter der Kabine am anderen Ende der Plattform glänzte.

»Jetzt«, sagte Kapitän Nemo, »suchen wir unsere Durchfahrt.«

Die Zelle des Steuerers war durch elektrische Drähte mit der Maschinenkammer in Verbindung gesetzt, und so war der Kapitän imstande, seiner ›Nautilus‹ zugleich die Richtung und die Bewegung vorzuschreiben. Er drückte auf einen metallenen Knopf, und sogleich minderte sich die Schnelligkeit der Schraube.

Ich betrachtete schweigend die hohe, sehr steile Wand, an der wir eben vorbeifuhren, die unerschütterliche Grundlage des sandigen Kerns der Küste. Eine Stunde lang fuhren wir, nur einige Meter davon ab, an ihr lang. Kapitän Nemo verwandte keinen Blick von dem in der Kabine hängenden Kompass. Auf einen bloßen Wink änderte der Steuerer jeden Augenblick die Richtung der ›Nautilus‹.Ich hatte mich an die Luke zur linken Seite gesetzt, wo ich prächtige Korallengerüste sah, Zoophyten, Algen und Schaltiere, die mit ihren ungeheuren Tatzen, die sie aus den Spalten der Felsen herausstreckten, hin und her langten.

Um 10 Uhr 15 nahm Kapitän Nemo selbst das Steuer zur Hand.

Eine breite, finstere und tiefe Galerie öffnete sich vor uns. Die ›Nautilus‹ fuhr kühn hinein. Ein ungewöhnliches Gebrause hörte man

zu beiden Seiten. Die Gewässer des Roten Meeres stürzten über den stark abfallenden Tunnel ins Mittelmeer. Die ›Nautilus‹ folgte der Strömung pfeilschnell, so sehr die Maschine sich anstrengte, zu hemmen.

Auf den engen Wänden der Durchfahrt sah ich nur noch schimmernde Striche, gerade Linien, Feuerstreifen, die beim glänzenden

Licht der Elektrizität durch die Schnelligkeit gezogen wurden.

Mein Herz klopfte, dass ich mit der Hand seinen Pulsschlag hemmen musste.

Um 10 Uhr 35 trat Kapitän Nemo vom Steuerrad zurück und wendete sich zu mir mit den Worten:

»Das Mittelmeer.«

In weniger als 10 Minuten war die ›Nautilus‹, von der Strömung fortgerissen, durch den Isthmus von Suez hindurchgefahren.

 


6. KAPITEL

Der griechische Archipel

Am folgenden Morgen, dem 12. Februar, mit Tagesanbruch tauchte die ›Nautilus‹ auf die Oberfläche empor. Ich eilte auf die Plattform.

3 Meilen südlich sah man einen unklaren Schattenriss von Pelusium. Wir waren mit reißend abfallender Strömung durchgefahren; aber aufwärts diesen Tunnel zu fahren, musste unausführbar sein.

Gegen 7 Uhr kamen Ned und Conseil zu mir. Diese beiden unzertrennlichen Kameraden hatten ruhig geschlafen, ohne sich weiter über die Heldentaten der ›Nautilus‹ Gedanken zu machen.

»Nun, Herr Naturforscher«, fragte der Kanadier mit etwas spöttischem Ton, »und das Mittelmeer?«

»Wir fahren darauf, Freund Ned.«

»Hm!« sagte Conseil, »diese Nacht ...?«

»Ja, just diese Nacht, in einigen Minuten sind wir durch diesen Isthmus gefahren.«

»Das glaub’ ich nicht«, erwiderte der Kanadier.

»Und Sie haben unrecht, Meister Land«, versetzte ich. »Diese niedrige Küste im Süden ist die ägyptische.«

»Das mag man, mein Herr, sonst jemandem weismachen«, entgegnete der starrköpfige Kanadier.

»Aber da mein Herr es versichert«, sagte Conseil zu ihm, »so muss man ihm glauben.«

»Zudem, Ned, hat Kapitän Nemo mir die Ehre erwiesen, mich

zu sich in die Zelle des Steuerers zu nehmen, und ich war zugegen, als er selbst die ›Nautilus‹ durch die enge Fahrt lenkte.«

»Hören Sie, Ned«, sagte Conseil.

»Und Sie, Ned, mit ihren guten Augen«, fügte ich hinzu, »Sie können die Dämme am Port Said von hier aus erkennen.«

Der Kanadier schaute achtsam hin.

»Wirklich«, sagte er, »Sie haben recht, Herr Professor, und Ihr Kapitän ist ein Mann, wie es keinen mehr gibt. Wir sind im Mittelmeer. Gut. So wollen wir, wenn’s beliebt, von unseren Angelegenheiten plaudern, aber dass niemand uns hören kann.«

Ich sah wohl, wo der Kanadier hinauswollte. Jedenfalls, dachte ich, sei es besser zu plaudern, weil er’s wünschte, und wir drei setzten uns neben den Fanal, wo wir weniger den feuchten Meeresdünsten ausgesetzt waren.

»Jetzt, Ned, hören wir Ihnen zu«, sagte ich. »Was haben Sie uns mitzuteilen?«

»Was ich Ihnen mitzuteilen habe, ist sehr einfach«, erwiderte der Kanadier. »Wir sind in Europa, und ehe die Launen von Kapitän Nemo uns bis zum Meeresgrund des Nordens mit fortschleppen oder wieder nach dem Pazifik zurückbringen, verlange ich die

›Nautilus‹ zu verlassen.«

Ich gestehe offen, dass diese Erörterung mit dem Kanadier mich stets in Verlegenheit setzte. Ich wollte in keiner Weise der Befreiung meiner Genossen hinderlich sein, und doch spürte ich kein Verlangen Kapitän Nemo zu verlassen. Ihm und seinem Apparat verdankte ich es, dass ich täglich meine unterseeischen Studien vervollständigte, und ich arbeitete mein Werk über die Meerestiefen mitten in dem Element selbst um.

Würde ich jemals eine solche Gelegenheit wiederfinden, die Wunder des Ozeans zu beobachten? Gewiss nicht! Ich konnte mich daher nicht dem Gedanken anschließen, die ›Nautilus‹ vor Vollendung unserer Forschungen zu verlassen.

»Freund Ned«, sagte ich, »antworten Sie mir frei heraus. Haben Sie Unlust an Bord? Bedauern Sie, dass das Schicksal Sie Kapitän Nemo in die Hand gegeben hat?«

Der Kanadier schwieg eine Weile. Dann kreuzte er die Arme und sagte:

»Offen gesagt, diese Reise unterm Meer missfällt mir nicht. Ich werde befriedigt sein, wenn sie gemacht ist. Dafür aber muss sie ein Ende nehmen. Dies denke ich darüber.«

»Sie wird ein Ende nehmen, Ned.«

»Wo und wann?«

»Wo? Weiß ich nicht. Wann? Das kann ich auch nicht sagen, oder vielmehr ich nehme an, dass sie ihr Ende erreichen wird, wenn wir in diesen Meeren nichts mehr zu lernen haben werden. In dieser Welt hat alles, was einen Anfang genommen hat, auch sein Ende.«

»Ich denke wie mein Herr«, erwiderte Conseil, »und es ist wohl möglich, dass Kapitän Nemo, nachdem wir alle Meere des Erdballs durchlaufen haben, uns drei zusammen in Freiheit setzen wird.«

»In Freiheit!« rief der Kanadier. »Er wird uns schon etwas anderes vorsetzen.«

»Übertreiben wir nicht, Meister Land«, versetzte ich. »Wir haben vom Kapitän nichts zu besorgen, aber ich teile auch nicht die Idee Conseils. Wir sind im Besitz der Geheimnisse der ›Nautilus‹, und ich erwarte nicht, dass ihr Kommandant, um uns in Freiheit zu setzen, sich damit abfinden wird, dass sie sich mit uns in aller Welt verbreiten.«

»Aber was erwarten Sie dann?« fragte der Kanadier.

»Dass sich Umstände ergeben werden, die wir benutzen können und dürfen, und das in 6 Monaten ebenso gut wie jetzt.«

»Der Henker!« sagte Ned Land. »Und wo werden wir in 6 Monaten sein, wenn’s beliebt, Herr Naturforscher?«

»Vielleicht hier, vielleicht in China. Sie wissen, die ›Nautilus‹

fährt reißend schnell. Sie fliegt durch die Ozeane wie eine Schwalbe durch die Lüfte oder ein Eilzug über die Kontinente. Sie scheut sich nicht vor den befahrenen Meeren. Wer sagt uns, dass sie nicht einmal an die Küsten Frankreichs, Englands oder Amerikas kommen wird, wo eine Flucht mit ebenso viel Vorteil unternommen werden kann wie hier?«

»Herr Arronax«, erwiderte der Kanadier, »Ihren Gründen fehlt’s

am Grund. Sie sprechen in zukünftiger Zeit: ›Wir werden dort, wir werden hier sein!‹ Ich rede in der Gegenwart: Wir sind hier, und man muss das benutzen.«

Die Logik Ned Lands hatte mich in die Enge getrieben. Ich hatte keine Argumente für mich gegen ihn geltend zu machen.

»Mein Herr«, fuhr Ned fort, »setzen wir, was unmöglich der Fall, Kapitän Nemo bietet Ihnen schon heute die Freiheit an. Würden Sie’s annehmen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich.

»Und wenn er beifügt, dass er das heute gemachte Erbieten später nicht wieder machen wird, werden Sie’s dann annehmen?«

Ich blieb die Antwort schuldig.

»Und was denkt Freund Conseil darüber?« fragte Ned Land.

»Freund Conseil«, erwiderte gelassen dieser brave Junge,

»Freund Conseil hat nichts dabei zu sagen. Wie sein Herr, wie sein Kamerad Ned, ist er ohne Familie. Weder Frau noch Eltern, noch Kinder erwarten ihn in der Heimat. Er steht im Dienste seines Herrn, denkt wie sein Herr und spricht wie sein Herr, und zu seinem großen Bedauern darf man nicht auf ihn zählen, um eine Majorität zu bilden. Es sind nur zwei Personen da: mein Herr auf der einen, Ned Land auf der anderen Seite. Freund Conseil hört zu, und ist bereit, die Stiche zu zählen.«

Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren, als ich sah, wie Conseil seine Persönlichkeit so vollständig verleugnete. Im Grunde konnte der Kanadier herzlich froh sein, dass er ihn nicht gegen sich hatte.

»Also, mein Herr«, sagte Ned Land, »weil Conseil nicht existiert, wollen wir nur unter uns disputieren. Ich habe meine Meinung gesagt, Sie haben mich gehört. Was haben Sie zu erwidern?«

Man musste offenbar zum Schluss kommen, und Ausflüchte waren mir zuwider.

»Freund Ned«, sagte ich, »ich will Ihnen meine Antwort sagen.

Sie haben recht gegen mich, und meine Gründe können gegen die Ihrigen nicht Stich halten. Auf den guten Willen von Kapitän Nemo darf man nicht rechnen. Die gewöhnlichste Klugheit verbietet ihm,

uns in Freiheit zu setzen. Dagegen rät die Klugheit, dass wir die erste Gelegenheit benutzen, die ›Nautilus‹ zu verlassen.«

»Richtig, Herr Arronax, das heißt verständig gesprochen.«

»Nur«, sag’ ich, »eine Bemerkung, eine einzige. Die Gelegenheit muss eine ernstliche sein. Unser erster Fluchtversuch muss glücken; denn wenn er fehlschlägt, werden wir die Gelegenheit zu einem abermaligen Versuch nicht wieder bekommen, und Kapitän Nemo wird uns nicht verzeihen.«

»Alles dies steht richtig«, erwiderte der Kanadier. »Aber Ihre Bemerkung gilt für jeden Fluchtversuch, mag er in 2 Jahren oder in 2 Tagen stattfinden. Folglich kommt die Frage immer darauf hinaus: wenn eine günstige Gelegenheit sich bietet, muss man sie ergreifen.«

»Einverstanden. Und nun, sagen Sie mir, was verstehen Sie unter einer günstigen Gelegenheit?«

»Wenn bei einer dunklen Nacht die ›Nautilus‹ einer europäischen Küste nah käme.«

»Und Sie würden versuchen, durch Schwimmen zu entkommen?«

»Ja, wenn wir einem Ufer nah genug wären und wenn die ›Nautilus‹ auf der Oberfläche führe. Nein, wenn wir zu fern wären und wenn wir unter Wasser führen.«

»Und in diesem Falle?«

»In diesem Falle würde ich mich bemühen, in Besitz des Boots zu gelangen. Ich verstehe es zu führen. Wir würden uns ins Innere schleichen, die Zapfen wegnehmen und uns wieder auf die Oberfläche begeben, ohne dass selbst der vorne befindliche Steuermann unsere Flucht bemerkte.«

»Gut, Ned. Spüren Sie diese Gelegenheit aus; aber behalten Sie im Sinn, dass ein Fehlschlagen unser Verderben wäre.«

»Das werd’ ich nicht vergessen, mein Herr.«

»Und jetzt, Ned, wollen Sie meine Gedanken über Ihr Projekt vollständig kennen?«

»Gern, Herr Arronax.«

»Nun, ich denke – ich sage nicht hoffe –, ich denke, dass diese günstige Gelegenheit sich nicht ergeben wird.«

»Weshalb?«

»Weil Kapitän Nemo sich nicht verhehlen kann, dass wir die Hoffnung, unsere Freiheit wiederzuerlangen, nicht aufgegeben haben und dass er achtsam sein wird, zumal in den Meeren und an den Küsten Europas.«

»Ich teile meines Herrn Ansicht«, sagte Conseil.

»Wir werden’s wohl sehen«, erwiderte Ned Land, der mit entschiedener Miene den Kopf schüttelte.

»Und jetzt, Ned Land«, fügte ich hinzu, »bleiben wir dabei. Kein Wort weiter über das alles. Wenn Sie dazu gerüstet und bereit sind, melden Sie’s uns, und wir werden uns Ihnen anschließen. Ich verlasse mich gänzlich auf Sie.«

Diese Unterredung, die später so schwere Folgen haben sollte, schloss also. Ich darf jetzt sagen, dass die Tatsachen mein Voraussehen zu bestätigen schienen, zur großen Verzweiflung des Kanadiers.

Misstraute uns Kapitän Nemo in diesen viel besuchten Meeren, oder wollte er sich nur dem Angesicht der vielen Schiffe aller Nationen, die das Mittelmeer befahren, entziehen? Ich weiß es nicht, aber er hielt sich meistens in mäßiger Tiefe unter Wasser und weit ab von den Küsten. Die ›Nautilus‹ fuhr entweder so unter Wasser, dass nur des Steuermanns Gehäuse hervorragte, oder sie verschwand in großen Tiefen, denn zwischen dem griechischen Archipel und Kleinasien fanden wir bei 2.000 Meter noch keinen Grund.

Am 14. Februar beschloss ich, einige Stunden darauf zu verwenden, die Fische des Archipelagus zu studieren; aber aus irgendeinem Grund blieben die Läden geschlossen. Wir fuhren in der Richtung nach der Insel Kandia. Am Abend befand ich mich mit dem Kapitän allein im Salon. Er schien voll Gedanken schweigsam. Dann ließ er die beiden Läden öffnen, ging von einem zum andern und beobachtete sorgfältig die Gewässer. Diese Insel war, als ich mich auf der ›Abraham Lincoln‹ einschiffte, in vollem Aufstand gegen den türkischen Despotismus; ich hatte aber nie mit Kapitän Nemo davon gesprochen, da er ja außer Verbindung mit der Oberwelt war. Ich machte mich an die Betrachtung der Fische, und es fielen mir gleich einige schon im Altertum bekannte Arten auf. Unter anderen sah ich den schon von Aristoteles angeführten

Trichterfisch, den man gewöhnlich Meergrundel nennt; sodann Sackflossen, die etwas phosphoreszieren, eine Art Meerbrassen, die zu den heiligen Tieren der Ägypter gehörten, indem sie durch ihr Erscheinen im Fluss dessen befruchtende Überschwemmung ankündigten. Sodann zog meine Aufmerksamkeit sich auf den sogenannten Hemmfisch, ein kleiner Fisch, von dem die Alten sagten,

er könne, wenn er sich an den Kiel eines Schiffs anhängt, dessen Lauf hemmen.

Ich war ganz in die Anschauung dieser Herrlichkeit vertieft, als plötzlich eine unerwartete Erscheinung mein Erstaunen erregte.

Mitten in den Gewässern zeigte sich ein Mann, ein Taucher mit einem ledernen Gurt um die Hüfte. Es war nicht ein Leichnam, der mit den Wogen trieb, sondern ein lebendiger Mensch, der mit kräftigem Arm ruderte, zuweilen verschwand, um an der Oberfläche Luft zu schöpfen, dann sogleich wieder untertauchte.

Ich wendete mich zum Kapitän und rief mit bewegtem Gemüt:

»Ein Mann! Ein Schiffbrüchiger! Den müssen wir retten!«

Der Kapitän gab keine Antwort und lehnte sich an das Fenster. Der Mann war nah gekommen und betrachtete uns durch die Fenster.

Zu meinem großen Erstaunen winkte ihm der Kapitän. Der Taucher erwiderte mit der Hand, begab sich unverzüglich wieder zur Oberfläche, und kam nicht wieder zum Vorschein.

»Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte zu mir der Kapitän. »Es ist der auf allen Cykladen wohlbekannte, kühne Taucher Nicolas vom Kap Matapan. Das Wasser ist sein Element, und er lebt darin mehr als auf dem Land, indem er bis nach Kreta hin alle Inseln besucht.«

»Ist er Ihnen bekannt, Kapitän?«

»Warum nicht, Herr Arronax?«

Darauf wendete sich Kapitän Nemo zu einem Schrank neben dem linken Fenster des Salons. Daneben sah ich einen mit Eisen beschlagenen Koffer, auf dessen Deckel eine kupferne Platte mit der Chiffre der ›Nautilus‹ und ihrer Devise ›Mobilis in Mobile‹ befand.

In dem Augenblick öffnete der Kapitän, ohne meine Anwesenheit zu beachten, den Koffer, der eine Menge Goldstangen enthielt.

Woher kam das kostbare Metall von so ungeheurem Wert? Wo sammelte es der Kapitän, und was sollte damit geschehen?«

Ich sprach kein Wort, sah zu. Kapitän Nemo nahm eine der Goldstangen nach der anderen heraus, legte sie regelmäßig in den Koffer hinein, den er ganz damit füllte. Ich schätzte den Inhalt auf mehr als 1.000 Kilogramm Gold, d.h. fast 5 Millionen Franc.

Der Koffer wurde wieder fest verschlossen, und der Kapitän schrieb auf seinen Deckel eine Adresse in einer Schrift, welche die neugriechische sein musste.

Hierauf drückte Kapitän Nemo auf einen Knopf, dessen Draht mit dem Posten der Mannschaft in Verbindung stand. Es erschienen vier Mann, und schoben nur mit Mühe den Koffer aus dem

Salon hinaus. Nachher vernahm ich, dass sie ihn mit Hilfe von Stricken die eiserne Leiter hinaufzogen.

In dem Moment wandte sich Kapitän Nemo zu mir:

»Und Sie sagten, Herr Professor?« fragte er mich.

»Ich habe nichts gesagt, Kapitän.«

»Dann erlauben Sie mir, mein Herr, Ihnen gute Nacht zu wünschen.«

Mit diesen Worten verließ der Kapitän den Salon.

Ich begab mich voll Unruhe, begreift man, auf mein Zimmer, versuchte vergebens zu schlafen. Ich suchte eine Beziehung zwischen der Erscheinung des Tauchers und dem mit Gold gefüllten Koffer. Bald merkte ich an einigen schwankenden Bewegungen, dass die ›Nautilus‹ sich aus den niederen Schichten auf die Oberfläche der Gewässer hob.

Nachher vernahm ich Fußtritte auf der Plattform. Ich merkte, dass man das Boot losmachte und es ins Meer hinabließ. Es stieß einen Augenblick an die Seite der ›Nautilus‹ an, dann hörte man kein Geräusch mehr.

2 Stunden nachher vernahm man dasselbe Geräusch, das gleiche Hin- und Hergehen. Das Boot wurde heraufgezogen, in seinem Gehäuse geborgen, und die ›Nautilus‹ tauchte wieder unter.

So waren also die Millionen zu ihrem Adressaten geschafft worden. An welchen Ort des Kontinents? Mit wem stand der Kapitän in solcher Verbindung?

Am folgenden Morgen erzählte ich Conseil und dem Kanadier die Ereignisse dieser Nacht, die meine Neugierde im höchsten Grad erregt hatten. Meine Gefährten waren nicht minder wie ich darüber erstaunt.

»Aber woher bekommt er diese Millionen?« fragte Ned Land.

Darauf war eine Antwort nicht möglich. Ich begab mich nach dem Frühstück an die Arbeit und war bis 5 Uhr mit meinem Tagebuch beschäftigt. Dann empfand ich eine so außerordentliche Hitze, dass ich mein Byssuskleid ablegen musste. Unbegreiflich, denn wir befanden uns nicht unter Breitengraden von hoher Temperatur, und zudem durfte die ›Nautilus‹ in der Tiefe eine Erhöhung nicht verspüren. Ich sah auf das Meermanometer. Es zeigte

eine Tiefe von 60 Fuß, wohin die atmosphärische Luft nicht hätte dringen können.

Ich fuhr fort zu arbeiten, aber die Temperatur stieg dermaßen, dass es nicht zum Aushalten war.

»Sollte ein Brand an Bord sein?« fragte ich mich.

Ich war im Begriff, den Salon zu verlassen, als Kapitän Nemo eintrat. Er trat zum Thermometer, sah nach und sagte zu mir:

»42 Grad.«

»Ich spür’ es wohl, Kapitän«, erwiderte ich, »und sollte diese Hitze noch steigen, so können wir’s nicht aushalten.«

»Oh, Herr Professor, diese Hitze wird nur dann steigen, wenn wir wollen.«

»Sie können Sie also nach Belieben ändern?«

»Nein, aber ich kann mich von ihrer Quelle entfernen.«

»Also kommt sie von außen?«

»Jawohl. Wir fahren in siedendem Wasser.«

»Ist’s möglich?« rief ich aus.

»Schauen Sie her.«

Die Läden öffneten sich, und ich sah das Meer um die ›Nautilus‹

herum ganz weiß. Dicke Schwefeldünste entwirbelten inmitten der Wogen, die sprudelten wie siedendes Wasser im Kessel. Ich hielt meine Hand an eins der Fenster, aber es war so heiß, dass ich sie zurückziehen musste.

»Wo befinden wir uns?« fragte ich.

»Nächst der Insel Santorin, Herr Professor«, erwiderte der Kapitän, »und gerade in dem Kanal, der Nea-Kamenni von Palea-Kamenni scheidet. Ich wollte Ihnen den merkwürdigen Anblick eines unterseeischen Vulkanausbruchs gewähren.«

»Ich meinte«, sagte ich, »die Bildung dieser neuen Inseln sei fertig.«

»In vulkanischen Gegenden ist nie etwas fertig«, erwiderte Kapitän Nemo, »und die Arbeit der unterirdischen Feuer dauerte da stets fort. Bereits im Jahr 19 unserer Zeitrechnung zeigte sich, nach Cassiodorus und Plinius, eine neue Insel, die göttliche Theia, an derselben Stelle, wo sich neuerdings diese Eilande bildeten. Nachher versank sie wieder, um im Jahr ’69 wieder zu erscheinen, um

dann abermals zu versinken. Seit jener Zeit bis auf unsere Tage war die plutonische Arbeit unterbrochen. Aber am 3. Februar 1866

tauchte ein neues Eiland, dem man den Namen Georgsinsel gab, aus den Schwefeldünsten auf nächst Nea-Kamenni und vereinigte sich mit dieser am 6. desselben Monats. 7 Tage nachher, am 13.

Februar, erschien das Inselchen Aphroessa so nah bei Nea-Kamenni, dass nur ein Kanal von 10 Meter dazwischen blieb. Ich befand mich, während diese Naturerscheinung sich begab, in diesen Meeren, und ich konnte alle ihre Phasen beobachten. Das Eiland Aphroessa war von runder Gestalt und hatte 300 Fuß Durchmesser bei 30 Fuß Höhe. Es bestand aus schwarzer glasartiger Lava, verbunden mit Feldspatstücken. Endlich, am 10. März, zeigte sich noch ein kleineres Inselchen, Reka genannt, nah bei Nea-Kamenni, und seitdem bilden diese drei zusammengelöteten Eilande nur eine einzige Insel.«

»Und der Kanal, worin wir uns in dem Augenblick befinden?« fragte ich.

»Hier ist er«, erwiderte Kapitän Nemo, und wies auf eine Karte des Archipels. »Sie sehen, dass ich die neuen Inselchen darauf eingetragen habe.«

»Aber dieser Kanal wird sich einmal ausfüllen?«

»Wahrscheinlich, Herr Arronax, denn seit 1866 sind acht kleine Lava-Eilande dicht vor dem Hafen St. Nicolas zu Palea-Kamenni aufgetaucht. Es ist also klar, dass Nea und Palea in kurzer Zeit sich vereinigen werden. Wie im Pazifik die Kontinente durch Infusorien gebildet werden, so geschieht es hier durch vulkanische Ausbrüche. Sehen Sie, mein Herr, so vollzieht sich die Arbeit unter diesen Wogen.«

Ich trat wieder ans Fenster. Die ›Nautilus‹ fuhr nicht weiter. Die Hitze wurde unerträglich. Die weiße Farbe des Meeres wurde rot durch Hinzukommen eines Eisensalzes. Trotzdem, dass der Salon hermetisch verschlossen war, entwickelte sich ein unerträglicher Schwefelgeruch, und ich bemerkte scharlachrote Flammen, die so lebhaft waren, dass der Glanz des elektrischen Lichts sich darin verlor.

Ich war über und über in Schweiß, war am Ersticken. Wahrhaftig, ich fühlte, wie ich im Begriff war zu braten!

»Man kann es in diesem siedenden Wasser nicht länger aushalten«, sagte ich zum Kapitän.

»Nein, das wäre nicht klug«, erwiderte Nemo phlegmatisch.

Es wurde Befehl erteilt, und die ›Nautilus‹ drehte sich, um sich aus diesem Glühofen, dem sie nicht ungestraft trotzen konnte, zu entfernen. Nach einer Viertelstunde atmeten wir an der Oberfläche wieder auf.

Am folgenden Tag, dem 16. Februar, verließen wir dieses Becken, das zwischen Rhodos und Alexandria Tiefen von 3.000 Meter zeigte; und die ›Nautilus‹ verließ, indem sie auf hoher See vor Cerigo vorbeifuhr, den griechischen Archipel, nachdem sie um Kap Matapan herum laviert war.

 


7. KAPITEL

Das Mittelmeer in 24 Stunden

Das Mittelmeer, das vorzugsweise blaue Meer, von den Hebräern

»das große Meer«, von den Griechen »das Meer«, von den Römern

»unser Meer« genannt, ist an seinen Gestaden mit Orangen, Aloe, Kaktus, Pinien besetzt, von Myrtendüften durchdrungen, von rauem Gebirgsland eingefasst, von reiner, durchsichtiger Luft gesättigt; aber die unablässig tätigen unterirdischen Feuer machen es zu einem wahren Schlachtfeld, wo Neptun und Pluto sich noch um die Weltherrschaft streiten. An seinen Ufern, auf seinen Gewässern findet der Mensch im trefflichsten Klima der Welt seine stärkende Erholung.

Aber trotz dieser herrlichen Eigenschaften habe ich doch von diesem Becken, das eine Oberfläche von 2 Millionen Quadratkilometer enthält, nur einen raschen Überblick nehmen können; und selbst die persönlichen Kenntnisse von Kapitän Nemo gingen mir ab, denn der rätselhafte Mann ließ sich während der Eilfahrt nicht ein einziges Mal sehen. Ich schätze den Weg, den die ›Nautilus‹ unter den Wogen dieses Meeres durchlief, auf etwa 600 Lieue, und

diese Fahrt machte sie in 2 mal 24 Stunden. Wir fuhren am Morgen des 16. Februar aus den Gewässern Griechenlands ab, und am 18.

bei Sonnenaufgang hatten wir die Straße von Gibraltar passiert.

Offenbar war das Mittelmeer, eingeengt zwischen Ländern, die Kapitän Nemo meiden wollte, ihm kein angenehmer Aufenthalt.

Er hatte darin nicht jene Freiheit der Bewegungen, jene Unabhängigkeit seiner Unternehmungen, welche die Ozeane ihm gewährten, und es wurde seiner ›Nautilus‹ zu eng zwischen den allzu nahen Gestaden Europas und Afrikas. Daher fuhren wir denn auch mit einer Schnelligkeit von 25 Meilen die Stunde. Es versteht sich von selbst, dass dabei Ned Land auf sein Entweichungsprojekt verzichten musste. Unter solchen Umständen die ›Nautilus‹ verlassen, wäre so misslich gewesen, wie bei einem Eilzug aus dem Waggon zu springen. Zudem kam unser Fahrzeug nur nachts an die Oberfläche, um seine Luft zu erneuern, und es nahm seine Richtung nur nach den Angaben des Kompasses und des Logs.

Ich sah also vom Innern des Mittelmeers nur, was der Passagier eines Eilzugs von der Landschaft, die vor seinen Blicken entflieht, d.h. den entfernten Horizont, und nicht die Gegenstände im Vordergrund, die blitzschnell enteilen. Doch konnten wir manche der Mittelmeerfische beobachten, die kräftig genug waren, sich einige Augenblicke in der Umgebung der ›Nautilus‹ zu halten. Wir standen daher vor den Fenstern auf der Lauer und notierten, was uns möglich war.

In den vom elektrischen Licht hell erleuchteten Strichen sah man Lampreten, die in fast allen Klimaten zu Hause sind, von der Länge eines Meters; 5 Fuß breite Rochen mit weißem Bauch und aschgrauem geflecktem Rücken; 12 Fuß lange Haifische überboten sich einander in Schnelligkeit; 8 Fuß lange Seefüchse mit äußerst feiner Spürkraft; Goldbrassen, mitunter bis 13 Dezimeter lang, wie in Silber und lasurblauer Kleidung und mit goldenen Wimpern, eine kostbare Fischgattung, die in allen Gewässern, Flüssen, Seen und Meeren zu Hause, in jedem Klima fortkommt, alle Temperaturen verträgt. Prachtvolle Störe, 9 bis 10 Meter lang, mit bläulichem, braun getüpfeltem Rücken, schlugen mit kräftigem Schwanz gegen die Fenster. Sie sind den Haifischen ähnlich, doch nicht so stark,

und finden sich in allen Meeren; im Frühling kommen sie gern in die großen Flüsse stromaufwärts, die Wolga, Donau, den Po, Rhein, die Loire, die Oder hinauf, fressen Heringe, Makrelen, Salme u.a.; sie gehören zwar zu den Knorpelfischen, sind aber schmackhaft und werden frisch, getrocknet, mariniert oder gesalzen gegessen.

Am besten konnte man, wann die ›Nautilus‹ in die Nähe der Oberfläche kam, die Thunfische beobachten, mit blauschwarzem Rücken, silbergepanzertem Leib und Gold schimmernden Rückenflossen. Man sagt von ihnen, sie begleiten gern die Schiffe auf ihrer Fahrt, und suchten in ihrem kühlen Schatten Schutz gegen die tropischen Sonnenstrahlen; und so begleiteten sie auch stundenlang die ›Nautilus‹, an Schnelligkeit mit ihr wetteifernd. Ich konnte mich nicht sattsehen an diesen Tieren, die wie für die Schnellfahrt gebaut sind, mit kleinem Kopf, schlankem, glattem Leib, der mitunter über 3 Meter maß, ausnehmend kräftigen Brustflossen und gabelförmigem Schwanz. Sie schwammen im Triangel, wie manche Zugvögel fliegen, denen sie an Schnelligkeit gleichkommen. Doch den Provençalen entrinnen sie nicht, welche sie ebenfalls schmackhaft finden und sie zu Tausenden in großen Netzen fangen, indem sie blindlings, wie betäubt in diese hineingeraten.

Zahllos war die Menge der übrigen Fische, die wir nur flüchtig wahrnahmen oder bei der großen Schnelligkeit nicht beobachten konnten.

Von Seesäugetieren bemerkte ich im Vorüberfahren an der Mündung der Adria 2 bis 3 Pottfische; einige Delfine von der Gattung der kugelköpfigen, die besonders im Mittelmeer vorkommen, mit hell gestreiftem Vorderkopf; und auch ein Dutzend Robben mit weißem Bauch und schwarzem Hauthaar, denen man den Beinamen Mönche gab und die auch ganz wie Dominikaner aussehen.

Am Abend des 16. fuhren wir zwischen Sizilien und der Küste von Tunis. An dieser engen Stelle zwischen Kap Bon und der Straße von Messina erhebt sich der Meeresgrund fast plötzlich, sodass er einen Kamm bildet, über dem das Wasser nur 17 Meter Tiefe hat, während er auf beiden Seiten wieder bis zu 170 Meter abfällt. Die

›Nautilus‹ musste also mit Vorsicht fahren, um nicht gegen diese unterseeische Wand anzustoßen.

Ich zeigte Conseil auf der Karte des Mittelmeers die Stelle, wo dieses Riff sich befand.

»Erlauben Sie, mein Herr«, bemerkte Conseil, »das ist ja ein wahrhafter Isthmus zwischen Europa und Afrika.«

»Ja, lieber Junge«, erwiderte ich, »er versperrt völlig die Libysche Enge, und Smiths Sondierungen haben bewiesen, dass zwischen Kap Bon und Kap Furina die Kontinente ehemals zusammenhingen.«

»Ich glaub’s wohl«, sagte Conseil.

»Dazu will ich bemerken«, fuhr ich fort, »dass eine ähnliche Sperre zwischen Gibraltar und Ceuta besteht, die in der Urzeit das Mittelmeer völlig schloss.«

»Ah!« sagte Conseil, »wenn einmal durch eine vulkanische Einwirkung diese beiden Schranken wieder über die Meeresfläche emporgehoben würden!«

»Das ist nicht wahrscheinlich, Conseil.«

»Mein Herr möge mir noch die Bemerkung erlauben, wenn dieses vorginge, so wäre das dem Herrn von Lesseps, der sich mit dem Durchstich des Isthmus so viel Mühe gibt, recht unangenehm!«

»Gewiss, aber«, wiederholte ich, »dies Ereignis wird nicht eintreten. Die Wirkung der vulkanischen Kräfte unter der Erde nimmt stets ab. Die in der Urzeit der Welt zahlreichen Vulkane erlöschen nach und nach, die im Innern wirkende Wärme wird schwächer, die Temperatur der unteren Schichten des Erdballs wird von Jahrhundert zu Jahrhundert bedeutend niedriger, und zum Nachteil der Erde, denn diese Wärme ist ihr Leben.«

»Doch, die Sonne ...«

»Die Sonnenwärme ist nicht ausreichend, Conseil. Kann sie einen Leichnam sein Leben wiedergeben?«

»Nein, soviel ich weiß.«

»Nun, die Erde wird dereinst so ein kalter Leichnam sein. Sie wird unbewohnbar und unbewohnt sein wie der Mond, der längst seine Lebenswärme verloren hat.«

»In wie vielen Jahrhunderten?« fragte Conseil.

»In einigen Hunderttausend Jahren, mein Lieber.«

»Dann haben wir noch Zeit«, erwiderte Conseil, »unsere Reise zu vollenden, sofern Ned Land sich nicht darein mischt!«

Und Conseil machte sich ruhig wieder an das Studium der oberen Wasserschichten, durch die eben die ›Nautilus‹ mit mäßiger Schnelligkeit fuhr und wo auf felsigem und vulkanischem Grund eine ganze Flora lebender Gewächse, Schwämme, Holothurien usw.

sich ausbreitete. Nicht minder eifrig befasste er sich mit der Beobachtung der Mollusken und Gliedertiere und stellte ein langes Verzeichnis auf, womit ich aber doch den Leser verschonen will. Er war damit noch nicht fertig, als die ›Nautilus‹, nachdem sie über die Libysche Enge hinausgekommen, sich wieder tiefer auf den unteren Meeresgrund begab, wo es keine Mollusken und Zoophyten mehr gibt, und ihre gewöhnliche Schnelligkeit annahm.

Während der Nacht des 16. zum 17. Februar waren wir in das zweite Becken des Mittelmeers eingefahren, worin die größten Tiefen 3.000 Meter betragen; und die ›Nautilus‹ tauchte bis in die untersten Schichten hinab.

Hier boten, in Ermangelung von Naturmerkwürdigkeiten, die Gewässer den Anblick rührender und furchtbarer Szenen; denn auf diesem Teil des Mittelmeers sind am häufigsten Unglücksfälle eingetreten, durch Schiffbruch oder Versinken von Schiffen. In Vergleichung mit dem Pazifik ist das Mittelmeers nur ein See, aber ein launischer See mit tückisch wechselnden Wogen, heute günstig und schmeichelnd für eine zerbrechliche Tartane, morgen wütend aufgeregt, von Stürmen gepeitscht, die stärksten Schiffe zertrümmernd. Was hatte ich also bei der raschen Fahrt für eine Masse Trümmer vor Augen, mit Korallen oder Rost überzogen, Kanonen, Anker, Kugeln, Eisengeräte, Stücke von Maschinen, zerbrochene Zylinder, versenkte Kessel, Schiffsrümpfe in den verschiedensten Lagen.

Solche Trümmer waren zahlreicher, je näher man der Enge von Gibraltar kam, der Raum zwischen der afrikanischen und europäischen Küste sich verengte. Die ›Nautilus‹ fuhr mit reißender Schnelligkeit gleichgültig über sie alle hinweg, und langte am 18. Februar um 3 Uhr früh beim Eingang der Straße an.

Hier gibt’s zwei Strömungen: die obere, die längst bekannt ist, führt die Gewässer aus dem Ozean in das Becken des Mittelmeers, sodann eine tiefer in entgegengesetzter Richtung, deren Existenz nun durch Folgerungen bewiesen ist. In der Tat sollte die Gesamtmasse der Mittelmeergewässer, die durch die des Atlantiks und durch die einmündenden Flüsse unaufhörlich anwächst, alljähr

lich ihr Niveau erhöhen, denn die Ausdunstung ist nicht in gleichem Grad wirksam, um ein Gleichgewicht herzustellen. Nun ist aber dem nicht so, und hieraus hat man geschlossen, dass in tieferen Schichten eine Gegenströmung den Überschuss der Mittelmeergewässer durch die Enge von Gibraltar wieder in das Atlantische Becken führe.

Und genauso ist’s wirklich. Die ›Nautilus‹ fuhr mit dieser Strömung sehr rasch durch die Enge. Einen Augenblick Zeit hatte ich, um die Ruinen des Herkulestempels zu bewundern, der nach Plinius und Avienus samt der niedrigen Insel, worauf er stand, einst versunken ist. Einige Minuten darauf schwammen wir auf den Wogen des Atlantiks.

 


8. KAPITEL

Die Bai von Vigo

Der Atlantik! Die ungeheure Wasserfläche umfasst 25 Millionen Quadratmeilen, bei einer Länge von 9.000 Meilen gegen eine mittlere Breite von 2.700 Meilen. Das nun so bedeutende Meer war im Altertum fast nicht gekannt, außer vielleicht den Karthagern, die bei ihren Handelsfahrten längs den Westküsten Europas und Afrikas segelten. Seine Gestade mit parallelen Krümmungen bilden eine ungeheure Umfangslinie, und es münden in dasselbe die größten Ströme der Welt, St. Lorenz, Mississippi, Amazonas, La Plata, Orinocco, Niger, Senegal, Elbe, Loire, Rhein, und führen ihm die Gewässer aus den zivilisiertesten Ländern und den wildesten Gegenden zu. Die prachtvolle Fläche ist beständig von den Schiffen aller Nationen unterm Schutz aller Flaggen der Welt befahren.

Die ›Nautilus‹ hatte bis zur Stunde nahezu 10.000 Lieue in 3 1/2

Monaten zurückgelegt, was mehr beträgt als der Umfang des ganzen Erdkreises. Wohin fuhren wir jetzt, und was sollte uns bevorstehen?

Sobald wir aus der Straße von Gibraltar heraus waren, fuhr die

›Nautilus‹ in die hohe See und tauchte zur Oberfläche empor, sodass  wir wieder unseren täglichen Spaziergang auf der Plattform machen konnten.

Ich stieg sogleich in Gesellschaft von Ned Land und Conseil hinauf. 12 Meilen entfernt sah man in unbestimmten Umrissen das Kap St. Vincent, die südwestliche Spitze der spanischen Halbinsel.

Es wehte ein ziemlich starker Südwind. Das Meer war unruhig,

die Fluten gingen hoch, brachte durch arge Stöße die ›Nautilus‹ in Schwankung, sodass man sich auf der Plattform fast nicht aufrecht halten konnte. Wir begaben uns also, nachdem wir uns ein wenig an der frischen Luft erquickt hatten, wieder hinab.

Ich ging in mein Zimmer, Conseil in seine Kabine, aber der Kanadier folgte mir nach mit etwas befangener Miene. Unsere rasche Fahrt durchs Mittelmeer hatte ihm nicht gestattet, sein Vorhaben in Ausführung zu bringen, und er konnte sein Missbehagen kaum verheimlichen.

Als die Tür meines Zimmers geschlossen war, setzte er sich nieder und sah mich schweigend an.

»Freund Ned«, sagte ich zu ihm, »ich verstehe Sie, aber Sie haben sich keinen Vorwurf zu machen. Unter den Umständen der Fahrt der ›Nautilus‹ wäre der Gedanke an ein Entfliehen Narrheit gewesen!«

Ned Land schwieg. Aus seinen zusammengepressten Lippen, der gerunzelten Stirn konnte man abnehmen, dass er stark von einer fixen Idee befangen war.

»Sehen wir«, fuhr ich fort, »es ist noch nichts verloren. Wir fahren längs der portugiesischen Küste, sind nicht weit von Frankreich und England, wo wir leicht eine Zufluchtsstätte finden würden. Ja, wenn die ›Nautilus‹, als wir aus der Straße von Gibraltar herauskamen, sogleich südwärts gesteuert wäre; hätte sie uns in Gegenden geschleppt, wo die Kontinente mangeln, so würde ich Ihre Unruhe teilen. Aber wir wissen jetzt, Kapitän Nemo meidet nicht die zivilisierten Länder, und ich glaube, dass Sie in einigen Tagen mit einiger Sicherheit werden handeln können.«

Ned Land sah mich noch starrer an, öffnete endlich die Lippen und sagte: »Diesen Abend soll’s sein.«

Ich nahm mich schnell zusammen. Ich war, gestehe ich, auf diese Mitteilung nicht gefasst. Gern hätte ich dem Kanadier geantwortet, aber es versagten mir die Worte.

»Wir waren darüber einig, eine Gelegenheit abzuwarten«, fuhr Ned Land fort. »Eine solche ist nun da. Wir werden diesen Abend nur einige Meilen von der spanischen Küste entfernt sein. Die

Nacht ist dunkel; der Wind weht günstig. Ich habe Ihr Wort, Herr Arronax, und ich rechne auf Sie.«

Da ich fortwährend schwieg, stand der Kanadier auf, trat zu mir heran und sagte:

»Diesen Abend um 9 Uhr. Ich hab’s Conseil schon gesagt. Dann wird Kapitän Nemo in seiner Kammer sein und wahrscheinlich schon zu Bett. Weder die Maschinisten noch jemand von der Mannschaft kann uns sehen. Conseil und ich werden uns auf die Zentralleiter begeben; Sie, Herr Arronax, werden in der Bibliothek sich aufhalten und auf mein Signal warten. Ruder, Mast und Segel befinden sich schon im Boot. Ich habe sogar einige Lebensmittel hingeschafft. Ich habe mir einen Schraubenschlüssel verschafft, um das Boot von der ›Nautilus‹ loszumachen. So ist alles vorbereitet. Also diesen Abend.«

»Das Meer ist nicht günstig«, sagte ich.

»Ich geb’s zu«, erwiderte der Kanadier, »aber man muss es riskieren. Die Freiheit will bezahlt sein. Übrigens ist das Boot solid, und einige Meilen mit treibendem Wind haben nicht viel auf sich. Wer weiß, ob wir nicht binnen heut und morgen 100 Meilen weit in die hohe See kommen. Wenn uns die Umstände günstig sind, werden wir zwischen 10 und 11 Uhr an einem Punkt des festen Landes ausgeschifft, oder nicht mehr unter den Lebenden sein. Darum, Gott befohlen, und diesen Abend!«

Nach dieser Äußerung zog sich der Kanadier zurück und ließ mich in ziemlicher Bestürzung. Ich hatte gedacht, wann der Fall einträte, würde ich Zeit zu überlegen, zum Besprechen haben. Mein starrköpfiger Genosse gestattete mir das nicht. Was hätte ich ihm auch trotzdem sagen können? Ned Land hatte hundertmal recht. Es war beinah ein günstiger Umstand, den er benutzen wollte. Konnte ich die Verantwortlichkeit übernehmen, aus persönlichem Interesse die Zukunft meiner Gefährten zu beeinträchtigen? Konnte nicht morgen Kapitän Nemo uns in die weite See hinaus nach allen Weltgegenden hin schleppen?

In diesem Augenblick gab mir ein ziemlich starkes Zischen zu erkennen, dass die Behälter gefüllt wurden, und die ›Nautilus‹

tauchte unter in die atlantischen Wogen.

Ich blieb auf meinem Zimmer. Ich wollte dem Kapitän aus dem Weg gehen, um die Bewegung, die mich beherrschte, ihm zu verbergen. So brachte ich einen traurigen Tag hin im Schwanken zwischen dem Wunsch, wieder in Besitz meiner freien Verfügung über mich zu gelangen, und dem Bedauern, diese merkwürdige ›Nautilus‹ zu verlassen, ohne meine unterseeischen Studien zu vollenden; diesen meinen Ozean, wie ich ihn schon gern nannte, ohne seine tiefsten Schichten untersucht, ohne die Geheimnisse, die mir die Gewässer der Indischen Meere und des Pazifiks enthüllt hatten, auch ihm abzulauschen! Mein Roman fiel mir beim ersten Band aus den Händen, mein Traum zerrann im schönsten Moment!

Schlimme Stunden waren dies, während ich bald mich samt meinen Gefährten an Land in Sicherheit sah, bald im Widerspruch mit meiner Vernunft wünschte, es möge ein unvorhergesehener Umstand die Verwirklichung der Projekte Ned Lands hindern.

Ich begab mich zweimal in den Salon. Ich wollte den Kompass befragen. Ich wollte nachsehen, ob die Richtung der ›Nautilus‹ uns wirklich der Küste näher oder von ihr weg führte. Nein. Die ›Nautilus‹ hielt sich unverändert in den portugiesischen Gewässern, in nördlicher Richtung längs den Gestaden des Ozeans.

Man musste dieses benutzen und zur Flucht sich bereit machen.

Mein Gepäck war nicht schwer: meine Notizen, nichts weiter.

Ich fragte mich weiter, wie Kapitän Nemo unser Entweichen aufnehmen; welche Unruhe, vielleicht Kränkungen es ihm bereiten würde; was er wohl tun würde, wenn der Plan ihm enthüllt oder vereitelt würde. Ich hatte gewiss nicht über ihn zu klagen, im Gegenteil, nirgends war mir eine aufrichtigere Gastfreundschaft zuteilgeworden wie bei ihm. Doch konnte man mich nicht des Undanks beschuldigen, wenn ich ihn verließ. Wir waren durch keinen Eid an ihn gebunden. Er zählte allein auf die Gewalt der Dinge und nicht auf unser Wort, um uns auf immer in seine Nähe zu fesseln. Aber diese offen ausgesprochene Absicht, uns ewig als Gefangene an seinem Bord festzuhalten, rechtfertigte unsere Gegenbemühungen.

Seit unserem Besuch auf der Insel Santorin hatte ich den Kapitän nicht wieder gesehen. Sollte der Zufall mich vor unserem Entweichen noch einmal mit ihm zusammenbringen? Ich wünschte

und fürchtete es zugleich. Ich horchte, ob ich ihn nicht in seinem an das meinige stoßenden Zimmer auf und ab gehen hören könnte.

Ich vernahm nicht das geringste Geräusch; das Zimmer war ohne Zweifel leer.

Darauf fragte ich mich sogar, ob dieser seltsame Mann an Bord sei. Seit jener Nacht, in der das Boot die ›Nautilus‹ um einer geheimnisvollen Verrichtung willen verlassen, hatten sich meine Ideen in Hinsicht darauf ein wenig geändert. Ich dachte, was er auch sagen mochte, Kapitän Nemo müsse wohl einige Verbindungen gewisser Art mit der Erde unterhalten haben. Verließ er niemals die ›Nautilus‹? Oft verflossen ganze Wochen, ohne dass ich mit ihm zusammentraf. Was trieb er unterdessen? Und während ich glaubte, er sei einer Anwandlung von Menschenhass anheimgefallen, vollführte er nicht indessen in der Entfernung einen stillen Akt, dessen Natur mir bis jetzt verborgen geblieben?

Alle diese Ideen bestürmten mich mit einem Mal. In der seltsamen Lage, worin wir uns befanden, konnte das Feld der Vermutungen nur ein unendliches sein. Ich empfand ein unerträgliches Missbehagen. Dieser Tag schien kein Ende nehmen zu wollen. Meiner Ungeduld flossen die Stunden zu langsam hin.

Mein Diner wurde mir wie immer auf mein Zimmer gebracht.

Das Essen schmeckte mir nicht, da ich zu sehr von Gedanken eingenommen war. Um 7 Uhr stand ich von der Tafel auf. Nur noch 120

Minuten, bis ich mit Ned Land zusammenkommen sollte. Meine Unruhe verdoppelte sich. Mein Puls schlug ungestüm; ich konnte mich nicht stillhalten, ging hin und her, hoffte durch die Bewegung den Aufruhr meines Geistes zu stillen. Der Gedanke an ein Misslingen unseres verwegenen Vorhabens war mir am wenigsten peinlich; aber es pochte doch mein Herz bei dem Gedanken, dass dasselbe, bevor wir die ›Nautilus‹ verlassen, entdeckt und ich vor das Angesicht des entrüsteten Kapitäns zurückgebracht würde.

Ich wollte zum letzten Mal den Salon sehen, schlich mich durch den Gang und kam in das Museum, wo ich so viele angenehme und nützliche Stunden hingebracht hatte. Ich schaute mir alle diese Schätze und Kleinodien noch einmal an, als sollte ich in ein ewiges Exil gehen. Ich war im Begriff, diese Wunder der Natur, diese

Meisterwerke der Kunst, die mir so lieb geworden, auf immer zu verlassen.

Indem ich so den Salon durchlief, kam ich an die Tür, die in das Zimmer des Kapitäns führte. Zu meinem großen Erstaunen war sie halb geöffnet. Ich fuhr unwillkürlich zurück. Wenn Kapitän Nemo in seinem Zimmer war, konnte er mich sehen. Doch da ich kein Geräusch hörte, trat ich näher. Das Zimmer war leer; ich drückte die Tür auf, tat einige Schritte hinein. Stets das gleiche mönchische Aussehen.

Jetzt fielen mir einige an den Wänden hängende Kupferstiche auf, die ich früher übersehen hatte. Es waren Brustbilder der großen historischen Männer, deren Dasein eine ununterbrochene Hingebung an eine große menschliche Idee enthielt, Kosziusko, Botzaris, Oconnel, Washington, Manin, Lincoln und endlich der Märtyrer der Negerbefreiung John Brown.

Welches Band einigte diese heroischen Seelen mit der von Kapitän Nemo? Konnte ich endlich das Geheimnis seines Lebens lösen? War er der Kampfheld unterdrückter Völker, Befreier der Sklavenmassen? Hatte er in den letzten politischen oder sozialen Bewegungen dieses Jahrhunderts eine Rolle gespielt?

Plötzlich schlug es 8 Uhr. Der erste Glockenschlag riss mich aus meinen Träumen. Ich zitterte, als hätte ein unsichtbares Auge ins tiefste Geheimnis meiner Gedanken dringen können, und stürzte zum Zimmer hinaus.

Hier hafteten meine Blicke auf dem Kompass. Die Richtung unserer Fahrt war stets nördlich. Das Log zeigte eine mäßige Schnelligkeit, das Manometer eine Tiefe von etwa 60 Fuß.

Die Umstände waren also dem Vorhaben des Kanadiers günstig.Ich ging wieder in mein Zimmer und kleidete mich rasch an: Seestiefel, Ottermütze, Reiserock von Byssus mit Robbenfell gefüttert. Nun war ich fertig, ich wartete. Der Wellenschlag der Schraube allein unterbrach die tiefe Stille, die an Bord herrschte. Ich horchte, spitzte mein Ohr. War nicht aus einigen Stimmen, die man plötzlich vernahm, abzunehmen, dass Ned Land bei seinem Entweichungsplan war überrascht worden? Eine Unruhe zum Sterben

befiel mich. Vergeblich trachtete ich meine Gemütsruhe wiederzugewinnen.

Einige Minuten vor 9 Uhr lauschte ich an der Tür des Kapitäns.

Kein Geräusch. Ich verließ mein Zimmer und begab mich wieder in den Salon, der in halbem Dunkel war, aber niemand anwesend.

Ich öffnete die Tür zur Bibliothek. Sie war ebenso düster, ebenso leer. Ich stellte mich neben die Tür, die zur Mittelstiege führte und wartete auf Ned Lands Zeichen.

In dem Moment wurden die Bewegungen der Schraube merklich schwächer, dann hörte sie gänzlich auf. Weshalb diese Veränderung? Sollte dieses Anhalten das Vorhaben Ned Lands begünstigen oder stören? Ich konnte es nicht sagen.

Nur noch meine Pulsschläge unterbrachen die Stille.

Plötzlich verspürte man einen leichten Stoß. Ich merkte, dass die

›Nautilus‹ auf dem Meeresgrund hielt. Meine Unruhe verdoppelte sich. Kein Signal vom Kanadier war zu vernehmen. Ich hatte Lust, Ned Land aufzusuchen, um ihn aufzufordern, seinen Versuch zu verschieben, denn wir fuhren jetzt nicht mehr unter den gewöhnlichen Bedingungen ...

In dem Augenblick öffnete sich die Tür des großen Saals, und Kapitän Nemo erschien. Er bemerkte mich und sagte ohne Weiteres:»Ah! Herr Professor«, sagte er in liebenswürdigem Ton, »ich suchte Sie. Kennen Sie die Geschichte Spaniens?«

Mag man die Geschichte seines eigenen Landes noch so gründlich verstehen, in einer Lage, wie die Meinige war, den Geist verstört, den Kopf verloren, wäre es unmöglich, ein Wort daraus anzuführen.

»Nun?« wiederholte Kapitän Nemo, Sie haben meine Frage gehört? Kennen Sie die Geschichte Spaniens?«

»Sehr wenig«, erwiderte ich.

»Das sind rechte Gelehrte«, sagte der Kapitän, »die nichts wissen. Dann setzen Sie sich«, fuhr er fort, »und ich will Ihnen eine merkwürdige Episode aus der spanischen Geschichte erzählen.«

Der Kapitän lagerte sich auf einen Diwan, und ich setzte mich neben ihn im Halbdunkel.

»Herr Professor«, sagte er zu mir, »geben Sie wohl acht. Diese Geschichte wird Sie in gewisser Hinsicht interessieren, denn sie wird auf eine Frage antworten, die Sie wohl noch nicht zu lösen vermochten.«

»Ich gebe acht, Kapitän«, sagte ich, »indem ich nicht wusste, wo er damit hinauswollte, und fragte mich, ob dieser Zwischenfall sich auf unser Fluchtprojekt beziehe.

»Herr Professor«, fuhr Kapitän Nemo fort, »wenn es Ihnen beliebt, gehen wir bis auf 1702 zurück. Es ist Ihnen bekannt, dass damals Ihr König Ludwig XIV., in der Meinung, ein Machtherrscher brauche nur die Hand aufzuheben, um die Scheidewand der Pyrenäen niederzuwerfen, seinen Enkel, den Herzog von Anjou, den Spaniern zum König aufnötigte. Dieser Prinz, der unter dem Namen Philipp V. regierte, fand im Ausland starken Widerstand.

»In der Tat hatten im Jahr zuvor die Königshäuser von Holland, Österreich und England im Haag einen Allianztraktat geschlossen, um Philipp V. die spanische Krone zu entreißen und einem Erzherzog auf das Haupt zu setzen, dem sie zu früh den Namen Karl III. gaben.

Spanien musste dieser Koalition Widerstand leisten, aber es war fast ohne Soldaten und Seeleute. Doch an Gold fehlte es ihm nicht, freilich unter der Bedingung, dass seine mit Gold und Silber beladenen Galionen aus Amerika in seine Häfen einlaufen konnten.

Nun erwartete es gegen Ende des Jahres 1702 eine reiche Sendung, unter Bedeckung einer französischen Flotte von 23 Schiffen unter dem Oberbefehl des Admirals Château-Renaud, denn die Flotten der Alliierten kreuzten damals im Atlantik.

Diese Sendung sollte zu Cadiz landen; aber da der Admiral hörte, dass in jener Gegend die englische Flotte kreuzte, beschloss er einen französischen Hafen aufzusuchen.

Die spanischen Befehlshaber der Sendung protestierten gegen diesen Beschluss. Sie wollten in einen spanischen Hafen einlaufen und in Ermangelung von Cadiz in die Bai von Vigo an der Nordwestküste Spaniens, die nicht blockiert war.

Der Admiral Château-Renaud war schwach genug, dieser Zu

mutung Folge zu geben, und die Galionen liefen in die Bai von Vigo ein.

Leider hat diese Bai nur eine offene Reede, die nicht verteidigt werden kann. Man musste daher schleunigst, bevor die Flotten der Koalierten herankamen, die Galionen ausladen, und es hätte auch dafür nicht an Zeit gemangelt, wäre nicht plötzlich eine elende Rivalitätsfrage entstanden.

Sie folgen wohl dem Zusammenhang der Tatsachen?« fragte mich Kapitän Nemo.

»Vollständig«, sagte ich, indem ich noch nicht wusste, weshalb er mir diese historische Lektion erteilte.

»Ich fahre fort. Hören Sie, was vorging. Die Kaufmannschaft zu Cadiz hatte ein Privileg, wonach alle Waren aus Westindien dort mussten ausgeladen werden. Diesem Vorrecht also widersprach es, dass man die Goldbarren zu Vigo auslud. Auf ihre Beschwerde gewährte ihnen der schwache Philipp V., dass die Sendung, ohne ausgeladen zu werden, auf der Reede zu Vigo in Sequester bleiben sollte, bis die feindlichen Flotten sich wieder entfernt haben würden.Während man nun diesen Bescheid gab, erschien am 22. Oktober 1702 die englische Flotte in der Bai von Vigo. Der Admiral Château-Renaud, obwohl schwächer an Streitkräften, kämpfte tapfer. Als er aber sah, dass die Schätze in die Hände der Feinde fallen mussten, steckte er seine Galionen in Brand und versenkte sie samt ihrer reichen Ladung.«

Hier hielt der Kapitän inne. Ich gestehe, ich sah noch nicht, worin das Interesse dieser Geschichte für mich liegen sollte.

»Nun?« fragte ich.

»Nun, Herr Arronax«, erwiderte Kapitän Nemo, »wir befinden uns eben in dieser Bai von Vigo, und es steht bei uns, in ihre Geheimnisse zu dringen.«

Der Kapitän stand auf und bat mich, ihn zu begleiten. Ich hatte Zeit gehabt, mich zu fassen. Ich folgte. Der Salon war dunkel, aber durch die Fenster funkelten die Meeresfluten. Ich schaute.

In einem Umkreis von einer halben Meile um die ›Nautilus‹ herum waren die Gewässer von elektrischem Licht durchdrungen.

Ein Teil der Mannschaft mit Skaphandern gepanzert, war beschäftigt, halb verfaulte Fässer abzuräumen und Kisten zu leeren inmitten des schwarzen Strandgutes. Aus diesen Kisten und Tonnen kamen Gold- und Silberbarren zum Vorschein, Piaster und Edelsteine gleich Springwassern. Der Sand war damit bedeckt. Beladen mit so kostbarer Beute, brachten diese Männer sie zur ›Nautilus‹,

legten sie nieder und setzten dann ihr Fischen in der unerschöpflichen Quelle fort.

Ich verstand wohl, dass an dieser Stelle am 22. Oktober 1702 die Schlacht vorgefallen und die für Rechnung der spanischen Regierung geladenen Galionen versenkt waren. Hierhin begab sich Kapitän Nemo, um nach Bedürfnis Millionen einzukassieren und sie als Ballast mitzunehmen. Für ihn allein hatte Amerika diese reichen Schätze gesendet. Er war direkter Universalerbe der den Inkas und den von Ferdinand Cortez überwundenen Eingeborenen entrissenen Schätze.

»Wussten Sie, Herr Professor«, fragte er mich lächelnd, »dass das Meer solche Schätze birgt?«

»Ich wusste«, erwiderte ich, »dass man das in den Gewässern außer Umlauf gesetzte Geld auf 2 Millionen Tonnen anschlägt.«

»Allerdings, aber um es heraufzuholen, würden die Kosten den Gewinn überwiegen. Hier dagegen habe ich nur zusammenzuraffen, was die Menschen verloren haben, und nicht bloß in dieser Bai von Vigo, sondern auch noch unzähligen anderen Stellen von Schiffbruch, die auf meiner unterseeischen Karte notiert sind. Begreifen Sie jetzt, dass ich einen Reichtum von Milliarden habe?«

»Jawohl, Kapitän. Gestatten Sie mir jedoch Ihnen zu sagen, dass Sie mit dem Ausbeuten dieser Bai nur den Arbeiten einer rivalisierenden Gesellschaft zuvorgekommen sind.«

»Und welcher?«

»Einer Gesellschaft, die von der spanischen Regierung das Privilegium erhalten hat, die versenkten Galionen aufzusuchen. Die Aktionäre werden durch den Köder einer ungeheuren Dividende angelockt, denn man schlägt den Wert dieser versenkten Schätze auf 500 Millionen an.«

»500 Millionen!« erwiderte Kapitän Nemo. »Sie waren vorhanden, sind’s aber nicht mehr.«

»Wirklich«, sagte ich. »Daher wäre eine angemessene Warnung an die Aktionäre eine Wohltat. Wer weiß übrigens, ob man’s danken würde. Die Spieler bedauern bei alledem meist weniger die Einbuße an Geld als an törichten Hoffnungen. Trotzdem bedaure ich sie weniger als die Tausende von Unglücklichen, denen bei richti

ger Verteilung solche Schätze nützen konnten, während sie nun für sie auf immer unfruchtbar sind!«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich merkte, dass sie Kapitän Nemo verletzen mussten.

»Unfruchtbar!« erwiderte er lebhaft. »Glauben Sie denn, mein Herr, dass diese Schätze verloren sind, wenn ich sie hole? Nicht für

mich selbst, wie Sie meinen, gab ich mir die Mühe, diese Schätze zu heben. Woher wissen Sie denn, dass ich nicht einen guten Gebrauch davon mache? Glauben Sie, ich wisse nicht, dass es auf dieser Erde leidende Geschöpfe gibt, unterdrückte Rassen, Unglückliche zu unterstützen, Opfer zu rächen? Begreifen Sie nicht? ...«

Bei diesen letzten Worten hielt Kapitän Nemo ein, vielleicht bedauernd, dass er zu viel gesprochen habe. Aber ich hatte es geahnt.

Welche Beweggründe auch ihn gedrungen hatten, die Unabhängigkeit unterm Meer zu suchen, vor allem war er Mensch geblieben!

Sein Herz schlug noch bei den Leiden der Menschheit und seine unbegrenzte Barmherzigkeit wendete sich sowohl den unterdrückten Rassen als dem einzelnen zu!

Jetzt begriff ich auch, welche Bestimmung jene Millionen hatten, die Kapitän Nemo ausschiffte, als die ›Nautilus‹ in den Gewässern der im Aufstand begriffenen Insel Kreta fuhr!

 


9. KAPITEL

Ein verschwundener Kontinent

Am folgenden Morgen, dem 19. Februar, trat der Kanadier in mein Zimmer. Ich erwartete seinen Besucht. Seine Miene war sehr herabgestimmt.

»Nun, mein Herr«, sagte er zu mir.

»Nun, Ned, der Zufall ist gestern uns nicht günstig gewesen.«

»Ja! Der verdammte Kapitän musste gerade zu der Stunde anhalten, da wir im Begriff waren, von seinem Fahrzeug zu entweichen.«

»Ja, Ned, er hatte Geschäfte bei seinem Bankier.«

»Seinem Bankier!«

»Oder vielmehr bei seinem Bankhause. Ich verstehe darunter diesen Ozean, wo seine Schätze sicherer aufgehoben sind, als sie’s in den Staatskassen wären.«

Ich erzählte darauf dem Kanadier, was am Abend zuvor sich begeben hatte, in der stillen Hoffnung, ihn auf den Gedanken zu bringen, den Kapitän nicht zu verlassen; aber meine Erzählung

hatte nur den Erfolg, dass Ned energisch sein Bedauern aussprach, dass er nicht auf eigene Rechnung einen Ausflug auf den Kampfplatz von Vigo hatte machen können.

»Kurz«, sagte er, »es ist noch nicht aller Tage Abend! nur ein vergeblicher Wurf der Harpune! Ein andermal wird’s glücken, und gleich diesen Abend, wenn es sein muss ...«

»In welcher Richtung fährt die ›Nautilus‹?« fragte ich.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Ned.

»Nun denn! So werden wir zu Mittag die Aufnahme sehen.«

Der Kanadier kehrte zu Conseil zurück. Sobald ich angekleidet war, begab ich mich in den Salon. Der Kompass beruhigte nicht.

Die ›Nautilus‹ fuhr in südsüdwestlicher Richtung. Wir kehrten Europa den Rücken.

Ich wartete mit einiger Ungeduld, bis die Aufnahme geschah.

Gegen halb 12 entleerten sich die Behälter, und unser Fahrzeug stieg zur Oberfläche des Ozeans auf. Ich eilte auf die Plattform.

Ned Land war mir schon zuvorgekommen.

Es war kein Land mehr in Sicht. Auf der unermesslichen Meeresfläche zeigten sich nur einige Segel am Horizont, ohne Zweifel von solchen, die bis zum Kap Roque die günstigen Winde zur Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung herum suchen. Es war bedeckter Himmel; ein Windstoß bereitete sich vor.

Ned versuchte voll Zorn den nebeligen Horizont zu durchdringen. Er hoffte noch, dass hinter diesem Nebel sich das so ersehnte Land zeigen werde.

Um 12 Uhr schien die Sonne einen Augenblick durch. Der Lieutenant benutzte diesen hellen Zeitpunkt, um die Höhe aufzunehmen. Darauf, als das Meer unruhiger wurde, stiegen wir wieder hinab, und die Luke wurde wieder geschlossen.

Als ich eine Stunde nachher auf die Karte sah, bemerkte ich, dass die Lage der ›Nautilus‹ darauf eingetragen war mit 16° 17ʹ Länge und 33° 22ʹ Breite, 150 Lieue von der nächsten Küste entfernt. An ein Entweichen konnte man nicht mehr denken, und man kann sich den Zorn des Kanadiers vorstellen, als ich ihm zu erkennen gab, wo wir uns befanden.

Ich meinesteils war nicht übermäßig untröstlich. Ich fühlte gleichsam eine lastende Bürde mir abgenommen, und ich konnte mich mit einer gewissen Ruhe wieder zu meiner gewohnten Beschäftigung wenden.

Am Abend gegen 11 Uhr erhielt ich ganz unerwartet den Besuch von Kapitän Nemo. Er fragte mich sehr höflich, ob ich mich von dem Wachen in der vorigen Nacht ermüdet fühle. Ich sagte nein.

»Dann, Herr Arronax, will ich Ihnen einen merkwürdigen Ausflug vorschlagen.«

»Tun Sie das, Kapitän.«

»Sie haben den Meeresgrund noch nicht anders besucht als bei Tag und Sonnenschein. Würde es Ihnen gefallen, ihn in dunkler Nacht zu sehen?«

»Recht gern.«

»Dieser Spaziergang wird ermüdend sein, sag ich zum Voraus.

Man muss weit gehen und einen Berg hinauf. Die Wege sind nicht sehr gut gebahnt.«

»Was Sie da sagen, Kapitän, erhöht nur meine Neugierde.

Ich bin bereit, Sie zu begleiten.«

»Nun, so kommen Sie, Herr Professor, um unsere Skaphander anzuziehen.

Als wir im Ankleidezimmer waren, sah ich, dass weder meine Gefährten noch irgendjemand von der Bemannung uns bei diesem Ausflug begleiten sollte. Der Kapitän hatte mir nicht einmal vorgeschlagen, Ned oder Conseil mitzunehmen.

In einigen Augenblicken waren wir angezogen. Man gab uns reichlich mit Luft versehene Behälter auf den Rücken, aber die elektrischen Lampen waren nicht in Bereitschaft. Ich bemerkte es dem Kapitän.

»Sie würden uns unnütz sein«, erwiderte er.

Ich glaubte missverstanden zu haben, aber ich konnte meine Bemerkung nicht wiederholen, denn der Kopf des Kapitäns war schon in seiner Metallumhüllung verschwunden. Ich legte meinen Panzer vollständig an und fühlte, dass man mir einen beschlagenen Stock in die Hand gab, und nach einigen Minuten fassten wir Fuß auf dem Grund des Atlantiks in einer Tiefe von 300 Meter.

Es war bald Mitternacht und die Gewässer in tiefem Dunkel, aber Kapitän Nemo zeigte mir in der Ferne einen rötlichen Punkt, einen weithin leuchtenden Schimmer, der etwa 2 Meilen von der

›Nautilus‹ entfernt glänzte. Was es für ein Feuer war, wodurch genährt, weshalb und wie es in der Wassermasse sich wiederbelebte, hätte ich nicht sagen können. Jedenfalls leuchtete es uns, obwohl unbestimmt; aber ich gewöhnte mich bald an dies eigentümliche Dunkel; und ich begriff, wie unnütz unter diesen Umständen der Ruhmkorffsche Apparat gewesen wäre.

Wir schritten also nebeneinanderher, gerade auf das bezeichnete Feuer los. Der ebene Boden stieg unmerklich. Wir machten mithilfe des Stocks große Schritte; aber im ganzen kamen wir langsam vorwärts, denn unsere Füße blieben oft in einer Art Schlamm stecken, der mit Algen durchknetet und mit flachen Steinen bedeckt war.

Während des Voranschreitens vernahm ich über meinem Kopf ein gewisses Rieseln. Dieses Geräusch wurde mitunter stärker und erzeugte gleichsam ein anhaltendes Knistern. Die Ursache wurde mir bald klar. Es war der Regen, der ungestüm und prasselnd auf die Oberfläche fiel. Es kam mir instinktartig das Gefühl, als würde ich durchnässt! Vom Wasser mitten im Wasser! Ich konnte nicht umhin, über den närrischen Gedanken zu lachen. Aber unter dem dichten Skaphanderkleid fühlt man das nasse Element nicht mehr, und man meint mitten in einer Atmosphäre zu sein, die etwas dichter wie auf der Erde wäre. Das ist alles.

Nachdem wir eine halbe Stunde weit gegangen, wurde der Boden steinig. Die Medusen, die mikroskopischen Schaltiere, die Seefedern beleuchteten ihn ein wenig mit phosphoreszierendem Schimmer. Ich erblickte dann Steinhaufen, die von Millionen Zoophyten und einer Menge Algen bedeckt waren. Der Fuß glitt oft aus auf dieser klebrigen Decke von Tang, und ohne meinen eisenbeschlagenen Stock wäre ich manchmal gefallen. Wandte ich mich um, so sah ich stets die weißliche Leuchte der ›Nautilus‹, die in der Entfernung zu erbleichen begann.

Diese Steinschichtungen, wovon ich eben sprach, waren auf dem Grund des Ozeans mit einer gewissen Regelmäßigkeit gereiht,

die ich nicht zu erklären wusste. Ich gewahrte riesenhafte Furchen, die sich im fernen Dunkel verloren und deren Länge man nicht zu schätzen imstande war. Noch andere besondere Eigentümlichkeiten zeigten sich, die ich nicht zu erklären wusste. Es kam mir vor, als zertraten meine schweren bleiernen Sohlen eine Lage von Gebein, das mit trockenem Geräusch krachte. Was war dies für eine weite Ebene, über die ich hinschritt? Ich hätte den Kapitän fragen mögen, aber seine Zeichensprache, wodurch er mit seinen Gefährten, wann sie ihn bei seinen unterseeischen Ausflügen begleiteten, sich verständigen konnte, war mir noch unverständlich.

Inzwischen vergrößerte sich der rötliche Schein, der uns leitete, und setzte den Horizont in Flammen. Dass es unter den Wassern einen solchen Lichtherd gab, beunruhigte mich im höchsten Grad.

War’s eine elektrische Ausströmung, die sich kundgab? Oder eine den Gelehrten der Erde noch unbekannte Naturerscheinung? Oder gar – der Gedanke fuhr mir durch den Kopf – hatte der Mensch bei dieser Glut die Hand im Spiele? Fachte er diesen Brand an? Sollte ich auf tiefem Meeresgrund Genossen, Freunde von Kapitän Nemo finden, die wie er ein so seltsames Dasein hatten, denen er einen Besuch abstatten wollte? Sollte ich dort unten eine ganze Kolonie Landesflüchtiger finden, die des irdischen Elends müde, die Unabhängigkeit im tiefsten Grund des Ozeans aufgesucht und gefunden hatten? Alle diese tollen, unglaublichen Ideen verfolgten mich, und in dieser Stimmung des Geistes, der unablässig von den zahllosen Wundern, die unter meinen Augen geschahen, überspannt war, wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn ich im tiefen Meeresgrund auf eine der unterseeischen Städte, wovon Kapitän Nemo träumte, gestoßen wäre!

Unser Weg wurde immer heller. Der bleiche Schimmer strahlte auf dem Gipfel eines etwa 800 Fuß hohen Berges. Aber was ich bemerkte, war nur der Widerschein, der sich durch das Kristall der Wasserschichten bildete. Die Quelle dieser unerklärbaren Helle, die Glutstätte, war auf der entgegengesetzten Seite gelegen.

Mitten in diesen steinigen Irrgängen, die den Grund des Atlantiks durchzogen, ging Kapitän Nemo ohne Anstoß weiter; er kannte die dunklen Pfade. Ohne Zweifel hatte er sie schon oft gemacht,

und konnte sich nicht verirren. Ich folgte ihm mit unerschütterlichem Vertrauen. Er kam mir vor wie ein Genius des Meeres, und wenn er vor mir herschritt, bewunderte ich seine hohe Gestalt, die auf dem hellen Hintergrund schwarz abstach.

Um 1 Uhr früh befanden wir uns an den ersten Gebirgsaufgängen; aber um hinaufzukommen, musste man sich durch die schwierigen Pfade eines ungeheuren Gehölzes wagen.

Ja, ein Gehölz von abgestorbenen, blätterlosen, saftlosen Bäumen, die durch Einwirkung des Wassers mineralisiert waren und über die hier und da riesenhafte Fichten emporragten. Es war, sozusagen, ein noch aufrecht stehender Kohlenschatz, der mit den Wurzeln im Boden steckte und dessen Gezweig, gleich den feinen Papierausschnitten, sich auf der Oberfläche der Gewässer klar abzeichnete. Man stelle sich einen Harzwald an den Seiten eines Gebirges vor, aber einen versunkenen Wald. Die Pfade waren mit Tang und Meergras überschüttet, worunter eine Welt von Schaltieren wimmelte. Ich klimmte die Felsen hinan, schritt über hingestreckte Baumstämme, zerriss die Meerlianen, die sich von einem Baum zum anderen hinzogen, scheuchte die Fische auf, die von einem Zweig zum anderen entflohen. Fortgerissen, fühlte ich keine Müdigkeit. Ich folgte meinem Führer, dem Ermüdung unbekannt war.Welch ein Schauspiel! Wie ließe sich ein Bild geben von dieser Waldung und diesen Felsen, unten düster und wild, oben in der Färbung roter Töne durch Einwirkung jenes hellen Schimmers, der durch die zurückstrahlende Kraft der Gewässer verstärkt wurde?

Wir klimmten Felsen hinan, die späterhin mit dem dumpfen Getöse einer Lawine zusammenfielen. Rechts und links zogen finstere Gänge, worin sich der Blick verlor.

Kapitän Nemo ging stets aufwärts. Ich wollte nicht zurückbleiben, folgte ihm kühn, unterstützt durch meinen tüchtigen Stock.

Ein Fehltritt wäre verderblich gewesen auf diesen engen Pfaden neben Abgründen; aber ich schritt weiter mit festem Tritt und ohne Schwindel. Bald sprang ich über einen tiefen Spalt, bald wagte ich mich über einen wankenden Baumstamm, der umgestürzt von einer Kluft zur anderen führte. Dort schienen monumentale Felsen,

auf unregelmäßiger Basis überhängend, den Gleichgewichtsgesetzen zu trotzen.

Und ich selbst fühlte nicht den Unterschied der hohen Dichte des Wassers, wenn ich trotz meines schwerfälligen Anzugs, der kupfernen Kopfbedeckung und der bleiernen Sohlen über steile Abhänge so leicht fast wie eine Gämse aufwärts drang.

Ich fühle wohl, dass ich bei dieser Erzählung Unwahrscheinliches zu sagen scheine. Aber es ist doch wirklich und unbestreitbar so; es ist kein Traum, den ich berichte.

2 Stunden nachdem wir die ›Nautilus‹ verlassen hatten, waren wir über die Linie des Baumwuchses hinausgekommen, und 100

Fuß über unseren Köpfen ragte die Spitze des Berges empor, der die glänzende Bestrahlung des Abhangs der anderen Seite verdeckte. Hier und da zogen sich versteinerte Gebüsche im Zickzack. Massenweis entflohen die Fische unter unseren Tritten wie Vögel im Gesträuch. Die Felsenmasse war voll undurchdringlicher Spalten, tiefer Grotten, unergründlicher Löcher, worin es sich auf dem Grund fürchterlich rührte und regte. Mein Pulsschlag stockte, wenn sich mir enorme Fühlhörner in den Weg streckten oder im Dunkel der Höhlungen schreckliche Scheren klafften. Tausende leuchtender Punkte glänzten inmitten des Dunkels. Es waren die Augen riesenmäßiger Schaltiere, die in ihren Löchern hockten, kolossale Hummern, die sich wie Hellebardiere reckten, Krabben wie Kanonen auf ihren Lafetten und grässliche Polypen, die ihre Fühlhörner gleich einem lebendigen Schlangengebüsch verschlungen ausstreckten.

Diese Ungeheuerlichkeiten waren eine mir unbekannte Welt.

Seit wie viel Jahrhunderten lebten diese Tiere also in den tiefsten Schichten des Ozeans?

Aber ich konnte mich nicht dabei aufhalten. Kapitän Nemo achtete nicht mehr darauf. Wir waren auf einer ersten Hochfläche angelangt, wo andere Überraschungen meiner harrten. Man bekam da malerische Ruinen zu Gesicht, welche die Hand des Menschen erkennen ließen: ungeheure Haufen von Steintrümmern, woran man unklare Formen von Schlössern und Tempeln unterscheiden konnte, die mit einer Welt von Zoophyten in Blüte und mit einer dicken Hülle von Tang und Algen gleich Efeu überdeckt waren.

Aber was hatte es mit diesem durch Überschwemmung versenkten Erdteil für eine Bewandtnis? Wer hatte diese Felsen und Steine als Zeugen aus der Urzeit aufgerichtet? Wohin hatte mich die Laune von Kapitän Nemo geschleppt?

Gern hätte ich ihn gefragt. Ich hielt ihn an, fasste ihn beim Arm.

Aber er schüttelte den Kopf und zeigte auf den höchsten Gipfel des Berges, als wolle er sagen:

»Komm! Komm immer weiter!«

Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen, ihm zu folgen, und in einigen Minuten hatten wir die Spitze erstiegen, die um etwa 10

Meter über diese ganze Felsenmasse emporragte.

Ich blickte auf die Seite, woher wir gekommen waren, zurück.

Der Berg erhob sich nur 7- bis 800 Fuß über die Ebene; aber auf der entgegengesetzten Seite beherrschte er aus doppelter Höhe den Grund dieses Teils des Atlantiks. Ich konnte weit hinausblicken und gewahrte einen ungeheuren Raum von starkem Blitzesschein erleuchtet. In der Tat, der Berg war ein Vulkan. 50 Fuß unterhalb der Spitze, mitten in einem Regen von Steinen und Schlacken, warf ein weiter Krater Lavaströme aus, die in feurigem Sprudeln durch die Gewässer drangen. So erleuchtete der Vulkan wie eine ungeheure Fackel die darunter liegende Ebene bis zu den äußersten Grenzen des Horizonts.

Ich habe gesagt, der unterseeische Krater warf nur Laven aus, keine Flammen. Für diese bedarf’s des Sauerstoffs der Luft, und sie konnten ohne diesen sich nicht unter dem Wasser entwickeln; aber Lavaströmungen, die das Prinzip ihres Brands in sich tragen, können bis zum rot-weißen gedeihen, siegreich gegen das nasse Element kämpfen und bei einer Berührung verdunsten. Alle diese Gase verbreiteten sich in reißenden Strudeln, und die Lavaströme glitten auf dem Krater des Berges hinab wie einst aus dem Krater des Vesuvs auf Torre del Greco.

Wirklich zeigte sich da unter meinen Augen in Trümmern eine in den Abgrund versunkene Stadt mit eingestürzten Dächern, zerfallenen Tempeln, verschobenen Gewölben, zu Boden gestürzten Säulen, an denen man noch die Verhältnisse toskanischer Architektur erkannte: weiter hinaus Trümmer eines riesenhaften Aquädukts; hier in Schlamm vergraben eine Akropole mit den Formen eines Parthenon; dort die Spuren eines Kais, als hätte einst ein antiker Hafen am Gestade eines verschwundenen Ozeans den Kaufmannsschiffen und Kriegstriremen Schutz gewährt; noch weiter hinaus lange Reihen zerfallener Mauern, große verödete Straßen, ein ganzes versunkenes Pompeji, das Kapitän Nemo vor meinen Augen wieder ins Leben rief.

Wo war ich? Ich wollte es um jeden Preis wissen, ich wollte reden, die kupferne Kugel, die meinen Kopf einkerkerte, abreißen.

Aber der Kapitän Nemo kam zu mir und hielt mich ab.

Daraufhob er ein Stückchen kreideartigen Gesteins auf, trat an

einen schwarzen Basaltfelsen und schrieb darauf nur das einzige Wort:

Atlantis

Wie ein Blitzstrahl fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf ! Die alte Atlantis Platons, das einst versunkene Festland, dessen Dasein eine Menge Gelehrter von Origenes an bis Humboldt geleugnet, sein Verschwinden unter die Märchen gerechnet, von anderen nicht minder großen Gelehrten von Plinius bis Buffon anerkannt wurde – hier lag es vor meinen Augen mit den unverwerflichen Zeugnissen seines Hinabsinkens! Es war also die versunkene Landschaft, die einst außerhalb Europas, Asiens, Libyens vorhanden war, draußen vor den Säulen des Herkules, wo einst das mächtige Volk der Atlanten lebte, mit dem das alte Griechenland seine ersten Kriege führte.

Plato selbst hat in seinen Schriften die Großtaten dieser Heroenzeit aufgezeichnet. Sein Dialog Timäus und Kritias ist sozusagen unter Eingebung Solons geschrieben.

Einst unterhielt sich Solon mit einigen weisen Greisen aus Sais, einer bereits 800 Jahre alten Stadt. Einer dieser Greise erzählte die Geschichte einer anderen Stadt, die über 1.000 Jahre älter war.

Diese erste etwa 9 Jahrhunderte alte athenische Stadt war von den Atlanten angegriffen und zum Teil zerstört worden. Diese Atlanten, sagte er, hatten ein unermessliches Festland inne, das größer war als Afrika und Asien zusammen und eine Fläche vom 12. bis 40. Grad nördlicher Breite deckte. Ihre Herrschaft erstreckte sich selbst auf Ägypten. Sie wollten sie auch über Griechenland ausdehnen, mussten aber vor dem unbezwinglichen Widerstand der Hellenen zurückweichen. Jahrhunderte verflossen. Es entstand eine Überschwemmung, ein Erdbeben, und in Zeit von einer Nacht und einem Tag verschwand jene Atlantis, deren höchste Spitzen, Madeira, die Azoren, die Kanaren, die Kapverdischen Inseln noch hervorragen.

Diese historischen Erinnerungen rief die Inschrift von Kapitän Nemo in meinem Geist wach. Also hatte mich das seltsamste Geschick dahin geleitet, dass ich auf einem der Berge dieses Kontinents stand, die Ruinen aus der Urzeit der geologischen Epochen mit Händen zu berühren imstande war!

Ach! Wie bedauerte ich diesen Mangel an Zeit! Gern wäre ich die steilen Abhänge des Berges hinabgestiegen, um den unermesslichen Kontinent ganz zu durchlaufen, der ohne Zweifel einst Afrika und Amerika verband, um die großen Städte der Urzeit zu besuchen.

Während ich über diesen Gedanken in Träume versank und alle Details dieser großartigen Landschaft mir einzuprägen bemüht war, stand auch Kapitän Nemo, gegen eine bemooste Säule gelehnt, in stummes Träumen verloren.

Eine volle Stunde blieben wir an dieser Stelle und betrachteten beim Glanz der Laven die ungeheure Ebene. Aus der Tiefe drang ein Getöse, das klar durch die umgebenden Gewässer drang und mit majestätischer Fülle widerhallte.

In diesem Augenblick schien auch der Mond eine Weile durch die Masse der Gewässer und warf einige bleiche Strahlen auf den versunkenen Kontinent. Nur ein Schimmer zwar, aber von unbeschreiblichem Effekt. Der Kapitän erhob sich, warf einen letzten Blick auf diese unermessliche Ebene; darauf winkte er mit der Hand, ihm zu folgen.

Wir stiegen rasch den Berg hinab. Als wir den mineralischen Wald einmal hinter uns hatten, sah ich die Leuchte der ›Nautilus‹

gleich einem Stern glänzen. Der Kapitän schritt gerade darauf los, und wir befanden uns wieder an Bord, als eben das erste Schimmern des Morgenrots die Oberfläche des Ozeans traf.

 


10. KAPITEL

Unterseeische Kohlenminen

Am folgenden Tag, dem 20. Februar, stand ich sehr spät auf. Die Ermüdung der nächtlichen Partie hatte mich bis 11 Uhr zu Bett gehalten. Ich zog mich rasch an, um mich bald über die Richtung der

›Nautilus‹ zu versichern. Die Instrumente gaben mir an, dass er mit einer Schnelligkeit von 20 Meilen in der Stunde bei einer Tiefe von 100 Metern stets südlich fuhr.

Conseil trat ein. Ich erzählte unseren nächtlichen Ausflug, und da die Läden geöffnet waren, so konnte er noch einen Teil des versunkenen Kontinents aus der Ferne erkennen.

Die ›Nautilus‹ fuhr in der Tat nur 10 Meter hoch über dem Boden der Atlantis hin, und zwar so schnell wie ein Ballon, den der Wind über Wiesenland treibt; richtiger gesagt, wir waren in die

sem Salon wie in dem Waggon eines Eilzugs. Der Vordergrund vor unseren Augen bestand aus fantastisch zugeschnittenen Felsen, Bäumen, die bereits aus dem Pflanzen- ins Mineralreich übergegangen waren; ferner aus steinigen Massen mit einem Teppich von Axidien und Anemonen bedeckt, voll langen senkrechten Wasserpflanzen; ferner aus seltsam gestalteten Lavablöcken, die von der wütenden Gewaltsamkeit plutonischer Umgestaltungen Zeugnis gaben.

Während diese bizarren Landschaften in der Beleuchtung unseres elektrischen Lichts glänzten, erzählte ich Conseil von jenen Atlanten, von den Kriegen dieser Heroenzeit. Ich besprach die Frage der Atlantis wie ein Mann, der davon überzeugt ist. Aber Conseil, in voller Zerstreuung, zeigte wenig Sinn für diesen historischen Punkt. Zahlreiche Fische zogen seine Blicke an, und in die Tiefen der Klassifikation versunken, befand er sich nicht mehr in der wirklichen Welt. Ich schloss mich ihm an in ichthyologischen Untersuchungen.

Übrigens zeigten die Fische des Atlantiks keinen erheblichen Unterschied von den bisher beobachteten. Es waren Rochen von riesenhafter Größe, 5 Meter lang und von ungeheurer Muskelkraft, sodass sie sich über die Oberfläche des Wassers emporschnellen konnten; verschiedene Arten Haifische, unter anderen ein blaugrüner, 15 Fuß langer, der wegen seiner Durchsichtigkeit mitten im Wasser fast unsichtbar war, braune Speerhaie, Störe gleich denen im Mittelmeer, Seepferde, Trompetenfische, 1 1/2 Fuß lang, gelbbraune, mit kleinen grauen Flossen, ohne Zähne noch Zunge.

Unter den Knochenfischen notierte Conseil schwärzliche Makaïra, 3 Meter lang und mit einem scharfen Degen am Oberkiefer; Seedrachen von lebhaften Farben, die wegen der Stacheln ihrer Rückenflossen schwer zu fangen sind, schöne Goldbrassen; 8 Meter lange Schwertfische, die truppweise ziehen, mit gelblichen sichelförmigen Flossen und 6 Fuß langen Schwertern, unverzagte Tiere, die jedoch mehr von Pflanzen als Fischen leben und ihren Weibchen auf einen Wink gehorchen wie ein bestgezogener Ehemann.

Aber neben der Beobachtung der Seefauna verabsäumte ich nicht, die ausgedehnten Ebenen der Atlantis zu untersuchen.

Manchmal war die ›Nautilus‹ durch launenhafte Unebenheiten des Bodens genötigt, langsam zu fahren, und glitt dann so gewandt wie ein Delfin durch die engen Wege zwischen Hügeln. War dies unmöglich, so stieg sie wie ein Luftballon aufwärts und setzte, nachdem das Hindernis beseitigt war, ihre Schnellfahrt einige Meter tiefer fort. Diese Fahrt war reizend zum Staunen, ähnlich den Bewegungen einer Luftschifffahrt, nur dass die ›Nautilus‹ folgsam der Hand seines Steuerers gehorchte.

Um 4 Uhr abends zeigte das Erdreich, das im allgemeinen aus dichtem Schlamm mit mineralisiertem Gezweig vermischt bestand, allmählich eine andere Beschaffenheit; es wurde steinig und schien bedeckt mit einem Gemenge von Basalttuff mit einigen Lagen Lava mit schwefligem Obsidian. Ich dachte, auf die ausgedehnten Ebenen werde bald die Bergregion folgen, und wirklich, bei einigen Schwenkungen der ›Nautilus‹ sah ich den südlichen Horizont durch eine hohe Wand versperrt, die jeden Ausweg abzuschneiden schien. Sie ragte offenbar über den Meeresspiegel hinan.

Es musste ein Kontinent oder wenigstens eine Insel sein, eine der Kanarischen oder Kapverdischen. Wo wir uns befanden, war mir völlig unbekannt. Jedenfalls schien eine solche Wand das Ende der Atlantis, wovon wir nur einen sehr kleinen Teil durchstreift hatten, zu bilden.

Die Nacht unterbrach meine Beobachtungen nicht. Ich befand mich allein, da Conseil sich in seine Kabine begeben hatte. Die

›Nautilus‹ fuhr langsam, bewegte sich leicht über unklaren Massen des Bodens, bald daran hinstreifend, bald zur Oberfläche aufsteigend. Dann sah ich durch die Gewässer einige lebhafte Sternbilder, oben gerade von denjenigen, die zum Schweif des Orion gehören.

Ich wäre noch lange an meinem Fenster geblieben, um die Schönheiten des Meeres und Himmels zu bewundern – da schlossen sich die Läden. Die ›Nautilus‹ war eben an die senkrechte Wand gekommen. Wie sie nun manövrieren würde, konnte ich nicht erraten. Ich begab mich auf mein Zimmer. Die ›Nautilus‹ rührte sich nicht. Ich schlief ein, fest entschlossen, nach einigen Stunden wieder aufzustehen.

Aber am folgenden Morgen kam ich erst um 8 Uhr in den Salon.

Ich sah auf das Manometer und fand, dass die ›Nautilus‹ auf der Oberfläche des Meeres schwamm. Ich vernahm übrigens Fußtritte auf der Plattform. Doch verriet kein Schwanken den Wellenschlag des Meeresspiegels.

Ich stieg zur Lukenöffnung; sie war geschlossen. Aber anstatt des Tageslichts, wie ich erwartete, sah ich mich von dichtem Dunkel umgeben. Wo befanden wir uns? Hatte ich mich geirrt? War es noch Nacht? Nein, es schimmerte kein Stern, und so stockfinstere Nacht gibt’s nicht.

Ich wusste nicht, was ich davon denken sollte, als eine Stimme mich anrief:

»Sind Sie’s, Herr Professor?«

»Ah! Kapitän Nemo«, erwiderte ich, »wo sind wir?«

»Unter der Erde, Herr Professor.«

»Unter der Erde!« rief ich aus. »Und die ›Nautilus‹ schwimmt noch?«

»Sie schwimmt fortwährend.«

»Aber, ich begreife nicht?«

»Warten Sie einige Augenblicke. Unsere Leuchte wird angezündet werden, und wenn Sie Klarheit lieben, sollen Sie befriedigt werden.«

Ich betrat die Plattform und wartete. Das Dunkel war so vollständig, dass ich nicht einmal Kapitän Nemo wahrnehmen konnte.

Doch als ich zum Zenit aufblickte, gerade über meinem Kopf, glaubte ich einen unbestimmten Schimmer zu bemerken, eine Art Dämmerlicht durch ein rundes Loch. In dem Augenblick wurde die Leuchte plötzlich angezündet, und vor ihrem lebhaften Glanz verschwand jener unbestimmte Schimmer.

Einen Augenblick musste ich meine durch das elektrische Licht geblendeten Augen schließen, dann blickte ich umher. Die ›Nautilus‹ lag still auf der Wasserfläche neben einer steilen Küste, die wie ein Kai gestaltet war. Dies Meer, worauf er eben lag, war ein See, umschlossen von Felswänden in einem Umkreis, der 2 Meilen Durchmesser, also 6 Meilen Umfang hatte. Sein Wasserspiegel konnte nur – das Manometer wies es nach – von gleicher Höhe wie der äußere sein, denn es fand notwendig eine Verbindung zwi

schen diesem See und dem Meere statt. Die hohen Wände wölbten sich oben und bildeten einen ungeheuren umgekehrten Trichter von 5 bis 6 Meter Höhe. An der Spitze befand sich eine kreisrunde Öffnung, durch die ich den matten Schein, offenbar vom Tageslicht, bemerkt hatte.

Bevor ich die innere Beschaffenheit dieser enormen Höhle auf

merksam untersuchte, bevor ich mir die Frage vorlegte, ob sie ein Werk der Natur oder des Menschen sei, wendete ich mich an Kapitän Nemo.

»Wo sind wir?« fragte ich.

»Mitten im Zentrum eines erloschenen Vulkans«, erwiderte mir der Kapitän, eines Vulkans, in dessen Inneres das Meer eingedrungen ist infolge einer Zerreißung des Bodens. Während Sie schliefen, Herr Professor, ist die ›Nautilus‹ durch einen natürlichen Kanal, 10

Meter unter dem Meeresspiegel, in diesen See eingelaufen. Hier ist ihr Haupthafen, ein sicherer, bequemer, geheimnisvoller, gegen alle Windstriche geschützt! Ist denn auf den Küsten Eurer Kontinente oder Inseln eine Reede zu finden, die eine so sichere Zuflucht und Schutz gegen wütende Orkane böte.«

»Wahrhaftig«, erwiderte ich, »hier sind Sie in Sicherheit, Kapitän Nemo. Wer könnte im Zentrum eines Vulkans Ihnen beikommen?

Aber habe ich nicht in seinem Gipfel eine Öffnung bemerkt?«

»Ja, sein Krater, der vormals von Lava, Dünsten und Flammen erfüllt, nun diese erquickende Luft, die wir einatmen, hereinlässt.«

»Aber was ist es für ein vulkanischer Berg?« fragte ich.

»Er gehört zu einem der zahlreichen Eilande, womit dieses Meer bedeckt ist. Nur eine Klippe für die Schiffe, für uns eine unermessliche Höhle. Der Zufall hat mich sie finden lassen und hat mir damit sehr genützt.

»Aber könnte man nicht durch diese Öffnung, die den Krater des Vulkans bildet, hinabsteigen?«

»Ebenso wenig wie ich hinaufsteigen könnte. Bis zu einer Höhe von 100 Fuß ist der untere Teil des Berges innen zu ersteigen, aber darüber hinaus hängen die Wände über, und auf ihren Abhängen kann man nicht hinaufkommen.«

»Ich sehe, Kapitän, dass die Natur Ihnen überall und immer zu Diensten ist. Sie sind auf diesem See in Sicherheit, und kein Mensch außer Ihnen kann seine Gewässer besuchen. Aber wozu ein Zufluchtsort? Die ›Nautilus‹ bedarf eines Hafens nicht.«

»Nein, Herr Professor, aber sie bedarf Elektrizität, um sich zu bewegen, Elemente zur Erzeugung ihrer Elektrizität; Sodium, um die Elemente zu nähren; Kohle, um ihr Sodium zu bereiten, und

Kohlenminen, um ihre Kohlen zu gewinnen. Nun aber bedeckt das Meer eben hier ganze Wälder, die in der Urzeit versanken und, mineralisiert und in Steinkohle verwandelt, mir eine unerschöpfliche Vorratsgrube bilden.«

»Ihre Matrosen also, Kapitän, sind die Grubenleute?«

»Jawohl. Diese Minen laufen unter dem Meer her wie die Gruben von Newcastle. Hier holen meine Leute in ihren Skaphandern, mit Hacke und Schaufel die Kohle, welcher ich aus den Gruben der Erde nicht bedarf. Wenn ich diesen Stoff für Gewinnung des Sodiums verbrenne, bekommt der Berg durch den aus dem Krater aufsteigenden Dampf noch das Aussehen eines tätigen Vulkans.«

»Und wir können Ihre Leute bei der Arbeit sehen?«

»Nein, diesmal wenigstens nicht, denn ich habe Eile, unsere unterseeische Fahrt fortzusetzen. Darum beschränke ich mich jetzt darauf, aus meinem Vorrat von Sodium mich zu versehen. Wir brauchen nur einen Tag, um es an Bord zu schaffen, dann werden wir unsere Fahrt fortsetzen. Wenn Sie also, Herr Arronax, diese Zeit benutzen wollen, diese Höhle zu durchwandern und den See rings zu befahren, so steht’s in Ihrem Belieben.«

Ich dankte dem Kapitän und suchte meine Gefährten auf, die noch nicht aus ihrer Kabine herausgekommen waren. Ich lud sie ein, mir zu folgen, ohne ihnen zu sagen, wo sie sich befanden.

Sie kamen auf die Plattform. Conseil, der über nichts mehr sich verwunderte, sah es als etwas ganz Natürliches an, dass er unter einem Berg aufwachte, nachdem er unter dem Wasser eingeschlafen war. Aber Ned Land hatte keinen anderen Gedanken, als zu forschen, ob die Höhle nicht einen Ausgang habe.

Nach dem Frühstück, gegen 10 Uhr, stiegen wir aus an die Küste.

»Da sind wir einmal wieder auf dem Land«, sagte Conseil.

»Das nenn’ ich nicht ›Land‹«, erwiderte der Kanadier. Und zudem sind wir nicht darauf, sondern darunter.«

Zwischen dem Fuß der Gebirgswände und dem Wasser des Sees zog sich ein sandiger Uferrand, der, wo am weitesten, 500 Fuß breit war. Auf diesem sandigen Rand konnte man leicht um den See herumgehen. Aber die Basis der hohen Wände bildete ein unebe

ner Boden, worauf malerisch aufgeschichtet vulkanische Felsblöcke und ungeheure Bimssteine lagen. Alle diese durcheinandergeworfenen Massen, durch die Einwirkung der unterirdischen Feuer mit einem glatten Schmelz bedeckt, warfen, wenn die elektrischen Strahlen der Leuchte sie trafen, einen schimmernden Glanz zurück. Der Glimmerstaub des Ufers, den unsere Tritte erregten, flog auf gleich einer Wolke von Funken.

Der Boden erhob sich merklich, sowie man sich von dem Wasser entfernte, und wir gelangten bald zu langen, gewundenen Aufwegen, wahren Anbergen, die allmählich hinaufzukommen gestatteten, aber man musste inmitten dieser von keinem Bindemittel zusammengehaltenen Haufen vorsichtig schreiten, und der Fuß glitt auf diesen glasartigen Trachyten, die aus Kristallen von Feldspat und Quarz gebildet waren.

Die vulkanische Natur dieser enormen Höhlung bestätigte sich allerwärts. Ich machte meine Gefährten darauf aufmerksam.

»Können Sie sich vorstellen«, fragte ich sie, »wie dieser Trichter sein müsste, wenn er mit siedender Lava sich füllte und das Niveau dieser glühenden Masse bis zur Mündung des Berges stieg, wie das siedende Metall über die Wände des Gießofens?«

»Ich kann mir’s völlig so vorstellen«, erwiderte Conseil. »Aber kann mir mein Herr sagen, weshalb der große Gießer seine Verrichtung eingestellt hat und woher es kommt, dass an die Stelle des Gießofens ein See mit so stillem Wasser getreten ist?«

»Sehr wahrscheinlich, Conseil, weil irgendeine gewaltsame Zerklüftung unterhalb der Meeresoberfläche diese Öffnung hervorgebracht, die der ›Nautilus‹ zur Einfahrt gedient hat. Da stürzten die Wasser des Atlantiks ins Innere des Berges hinein. Es gab dann einen fürchterlichen Kampf zwischen beiden Elementen, aus dem Neptun als Sieger hervorging. Aber es sind seitdem viele Jahrhunderte verflossen, und der vom Wasser überwältigte Vulkan hat sich zu einer friedlichen Grotte umgewandelt.«

»Sehr richtig«, versetzte Ned Land. »Ich lasse die Erklärung gelten, aber ich bedauere in unserm Interesse, dass diese Öffnung, wovon der Herr Professor spricht, nicht oberhalb des Meeresspiegels entstanden ist.«

»Aber, Freund Ned«, erwiderte Conseil, »wäre diese Öffnung nicht unter der See gewesen, so hätte die ›Nautilus‹ nicht dahin gelangen können!«

»Und ich will hinzufügen, Meister Land, die Wasser wären dann nicht unter dem Berg eingedrungen, und der Vulkan wäre Vulkan geblieben. Ihr Bedauern ist also überflüssig.«

Wir stiegen weiter aufwärts. Die Aufwege wurden immer steiler und enger. Mitunter wurden sie von tiefen Schluchten unterbrochen, über die man setzen musste. Überhängende Massen mussten umgangen werden. Man glitt auf den Knien, man rutschte auf dem Bauch. Aber mithilfe der Geschicklichkeit Conseils und der Kraft des Kanadiers wurden alle Hindernisse überwunden.

In einer Höhe von etwa 30 Meter änderte sich die Beschaffenheit des Bodens, ohne dass er darum bequemer zu passieren wurde.

An der Stelle der Konglomerate und Trachyte traten schwarze Basalte; diese zogen teils in blasigen Streifen, teils bildeten sie regelmäßige Prismen, die sich wie eine Kolonnade reihten, auf der das ungeheure Gewölbe ruhte, ein staunenswertes Muster natürlicher Architektur. Sodann schlängelten sich weithin Gänge kalt gewordener Lava mit Harzstreifen durchzogen, und stellenweise bereiteten sich weite Schwefellager. Durch den oberen Teil des Kraters fiel ein stärkeres Licht herein und übergoss mit einem Dämmerschein alle diese für immer im Schoß des erloschenen Gebirges vergrabenen vulkanischen Auswürfe.

Doch wurde unser Aufsteigen bald auf einer Höhe von etwa 250 Fuß durch unüberwindliche Hindernisse gehemmt. Die innere Wölbung wurde überhängend, und wir mussten nun seitwärts um den See herumwandern. Auf dieser Stufe fing das Tierreich an mit dem Mineralreich zu ringen. Es ragten einige Gebüsche und selbst Bäume aus den Krümmungen der Wand. Ich erkannte Euphorbien und Heliotropien. Diese letzteren konnten freilich nicht sich der Sonne zuwenden, weil ihre Strahlen nicht zu ihnen reichten; einige Chrysanthemen wuchsen schüchtern neben Aloe mit langen, traurigen und kränkelnden Blättern. Aber zwischen den Lavagängen bemerkte ich kleine Veilchen, die noch leicht dufteten, und erquickte mich an dem köstlichen Geruch.

Wir waren zu einem Gebüsch gekommen, das mit starken Wurzeln die Felsen auseinandertrieb, als Ned Land ausrief:

»Mein Herr, ein Bienenstock!«

»Ein Bienenstock!« versetzte ich mit ungläubiger Miene.

»Ja! ein Bienenstock«, wiederholte der Kanadier, »und da summen Bienen herum.«

Ich trat hinzu und musste mich durch den Augenschein überzeugen. Es fanden sich da, an der Mündung eines Loches in einem hohlen Baum einige tausend dieser fleißigen Insekten, die auf den Kanarischen Inseln sehr häufig sind, wo man auch den Honig sehr zu schätzen weiß.

Ganz natürlich wünschte da der Kanadier sich mit Honig zu versehen, und er hätte mir’s sehr übel genommen, wenn ich ihm hätte entgegen sein wollen. Er zündete mit seinem Feuerstahl ein Häufchen dürrer Blätter mit Schwefel vermischt an, und ließ den Rauch zu den Bienen dringen. Bald hörte das Summen auf, und die Waben lieferten einige Pfund duftenden Honig, den Ned Land in seinem Ranzen barg.

»Wenn ich diesen Honig mit dem Teig vom Brotfruchtbaum menge«, sagte er, »bin ich imstande, Ihnen einen schmackhaften Kuchen vorzusetzen.«

»Potz!« sagte Conseil, »das gibt ja Lebkuchen.«

»Lassen wir jetzt den Lebkuchen«, sagte ich, »und setzen unseren interessanten Spaziergang fort.«

Nachdem wir auf dem Pfade, worauf wir uns befanden, noch etwas weiter gegangen, lag der See in seiner ganzen Ausdehnung vor unseren Blicken. Die Leuchte ließ seinen riesigen Spiegel vollständig erkennen, wie er ohne Wellen und Runzeln war. Die ›Nautilus‹

hielt sich völlig unbeweglich. Auf ihrer Plattform und dem Ufer regte sich die Mannschaft gleich schwarzen Schatten, die mitten aus dem Lichtkreise sich deutlich hervorhoben.

In diesem Augenblick kamen wir um die höchste Spitze des Vordergrunds der Felsen, auf der das Gewölbe ruhte. Da sah ich, dass Bienen nicht die einzigen Repräsentanten des Tierreichs im Innern dieses Vulkans waren. Raubvögel schweiften und streiften hier und da im Dunkel oder flohen aus ihren Nestern auf Felsen

spitzen. Es waren Sperber und schreiende Weihe. Auf den Abhängen gab’s auch hübsche fette Trappen, die so schnell, als ihre Läufe sie trugen, davoneilten. Man kann sich denken, wie der Kanadier Lust nach einem solchen Braten bekam, und wie leid es ihm war, keine Flinte zur Hand zu haben. Er versuchte durch Steine das Blei zu ersetzen, und es gelang ihm auch, nach einigen fruchtlosen Versuchen, eins der prächtigen Tiere zu verwunden. Zwanzigmal, das ist reine Wahrheit, setzte er sein Leben daran, bis dass er es in seinen Sack zu den Lebkuchen bekam.

Darauf mussten wir uns wieder abwärts nach dem Ufer zuwenden, denn auf den Gebirgskamm konnten wir nicht gelangen. Über uns sah der klaffende Krater aus wie eine weite Brunnenmündung.

Von dieser Stelle aus konnte man den Himmel ziemlich klar erkennen, und ich sah vom Westwind zerzaustes Gewölk ziehen, das mit seinen Nebelfetzen am Gipfel des Berges streifte, also in mäßiger Höhe, denn der Vulkan ragte nicht mehr als 800 Fuß über den Meeresspiegel.

Eine halbe Stunde nach der letzten Tat des Kanadiers waren wir wieder am inneren Ufer angelangt. Hier war die Flora durch ein dichtes Beet Meerfenchel repräsentiert, die kleinen Schirmpflänzchen, die man gern zum Einmachen verwendet. Conseil sammelte einige Büschel davon. Die Fauna zählte nach Tausenden, Schaltiere aller Art, Hummer, Krabben, Palämon, Feldspinnen, Seejungfern und eine zahllose Menge von Muscheln, Porzellan-, Purpurschnecken, Napfmuscheln.

Hier öffnete sich eine prachtvolle Grotte. Wir genossen ein wahres Vergnügen, uns auf den feinen Sand hinzustrecken. Ihre Wände waren vom Feuer glatt emailliert und funkelnd, ganz mit Glimmerstaub bestreut. Ned Land betastete die Wände, als wolle er untersuchen, wie dick sie seien. Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten. Die Unterhaltung wendete sich auf die ewigen Entweichungsprojekte, und ich glaubte, ohne Übertreibung, ihm die Hoffnung geben zu können, Kapitän Nemo sei nur deshalb so weit nach Süden gegangen, um sich mit Sodium zu versehen. Ich hoffte demnach, er werde jetzt sich wieder den Küsten Europas und Amerikas

nähern; dann sei es möglich, mit mehr Aussicht auf Erfolg den gescheiterten Versuch nochmals zu machen.

Seit einer Stunde hatten wir uns in dieser reizenden Grotte gelagert. Die anfangs so belebte Unterhaltung stockte, und wir neigten zum Schlaf. Da ich gar keinen Grund sah, dieser Neigung Widerstand zu leisten, so gab ich mich tiefem Schlummer hin. Ich

träumte – die Träume liegen nicht in unserer Wahl –, ich träumte, mein Dasein habe sich nun auf das vegetative Leben einer Molluske eingeengt. Es kam mir vor, diese Grotte bilde die doppelte Schale meiner Muschel ...

Da weckte mich plötzlich Conseils lauter Ruf:

»Auf ! Auf !« schrie der wackere Junge.

»Was gibt’s?« fragte ich und richtete mich etwas auf.

»Das Wasser dringt auf uns ein!«

Ich sprang auf. Das Meer stürzte reißend wie ein Bergstrom in unsere Zufluchtsstätte, und da wir keine Molluske waren, so mussten wir allerdings flüchten.

In einigen Augenblicken waren wir in Sicherheit auf dem höchsten Punkt ebendieser Grotte.

»Was geht denn vor?« fragte Conseil. »Ist’s ein neues Phänomen?«

»Nein! meine Freunde«, erwiderte ich, »es ist die Flut, nichts weiter. Der Ozean schwillt draußen an, und nach dem Naturgesetz muss auch der Wasserspiegel des Sees steigen. Wir sind mit einem kleinen Bade davongekommen. Wir wollen zur ›Nautilus‹ und uns umkleiden.«

Nach einer Dreiviertelstunde hatten wir unseren Rundgang vollendet und kamen wieder an Bord. Die Leute der Bemannung waren eben mit dem Einladen des Sodiums fertig, und die ›Nautilus‹ hätte sogleich abfahren können.

Doch Kapitän Nemo gab keinen Befehl dazu. Wollte er die Nacht abwarten und im stillen die unterseeische Einfahrt passieren? Vielleicht.

Wie dem auch sein mag, am folgenden Morgen fuhr die ›Nautilus‹, nachdem sie ihren Zufluchtshafen verlassen, weit ab von jedem Land auf hoher See, einige Meter unter dem Spiegel des Atlantiks.

 


11. KAPITEL

Das Tangmeer

Die Richtung der ›Nautilus‹ hatte sich nicht geändert. Jede Hoffnung auf eine Rückkehr in die Meere Europas musste also für die nächste Zeit aufgegeben werden. Kapitän Nemo steuerte gerade

südwärts. Wohin schleppte er uns? Ich getraute mir nicht, es zu ahnen.

An diesem Tag fuhr die ›Nautilus‹ durch einen ansehnlichen Teil des Atlantiks. Jedermann weiß, dass darin eine große Strömung warmen Wassers ist, bekannt unter dem Namen Golfstrom.

Er fließt, nachdem er aus den Engen von Florida herausgekommen, in der Richtung von Spitzbergen. Aber bevor dieser Strom in den Golf von Mexiko gedrungen, um den 44. Grad nördlicher Breite, teilt er sich in zwei Arme, von denen der eine nach den Küsten Irlands und Norwegens hinzieht, während der andere südlich nach den Azoren zu sich wendet; darauf bricht er sich an der afrikanischen Küste und kehrt in einem länglichen Oval nach den Antillen zurück.

Dieser zweite Arm nun – eher ein Halsband als ein Arm – umgibt mit seinen Ringen warmen Wassers den kalten, ruhigen, unbeweglichen Teil des Ozeans, den man das Tangmeer nennt. Die Gewässer dieser großen Strömung bilden inmitten des Atlantiks einen wahren See und brauchen nicht weniger als 3 Jahre Zeit, um ihn ganz zu durchlaufen.

Das Tangmeer bedeckt eigentlich den ganzen Teil der versunkenen Atlantis. Manche Schriftsteller haben gar die Meinung aufgestellt, die zahlreichen Kräuter, womit es bedeckt ist, hätten ihren Ursprung in dem Wiesenland des vormaligen Kontinents. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass diese Kräuter, Algen und Meergras vom Golfstrom aus den Küstengegenden Europas und Amerikas fortgeschwemmt und bis in diese Zone geführt worden sind. Dieses war auch einer der Gründe, die Kolumbus auf die Vermutung brachten, es existiere eine Neue Welt. Als die Fahrzeuge dieses kühnen Entdeckers in das Tangmeer kamen, konnten sie nur mit Mühe inmitten der Kräuter fortkommen, die zum großen Schrecken der Mannschaft den Lauf der Schiffe hemmten, und sie verloren 3 lange Wochen damit, über sie hinauszukommen.

So war die Gegend beschaffen, welche die ›Nautilus‹ eben besuchte, ein echtes Wiesenland, ein dichtes Gewirke von Algen und Meergras, das so fest zusammenhing, dass der Kiel eines Fahrzeugs nur mit Mühe hindurchdringen konnte. Kapitän Nemo wollte auch

nicht seine Schraube sich in dieser Kräutermasse verwickeln lassen und hielt sich daher einige Meter tief unter der Meeresoberfläche.

Der Hauptbestandteil dieser ungeheuren Bank ist Seegras. Als Grund, weshalb diese Wassergewächse in dem ruhigen Becken des Atlantiks zusammenkommen, führt der gelehrte Maury folgendes an:»Die Erklärung«, sagt er, »die man davon geben kann, scheint aus einer allgemein bekannten Wahrnehmung hervorzugehen. Wenn man Korkstückchen oder sonst schwimmende Gegenstände in ein Gefäß tut und setzt das Wasser des Gefäßes in eine Kreisbewegung, so sieht man, dass die zerstreuten Krümelchen sich im Zentrum der Oberfläche zu einer Gruppe sammeln, d.h. an dem am wenigsten bewegten Punkt. Bei der fraglichen Naturerscheinung ist der Atlantik das Gefäß, der Golfstrom die Kreisbewegung und das Tangmeer der Mittelpunkt, zu dem die zerstreuten schwimmenden Körper sich sammeln.«

Ich teile Maurys Ansicht und habe die Erscheinung von dem eigentümlichen Standpunkt aus, wohin die Schiffe selten dringen, studieren können. Über uns schwammen Körper, die aus allen Gegenden herkamen, und häuften sich mitten in diesen bräunlichen Kräutern Baumstämme aus den Anden oder den Felsengebirgen, die durch den Amazonas oder den Mississippi herbeigeschwemmt waren, zahlloses Strandgut, Stücke von Kielen und Brettern, dermaßen von Muschelwerk beschwert, dass es nicht wieder auf die Meeresoberfläche aufsteigen konnte. Und die Zeit wird einst die andere Ansicht Maurys rechtfertigen, dass diese seit Jahrhunderten so zusammengehäuften Stoffe durch Einwirken des Wassers sich mineralisieren und dann unerschöpfliche Kohlengruben bilden werden. So bereitet die Natur einen kostbaren Vorrat für die Zeit, wann die Menschen die Gruben des Kontinents werden ausgebeutet haben.

Mitten in diesem verworrenen Gewebe von Kräutern und Seegras bemerkte ich reizende rosenfarbene Seesplinte, Meernesseln, deren Fühlhörner gleich langem Haupthaar herabhingen; grüne, rote, blaue Medusen und besonders die großen Rhizotomen Cu

viers, deren bläulicher Schirm mit einer violetten Girlande umbordet ist.

Den ganzen 22. Februar brachten wir im Tangmeer zu, wo die Fische, die gern Seepflanzen und Schaltiere fressen, reichliche Nahrung finden. Am folgenden Tag hatte der Ozean wieder ein gewöhnliches Aussehen.

Von da an 19 Tage lang, vom 23. Februar bis 12. März, fuhren wir unausgesetzt mit der Geschwindigkeit von 100 Lieue in 24

Stunden. Kapitän Nemo wollte offenbar sein unterseeisches Programm ausführen; und ich zweifelte nicht, dass er im Sinne hatte, nachdem er um das Kap Horn herumgefahren, in die südlichen Meere des Pazifiks zurückzukehren.

Ned Land hatte daher Grund zu Besorgnissen gehabt. Auf hoher See durfte man ja nicht versuchen, von Bord zu entweichen.

Ebenso wenig konnte man sich dem Willen von Kapitän Nemo widersetzen. Das einzige, was uns blieb, war Unterwerfung; aber ich gab mich gern dem Gedanken hin, dass, was man nicht mehr von der Gewalt oder List erwarten durfte, einmal durch Überredung zu erlangen sein würde. Sollte nicht Kapitän Nemo nach Beendigung dieser Fahrt einwilligen, uns auf einen Eid, niemals das Geheimnis seines Daseins zu enthüllen, die Freiheit wiederzugeben?

Wir würden ein Ehrenwort gehalten haben. Aber man musste über diese delikate Frage mit dem Kapitän unterhandeln. Würde ich nun aber mit dieser Reklamation ankommen können? Hatte er nicht von Anfang an förmlich erklärt, das Geheimnis seines Lebens verlange unsere ewige Gefangenschaft an Bord der ›Nautilus‹? Musste ihm nicht mein Stillschweigen seit 4 Monaten als eine stille Genehmigung dieser Lage vorkommen? Den Gegenstand zur Sprache zu bringen, konnte ihm Verdacht einflößen, der unseren Plänen schaden musste, wenn sich später eine günstige Gelegenheit ergeben sollte, sie wieder vorzunehmen? Ich erwog alle diese Gründe, überlegte sie in meinem Geist hin und her, besprach sie mit Conseil, der ebenso verlegen war wie ich. Schließlich, obwohl ich nicht leicht zu entmutigen war, begriff ich doch, dass sich die Aussichten, meinesgleichen jemals wiederzusehen, täglich minderten, zumal seit der Kapitän wie unsinnig in den Süden eilte!

Während der obgedachten 19 Tage begab sich kein besonderer Zwischenfall. Ich sah den Kapitän wenig. Er arbeitete. Ich sah in der Bibliothek öfters Bücher, die er aufgeschlagen liegen ließ, besonders naturhistorischen Inhalts. Mein Werk über den Meeresgrund war am Rand mit Anmerkungen bedeckt, die oft mit meinen Theorien und Ansichten im Widerspruch waren. Aber der Kapitän beschränkte sich darauf, dergestalt meine Arbeit zu bessern, und selten besprach er sich darüber mit mir. Manchmal hörte ich die melancholischen Töne seiner Orgel, die er sehr ausdrucksvoll spielte, aber nur bei Nacht, mitten in stiller Dunkelheit, wenn die

›Nautilus‹ in den einsamen Gegenden des Ozeans schlummerte.

Während dieser Zeit fuhren wir ganze Tage lang auf der Oberfläche. Das Meer war wie öde und verlassen. Kaum sah man einige Segelschiffe, Ostindienfahrer in der Richtung nach dem Kap der Guten Hoffnung. Eines Tages wurden wir von Walfischjägern verfolgt, die uns ohne Zweifel für einen kostbaren Walfisch ansahen.

Aber Kapitän Nemo wollte nicht diese wackeren Leute Zeit und Mühe verlieren lassen und tauchte unter.

Die Fische, die ich unterdessen mit Conseil beobachtete, unterschieden sich wenig von denjenigen, die wir unter anderen Breiten studiert hatten. Hauptsächlich gehörten sie der fürchterlichen Gattung der Knorpelfische an, die nicht weniger als 32 Arten zählt: gestreifte Haifische, 5 Meter lang, mit plattem Kopf, der breiter als der Körper ist, zugerundeten Schwanzflossen und sieben großen schwarzen Parallelstreifen der Länge nach auf dem Rücken; sodann perlgraue oder aschgraue mit sieben Kieferöffnungen und einer einzigen Rückenflosse, ungefähr an der Mitte des Körpers.

Auch große Meerhunde zogen vorüber, die unendlich gefräßig sind. Es gibt Fischermärchen, die berichten, man habe im Leib eines solchen einen Büffelkopf und ein ganzes Kalb gefunden; in einem anderen zwei Thunfische und einen Matrosen in Uniform u.a.

dergl. Lassen wir nun dieses dahingestellt sein, so waren diese Tiere doch immer von der Art, dass sie sich in den Garnen der ›Nautilus‹ nicht fangen ließen, um mich von ihrer Gefräßigkeit selbst zu überzeugen.

Ganze Tage lang begleiteten uns zierliche und mutwillige Delfine scharenweise. Sie zogen in Banden von fünf bis sechs zusammen und hielten Hetzjagd wie die Wölfe zu Land; gefräßig sind sie übrigens nicht minder als die Meerhunde. Diese Familie zählt zehn Gattungen; die ich bemerkte, waren 3 Meter lang, oben schwarz, unten rosaweiß mit einzelnen Flecken, und hatten eine sehr schmale Schnauze, die viermal so lang war als der Schädel. Auch trafen wir in diesen Gewässern merkwürdige Probestückchen von Stachel

flossern, von denen man erzählt, sie sängen melodisch wie in einem Konzert, und zwar schöner als Menschenstimmen. Ich will dem nicht widersprechen, muss aber bedauern, dass sie uns bei dem Vorüberfahren nicht mit einem Ständchen bedacht haben.

Conseil zählte endlich auch eine Menge fliegender Fische auf.

Es ist gewiss merkwürdig, wie die Delfine mit höchster Genauigkeit auf sie Jagd machen. Wohin ein solcher Vogel auch seinen Flug richten, welche Bahn er dabei beschreiben mag, selbst über die ›Nautilus‹ hinaus, der Unglückliche fällt immer in den zum Aufschnappen geöffneten Rachen des Delfins. Es waren entweder Seehäher oder Meerweihe mit leuchtendem Maul, die bei der Nacht feurige Streifen durch die Luft zogen, dann gleich Sternschnuppen in das dunkle Wasser fielen.

In dieser Weise fuhren wir ununterbrochen bis zum 13. März.

An diesem Tag wurde die ›Nautilus‹ zu Sondierungen verwendet, die mein lebhaftes Interesse erregten.

Wir hatten damals nahezu 13.000 französische Meilen seit unserer Abfahrt aus der hohen See des Pazifiks gemacht und befanden uns unter 45° 37ʹ südlicher Breite und 37° 53ʹ westlicher Länge.

In derselben Gegend hatte der Kapitän Denham der ›Herald‹ mit 14.000 Meter Sonde keinen Grund gefunden, und ebenso war der Lieutenant Parker von der amerikanischen Fregatte Congreß mit 15.140 Meter nicht zum Ziel des Meeresgrunds gekommen.

Kapitän Nemo entschloss sich, mit seiner ›Nautilus‹ bis in die äußerste Tiefe hinabzufahren, um diese verschiedenen Sondierungen zu prüfen. Ich machte mich bereit, alle Ergebnisse des Experiments zu notieren. Die Läden des Salons wurden geöffnet, und die Manöver begannen, um zu den so wunderhaft tiefen Schichten hinabzukommen.

Es versteht sich wohl, dass nicht davon die Rede sein konnte, durch Anfüllen der Behälter hinabzutauchen. Vermutlich hätten sie die spezifische Schwere der ›Nautilus‹ nicht hinreichend erhöhen könnten. Sodann hätte man, um wieder aufwärts zu kommen, dieses Übermaß von Wasser hinaustreiben müssen, und die Pumpen hätten nicht Kraft genug gehabt, um den äußeren Druck zu überwinden.

Kapitän Nemo entschloss sich, den Meeresgrund durch eine hinreichend lange Diagonale aufzusuchen vermittels seiner geneigten Flächen, die in einem Winkel von 45 Grad zu den Wasserlinien der ›Nautilus‹ gerichtet wurden. Hierauf wurde der Schraube ihr höchstes Maß von Schnelligkeit gegeben, und sie schlug mit unbeschreiblicher Gewalt die Wellen.

Unter diesem mächtigen Druck dröhnte der Rumpf der ›Nautilus‹ wie eine tönende Saite und sank regelmäßig unter die Gewässer hinab. Der Kapitän und ich, wir begleiteten den Zeiger des Manometers, der rasend schnell umlief. Bald hatten wir die bewohnbare Zone, wo die meisten Fische hausen, zurückgelegt.

Wenn manche dieser Tiere nur an der Oberfläche der Meere oder Flüsse leben können, so halten sich andere, eine geringere Anzahl, in sehr großen Tiefen auf. Unter diesen letzteren beobachtete ich eine Art Meerhunde mit sechs Atmungsspalten, den Teleskopen mit enormen Augen, den Panzerhahn mit grauen Bauch und schwarzen Bauchflossen, der mit einem Brustharnisch von blassroten Knochenplättchen geschützt war.

Ich fragte Kapitän Nemo, ob er in noch größerer Tiefe Fische bemerkt habe.

»Fische?« erwiderte er; »selten. Aber nach gegenwärtigem Zustand der Wissenschaft, was nimmt man an, was weiß man?«

»Das will ich Ihnen sagen, Kapitän. Man weiß, dass, wenn man zu den niederen Schichten des Ozeans hinabsteigt, das vegetale Leben schneller als das animale verschwindet. Man weiß, dass da, wo sich noch belebte Wesen finden, nicht eine einzige Wasserpflanze mehr fortkommt. Man weiß, dass die Pilgermuscheln, die Austern in einer Tiefe von 2.000 Meter leben und dass Mac Clintock einen lebenden Seestern aus einer Tiefe von 2.500 Meter geholt hat. Aber, Kapitän Nemo, vielleicht werden Sie mir sagen, dass man nichts weiß?«

»Nein, Herr Professor«, erwiderte der Kapitän, »ich werde so unhöflich nicht sein. Doch will ich Sie fragen, wie erklären Sie, dass Geschöpfe in solchen Tiefen leben können?«

»Ich erkläre es aus zwei Gründen«, erwiderte ich. »Erstlich, weil die senkrechten Strömungen, die durch den verschiedenen Salzge

halt und Dichte der Wasser bestimmt werden, eine Bewegung hervorrufen, die genügt, um den niederen Grad vom Leben der Meerpalmen u.a. zu unterhalten?«

»Richtig«, sagte der Kapitän.

»Sodann, weil man weiß, dass, wenn Sauerstoff die Basis des Lebens ist, die Quantität im Meerwasser aufgelösten Sauerstoffs mit der Tiefe zunimmt, anstatt abzunehmen, und dass der Druck der unteren Schichten dazu beiträgt, ihn darin zusammenzupressen.«

»So! Man weiß das?« erwiderte Kapitän Nemo im Ton einiger Überraschung. »Nun, Herr Professor, man hat Grund, es zu wissen, denn es ist wirklich so. Ich will nun die Tatsache hinzufügen, dass die Schwimmblase der Fische mehr Stickstoff als Sauerstoff enthält, wenn diese Tiere an der Oberfläche der Wasser gefischt wurden, dagegen mehr Sauerstoff als Stickstoff, wenn sie aus großen Tiefen geholt werden. Dadurch erhält Ihr System eine Bestätigung.

Doch setzen wir unsere Beobachtungen fort.«

Mein Blick fiel auf das Manometer. Das Instrument zeigte eine Tiefe von 6.000 Meter. Unser Hinabfahren dauerte schon eine Stunde lang. Die ›Nautilus‹ glitt über ihren geneigten Flächen immer tiefer hinab. Die leeren Gewässer waren zum Staunen durchsichtig. Eine Stunde nachher waren wir 13.000 Meter tief, und man konnte noch nichts vom Meeresgrund spüren.

Doch bei 14.000 Meter gewahrte ich schwarze Spitzen, die inmitten der Gewässer sich erhoben. Aber es konnten ja Spitzen von Bergen sein, die höher als der Himalaja oder Montblanc sind, man konnte also die Tiefe noch nicht abschätzen.

Die ›Nautilus‹ drang immer noch tiefer, ungeachtet des starken Drucks, den sie litt. Ich fühlte, dass seine Eisenplatten unter der Fügung ihrer Zapfen zitterten, seine Eisenstangen sich krumm bogen; seine Verschläge dröhnten; die Glasscheiben des Salons schienen unter dem Druck zu weichen. Und dieses solide Fahrzeug hätte ohne Zweifel nachgegeben, wäre es nicht, wie sein Kapitän gesagt hatte, widerstandsfähig gewesen wie ein fester Block.

Im Vorbeifahren an den Felswänden bemerkte ich noch einige Muscheln, wie Serpula und Spinorbis lebend.

Aber bald verschwanden auch diese letzten Repräsentanten des Tierlebens, und in einer Tiefe von 12.000 Meter drang er über die Grenzlinie unterseeischen Lebens hinaus, wie wenn der Ballon über die atmungsfähige Zone hinaus in die Lüfte steigt. Wir hatten eine Tiefe von 16.000 Meter – 4 Lieue – erreicht, und die Seitenwände der ›Nautilus‹ hatten damals einen Druck von 1.600 Atmosphären auszustehen, d.h. 1.600 Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter seiner Oberfläche!

»Welche Lage«, rief ich aus! »Diese tiefen Regionen zu durchlaufen, wohin der Mensch noch nie gedrungen ist! Sehen Sie doch, Kapitän, diese prachtvollen Felsen, diese unbewohnten Grotten!

Und warum sollen wir darauf verwiesen sein, nur die Erinnerung daran festzuhalten?«

»Wäre es Ihnen angenehm«, fragte mich Kapitän Nemo, »mehr als die Erinnerung daran mitzunehmen?«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, dass es ganz leicht ist, eine fotografische Ansicht von dieser unterseeischen Gegend aufzunehmen!«

Ich hatte noch nicht Zeit, mein Erstaunen über diesen neuen Vorschlag auszudrücken, als auf Bestellung von Kapitän Nemo ein Objektiv in den Salon gebracht wurde. Durch die weit geöffneten Läden, indem das umgebende Wasser elektrisch beleuchtet war, verteilte sich das Licht mit vollständiger Klarheit. Kein Schatten, keine Abschwächung unserer künstlichen Beleuchtung. Das Sonnenlicht hätte einer solchen Vorrichtung nicht günstiger sein können. Die ›Nautilus‹, unter dem durch ihre geneigten Ebenen bemeisterten Druck ihrer Schraube, hielt sich unbeweglich. Das Instrument wurde auf die Ansichten des Meeresgrunds gerichtet, und in einigen Sekunden hatten wir ein äußerst reines Negativbild.Ich gebe hier eine Beschreibung des Positivs. Man sieht darauf jene urweltlichen Felsen, die niemals das Himmelslicht erblickt haben, jenen Granitkern, der die mächtige Grundschicht des Erdballs bildet, diese tiefen, in den Steinmassen ausgehöhlten Grotten, diese unvergleichlich klaren Profile, deren letzter Strich sich schwarz abhebt. Sodann, weiter hinaus ein Horizont von Bergen, eine bewundernswerte Wellenlinie, die den Hintergrund des Gemäldes bildet.

Unbeschreiblich ist dieses Gesamtbild glatter, schwarzer, glänzender Felsen, ohne ein Moospflänzchen, ohne einen Flecken, in seltsam geschnittenen Formen, von solidem Bau auf diesem Teppich von Sand, der in den Strahlen des elektrischen Lichts funkelte.

Doch als diese Arbeit fertig war, sagte Kapitän Nemo:

»Jetzt wollen wir wieder aufsteigen, Herr Professor. Man darf die ›Nautilus‹ nicht allzu lange solchem Druck aussetzen.«

»Jawohl«, erwiderte ich.

»Halten Sie sich fest.«

Ich hatte noch nicht Zeit zu begreifen, weshalb der Kapitän mir dieses empfahl, als ich zu Boden geworfen wurde.

Als auf ein Signal des Kapitäns die Schraube gehemmt, die Ebenen senkrecht gerichtet waren, fuhr die ›Nautilus‹, wie ein Ballon in die Lüfte steigt, mit blitzgleicher Schnelligkeit aufwärts. Sie durchschnitt die Wassermassen mit lautem Zischen. Es war unmöglich, irgendein Detail zu sehen. In 4 Minuten legte sie die 4

Lieue zurück, die sie von der Oberfläche des Ozeans entfernt war, fuhr wie ein fliegender Fisch darüber empor und fiel wieder herab, dass die Wogen zum Erstaunen hoch aufspritzten.

 


12. KAPITEL

Pottfische und Walfische

Während der Nacht des 13. zum 14. März fuhr die ›Nautilus‹ in seiner südlichen Richtung weiter. Ich dachte, auf der Höhe des Kap Horn werde sie dieses umfahren, um in dem Pazifik seine Rundreise um die Erde zu vollenden. Wollte sie zu dem Pol dringen, das wäre unsinnig gewesen. Ich fing an zu glauben, dass die Verwegenheiten des Kapitäns hinlänglich die Befürchtungen Ned Lands rechtfertigten.

Der Kanadier sprach seit einiger Zeit nicht mehr mit mir über seine Fluchtprojekte. Er war weniger mitteilsam, fast schweigsam geworden. Ich sah, wie die Fortdauer der Gefangenschaft auf ihm lastete. Ich fühlte, wie sich der Zorn in ihm steigerte. Wenn er mit dem Kapitän zusammentraf, funkelten seine Augen von einem düsteren Feuer, und ich fürchtete stets, das Ungestüm seines Charakters werde ihn zu einem Äußersten treiben.

Am 14. März kam er mit Conseil auf mein Zimmer. Ich fragte sie um die Ursache ihres Besuchs.

»Ich habe eine einfache Frage an Sie zu richten, mein Herr«, erwiderte der Kanadier.

»Reden Sie, Ned.«

»Wie viel Mann glauben Sie, dass sich an Bord der ›Nautilus‹ befinden?«

»Ich wüsste es nicht zu sagen, mein Freund.«

»Es scheint mir«, versetzte Ned Land, »sein Manövrieren erfordert keine große Mannschaft.«

»In der Tat«, erwiderte ich, »müssen in den Verhältnissen, worin er sich befindet, wohl zehn Mann höchstens dafür genügen.«

»Nun«, sagte der Kanadier, »weshalb sollten mehr vorhanden sein?«

»Weshalb?« entgegnete ich, und sah Ned Land, dessen Absichten leicht zu erraten waren, fest ins Angesicht.

»Weil«, sagte ich, »wenn meine Ahnungen mich nicht trügen, wenn ich die Existenz der ›Nautilus‹ recht verstehe, sie nicht bloß ein Schiff ist, sondern eine Zuflucht für diejenigen sein soll, die, wie sein Kommandant, alle Verbindungen mit der Erde abgeschnitten haben.«

»Vielleicht«, sagte Conseil; »aber am Ende kann die ›Nautilus‹

doch nur eine gewisse Anzahl Menschen fassen, und mein Herr könnte wohl schätzen, wie viele höchstens?«

»Wieso, Conseil?«

»Durch Berechnung. Da der Umfang des Schiffsraums meinem Herrn bekannt ist, folglich auch, wie viel Luft er fassen kann; da er ferner weiß, wie viel Luft jeder Mensch durch Einatmen verbraucht; und vergleicht er diese Resultate damit, dass die ›Nautilus‹ alle 24 Stunden auftauchen muss ...«

Ich ließ Conseil nicht seinen Satz ausreden, denn ich sah wohl, wo hinaus er damit wollte.

»Ich verstehe dich«, sagte ich; »aber diese Berechnung, obwohl leicht anzustellen, kann doch nur eine unbestimmte Ziffer ergeben.«

»Gleichviel«, versetzte Ned Land dringend.

»Die Rechnung ist folgende«, sagte ich. »Jeder Mensch verbraucht in einer Stunde den in 100 Liter Luft enthaltenen Sauerstoff, das macht in 24 Stunden so viel wie 2.400 Liter. Also muss man aufsuchen, wie vielmal 2.400 Liter Luft die ›Nautilus‹ fasst.«

»Ganz richtig«, sagte Conseil.

»Da nun die ›Nautilus‹ 1.500 Tonnen fasst, und die Tonne 1.000

Liter enthält, so muss die ›Nautilus‹ 1.500.000 Liter Luft fassen, die man mit 2.400 zu dividieren hat ...«

Ich rechnete rasch das Exempel mit dem Bleistift:

»... Das macht 625. Das will ebenso viel heißen, wie dass die ›Nau

tilus‹ streng genommen so viel Luft fasst, wie für 625 Mann während 24 Stunden erforderlich ist.«

»625«, wiederholte Ned.

»Aber seien Sie nur versichert«, fügte ich bei, »dass wir, Passagiere, Matrosen oder Offiziere, nicht ein Zehntel dieser Zahl ausmachen.«

»Gegen drei Mann ist dies zu viel!« brummte Conseil.

»Folglich, armer Ned, kann ich Ihnen nichts raten, als Geduld.«

»Und mehr noch Ergebung«, erwiderte Conseil.

»Trotzdem«, fuhr er fort, »kann der Kapitän nicht immerfort südwärts fahren! Er muss wohl einmal einhalten, sei es auch nur vor den Eisbergen, und muss in mehr kultivierte Meere zurückkehren! Dann wird es Zeit sein, Ned Lands Projekte wieder vorzunehmen!«

Der Kanadier schüttelte den Kopf, fuhr mit der Hand über seine Stirne und zog sich ohne zu antworten zurück.

»Erlaube mir, mein Herr«, sagte darauf Conseil, »etwas zu bemerken. Diesem armen Ned stehen seine Gedanken auf alles, was er nicht haben kann. Es kommt ihm alles aus seiner Vergangenheit.

Alles, was uns untersagt ist, darnach sehnt er sich. Seine früheren Erinnerungen überwältigten ihn, und sein Gemüt ist davon voll.

Man muss ihn begreifen. Was hat er hier zu tun? Nichts. Er ist nicht ein Gelehrter wie mein Herr und weiß den Wundern des Meeres keinen Geschmack abzugewinnen. Er würde alles daransetzen, um einmal eine Schenke seines Landes besuchen zu können!«

An ein tätiges Leben in Freiheit gewöhnt, musste der Kanadier die Einförmigkeit des Lebens an Bord unerträglich finden. Selten traten Ereignisse ein, die ihn mit Leidenschaft interessieren konnten. Doch begab sich damals ein Zwischenfall, der ihm seine frohen Tage als Harpunier in Erinnerung brachte.

Gegen 11 Uhr vormittags, als sich die ›Nautilus‹ auf der Meeresoberfläche befand, geriet sie mitten unter einen Trupp Walfische.

Diese Tiere flüchten nämlich, wenn sie aufs Äußerste verfolgt werden, in die höheren Breitengrade.

Der Walfisch hat in der Geschichte der Entdeckungen eine große Rolle gespielt. Er hat die Basken, die Asturier, Engländer und

Holländer gegen die Gefahren des Meeres gleichgültig gemacht, sodass sie bei seiner Verfolgung von einem Land zum anderen drangen. Sie sind vorzugsweise in den südlichen und nördlichen Meeren zu Hause.

Wir saßen bei ruhiger Flut auf der Plattform, und der Oktober hat unter jenen Breitengraden recht schöne Herbsttage. Der Kana

dier gewahrte in einer Entfernung von 5 Meilen einen Walfisch am östlichen Horizont.

»Ach!« rief Ned Land, »wäre ich an Bord eines Walfischfängers, das wäre mir eine Lust! Was für ein stattliches Tier das ist! Wie mächtig schleudert er die Wassersäulen empor! Tausend Teufel!

Dass ich auch an dies Stück Eisen gefesselt bin!«

»Wie? Ned«, erwiderte ich, »Sie haben immer noch Ihre alten Fischergedanken?«

»Mein Herr, kann ein Walfischfänger sein Handwerk vergessen?«

»In diesen Meeren, Ned, haben Sie nie gefischt?«

»Nein, mein Herr. Nur im Norden und in der Bering- wie in der Davisstraße.«

»So kennen Sie also den südlichen Walfisch noch nicht. Der nördliche, den Sie bisher gejagt haben, würde sich nicht in die warmen Gewässer des Äquators wagen.«

»Ah! Herr Professor, was sagen Sie mir da?« erwiderte der Kanadier etwas ungläubig.

»Ich sage, wie es wirklich ist.«

»Ich will Ihnen ein Beispiel sagen. Ich habe im Jahr ’65 in der Nähe von Grönland einen Walfisch aufgetrieben, dem steckte in der Seite eine Harpune mit dem Stempel eines Walfischjägers der Beringstraße. Nun frage ich Sie, wie ist es möglich gewesen, dass ein Tier, das im Westen von Amerika getroffen worden, im Osten erlegt wurde, wenn es nicht über den Äquator kam, sei es ums Kap Horn oder das Kap der Guten Hoffnung?«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Conseil, »und ich bin begierig, was mein Herr darauf antworten wird.«

»Ich habe darauf zu antworten, meine Freunde, dass die Walfische ihren Gattungen nach in gewissen Meeren einheimisch sind, die sie nicht verlassen. Wenn es nun der Fall ist, dass ein solches Tier aus der Bering- in die Davisstraße kam, so ist das ganz einfach ein Beweis, dass zwischen dem einen und dem anderen Meer eine Verbindung stattfindet, sei’s auf der amerikanischen oder asiatischen Küste.«

»Darf man das glauben?« fragte der Kanadier.

»Meinem Herrn muss man wohl glauben«, erwiderte Conseil.

»Weil ich also«, fuhr der Kanadier fort, »niemals in diesen Gegenden gefischt habe, kenne ich nicht die da hausenden Walfische?«

»Das ist meine Meinung, Ned.«

»Um so mehr Grund, ihre Bekanntschaft zu machen«, versetzte Conseil.

»Sehen Sie da! Sehen Sie!« rief der Kanadier mit bewegter Stimme. »Da kommt einer heran! Auf uns zu! Er verhöhnt mich!

Er weiß, dass ich nichts gegen ihn kann!«

Ned stampfte mit dem Fuß, ballte die Faust, als schwinge er seine Harpune.

»Sind diese Walfische ebenso groß«, fragte er, »als die im Norden?«

»Fast ebenso, Ned.«

»Denn ich habe sehr große Walfische gesehen, mein Herr, die waren bis 150 Fuß lang! Man hat mir sogar erzählt, der Hullamock und der Umgallick der Aleuteninseln seien mitunter noch größer.«

»Das scheint mir übertrieben«, erwiderte ich. »Die hiesigen, gleich den Pottfischen, sind im allgemeinen kleiner wie die nördlichen.«

»Ah!« rief der Kanadier, der unverwandt auf das Meer hin schaute, »er kommt näher, in den Bereich der ›Nautilus‹!«

Dann fuhr er fort: »Sie haben den Pottfisch ein kleines Tier genannt. Doch führt man Beispiele von riesenmäßiger Größe an. Sie sind gescheit. Mitunter, sagt man, bedecken sie sich mit Algen und Meergras. Man hält sie für Eilande, lässt sich darauf nieder, macht Feuer an ...«

»Man baut Häuser darauf«, sagt Conseil.

»Ja, Possenreißer«, erwiderte Ned Land. »Darauf, eines schönen Morgens taucht das Tier unter und nimmt alle seine Bewohner mit in die Tiefe.

»Ei! Meister Land, es scheint, Sie lieben solche Extra-Geschichten! Ich hoffe, Sie glauben nicht daran.«

»Herr Naturforscher«, erwiderte der Kanadier ernsthaft, »von

den Walfischen kann man alles glauben. – Man behauptet, sie könnten in 14 Tagen den Weg um die ganze Erde machen.«

»Ich widerspreche nicht«, sagte ich. – »Doch muss man daran glauben?«

»Nicht allzu viel«, erwiderte Ned Land; »ebenso wenig, als wenn ich sagte, es gäbe 300 Fuß lange Walfische.«

»Das ist allerdings etwas stark«, sagte ich.

So plauderten sie noch eine Weile von unglaublichen Dingen.

Aber Ned Land hörte nicht mehr zu. Der Walfisch kam näher.

»Ach!« rief er aus, »es ist nicht mehr ein Tier; es sind 10, 20, eine ganze Herde! Und nichts tun zu können!«

»Aber, Freund Ned«, sagte Conseil, »warum fragen Sie nicht Kapitän Nemo um Erlaubnis, eine Jagd zu machen?«

Conseil hatte noch nicht ausgesprochen, als Ned Land schon die Luke hinabeilte, den Kapitän aufzusuchen. Nach einer kleinen Weile erschienen sie beide wieder auf der Plattform.

Kapitän Nemo betrachtete die Truppe, die sich 1 Meile entfernt auf dem Wasser belustigte.

»Es sind Süd-Walfische«, sagte er. »Es wäre da für eine Flotte von Walfischfängern zu tun.«

»Nun, mein Herr, könnte ich nicht Jagd darauf machen, sei’s auch nur, um mein früheres Handwerk nicht zu vergessen?«

»Weshalb denn«, erwiderte Kapitän Nemo, »jagen, nur um zu vernichten? Wir brauchen an Bord keinen Tran.«

»Doch haben Sie mir im Roten Meer gestattet, den Dugong zu verfolgen.«

»Damals handelte sich’s darum, meiner Mannschaft frisches Fleisch zu verschaffen. Hier aber wäre es töten, nur um zu töten.

Ich weiß zwar, dass dies ein Vorrecht des Menschen ist, aber ich lasse so mörderischen Zeitvertreib nicht gelten. Wenn Ihr den südlichen Walfisch ebenso wie den nördlichen vernichtet, unschädliche und nützliche Geschöpfe, so ist das zu tadeln. So hat man bereits die ganze Baffinbay verödet, und so wird man eine Klasse nützlicher Tiere ausrotten. Lasst doch die armen Walfische in Ruhe, die an ihren natürlichen Feinden, den Pottfischen, Schwert- und Sägefischen schon genug haben.«

Man kann sich vorstellen, was der Kanadier bei dieser Morallektion für ein Gesicht machte. Solche Gründe waren bei einem Jäger weggeworfene Worte. Ned Land sah Kapitän Nemo ins Angesicht, verstand aber offenbar nicht, was er damit meinte. Doch hatte der Kapitän recht. Der barbarische und unüberlegte Eifer der Walfischjäger wird einmal diese Tierart vom Ozean vertilgen.

Ned Land pfiff halblaut seinen ›Yankee Doodle‹, steckte seine Hände in die Taschen und wendete uns den Rücken.

Indessen betrachtete Kapitän Nemo die Herde Walfische und sagte zu mir:

»Nicht ohne Grund habe ich gesagt, dass auch ohne den Menschen die Walfische Feinde genug haben. Es wird nicht lange dauern, so werden diese ihre harte Not bekommen. Sehen Sie, Herr Arronax, 8 Meilen unterm Wind diese schwärzlichen Punkte sich bewegen?«

»Ja, Kapitän«, erwiderte ich.

»Das sind Pottfische, fürchterliche Tiere, die ich mitunter in Scharen von 2- bis 300 getroffen habe! Diese, ein grausames, schädliches Gezücht, zu vernichten, ist wohl gerechtfertigt.«

Bei diesen Worten wendete sich der Kanadier lebhaft um.

»Nun denn, Kapitän«, sagte ich, »es ist noch Zeit, zugunsten der Walfische ...«

»Man braucht sich nicht der Gefahr auszusetzen, Herr Professor. Die ›Nautilus‹ wird schon allein mit diesen Pottfischen fertig werden. Ihr stählerner Schnabel kann wohl ebenso viel ausrichten wie Meister Lands Harpune.«

Der Kanadier zuckte keck die Achseln. Fische mit dem Schiffsschnabel angreifen, das wäre unerhört.

»Warten Sie nur, Herr Arronax«, sagte Kapitän Nemo. »Wir werden Ihnen eine Jagd zum besten geben, von der Sie noch keinen Begriff haben. Kein Mitleid mit diesem wilden Getier. Sie bestehen ja nur aus Maul und Zähnen!«

Maul und Zähne! Jawohl. Denn obwohl der Pottfisch mitunter 25 Meter groß ist, so nimmt sein enormer Kopf doch etwa den dritten Teil seines Körpers ein. Er ist besser bewehrt als der Walfisch, dessen Oberkiefer nur mit Barten besetzt ist, hat 25 starke, 20 Zen

timeter hohe, walzenförmige, zugespitzte, 2 Pfund schwere Zähne.

Im oberen Teil dieses enormen Kopfs und in großen, durch Knorpel gesonderten Höhlungen befinden sich 3- bis 400 Kilogramm des kostbaren Öls, das »Walrat« genannt wird. Der Pottfisch ist ein hässliches Tier von üblem Körperbau, sozusagen auf der ganzen linken Seite mangelhaft, sodass er auch nur mit dem rechten Auge sieht.

Inzwischen kam die Truppe Ungeheuer immer näher heran; sie hatten die Walfische bemerkt und bereiteten sich zum Angriff vor.

Man konnte den Sieg der Pottfische voraussehen, nicht allein weil ihr Körperteil ihnen den Vorteil über ihre Gegner gibt, sondern auch weil sie länger unter Wasser aushalten können, ohne auf der Oberfläche Luft schöpfen zu müssen.

Es war hohe Zeit, den Walfischen zu Hilfe zu kommen. Die

›Nautilus‹ tauchte ein wenig unter die Oberfläche. Conseil und Ned setzten sich neben mich vor die Fenster des Salons. Kapitän Nemo begab sich an die Seite des Steuerers, um sein Fahrzeug als wie eine Zerstörungsmaschine zu lenken. Bald wurden die Schläge der Schraube rascher, und unsere Schnelligkeit nahm zu.

Der Kampf zwischen den beiden Gegenparteien hatte schon begonnen, als die ›Nautilus‹ zur Stelle kam. Sie manövrierte dergestalt, dass sie die Angreifer abschnitt. Diese waren anfangs ziemlich gleichgültig, als sie sahen, wie sich das neue Ungeheuer einmischte.

Aber bald mussten sie seinen Stößen ausweichen.

Welch ein Kampf ! Ned Land frohlockte bald, und klatschte mit den Händen. Die ›Nautilus‹ kam ihm vor wie eine furchtbare Harpune, die sein Kapitän schleuderte. Er warf sich gegen die Fleischmassen und schnitt sie entzwei, sodass hinter ihm zwei gesonderte Hälften des Tieres zappelten. Die fürchterlichen Schläge seines Schwanzes, womit er ihn auf den Seiten traf, spürte er nicht; ebenso wenig seine Stöße. War ein Pottfisch vernichtet, so drang er auf einen anderen ein, wendete an der Stelle, dass er ihm nicht entgehe, schoss vorwärts oder zog sich zurück, nach der Weisung seines Steuerers, tauchte unter, wenn sein Gegner die Tiefe suchte, kam wieder mit ihm zur Oberfläche, traf ihn geradeaus oder schräg,

zerschnitt oder zerfleischte, und wohin er sich wendete und drehte, mit seinem fürchterlichen Schnabel ihn durchbohrend.

Welch Gemetzel! Welches Getöse auf der Oberfläche der Fluten! Welch scharfes Pfeifen und eigentümliches Schnarchen der von Entsetzen ergriffenen Tiere!

Eine ganze Stunde lang dauerte das Blutbad, dem die Großköpfe nicht entrinnen konnten. Einige Mal machten 10 bis 12 zusammen den Versuch, die ›Nautilus‹ durch ihre Masse zu zerdrücken. Man sah durchs Fenster ihren ungeheuren, mit Zähnen umzäunten Rachen, ihr fürchterliches Auge. Ned Land, der außer sich war, drohte ihnen, höhnte sie. Man fühlte, wie sie sich an unser Fahrzeug klammerten, wie Hunde, die einen Keiler packen. Aber die ›Nautilus‹, mit gesteigerter Kraft ihrer Schraube, schleuderte sie fort, schleppte sie nach und zog sie wieder auf die Oberfläche, ohne dass ihr enormes Gewicht oder ihr mächtiges Drücken ihr etwas anhaben konnte.

Endlich lichtete sich die Schar der Gegner; die aufgeregten Wogen wurden wieder ruhig. Ich fühlte, dass wir wieder zur Oberfläche kamen. Die Luke wurde geöffnet, und wir stürzten auf die Plattform.

Das Meer war mit verstümmelten Leichnamen bedeckt. Eine fürchterliche Explosion hätte nicht ärger zerrissen, zerschnitten, zerfetzt, wie hier mit diesen Massen geschehen war. Wir schwammen mitten durch die Riesenkörper mit bläulichem Rücken und weißlichem Bauch. Einige Pottfische flohen voll Entsetzen nach dem Horizont. Einige Meilen weit waren die Wogen rot gefärbt, und die ›Nautilus‹ schwamm durch ein Blutmeer.

Kapitän Nemo kam zu uns.

»Nun, Meister Land?« sagte er.

»Ei nun, mein Herr«, erwiderte der Kanadier, dessen Enthusiasmus sich gelegt hatte, »’s ist ein schrecklicher Anblick, wirklich.

Aber ich bin kein Metzger, sondern ein Jäger, und das ist eine Metzelei.«

»Es ist ein Vernichten schädlicher Tiere«, erwiderte der Kapitän,

»und meine ›Nautilus‹ ist kein Metzgerbeil.«

»Meine Harpune ist mir doch lieber«, versetzte der Kanadier.

»Jeder hat seine Waffe«, erwiderte der Kapitän und blickte Ned Land scharf ins Angesicht.

Ich fürchtete schon, dieser werde sich zu einer Gewalttat fortreißen lassen, die gefährliche Folgen haben könnte. Aber sein Zorn legte sich beim Anblick eines Walfisches, der den Zähnen der Pott

fische nicht hatte entrinnen können. Ich erkannte, den südlichen Walfisch, der ganz schwarz ist, mit plattem Kopf, und sich von dem weißen und dem Nordkaper anatomisch dadurch unterscheidet, dass die sieben Nackenwirbel zusammengelötet sind und er zwei Rippen mehr hat als die anderen derselben Gattung. Das Tier lag tot auf dem Rücken, den Bauch von Bissen durchbohrt; an einem Zipfel seiner Flossen hing ein Junges, das er nicht mehr hatte retten können.

Kapitän Nemo fuhr zu dem Leichnam heran. Zwei Matrosen stiegen auf den Leib des Tieres, und ich sah mit einigem Erstaunen, wie sie aus seinen Eutern alle Milch, die sie enthielten, herausmolken, im Gehalt von 2 bis 3 Tonnen.

Der Kapitän bot mir eine Tasse der noch warmen Milch an. Ich konnte mich nicht enthalten, meinen Ekel davor ihm zu erkennen zu geben. Er versicherte mich, die Milch sei vortrefflich und auch nicht im Mindesten von Kuhmilch verschieden.

Ich kostete sie und teilte seine Meinung. Das war für uns ein nützlicher Vorrat; denn diese Milch, in Form von Butter oder Käse, musste für unsere tägliche Kost eine angenehme Abwechselung abgeben.

Von diesem Tag an merkte ich mit Unruhe, dass Ned Lands Stimmung gegen Kapitän Nemo immer übler wurde, und entschloss mich, seine Handlungen und Gebärden strenge zu überwachen.

 


13. KAPITEL

Die Eisdecke

Die ›Nautilus‹ setzte ihre Fahrt unabänderlich südwärts längst dem 50. Meridian mit großer Geschwindigkeit fort. Wollte sie bis zum Pol dringen? Ich glaubte es nicht, denn bisher waren alle Bemühungen, bis dahin vorzudringen, gescheitert. Übrigens war die Jahreszeit bereits sehr vorwärts gerückt, denn der 13. März der Südpolarländer entspricht dem 13. September der nördlichen Regionen.

Am 14. März bemerkte ich unterm 55. Breitengrad Treibeis, blasse Blöcke von nur 20 bis 25 Fuß, gleich Klippen, woran sich die

Wellen brachen. Die ›Nautilus‹ hielt sich auf der Meeresoberfläche. Ned Land war schon vom Norden her mit Eisbergen bekannt; Conseil und ich, wir sahen sie zum ersten Mal.

Gegen den südlichen Horizont hin zeigte sich in der Atmosphäre ein blendend weißer Streifen. Ein solcher Schein, den auch das dichteste Gewölk nicht verdüstert, kündigt die Nähe einer Eisbank an.

In der Tat, bald zeigten sich bedeutend größere Blöcke, die je nach den Launen des Nebels in anderen Farben schimmerten.

Einige dieser Massen zeigten grüne Adern, als seien sie mit wellenförmigen Streifen schwefelsauren Kupfers überzogen. Andere glichen enormen Amethysten, indem sie dessen Strahlen, den Einwirkungen des Lichts ausgesetzt, teils auf ihre Kristallfacetten zurückwarfen, teils in lebhaftem Reflex zu Nuancen brachen.

Je mehr wir weiter nach Süden kamen, desto zahlreicher und bedeutender wurden diese schwimmenden Inseln. Polarvögel nisteten daran zu Tausenden.

Während dieser Fahrt zwischen den Eisblöcken befand sich Kapitän Nemo häufig auf der Plattform. Er beobachtete sorgfältig diese öden Gegenden. Manchmal belebte sich die kalte Ruhe seines Blicks; aber er sprach nicht, blieb schweigsam, unbeweglich, außer wenn die Lust zu manövrieren die Oberhand bekam; dann leitete er seine ›Nautilus‹ mit vollendeter Gewandtheit und wich geschickt dem Stoß dieser Massen aus, die mitunter einige Meilen lang waren und 70 bis 80 Meter hoch. Oft schien der Horizont völlig geschlossen. Unterm 60. Breitengrad hörte jedes Fahrwasser auf. Aber Kapitän Nemo fand bald eine enge Öffnung, durch die er kühn weiterdrang, obwohl er wusste, dass sie sich hinter ihm wieder schloss.

So fuhr die ›Nautilus‹, durch seine geschickte Hand geleitet, durch alle diese Eisberge, unendliche Eisflächen und schwimmende Treibeisblöcke.

Die Temperatur war ziemlich niedrig. Das Thermometer zeigte in der äußeren Luft 2 bis 3 Grad unter Null. Aber wir waren warm in Pelzwerk, Robben- oder Seebärenfelle gehüllt. Im Innern der

›Nautilus‹ war man durch regelmäßige Heizung mit dem elektrischen Apparat gegen die strengste Kälte geschützt. Auch brauchte sie nur einige Meter tief unter die Wellen zu tauchen, um da eine erträgliche Temperatur zu finden.

2 Monate früher hätten wir unter dieser Breite ununterbrochenen Tag getroffen; aber schon wurde es 3 bis 4 Stunden Nacht, und später sollten diese Polargegenden 6 Monate sich in Dunkel hüllen.

Am 15. März hatten wir die Breite der New-Shetland- und Süd-Orkney-Inseln hinter uns. Der Kapitän teilte mir mit, diese Striche seien ehemals von zahlreichen Robben bewohnt gewesen, aber die englischen und amerikanischen Walfischjäger hätten in Zerstörungswut durch Vernichtung der Erwachsenen samt den trächtigen Weibchen Todesstille an der Stelle regen Lebens verbreitet.

Am 16. März, um 8 Uhr früh, durchschnitt die ›Nautilus‹ längs dem 55. Meridian den südlichen Polarkreis. Nun waren wir von allen Seiten mit Eis umgeben, das den Horizont abschloss. Doch der Kapitän drang von Enge zu Enge immer weiter.

»Aber wohin fährt er denn?« fragte ich.

»Vorwärts«, erwiderte Conseil. »Doch, wenn er nicht mehr weiterkann, wird er haltmachen.«

»Darauf möchte ich nicht schwören«, erwiderte ich.

Und, offen gestanden, diese abenteuerliche Fahrt war mir nicht zuwider. Die Schönheiten dieser neuen Gegenden setzten mich über die Maßen in Erstaunen. Prachtvolle Gestaltungen, Lagen und Stellungen der Eisblöcke. Hier sahen sie aus wie eine orientalische Stadt mit zahllosen Minaretts und Moscheen; dort wie eine durch Erdbeben zerfallene Stadt. Ansichten, die in den schief fallenden Sonnenstrahlen unaufhörlich wechselten oder inmitten der Schneestürme sich in graue Nebel verloren. Dann allerwärts polterndes Zusammenstürzen hinpurzelnder Eisberge mit wechselnden Dekorationen wie in einem Diorama.

Wenn ein solcher Gleichgewichtsbruch stattfand, während die

›Nautilus‹ untergetaucht war, so pflanzte sich außerordentlich stark das Getöse unter Wasser fort, und durch den Sturz dieser Massen entstanden fürchterliche Wirbelbildungen bis in die tiefsten Wasserschichten hinab.

Oft, wenn ich keinen Ausweg sah, dachte ich, wir seien unabänderlich festgefahren; aber Kapitän Nemo entdeckte immer wieder neue Wege.

Am 16. März jedoch versperrte uns eine Eisdecke gänzlich die Bahn. Dies Hindernis konnte den Kapitän nicht aufhalten, der drang mit schrecklicher Gewalt auf so ein Eisfeld ein, und die

›Nautilus‹ zerspaltete wie ein Keil die zerbrechliche Masse, dass sie mit fürchterlichem Krachen auseinander wich. Lediglich die Treibkraft des Fahrzeugs bahnte ihm die Durchfahrt. Manchmal schoss es über die Eisdecke und zertrümmerte sie durch sein Gewicht.

Während dieser Tage wurden wir von ungestümen Windstößen heimgesucht. Mitunter war der Nebel so dicht, dass man nicht von einem Ende der ›Nautilus‹ zum andern sehen konnte. Der Schnee

fiel in dicken Lagen, die so hart waren, dass man sie mit dem Beil zerhauen musste. Obwohl nur 5 Grad unter Null, war doch die

›Nautilus‹ außen ganz mit Eis überdeckt.

Unter diesen Umständen stand das Barometer meist sehr niedrig, sank sogar bis 73° 5ʹ. Der Kompass war in seinen Angaben nicht mehr zuverlässig; die irre gewordene Nadel zeigte auf alle Richtungen, als man dem Südpol des Magnets nah kam, der nicht mit dem Südpol des Himmels zu verwechseln ist. Nach Hansten liegt dieser Pol in Wirklichkeit fast unter 70° Breite und 130° Länge und nach den Beobachtungen Duperreys unter 135° Länge und 70° 30ʹ

Breite. Man musste da den Kompass an verschiedenen Stellen des Schiffs anbringen, zahlreiche Beobachtungen anstellen und aus den verschiedenen Angaben das durchschnittliche Maß nehmen.

Endlich, am 18. März, sah sich die ›Nautilus‹ unabänderlich den Weg versperrt. Es waren nicht nur Blöcke und Eisfelder, die hemmten, sondern eine endlose, unverrückbare Schranke von aneinandergereihten Eisbergen.

»Die Eisdecke«, sagte der Kanadier zu mir.

Ich begriff, dass dies für Ned Land wie für alle früheren Seefahrer ein unüberwindliches Hindernis war. Als um Mittag die Sonne einen Augenblick zum Vorschein kam, konnte Kapitän Nemo eine ziemlich genaue Aufnahme machen, wonach wir uns unter 31° 30ʹ

Länge und 67° 69ʹ südlicher Breite befanden.

Von flüssiger Meeresoberfläche keine Spur mehr vor unseren Augen. Vor dem Schnabel der ›Nautilus‹ lag eine unendliche Ebene voll launisch durcheinandergewürfelter Blöcke von riesiger Größe; hier und da ragten Bergspitzen, schlanke Gipfel bis zu 200 Fuß hoch empor; weiter entfernt eine Reihe steiler Bergwände in graulicher Farbe, ungeheure Spiegel, welche die seltenen, halb im Nebel versenkten Sonnenstrahlen reflektierten. Über diese öde Natur breitete sich eine Stille, die kaum vom Flügelschlag der Sturmvögel oder Wasserscherer unterbrochen war. Rings alles gefroren, selbst die Töne.

So war denn die ›Nautilus‹ genötigt, mitten in den Eisfeldern ihre abenteuerliche Fahrt einzustellen.

»Mein Herr«, sagte da Ned Land, »wenn Ihr Kapitän noch weiter fahren wird?«

»Nun?«

»Dann ist’s sein Meisterstück.«

»Weshalb, Ned?«

»Weil über die Eisdecke niemand hinaus kann. Ihr Kapitän

vermag viel; aber, tausend Teufel! Über die Natur hinaus kann er nicht, und wo diese ihre Schranken gesteckt hat, muss er wohl haltmachen.«

»Wahrhaftig, Ned Land, und doch möchte ich gern wissen, was hinter dieser Eisdecke ist! Eine Eiswand, die reizt nur mehr meine Neugier!«

»Mein Herr hat recht«, sagte Conseil. »Die Bergwände sind nur da, um die Gelehrten zu höhnen.«

»Gut!« sagte der Kanadier. »Was es hinter dieser Eisdecke gibt, weiß man wohl.«

»Was denn?« fragte ich.

»Eis, nichts als Eis!«

»Sie, Ned, sind davon überzeugt«, versetzte ich, »aber ich bin es nicht. Darum möchte ich hin, um zu sehen.«

»Darauf, Herr Professor«, erwiderte der Kanadier, »werden Sie schon verzichten müssen. Sie sind bis an die Eisdecke gedrungen, das ist schon genug, und weiter hinaus werden Sie nicht kommen, und Ihr Kapitän Nemo mit seiner ›Nautilus‹ auch nicht. Er mag wollen oder nicht, er muss wieder zurück in den Norden.«

Ich muss zugeben, dass Ned Land recht hatte, und solange es nicht Schiffe gibt, die über die Eisfelder hinausfahren, müssen sie wohl vor der Eisdecke anhalten.

Wirklich, trotz aller Anstrengungen mit seinen mächtigen Mitteln, musste die ›Nautilus‹ stillliegen. Gewöhnlich muss, wer nicht weiter vorwärts kann, seines Weges wieder zurück. Aber hier war rückwärts ebenso wenig möglich wie vorwärts, denn die Durchwege hatten sich hinter uns wieder geschlossen, und unser Fahrzeug war im Begriff einzufrieren. Bis 2 Uhr mittags war dieses eingetreten, und das frische Eis bildete sich erstaunlich schnell um seine Seiten herum. Ich muss gestehen, der Kapitän war doch sehr unvorsichtig.

Ich befand mich eben auf der Plattform. Der Kapitän, der seit einer Weile die Lage untersuchte, sagte zu mir:

»Nun, Herr Professor, was halten Sie davon?«

»Ich denke, wir stecken fest, Kapitän.«

»Wir stecken fest! Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, wir können weder vor- noch rückwärts und auch nicht seitwärts.«

»Also, Herr Professor, Sie meinen, die ›Nautilus‹ könne sich nicht frei machen?«

»Schwerlich, Kapitän.«

»Herr Professor«, versetzte Kapitän Nemo ironisch, »Sie sind

doch immer derselbe! Sie sehen nur Hindernisse! Ich versichere Ihnen, dass die ›Nautilus‹ sich nicht allein frei machen, sondern noch weiter dringen wird!«

»Noch weiter südlich?« fragte ich den Kapitän.

»Ja, mein Herr, nach dem Pol.«

»Nach dem Pol!« rief ich aus, mit unwillkürlichem Ausdruck des Zweifels.

»Ja!« erwiderte der Kapitän kalt, »nach dem Südpol, dem unbekannten Punkt, wo alle Meridiane zusammenlaufen. Sie wissen, was ich mit der ›Nautilus‹ vermag.«

Ja! ich wusste es. Dass dieser Mann bis zur Verwegenheit kühn sei, war mir bekannt! Aber die Hindernisse zu überwinden, um bis zu dem Südpol zu dringen, der weit weniger zugänglich ist wie der Nordpol, zu dem die erfahrensten Seeleute noch nicht gelangen, schien doch ein durchaus wahnsinniger Gedanke zu sein!

Es fiel mir ein, Kapitän Nemo zu befragen, ob er den Pol bereits entdeckt habe.

»Nein, mein Herr«, erwiderte er, »wir wollen ihn miteinander entdecken. Ich bin mit meiner ›Nautilus‹ noch nie so weit nach Süden gedrungen; aber, sag’ ich nochmals, sie wird noch weiter dringen.«

»Ich glaub’s gern, Kapitän«, fuhr ich etwas ironisch fort. »Vorwärts denn! Für uns gibt’s keine Hindernisse! Zersprengen wir die Eisdecke, oder fahren wir darüber hinaus!«

»Darüber hinaus? Herr Professor«, erwiderte Kapitän Nemo ruhig. »Zwar nicht darüber hinaus, aber doch darunter her.«

»Darunter her!« rief ich aus.

Ich begriff den Kapitän. Die wunderbaren Eigenschaften der

›Nautilus‹ sollten auch zu diesem übermenschlichen Vorhaben dienen!

»Ich sehe, dass wir anfangen uns zu verstehen, Herr Professor«, sagte der Kapitän lächelnd. »Der ›Nautilus‹ wird leicht, was für gewöhnliche Fahrzeuge unausführbar ist. Ist der Pol von Festland umgeben, so wird sie bei diesem haltmachen; ist dort dagegen freies Meer, so wird er bis zu ihm selbst dringen!«

»In der Tat«, sagte ich, »besteht auch an der Oberfläche des Mee

res eine feste Eisdecke, so sind doch seine tieferen Schichten frei; denn je größer die Dichte des Meerwassers ist, desto höher steigt seine Temperatur über den Gefrierpunkt. Irre ich nicht, so verhält sich der unter dem Meeresspiegel befindliche Teil der Eisdecke zu dem darüber hervorragenden wie 4 zu 1?«

»Beinah, Herr Professor. Für jeden Fuß über der Meeresfläche haben die Eisberge 3 darunter. Da nun diese Eisberge nicht über 100 Meter hoch sind, so reichen sie nicht über 300 Meter in die Tiefe. Und 300 Meter, was will das heißen für die ›Nautilus‹?«

»Nichts, mein Herr.«

»Sie wird sogar in größerer Tiefe die gleichförmige Temperatur des Meerwassers aufsuchen können, wo wir getrost den 30 bis 40

Kältegraden der Oberfläche Trotz bieten können.«

»Richtig, mein Herr, sehr richtig«, erwiderte ich lebhaft.

»Die einzige Schwierigkeit«, fuhr Kapitän Nemo fort, »besteht darin, dass wir mehrere Tage unter Wasser bleiben müssen, ohne unseren Luftvorrat zu erneuern.«

»Sonst keine?« versetzte ich. »Füllen wir die großen Behälter der ›Nautilus‹, und sie werden uns mit allem nötigen Sauerstoff versehen.«

»Gut ausgedacht, Herr Arronax«, erwiderte der Kapitän lächelnd. »Aber damit Sie mich nicht der Verwegenheit beschuldigen, so lege ich Ihnen zum Voraus alle meine Einwände vor.«

»Haben Sie denn noch weitere zu machen?«

»Nur einen. Wenn der Südpol von Meer umgeben ist, so wäre der Fall möglich, dass es dort völlig festgefroren ist, und dann könnten wir folglich nicht wieder zur Oberfläche gelangen!«

»Wohl, mein Herr, denken Sie nicht daran, dass die ›Nautilus‹

mit einem fürchterlichen Schnabel bewehrt ist, mit dem wir in diagonaler Richtung die Decke der Eisfelder durchbohren und zertrümmern könnten?«

»Ah! Herr Professor, heute haben Sie Ideen!«

»Übrigens, Kapitän«, fuhr ich noch eifriger fort, »warum sollten wir nicht das Meer am Südpol frei finden, wie es am Nordpol ist?

Die Kältepole und die Erdpole fallen wohl in der südlichen Hemisphäre ebenso wenig zusammen wie in der nördlichen, und bis das

Gegenteil erwiesen wird, darf man an diesen Punkten annehmen, dass der Kontinent oder der Ozean eisfrei sein werde.«

»Das glaub’ ich auch, Herr Arronax«, erwiderte Kapitän Nemo.

»Ich will Ihnen nur die einzige Bemerkung machen, dass Sie, nachdem Sie so viele Einwände gegen mein Projekt hatten, nun mich durch Ihre Gründe überwältigen.«

Der Kapitän hatte recht. Ich übertraf ihn schon an Kühnheit!

Ich riss ihn fort zur Fahrt nach dem Pol!

Doch verlor er keinen Augenblick. Auf ein Signal erschien der Schiffslieutenant. Die beiden Männer besprachen sich rasch miteinander in ihrer unverständlichen Sprache, und der Lieutenant zeigte gar keine Überraschung, sei es, dass er schon vorher davon unterrichtet oder von der Ausführbarkeit überzeugt war.

Aber auf Conseil machte die Mitteilung des Planes, nach dem Südpol zu dringen, doch noch weniger Eindruck. »Wie es meinem Herrn gefällt«, sagte er, und ich durfte damit zufrieden sein. Der Kanadier aber zuckte gewaltig die Achseln.

»Sehen Sie, mein Herr«, sagte er, »Sie dauern mich, samt Ihrem Kapitän Nemo!«

»Aber doch werden wir zum Pol gelangen, Meister Land.«

»Möglich, aber zurück werden Sie nicht kommen!«

Und Ned Land begab sich wieder in seine Kabine, »um nicht ein Unglück anzurichten«, wie er beim Weggehen sagte.

Unterdessen begann man mit den Vorbereitungen zu dem kühnen Unternehmen. Die mächtigen Pumpen der ›Nautilus‹ füllten die Behälter mit Luft und pressten sie in hohem Grad zusammen.

Gegen 4 Uhr kündigte Kapitän Nemo mir an, dass die Luken zur Plattform geschlossen würden. Ich warf einen letzten Blick auf die Eisdecke. Das Wetter war hell, die Atmosphäre ziemlich rein, die Kälte strenge, 12 Grad unter Null; aber da der Wind sich gelegt hatte, schien diese Temperatur nicht zu unerträglich.

Zehn Mann hieben mit Beilen das Eis um die ›Nautilus‹ herum auf, eine Verrichtung, die rasch ausgeführt war, weil das jüngst gefrorene Eis noch dünn war. Die gewöhnlichen Behälter füllten sich mit dem nun frei gewordenen Wasser, und die ›Nautilus‹ tauchte unverzüglich unter.

Ich setzte mich nebst Conseil in den Salon, und wir betrachteten durch die freien Fenster die unteren Schichten es Süd-Ozeans.

Das Thermometer stieg, und der Zeiger des Manometers bewegte sich auf dem Zifferblatt.

Ungefähr 300 Meter, wie Kapitän Nemo bemerkt hatte, schwammen wir unter der wellenförmigen Eisdecke. Aber die ›Nautilus‹

tauchte noch tiefer, bis zu 800 Meter hinab. Die Temperatur des Wassers, die an der Oberfläche 12 Grad betragen hatte, sank schon um 1 Grad herab, bald schon um 2. Es versteht sich, dass in der

›Nautilus‹ die Temperatur durch die Heizung bedeutend höher war.

Alle seine Bewegungen vollzogen sich mit äußerster Genauigkeit.

»Man wird zum Ziel kommen, erlauben Sie, mein Herr«, sagte Conseil.

»Ich rechne sicher darauf !« erwiderte ich mit dem Ton völliger Überzeugung.

Die ›Nautilus‹ nahm unter Wasser, stets auf der Linie des 52.

Meridians, ihre Richtung direkt auf den Pol zu. Von 69° 30ʹ bis zu 90° waren noch 22° 30ʹ an Breite zu durchlaufen, d.h. etwas über 500 Lieue. Die ›Nautilus‹ fuhr mit einer mittleren Schnelligkeit von 26 Meilen in der Stunde, also der eines Eilzugs. Behielt sie die bei, so reichten 40 Stunden, um zum Pol zu gelangen.

Während eines Teils der Nacht hielt die Neuheit der Lage uns, Conseil und mich, am Fenster des Salons. Das Meer war von dem elektrischen Licht des Fanals beleuchtet. Aber es war leer. Die Fische hielten sich in diesen eingeschlossenen Gewässern nicht auf; sie dienten ihnen nur zum Übergang aus dem antarktischen Ozean zu dem freien Polarmeer. Wir fuhren reißend schnell, wie man aus den zitternden Bewegungen des stählernen Schiffskörpers abnahm.

Gegen 2 Uhr morgens legte ich mich einige Stunden zur Ruhe, und Conseil folgte meinem Beispiel. Kapitän Nemo befand sich wahrscheinlich beim Steuerer.

Am folgenden Morgen, dem 19. März, um 5 Uhr, nahm ich wieder meinen Posten im Salon. Das elektrische Log zeigte nur an, dass die Schnelligkeit der ›Nautilus‹ vermindert war. Sie stieg damals aufwärts, aber vorsichtig mit langsamer Entleerung ihrer Behälter.

Mir klopfte das Herz. Sollten wir schon zur freien Luft des Pols auftauchen?

Nein. Eine Erschütterung gab mir zu erkennen, dass die ›Nautilus‹ gegen die untere Fläche der Eisdecke gestoßen war, die, nach der Schwäche des Getöses zu urteilen, noch sehr dick war. Wir befanden uns in einer Tiefe von 1.000 Fuß. Das machte 2.000 Fuß Eis über uns, wovon 1.000 über dem Meeresspiegel. Die Eisdecke war damals dicker als zur Zeit, da wir oben waren.

Während dieses Tages wiederholte die ›Nautilus‹ einige Male dieses Experiment. Manchmal fand man, dass die Dicke 1.200 Meter betrug; das war noch das Doppelte der Höhe des Eises, wie sie zur Zeit des Untertauchens war. Ich notierte genau die verschiedenen Tiefen.

Am Abend war noch keine Änderung unserer Lage eingetreten.

Das Eis hatte stets eine Dicke von 4- bis 500 Meter.

Es war damals 8 Uhr. Bereits seit 4 Stunden hätte die Luft im Innern der ›Nautilus‹ erneuert werden sollen. Doch litt ich nicht sehr darunter, obwohl Kapitän Nemo seinen Vorrat von Sauerstoff in den Behältern noch nicht angerührt hatte.

Ich schlief doch unruhig während dieser Nacht: Furcht und Hoffnung hielten mich in steter Spannung. Ich stand einige Male auf; die Versuche der ›Nautilus‹ dauerten fort. Gegen 3 Uhr morgens beobachtete ich, dass die untere Fläche der Eisdecke nur noch 50 Meter tief lag, wir also nur noch 150 Fuß von der Oberfläche geschieden waren.

Meine Blicke wichen nicht vom Manometer. Wir fuhren immer in einer Diagonale aufwärts nach der Oberfläche, die im Widerschein der elektrischen Beleuchtung schimmerte. Die Eisdecke wurde immer dünner, nach oben und unten, von Meile zu Meile.

Endlich, um 6 Uhr früh, öffnete sich die Tür des Salons, und Kapitän Nemo trat ein.

»Das freie Meer!« sagte er.

 


14. KAPITEL

Der Südpol

Ich eilte auf die Plattform. Ja! Das freie Meer. Kaum einzelne zerstreute Eisblöcke, bewegliche Eisberge; in der Ferne eine weite Meeresfläche; eine Menge Vögel in den Lüften, und Myriaden Fi

sche in den Gewässern, die, je nach dem Grund, wechselnd tiefblau und olivengrün waren. Das Thermometer zeigte 3 Grad Celsius über Null. Es war verhältnismäßig gleichsam Frühling hinter dieser Eisdecke, deren ferne Massen am nördlichen Horizont sich abzeichneten.

»Sind wir am Pol?« fragte ich mit klopfendem Herzen den Kapitän.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er mir, »zu Mittag werden wir die Aufnahme machen.«

»Aber wird die Sonne durch diesen Nebel sichtbar werden?«

fragte ich mit einem Blick auf den grauen Himmel.

»Sowenig sie zum Vorschein kommt, genügt sie mir«, erwiderte der Kapitän.

10 Meilen südlich von der ›Nautilus‹ ragte ein vereinzeltes Eiland 200 Meter hoch. Wir fuhren darauf zu, aber vorsichtig, denn dieses Meer konnte mit verdeckten Klippen bedeckt sein.

Nach einer Stunde hatten wir das Eiland erreicht. 2 Stunden später waren wir darum herumgefahren. Es hatte 4 bis 5 Meilen Umfang, und war durch einen engen Kanal von einem ansehnlichen Land geschieden, das vielleicht ein Festland war, dessen Grenzen wir noch nicht wahrnehmen konnten. Das Dasein dieses Landes schien für die Hypothesen Maurys einen Beleg zu geben.

Der geistreiche Amerikaner hat die Bemerkung gemacht, dass zwischen dem Südpol und dem 60. Breitengrad das Meer mit treibenden Eisblöcken von enormer Größe bedeckt ist, wie man sie im Nordatlantik niemals trifft. Aus dieser Tatsache hat er den Schluss gezogen, dass der Südpolarkreis bedeutendes Festland enthalten müsse, weil die Eisberge sich nicht im hohen Meer bilden können, sondern nur an den Küsten. Seinen Berechnungen nach bildet die Eismasse, die den Südpol umgibt, eine große Kappe, die bis 4.000

Kilometer breit sein müsse.

Die ›Nautilus‹ hielt jedoch, um nicht festzufahren, 3 Kabellängen von einem flachen Sandufer an, über das eine prachtvolle Felsengruppe ragte. Das Boot wurde ins Meer hinabgelassen, und der Kapitän nebst zwei seiner Leute mit den Instrumenten, Conseil und mir, stiegen ein. Es war 10 Uhr vormittags. Ned Land sah ich

nicht, dem vermutlich der Augenschein des Südpollandes nicht angenehm war.

Mit einigen Ruderschlägen landete das Boot. Als eben Conseil herausspringen wollte, hielt ich ihn zurück.

»Mein Herr«, sagte ich zum Kapitän Nemo, »Ihnen gehört die Ehre, zuerst dieses Land zu betreten.«

»Ja, mein Herr«, erwiderte der Kapitän, »und ich eile, den Fuß auf diesen Boden des Südpols zu setzen, wo bis jetzt noch kein menschliches Wesen aufgetreten ist.«

Nach diesen Worten sprang er flink auf den Sand. In tiefer Rührung schlug ihm das Herz. Er stieg auf einen Felsen, der überhängend ein kleines Vorgebirge bildete, wo er mit gekreuzten Armen und glühendem Blick, stumm, unbeweglich verweilte. Er schien von diesem Südland Besitz zu nehmen. Nach 5 Minuten solcher Gemütserhebung wendete er sich zu uns und rief mir zu:

»Wenn es Ihnen beliebt, mein Herr.«

Ich stieg mit Conseil aus, die beiden Männer blieben im Boot.

Der Boden zeigte in weiter Ausdehnung einen Tuff von rötlicher Farbe, als bestehe er aus zerstampftem Ziegelstein. Von Schlacken, Lavarinnen, Bimssteinen bedeckt, ließ er seinen vulkanischen Ursprung nicht verkennen. An manchen Stellen bezeugten leichte Dünste von Schwefelgeruch, dass das innere Feuer noch fortdauernd tätig war. Doch sah ich von einer hohen Böschung aus im Umkreis von mehreren Meilen durchaus nichts von einem Vulkan.

Bekanntlich hat James Roß in dieser Südpolgegend unterm 167.

Meridian bei 77° 32ʹ Breite die Krater des Erebus und Terror in voller Tätigkeit angetroffen.

Die Vegetation dieses öden Kontinents schien mir äußerst beschränkt. Die magere Flora dieser Gegend bestand aus einigen Flechten auf den schwarzen Felsen, gewissen mikroskopischen Pflänzchen, eine Art Zellen in quarzartigen Muscheln, langem, purpur- und carmoisinfarbigem Seetang auf Schwimmbläschen.

Das Ufer war besät mit Mollusken, kleinen Muscheln aller Art, besonders von Clios mit länglichem, häutigem Leib, und einem aus zwei runden Lappen bestehenden Kopf. Ich sah auch Myriaden von den 3 Zentimeter langen, niedlichen Clios, von denen der Walfisch eine ganze Welt auf einmal verschlingt. Diese reizenden Flossenfüßler, wahre Seeschmetterlinge, belebten die freien Gewässer am Uferrand.

Von Zoophyten fanden sich da unter anderen in den höheren Schichten einige baumartige Korallengewächse, die in diesen Mee

ren bis zur Tiefe von 1.000 Meter fortkommen, und eine große Anzahl diesem Klima eigentümlicher Asterien und Seesterne.

Aber in der Luft war reiches Leben: Vögel verschiedener Gattungen flogen und flatterten da zu Tausenden und betäubten mit ihrem Geschrei. Andere bedeckten die Felsen, sahen uns ohne Schüchternheit an, und drängten sich vertraulich um uns; es waren Pinguine, die im Wasser ebenso flink und beweglich sind wie zu Lande unbeholfen und schwerfällig. Ferner bemerkte ich weiße Strandläufer mit kurzem Schnabel und einem roten Ring ums Auge; rußfarbige Albatros mit einer Flügelweite von 4 Meter; riesenhafte Sturmvögel, und eine Menge kleinerer dieser Gattung, teils blau, teils weißlich mit braun eingefassten Flügeln. Diese letzteren sind so ölhaltig, dass die Bewohner der Färoer-Inseln sie nur mit einem Docht versehen, um sie als Lampe zu gebrauchen.

Doch der Nebel stieg nicht auf, und um 11 Uhr war noch keine Sonne zu sehen. Dies beunruhigte mich; denn sonst war eine Beobachtung nicht möglich, und ohne diese ließ sich nicht feststellen, ob wir am Pol angekommen seien.

Als ich wieder zu Kapitän Nemo kam, fand ich ihn schweigend gegen einen Felsblock gelehnt und den Blick zum Himmel gerichtet. Er schien ungeduldig, missgestimmt. Aber was war da zu machen? Der kühne und mächtige Mann konnte der Sonne nicht so gebieten wie dem Meer.

Es kam der Mittag heran, ohne dass das Tagesgestirn einen Augenblick sichtbar wurde. Es ließ sich nicht einmal die Stelle erkennen, die es hinter dem Nebelvorhang einnahm. Bald löste sich der Nebel in Schnee auf.

»Auf morgen«, sagte nur der Kapitän zu mir, und wir begaben uns mitten im Schneegestöber zur ›Nautilus‹ zurück.

Während unserer Abwesenheit hatte man die Garne ausgesteckt, und ich betrachtete mit Interesse die Fische, die man an Bord gezogen hatte. Die Südpolarmeere dienen einer großen Anzahl von Wanderfischen zur Zuflucht, die aus den minder hohen Breitengraden entfliehen, um freilich den Meerschweinen und Robben unter die Zähne zu geraten.

Der Schneesturm dauerte bis zum folgenden Morgen. Auf der Plattform konnte man unmöglich bleiben. Vom Salon aus, wo ich die Begebenheiten dieses Ausfluges auf das Polarfestland notierte, vernahm ich das Geschrei der Sturmvögel und Albatrosse, die sich mitten im Unwetter ergötzten. Die ›Nautilus‹ lag nicht still; sie fuhr längs der Küste noch etwa 10 Meilen weiter nach Süden, umgeben von dem halben Licht, das die Sonne, indem sie am Rand des Horizonts streifte, hinter sich ließ.

Am folgenden Morgen, dem 20. März, hatte der Schneefall aufgehört. Die Kälte war etwas strenger, das Thermometer zeigte 2 Grad unter Null. Der Nebel stieg auf, und ich konnte hoffen, dass an diesem Tag unsere Beobachtung stattfinden könne.

Da Kapitän Nemo noch nicht erschienen war, so stieg ich mit Conseil in das Boot und setzte ans Land. Der Boden war von gleicher Beschaffenheit, vulkanisch: überall Spuren von Lava, Schlacken, Basalte, ohne dass man einen Krater sah, woraus sie hervorgegangen waren. Auch dieser Teil des Polarkontinents war von unzähligen Vögeln belebt. Aber sie teilten dieses Reich damals mit ungeheuren Herden von Seesäugetieren, die uns mit sanften Augen anblickten. Es waren Robben verschiedener Gattung, teils auf dem Boden gelagert, teils auf treibenden Eisblöcken; manche kamen aus dem Meer heraus oder gingen wieder hinein. Bei unserer Annäherung ergriffen sie nicht die Flucht, da sie noch nie mit Menschen zu tun gehabt hatten; und ich zählte ihrer so viele, dass man einige Schiffe damit hätte verproviantieren können.

»Wahrhaftig«, sagte Conseil, »es ist ein Glück, dass Ned Land nicht bei uns ist!«

»Warum, Conseil?«

»Weil der leidenschaftliche Jäger sie alle erlegt hätte.«

»Alle, das will viel heißen, aber ich glaube wirklich, dass wir unseren Freund, den Kanadier, nicht hätten abhalten können, einige dieser prächtigen Tiere zu harpunieren, und dies wäre Kapitän Nemo unlieb gewesen, da er nicht gern unnütz das Blut unschädlicher Tiere vergossen haben will.«

»Er hat recht.«

»Unstreitig, Conseil. Aber sag mir, hast du diese Prachtexemplare der Seefauna noch nicht klassifiziert?«

»Mein Herr weiß wohl«, erwiderte Conseil, »dass ich im Praktischen nicht sehr bewandert bin. Wenn ich ihre Namen weiß ...«

»Es sind Robben und Walrosse, deren verschiedene Arten wir, wenn ich nicht irre, hier zu beobachten Gelegenheit haben werden.

Machen wir uns auf den Weg.«

Es war 8 Uhr vormittags. Wir hatten noch 4 Stunden Zeit, bis die Sonne mit Vorteil beobachtet werden konnte. Ich lenkte unsere Schritte zu einer großen Bucht, die von den steilen Granitfelsen des Uferlandes gebildet wurde.

Da waren, ich kann wohl sagen in unabsehbarem Umkreis, die Landschaft und die Eisblöcke mit Seesäugetieren scharenweise bedeckt, sodass mein Blick unwillkürlich den alten Proteus suchte, der, wie die Sage will, Neptuns unzählbare Herden weidet.

Es waren vorzugsweise Robben, die gesonderte Gruppen bildeten, Männchen und Weibchen, der Vater seine Familie überwachend, die Mütter ihre Säuglinge stillend, einige halbwüchsige Junge in einiger Entfernung sich frei tummelnd. Wenn diese Robben von ihrer Stelle hinweg wollten, bewegten sie sich mit Zusammenziehung ihrer Leiber in kleinen Sprüngen, wobei ziemlich unbeholfen ihre mangelhaften Flossen sie unterstützten. Im Wasser jedoch, muss ich sagen, das vorzugsweise ihr Element ist, verstehen sich diese Tiere mit beweglichem Rückgrat, engem Becken, glattem, kurzhaarigem Fell und handförmigen Füßen vortrefflich aufs Schwimmen. Beim Ausruhen und auf dem Land nahmen sie äußerst graziöse Stellungen an. Daher haben auch die Alten, in Betracht ihrer sanften Züge, ihres ausdrucksvollen Blicks, der noch über den schönsten Frauenblick geht, ihrer samtartigen, klaren Augen, ihre reizenden Stellungen – dieselben, gemäß der ihnen eigentümlichen poetischen Anschauung, die Männchen in Tritonen, die Weibchen in Sirenen verwandelt.

Ich machte Conseil aufmerksam, wie bei diesen gescheiten Tieren das Gehirn bedeutend entwickelt ist. Kein Säugetier, ausgenommen der Mensch, hat eine reichlichere Gehirnmasse. Daher sind auch die Robben einer gewissen Erziehung fähig; sie lassen sich leicht zähmen, und ich bin mit einigen Naturforschern der

Meinung, dass sie, gehörig abgerichtet, bei der Fischerei wie Hunde zu gebrauchen sein würden.

Die meisten dieser Robben schliefen auf den Felsen oder dem Sande. Unter den eigentlichen Robben, die keine äußeren Ohren haben, beobachtete ich einige Varietäten, die 3 Meter lang, mit weißen Haaren und Bullenbeißerkopf, in jedem Kiefer zehn Zähne hatten. Zwischen ihnen sah man auch See-Elefanten, mit kurzem und beweglichem Rüssel, die Riesen der Gattung, 10 Meter lang, mit einem Umfang von 25 Fuß. Sie rührten sich nicht, als wir in die Nähe kamen.

»Es sind keine gefährlichen Tiere?« fragte Conseil.

»Nein«, erwiderte ich, »nur darf man sie nicht angreifen. Wenn ein Robbe sein Junges verteidigt, wird er furchtbar wütend, und nicht selten zertrümmert er ein Fischerboot.«

»Er ist dazu berechtigt«, versetzte Conseil.

»Ich widerspreche nicht.«

2 Meilen weiter waren wir durch ein Vorgebirge gehemmt, das die Bucht gegen die Südwinde schützte. Es fiel senkrecht ins Meer ab und schäumte beim Wellenschlag. Dahinter vernahm man fürchterliches Gebrüll, wie etwa von einer Herde Wiederkäuer.

»Schön«, sagte Conseil, »ein Konzert von Stieren?«

»Nein«, versetzte ich, »von Walrossen.«

»Sie sind im Kampf ?«

»Im Kampf oder beim Spiel.«

»Mit Erlaubnis, mein Herr, das müssen wir sehen.«

»Jawohl, Conseil.«

Wir überstiegen rasch die Felsen, indem wir über dem Glatteis der Steine häufig ausglitten. Manchmal fiel ich zu Boden, dass mich die Nieren schmerzten, Conseil, der vorsichtiger war oder fester auf den Füßen stand, wankte nicht und hob mich auf mit den Worten:

»Wenn mein Herr die Güte haben wollte, die Beine auseinanderzuspreizen, würde er besser das Gleichgewicht halten.«

Als wir auf dem höchsten Kamm des Vorgebirges ankamen, sahen wir auf eine ausgedehnte weiße Ebene, die mit Walrossen bedeckt war, die sich miteinander vergnügten. Es war Freudejauchzen, was wir gehört hatten.

Die Walrosse gleichen den Robben an Körperbildung und Anordnung der Gliedmaßen. Doch mangeln ihrem Unterkiefer die Hundezähne und Schneidezähne, und ihre oberen bestehen aus zwei 80 Zentimeter langen Hauern, die an der Wurzel einen Umfang von 33 Zentimeter haben. Diese Zähne, die aus gediegenem Elfenbein ohne Streifen bestehen, der härter wie das der Elefanten ist und nicht so leicht gelb wird, sind eine sehr gesuchte Ware. Daher macht man auch in unbesonnenster Weise Jagd auf die Walrosse, sodass sie bald völlig ausgetilgt sein werden; denn die Jäger, die jährlich etwa 4.000 erlegen, machen ohne Unterschied auch die trächtigen Weibchen und die Jungen nieder.

Als wir an den merkwürdigen Tieren vorbeikamen, konnte ich sie nach Muße betrachten, denn sie ließen sich nicht stören. Ihr Fell war dicht und runzelig, von heller ins Rote spielender Farbe, mit kurzen, nicht dichten Haaren. Manche waren 4 Meter lang. Ruhiger und weniger furchtsam als ihre Gattungsgenossen im Norden, stellen sie nicht zur Hut ihrer Lagerstätten Schildwachen aus.

Nach dieser Musterung dachte ich auf den Rückweg. Es war schon 11 Uhr, und wenn Kapitän Nemo sich in günstiger Lage zum Beobachten befand, wollte ich bei der Verrichtung zugegen sein.

Doch hatte ich keine Hoffnung, dass die Sonne an diesem Tag zum Vorschein kommen werde, da der mit gebrochenem Gewölk bedeckte Horizont sie unserem Anblick entzog.

Dennoch dachte ich an den Rückweg. Ein schmaler Anberg führte uns auf den Gipfel der Felswand. Um halb 12 langten wir an der Landungsstelle an. Das Boot hatte den Kapitän an Land gebracht. Er stand, von seinen Instrumenten umgeben, auf einem Basaltblock, den Blick unverwandt auf den Norden des Horizonts gerichtet, wo eben die Sonne ihre längliche Kurve beschrieb.

Ich stellte mich neben ihn und wartete still. Es kam die Mittagsstunde, und wie tags zuvor kam die Sonne nicht zum Vorschein.

Eine schlimme Sache. Es war noch die Beobachtung zu machen, um unsre Lage aufzunehmen. War dies morgen nicht ausführbar, so mussten wir definitiv darauf verzichten.

In der Tat, es war eben der 20. März, und morgen, am Äquinoktialtag, sollte die Sonne, abgerechnet die Strahlenbrechung, auf

6 Monate vom Horizont verschwinden und damit die lange Polarnacht beginnen. Seit dem Äquinoktium des September war sie am nördlichen Himmel aufgetaucht, um in langen Spirallinien bis zum 21. Dezember aufzusteigen. Von diesem Zeitpunkt der Sommersonnenwende des Nordens wieder hinabsteigend, sollte sie morgen ihre letzten Strahlen zusenden.

Ich teilte meine Besorgnisse Kapitän Nemo mit.

»Sie haben recht, Herr Arronax«, sagte er, »wenn ich morgen die Sonnenhöhe nicht aufnehme, kann ich vor Ablauf von 6 Monaten die Operation nicht wieder vornehmen. Aber auch, weil der Zufall mich auf meiner Fahrt gerade am 21. März in diese Meere geführt hat, werde ich die Aufnahme sehr leicht machen, wenn zu Mittag die Sonne sichtbar sein wird.«

»Warum, Kapitän?«

»Ich brauche dazu nur mein Chronometer anzuwenden«, erwiderte Kapitän Nemo. »Wenn morgen, am 21. März, um 12 Uhr mittags, die Sonnenscheibe, die Strahlenbrechung in Betracht gezogen, genau vom nördlichen Horizont durchschnitten wird, so bin ich am Südpol.«

»So ist’s wirklich«, sagte ich. »Doch ist die Behauptung nicht mathematisch genau zu nehmen, weil das Äquinoktium nicht notwendig auf 12 Uhr fällt.«

»Allerdings, mein Herr, aber der Irrtum wird keine 100 Meter betragen, und mehr bedürfen wir nicht. Auf morgen also.«

Kapitän Nemo kehrte an Bord zurück. Ich blieb mit Conseil bis 5 Uhr, und wir gingen die Küste auf und ab, mit Beobachten und Studien beschäftigt. Ich hob ein Pinguinei von merkwürdiger Größe auf, für das ein Liebhaber wohl 1.000 Franc gezahlt hätte.

Isabellenfarbig, mit Streifen und Zeichen gleich Hieroglyphen verziert, gab es ein seltenes Spielzeug ab. Ich übergab es den Händen Conseils, und der vorsichtige Junge, mit sicherem Tritt, hielt es wie kostbares chinesisches Porzellan und brachte es wohlbehalten zur ›Nautilus‹.

Hier legte ich das seltene Stück in einen Glaskasten des Museums. Ich verzehrte mit Appetit ein treffliches Stück Robbenleber, das fast wie Schweinefleisch schmeckte; und legte mich zu Bett.

Am folgenden Morgen, dem 21. März, stieg ich schon um 5 Uhr auf die Plattform, wo sich Kapitän Nemo bereits befand.

»Das Wetter heitert sich ein wenig auf«, sagte er zu mir. »Ich habe gute Hoffnung. Nach dem Frühstück wollen wir an Land gehen und eine gute Stelle für die Beobachtungen wählen.«

Ich war einverstanden und suchte Ned Land auf, um ihn mitzunehmen. Der Starrkopf weigerte sich, und ich sah wohl, dass seine Schweigsamkeit nebst seiner schlimmen Laune täglich zunahm.

Trotzdem hatte ich unter den gegebenen Umständen seinen Eigensinn nicht zu bedauern. Es waren so viele Robben an Land, und man durfte einen so unbesonnenen Jäger nicht der Versuchung aussetzen.

Als das Frühstück beendigt war, begab ich mich an Land. Die ›Nautilus‹ war während der Nacht noch einige Meilen höher hinaufgefahren. Sie befand sich auf hoher See, eine gute Meile von der Küste entfernt, die von einer spitzen, 500 Meter hohen Anhöhe beherrscht wurde. Auf dem Boot mit mir befanden sich Kapitän Nemo, zwei Leute der Bemannung und die Instrumente, nämlich ein Chronometer, ein Fernrohr und ein Barometer.

Während unserer Überfahrt sah ich zahlreiche Walfische von drei den südlichen Meeren eigentümlichen Arten. Sie belustigten sich truppweise in den ruhigen Gewässern, und man sah wohl, dass dieses Becken des Südpols gegenwärtig den allzu arg von den Jägern verfolgten Tieren dieser Art eine Zufluchtsstätte war. Sodann bemerkte ich lange weißliche Reihen Seescheiden, eine Art Mollusken, die in Gesellschaft zusammenleben, und stattliche Medusen, die zwischen den Wirbeln der Wellen schaukelten.

Um 9 Uhr landeten wir. Der Himmel klärte sich auf, die Wolken flohen nach dem Süden; die Nebel verließen die kalte Oberfläche der Gewässer. Kapitän Nemo ging auf die Anhöhe zu, die er wohl zu seinem Observatorium machen wollte. Das Hinaufsteigen über spitze Lavastücke und Bimssteine ist in einer häufig mit ausströmenden Schwefeldünsten durchdrungenen Luft beschwerlich.

Der Kapitän, der doch des Bergsteigens entwöhnt war, klimmte die steilsten Abhänge mit einer Leichtigkeit hinan, um die ein Gämsjäger ihn beneidet hätte.

Wir brauchten 2 Stunden, um auf den Gipfel der Anhöhe, die aus Porphyr und Basalt bestand, zu gelangen. Von hier aus blickten wir auf ein weites Meer, bis wo, das Himmelsgewölbe den Horizont begrenzte. Zu unseren Füßen blendende Schneefelder; über unserem Haupt blasses Blau, frei von Nebel. Im Norden erschien die Sonnenscheibe wie eine Feuerkugel, woraus die Linie des Ho

rizonts bereits einen Ausschnitt gemacht hatte. In der Ferne lag die

›Nautilus‹ wie ein schlafender Walfisch. Hinter uns, nach Süden und Osten, ein unermessliches Land, eine chaotische Häufung von Fels- und Eisblöcken in unabsehbarer Weite.

Als Kapitän Nemo auf dem Gipfel der Anhöhe ankam, nahm er vermittels des Barometers sorgfältig die Höhe auf.

Viertel vor 12 erschien die Sonne, die man damals nur durch Brechung des Lichts sah, wie eine goldene Scheibe, die ihre letzten Strahlen auf den verlassenen Kontinent warf.

Kapitän Nemo beobachtete durch ein mit einem Netz versehenes Fernrohr, das vermittels eines Spiegels die Strahlenbrechung korrigierte, das Gestirn, das in einer sehr langen Diagonale allmählich unter den Horizont hinabsank. Ich hielt das Chronometer mit klopfendem Herzen. Wenn das Verschwinden der hellen Sonnenscheibe mit 12 Uhr des Chronometers zusammentraf, so befanden wir uns am Pol.

»12 Uhr«, rief ich aus.

»Der Südpol«, erwiderte Kapitän Nemo mit ernster Stimme, indem er mich in das Fernrohr sehen ließ, das zeigte, wie das Tagesgestirn vom Horizont genau in zwei gleiche Teile geschnitten war.

Ich sah, wie die letzten Strahlen auf die Anhöhe fielen und das Dunkel allmählich sich ihren Abhang hinaufzog.

Darauf legte Kapitän Nemo seine Hand auf meine Schulter und sagte zu mir:

»Mein Herr, im Jahr 1600 erreichte der Holländer Gherrick, durch Stürme verschlagen, 64° südlicher Breite und entdeckte New-Shetland. Im Jahr 1773 kam der berühmte Cook längs dem 38. Meridian bis zu 67° 30ʹ und 1774 auf dem 109. Meridian bis 71° 15ʹ Breite. Im Jahr 1819 befand sich der Russe Bellinghausen auf dem 69., und 1821 auf dem 66. Parallelkreis unter 111° westlicher Länge. Im Jahr 1820 fuhr der Amerikaner Morrel, dessen Berichte zweifelhaft sind, auf dem 42. Meridian und entdeckte das freie Meer unter 70° 14ʹ Breite. Im Jahr 1825 konnte der Engländer Po well nicht über den 62. Grad. Im selben Jahr drang ein einfacher Robbenjäger, der Engländer Weddell, bis zum 72° 14ʹ der Breite auf dem 35. Meridian und bis zu 74° 15ʹ auf dem 36. Im Jahr 1829

nahm der Engländer Forster, Kommandant des Chanticleer, Besitz vom Südpolkontinent unter 63° 26ʹ Breite und 66° 26ʹ Länge.

Im Jahr 1831 entdeckte der Engländer Biscoë am 1. Februar das Land Enderby unter 68° 50ʹ Breite, 1832 den 5. Februar das Land Adelaide unter 67° Breite und am 21. Februar das Grahamland unter 64° 45ʹ Breite. Im Jahr 1838 musste der Franzose Dumont d’Urville vor der Eisdecke unter 62° 57ʹ Breite haltmachen, nahm jedoch das Land Louis-Philippe auf; 2 Jahre später unter 66° 30ʹ das Land Adelie und gleich darauf unter 64° 40ʹ die Küste Clane.

Im Jahr 1838 kam der Engländer Wilkes bis zum 69. Breitengrad auf dem 100. Meridian; 1839 entdeckte der Engländer Balleny das Land Sabrina an der Grenze des Polarkreises. Endlich entdeckte der Engländer James Roß mit dem Erebus und Terror unter 76° 56ʹ

Breite und 171° 7ʹ Länge das Land Victoria; sodann nahm er unter 74° Breite den höchsten damals erreichten Punkt auf; nachher kam er noch zu 76° 8ʹ; 77° 32ʹ und 78° 4ʹ; im Jahr 1842 kam er wieder, konnte aber nicht über den 71. Grad dringen. Nun aber habe ich, Kapitän Nemo, am 21. März 1868 den Südpol unterm 90. Grad erreicht, und ich nehme von diesem Teil des Erdkreises Besitz.«

»In wessen Namen, Kapitän?«

»In meinem eigenen, mein Herr!«

Und bei diesen Worten entfaltete Kapitän Nemo eine schwarze Flagge mit einem goldenen N.

Darauf zum Tagesgestirn gewendet, dessen letzte Strahlen den Horizont des Meeres berührten, rief er aus:

»Lebe wohl, Sonne, und lasse eine 6monatige Nacht ihre Schatten über mein neues Reich breiten!«

 


15. KAPITEL

Unfall oder Zwischenfall

Am folgenden Tag, dem 22. März, wurden um 6 Uhr früh die Vorbereitungen zur Abreise begonnen. Der letzte Dämmerschein zerfloss in Nacht. Es war streng kalt; die Sternbilder schimmerten in auffallend starkem Glanz. Im Zenit strahlte das wunderschöne Südkreuz, der Polarstern der antarktischen Gegenden.

Das Thermometer zeigte 12 Grad unter Null, und wenn frischer Wind wehte, verursachte er stechenden Schmerz. Die Eisblöcke vermehrten sich auf dem freien Wasser; das Meer fing an überall zu gefrieren. Zahlreiche schwärzliche Platten auf seiner Oberfläche kündigten die bevorstehende Bildung frischen Eises an. Offenbar war das südliche Becken, wenn es während der 6 Wintermonate gefroren war, durchaus unzugänglich. Was wurde aus den Walfischen während dieser Zeit? Ohne Zweifel zogen sie unter der Eisdecke in andere Meere, die mehr Verkehr gestatten. Die Robben und Walrosse, die in so strengem Klima zu leben gewohnt sind, blieben in den Eisgegenden. Diese Tiere werden durch Instinkt getrieben, Löcher in die Eisfelder zu bohren und sie beständig offenzuhalten, um daran Luft zu schöpfen. So sind denn, wenn auch die Vögel von der Kälte nach Norden wandern, diese Seesäugetiere die einzigen Herren des Polarkontinentes. Unterdessen waren die Wasserbehälter gefüllt worden, und die ›Nautilus‹ tauchte langsam hinab und machte in einer Tiefe von 1.000 Fuß halt. Ihre Schraube setzte sie in Bewegung, und sie fuhr genau nordwärts mit einer Geschwindigkeit von 15 Meilen pro Stunde. Gegen Abend schwamm sie bereits unter der unermesslichen Eisdecke.

Die Läden des Salons waren aus Vorsicht geschlossen worden, denn der Rumpf der ›Nautilus‹ konnte gegen einen versenkten Eisblock stoßen. Daher verbrachte ich diesen Tag damit, meine Notizen ins reine zu bringen. Mein Geist war ganz in die Erinnerungen an den Pol versenkt. Wir hatten diesen unzugänglichen Punkt ohne Beschwerden und Gefahr erreicht, als wenn unser schwimmender Waggon über die Schienen einer Eisenbahn glitt. Und jetzt begann die Rückkehr. Sollte sie mir noch ähnliche Überraschungen bereiten? Ich dachte es, da die Reihe der unterseeischen Wunder unerschöpflich ist! Indessen hatten wir seit den 5 Monaten, da uns der Zufall auf dieses Fahrzeug verschlagen, 14.000 Lieue zurückgelegt, und auf dieser Fahrt, die eine längere Linie enthielt als der Erdäquator, wie viel merkwürdige oder fürchterliche Zwischenfälle hatten unserer Reise Reiz verliehen, die Jagd auf Crespo, das Stranden in der Torresstraße, die Perlfischerei, der Korallenfriedhof, der arabische Tunnel, das Heben des Schatzes zu Vigo, die Atlantis, nun der Südpol! Während der Nacht beschäftigten alle diese Erinnerungen von Traum zu Traum meinen Geist und ließen ihn nicht einen Augenblick zur Ruhe kommen.

Um 3 Uhr früh wurde ich durch einen heftigen Stoß aufgerüttelt. Ich richtete mich auf und horchte in dem Dunkel, als ich mit einem heftigen Ruck mitten in das Zimmer geschleudert wurde.

Offenbar saß die ›Nautilus‹ fest und hatte sich auf die Seite gelegt.

Ich stützte mich seitwärts an die Wände und drückte mich durch die Gänge bis zu dem Salon, der vom Plafond herab erleuchtet war.

Die Möbel waren umgeworfen; glücklicherweise waren die unten fest gefügten Glaskästen in ihrer Lage geblieben. Die Gemälde der rechten Seitenwand hatten sich bei Veränderung der Vertikallinie fest an die Tapeten gelegt, während sie auf der linken unten um einen Fuß abstanden. Die ›Nautilus‹ hatte sich also rechts gelegt, und zwar vollständig unbeweglich.

Innen hörte ich Fußtritte, verwirrte Stimmen. Aber Kapitän Nemo erschien nicht. Im Moment, als ich den Salon zu verlassen im Begriff war, traten Ned Land und Conseil ein.

»Was fiel vor?« fragte ich sie gleich.

»Das wollten wir von meinem Herrn hören«, erwiderte Conseil.»Tausend Teufel!« rief der Kanadier, »ich weiß es wohl! Die

›Nautilus‹ sitzt fest, und nach der Lage zu urteilen, die sie angenommen hat, glaube ich nicht, dass sie sich wie das erste Mal in der Torresstraße herausziehen wird.«

»Aber doch«, fragte ich, »ist er wieder auf die Oberfläche gekommen?«

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Conseil.

»Wir können uns leicht darüber Gewissheit verschaffen«, erwiderte ich. Ich befragte das Manometer. Zu meiner großen Überraschung zeigte es eine Tiefe von 360 Metern.

»Was will das bedeuten?« rief ich aus.

»Man muß Kapitän Nemo fragen«, sagte Conseil.

»Aber wo ist er zu finden?« fragte Ned Land.

»Folgen Sie mir«, sagte ich zu meinen Gefährten.

Wir verließen den Salon. In der Bibliothek niemand. Auf der Mittelstiege, dem Posten der Mannschaft, niemand. Ich vermutete, Kapitän Nemo müsse sich im Gehäuse des Steuerers befinden. Das beste war abwarten. Wir gingen wieder in den Salon.

Die Verwünschungen des Kanadiers übergehe ich. Er konnte nun seinen ganzen Zorn auslassen.

Ich ließ ihn seiner üblen Laune ganz nach Belieben Luft machen, ohne etwas zu erwidern.

In dieser Lage befanden wir uns seit 20 Minuten, indem wir das geringste Geräusch im Innern der ›Nautilus‹ belauschten, als Kapitän Nemo eintrat. Er schien uns nicht zu sehen. Seine gewöhnlich so bewegungslose Physiognomie gab eine gewisse Unruhe zu erkennen. Er sah schweigend auf den Kompass, das Manometer und legte seinen Finger auf einen Punkt der Karte in der Gegend der Südmeere.

Ich mochte ihn nicht unterbrechen. Nur, als er nach einer kleinen Weile sich zu mir wendete, sagte ich, indem ich mich eines Ausdrucks, den er in der Torresstraße gebraucht hatte, bediente:

»Ein Zwischenfall, Kapitän?«

»Nein, mein Herr«, erwiderte er, »dieses Mal ein Unfall.«

»Von ernstlicher Bedeutung?«

»Vielleicht.«

»Ist die Gefahr dringend?«

»Nein.«

»Die ›Nautilus‹ sitzt fest?«

»Ja.«

»Und woran liegt die Schuld?«

»In einer Laune der Natur, nicht in der Unerfahrenheit der Menschen. Bei unseren Manövern ist kein Versehen vorgekommen. Doch die Wirkung der Gleichgewichtsgesetze lässt sich nicht hemmen. Man kann wohl menschlichen Gesetzen Trotz bieten, aber nicht den Naturgesetzen sich widersetzen.«

Diese Antwort gab mir keine Auskunft.

»Darf ich wissen, mein Herr«, fragte ich ihn, »was diesen Unfall veranlasst hat?«

»Ein ungeheurer Eisblock, ein ganzer Berg, hat sich umgewendet«, erwiderte er. »Wenn die Eisberge durch wärmeres Wasser oder wiederholte Stöße an ihrer Basis untergraben sind, verändert sich ihr Schwerpunkt. Dann wendet sich die ganze Masse, sie stürzen um. Dieser Fall ist eingetreten. Ein solcher Eisblock ist beim Umstürzen gegen die unter Wasser schwimmende ›Nautilus‹ gefallen. Dann glitt er darunter, hob sie mit unwiderstehlicher Gewalt in die Höhe und brachte sie in weniger dichte Schichten, wo sie jetzt auf der Seite festliegt.«

»Aber kann man die ›Nautilus‹ nicht durch Entleeren ihrer Behälter freimachen, sodass sie wieder ins Gleichgewicht kommt.«

»Das geschieht in diesem Augenblick, mein Herr. Sie können hören, wie die Pumpen arbeiten. Sehen Sie auf den Zeiger des Manometers. Er zeigt an, dass die ›Nautilus‹ im Steigen begriffen ist, aber der Eisblock steigt zugleich mit ihr, und bis dass ein Hindernis ihre steigende Bewegung hemmt, bleibt unsere Lage unverändert.«

In der Tat, die ›Nautilus‹ lag fortwährend auf der rechten Seite.

Ohne Zweifel würde sie sich aufrichten, wenn der Block selbst festläge. Aber in diesem Augenblick, wer weiß, ob wir nicht an die Eisdecke oben anstoßen, ob wir nicht schrecklich zwischen die beiden Eisoberflächen gedrängt wurden?

Ich überdachte alle Konsequenzen dieser Lage. Kapitän Nemo beobachtete unablässig das Manometer. Die ›Nautilus‹ war seit dem Herabsturz des Eisbergs um etwa 150 Fuß gestiegen, aber sie blieb stets in demselben Winkel zur senkrechten Linie.

Plötzlich spürte man im Schiffsraum eine leichte Bewegung. Offenbar richtete sich die ›Nautilus‹ ein wenig auf. Die hängenden Gegenstände nahmen allmählich wieder ihre richtige Lage ein. Die Wände wurden fast wieder senkrecht. Keiner von uns sprach nur ein Wort. Mit unruhigem Gemüt beobachteten, spürten wir das Wiederaufrichten. Der Fußboden wurde wieder waagrecht.

»Endlich sind wir aufrecht!« rief ich aus.

»Ja«, sagte Kapitän Nemo und ging nach der Tür des Salons zu.

»Aber werden wir wieder flott?« fragte ich.

»Zuverlässig«, erwiderte er, »da die Behälter noch nicht leer

sind; und sind sie leer, so muss die ›Nautilus‹ wieder zur Meeresoberfläche aufsteigen.«

Der Kapitän ging hinaus, und ich sah bald, dass man auf seinen Befehl die aufsteigende Bewegung der ›Nautilus‹ gehemmt hatte.

Wirklich würde sie bald gegen die untere Seite der Eisdecke gestoßen sein, und es war besser, sie etwas tiefer sich bewegen zu lassen.

»Wir sind gut davongekommen!« sagte darauf Conseil.

»Ja, wir konnten zwischen diesen Eisblöcken erdrückt oder wenigstens eingesperrt werden. Und dann, Luftmangel ... Ja! wir sind gut durchgekommen!«

»Wenn jetzt alles zu Ende ist!« brummte Ned Land.

Ich wollte mich nicht mit dem Kanadier in eine unnütze Erörterung einlassen und gab ihm keine Antwort. Übrigens öffneten sich in diesem Augenblick die Läden, und durch das freie Glas drang das äußere Licht ein.

Wir befanden uns, wie gesagt, im freien Wasser; aber in einer Entfernung von 10 Meter ragte auf beiden Seiten der ›Nautilus‹

eine glänzende Eiswand. Über und unter uns eine gleiche Wand.

Über uns, weil die untere Seite der Eisdecke gleichsam einen ungeheuren Plafond bildete. Unter uns, weil der herabgestürzte Block, indem er allmählich hinabrutschte, an den Seitenwänden auf zwei Stützpunkte gestoßen war, die ihn in dieser Lage festhielten. Die

›Nautilus‹ war in einem wahrhaften Eistunnel eingesperrt. Es war ihr jedoch leicht, durch Vorwärts- oder Rückwärtsfahren daraus herauszukommen, um dann einige Hundert Meter tiefer freie Bahn unter der Eisdecke zu finden.

Die Leuchte am Plafond war erloschen, und dennoch war der Salon von starkem Licht zum Blenden erhellt, weil die Lichtströme des Fanals von den Eiswänden in großer Stärke zurückgestrahlt wurden. Unbeschreiblich war die Wirkung der voltaischen Strahlen auf die großen launenhaft gestalteten Eisblöcke mit ihren verschiedenen Winkeln, Spitzen, kleinen Flächen, die jede nach Beschaffenheit ihrer Adern ein verschiedenes Licht zurückwarfen, eine unerschöpfliche Mine von Edelgestein, besonders von Saphir,

der seine blauen Strahlen mit den grünen des Smaragds durchkreuzte.

»Wie herrlich schön! Wie schön!« rief Conseil aus.

»Ja!« sagte ich, »’s ist ein wundervoller Anblick. Nicht wahr, Ned?«

»Ei, Tausend Teufel! ja« erwiderte Ned Land. »Prachtvoll! Ich bin entrüstet, dass ich nicht nein sagen kann. So etwas hat man noch nie gesehen. Aber dieser Anblick kann uns teuer zu stehen kommen. Und, offen gestanden es kommt mir vor, als sähen wir hier Dinge, die Gott den Blicken der Menschen hat entziehen wollen!«

Ned hatte recht. Es war allzu schön. Plötzlich schrie Conseil laut auf; ich drehte mich um.

»Was gibt’s?« fragte ich.

»Schließe mein Herr seine Augen! Schaue nicht!«

Bei diesen Worten hielt Conseil seine Hände auf beide Augen.

»Was ist dir, lieber Junge?«

»Ich bin geblendet, blind!«

Meine Blicke richteten sich unwillkürlich nach dem Fenster, aber ich konnte das entgegenstrahlende Feuer nicht aushalten.

Ich verstand, was vorgegangen war. Die ›Nautilus‹ hatte sich mit größter Schnelligkeit in Bewegung gesetzt. Aller ruhige Glanz der Eiswände hatte sich dadurch in blitzende Strahlen verwandelt, und es war, als fahre die ›Nautilus‹ durch eine Scheide von Blitzen.

Darauf schlossen sich die Läden des Salons wieder.

Wir hielten unsere Hände vor die Augen, die ganz von dem konzentrischen Lichtschein durchdrungen waren, der vor der Netzhaut flimmert, wenn sie von den Sonnenstrahlen allzu stark getroffen wird. Es bedurfte einiger Zeit, um die Unruhe unseres Blicks zu beruhigen.

Endlich ließen wir die Hände wieder herabsinken.

»Meiner Treu, das hätte ich niemals geglaubt«, sagte Conseil.

»Und ich glaube es noch nicht!« entgegnete der Kanadier.

»Wenn wir wieder auf die Erde kommen werden«, fügte Conseil bei, »überreizt von so vielen Naturwundern, was werden wir dann von dem armseligen Festland denken und von den kleinen, aus der Menschenhand herrührenden Werken! Nein! Die bewohnte Welt ist unser nicht mehr würdig!«

Solche Worte im Mund eines phlegmatischen Flamen zeigten, bis zu welchem Höhepunkt der Wallung unser Enthusiasmus gestiegen war. Aber der Kanadier ermangelte nicht, ein Tröpfchen kaltes Wasser hineinzugießen.

»Die bewohnte Welt!« sagte er mit Kopfschütteln. »Seien Sie nur ruhig, Freund Conseil, wir werden nie dahin zurückkehren!«

Es war damals 5 Uhr früh. In diesem Augenblick spürten wir, dass die ›Nautilus‹ mit dem Vorderteil gegen etwas stieß. Ich dachte mir, dass ihr Schnabel gegen einen Eisblock gefahren sei. Dies musste ein falsches Manöver sein, denn der unterseeische, von Blöcken versperrte Tunnel bot nicht eine leichte Fahrt. Also meinte ich, Kapitän Nemo werde, den Weg ändernd, diese Hindernisse umfahren oder den Krümmungen des Tunnels folgen. Jedenfalls konnte die Fahrt vorwärts nicht gänzlich gehemmt sein. Doch nahm die ›Nautilus‹, gegen meine Erwartung, eine entschiedene Rückwärtsbewegung vor.

»Wir fahren rückwärts?« sagte Conseil.

»Ja«, antwortete ich. »Der Tunnel muss nach dieser Seite hin ohne Ausgang sein.«

»Und dann?...«

»Dann«, sagte ich, »ist das Verfahren sehr einfach. Wir fahren den Weg, den wir kamen, zurück, um an der südlichen Mündung herauszukommen. Das ist alles.«

Mit diesen Worten wollte ich mehr Beruhigung zu erkennen geben, als ich wirklich hatte. Indessen wurde die Rückwärtsbewegung der ›Nautilus‹ rascher und brachte uns mit großer Schnelligkeit weiter.

»Das wird nur eine Verzögerung sein«, sagte Ned Land.

»Was liegt daran, einige Stunden früher oder später, wenn wir nur herauskommen.«

»Ja«, wiederholte Ned Land, »wenn wir nur herauskommen!«

Ich ging auf einige Augenblicke aus dem Salon in die Bibliothek.

Meine Gefährten blieben schweigend sitzen. Ich warf mich bald

auf einen Diwan und nahm ein Buch in die Hand, das meine Augen mechanisch durchliefen.

Nach einer Viertelstunde trat Conseil zu mir heran und sagte:

»Ist es ein interessantes Buch, worin Sie lesen?«

»Sehr interessant«, erwiderte ich.

»Das glaube ich. Es ist meines Herrn eigenes Werk!«

»Mein Werk?«

Wirklich hatte ich mein eigenes Werk: »Über die großen Meerestiefen« in der Hand, was ich gar nicht vermutet hatte. Ich machte das Buch zu und setzte meinen Spaziergang fort. Ned und Conseil standen auf, um sich zurückzuziehen.

»Bleiben Sie, meine Freunde«, sagte ich, »indem ich sie zurückhielt. Bleiben wir beisammen, bis wir aus der Sackgasse wieder heraus sind.«

»Wie es meinem Herrn beliebt«, erwiderte Conseil.

Es verflossen wieder einige Stunden. Ich sah häufig auf die an der Wand des Salons hängenden Instrumente. Das Manometer zeigte, dass die ›Nautilus‹ sich standhaft in einer Tiefe von 300 Meter hielt; der Kompass, dass sie immer südwärts fuhr; das Log, dass sie 20 Meilen in der Stunde fuhr, was in einem so engen Raum etwas Außerordentliches war. Aber Kapitän Nemo wusste, dass er nicht genug eilen konnte und dass damals die Minuten Jahrhunderte galten.

Um 8 Uhr 25 spürten wir einen abermaligen Stoß; diesmal am Hinterteil. Ich erbleichte. Meine Gefährten waren zu mir getreten.

Ich erfasste Conseils Hand. Wir fragten uns mit Blicken, und zwar direkter, als Worte unsere Gedanken ausgedrückt hätten.

In dem Augenblick trat der Kapitän in den Salon. Ich ging auf ihn zu.

»Der Weg ist auch im Süden versperrt?« fragte ich.

»Ja, mein Herr. Der Eisberg hat mit einer Wendung jeden Ausgang abgeschnitten.«

»Wir sind abgesperrt?«

»Ja.«

 


16. KAPITEL

Luftmangel

Also befanden wir uns in einem Kerker, über und unter uns und ringsum undurchdringliche Eiswände. Der Kanadier schlug fürchterlich mit der Faust auf den Tisch. Conseil schwieg. Ich sah dem Kapitän ins Angesicht; seine Züge waren, wie gewöhnlich, rührungslos. Er kreuzte die Arme, sann nach. Die ›Nautilus‹ war unbeweglich.

Der Kapitän ergriff das Wort:

»Meine Herren«, sagte er in ruhigem Ton, »in unserer jetzigen Lage gibt es zwei Arten zu sterben.«

Der unbegreifliche Mann sprach wie ein Professor der Mathematik, der einen Satz demonstriert.

»Erstens«, fuhr er fort, »den Tod des Erdrückens und zweitens den des Erstickens. Vom Hungertod rede ich nicht, denn unsere Lebensmittel reichen gewiss weiter aus als unser Leben.«

»Ein Ersticken, Kapitän«, erwiderte ich, »ist doch wohl nicht zu besorgen, denn unsere Behälter sind gefüllt.«

»Richtig«, versetzte Kapitän Nemo, »aber sie liefern nur noch für 2 Tage unseren Bedarf an Luft. Bereits sind wir 36 Stunden unter Wasser, und die schwüle Atmosphäre der ›Nautilus‹ bedarf der Erneuerung, binnen 48 Stunden wird unser Vorrat zu Ende sein.«

»Nun, Kapitän, so müssen wir uns vor Ablauf von 48 Stunden frei machen!«

»Wenigstens wollen wir einen Versuch machen, die uns umgebende Wand zu durchbrechen.«

»Auf welcher Seite?« fragte ich.

»Das müssen wir erst durch Sondieren erfahren. Ich will die

›Nautilus‹ auf die innere Bank aufsitzen lassen, und meine Leute werden in ihren Skaphandern die Eishülle an der mindest dicken Stelle durchhauen.«

»Kann man die Läden des Salons öffnen?«

»Ohne Nachteil. Wir sind nicht mehr in Bewegung.«

Der Kapitän ging hinaus. Bald gab ein Rauschen zu erkennen,

dass das Wasser in die Behälter strömte. Die ›Nautilus‹ senkte sich langsam und saß auf dem Eisgrund in einer Tiefe von 350 Metern.

»Meine Freunde«, sagte ich, »unsere Lage ist ernst, aber ich zähle auf Ihren Mut und Ihre Energie.«

»Mein Herr«, erwiderte der Kanadier, »jetzt ist es nicht Zeit zu Beschuldigungen. Ich werde alles tun für das allgemeine Beste.«

»Gut, Ned«, sagte ich, »und reichte dem Kanadier die Hand.

»Ich verstehe«, fuhr er fort, »die Hacke so gut zu führen wie die Harpune, und wenn ich nützlich sein kann, stehe ich dem Kapitän zu Diensten.«

»Er wird Ihren Beistand nicht ablehnen. Kommen Sie, Ned.«

Ich führte den Kanadier in die Kammer, wo die Leute der ›Nautilus‹ ihre Skaphander anlegten. Ich teilte dem Kapitän Neds Anerbieten mit, und es wurde angenommen.

Der Kanadier legte seine Meerkleidung an und war augenblicklich zur Arbeit bereit. Jeder von ihnen trug auf dem Rücken seinen Rouquayrolapparat, der aus den Behältern reichlich mit reiner Luft gefüllt war.

Es war das ein ansehnliches, aber notwendiges Darlehen. Die Ruhmkorffschen Leuchten waren nicht nötig, weil das Wasser genug erhellt war.

Als Ned angekleidet war, begab ich mich in den Salon zurück, nahm mit Conseil Platz vor den Fenstern, deren Läden geöffnet wurden, und besah die umgebenden Schichten, worauf die ›Nautilus‹ ruhte.

Gleich darauf sahen wir ein Dutzend Mann auf der Eisbank sich aufstellen, unter ihnen Ned, der durch seinen hohen Wuchs kenntlich war. Kapitän Nemo befand sich auch bei ihnen.

Bevor man zum Durchhauen schritt, musste man sondieren, um gewiss zu sein, wo die Arbeiten am besten vorzunehmen waren.

Lange Sonden wurden an den Seitenwänden hinabgelassen; aber bei 15 Meter wurden sie noch durch die dicke Wand aufgehalten.

Nach unten waren wir 10 Meter vom Wasser geschieden; so dick war dieses Eisfeld. Demnach handelte sich’s darum, ein Stück von der Größe der ›Nautilus‹ an seiner Wasserlinie auszuhauen. Es be

trug ungefähr 6.500 Kubikmeter für ein Loch, wodurch wir unter das Eis gelangen konnten.

Die Arbeit wurde unverzüglich in Angriff genommen und mit unermüdlicher Ausdauer gefördert. Der Kapitän ließ auf der linken Seite der ›Nautilus‹ 8 Meter weit eine Grube abstecken. Darauf bohrten seine Leute an verschiedenen Punkten ihres Umfangs zu

gleicher Zeit sie an. Bald griff die Hacke diese feste Masse kräftig an, und große Blöcke wurden abgelöst.

Die spezifische Schwere ergab den merkwürdigen Erfolg, dass diese Blöcke, weil sie leichter als das Wasser waren, zur Decke des Tunnels sozusagen emporflogen, sodass diese um so viel an Dicke zunahm, als der Boden dünner wurde.

Nach 2 Stunden rüstiger Arbeit kehrte Ned Land erschöpft zurück und wurde von frischen Arbeitern abgelöst, zu denen wir, Conseil und ich, uns gesellten. Der Schiffslieutenant der ›Nautilus‹

leitete uns an.

Das Wasser kam mir ausnehmend kalt vor, aber ich wurde bald durch Schwingen der Hacke warm. Meine Bewegungen, obwohl unter einem Druck von 30 Atmosphären, waren sehr frei.

Als ich nach 2stündiger Arbeit zurückkehrte, um auszuruhen und einige Nahrung zu mir zu nehmen, fand ich einen bedeutenden Unterschied zwischen dem reinen Stoff, den mir der Rouquayrolapparat zuführte, und der Atmosphäre der ›Nautilus‹, die schon voll Kohlensäure war. Die Luft war seit 48 Stunden nicht erneuert worden, und ihre belebenden Eigenschaften waren beträchtlich schwächer. Doch hatten wir nach Verlauf von 12 Stunden nicht mehr als eine Schicht von der Dicke eines Meters weggeschafft, das machte etwa 600 Kubikmeter. Nahmen wir an, dass in den folgenden 12 Stunden das gleiche geleistet wurde, so bedurfte es noch 5 Nächte und 4 Tage, um das Unternehmen zum Ziel zu führen.

»5 Nächte und 4 Tage!« sagte ich zu meinen Gefährten, und wir haben nur noch für 2 Tage Luft in den Behältern.«

»Ohne zu rechnen«, versetzte Ned, »dass wir, wenn wir einmal aus diesem verdammten Kerker heraus sind, dann doch noch unter der Eisdecke stecken ohne eine mögliche Verbindung mit der Atmosphäre!«

Die Bemerkung war richtig. Wer konnte damals berechnen, wie viel Zeit bis zu unserer Befreiung mindestens erforderlich war?

Mussten wir nicht alle ersticken, bevor die ›Nautilus‹ wieder an die Oberfläche des Wassers kommen konnte? Sollte sie das Los haben, samt allen, die sie in sich fasste, in dieser Eisgruft zugrunde zu ge

hen? Schreckliche Lage. Aber alle sahen der Gefahr ins Angesicht, entschlossen, bis zum letzten Augenblick ihre Schuldigkeit zu tun.

Während der Nacht wurde, meiner Berechnung gemäß, abermals eine Schicht von einem Meter fortgeschafft. Aber, als ich am Morgen in meinem Skaphanderkleide bei einer Temperatur von 6 bis 7 Grad unter Null durch die flüssige Masse schritt, bemerkte ich, dass die Seitenwände sich allmählich annäherten. Die von unserem Graben entfernten Wasserschichten, die nicht durch die Arbeit und die Werkzeuge in Bewegung gesetzt wurden, zeigten ein Bestreben festzufrieren. Was konnten wir bei dieser neuen und dringenden Gefahr für Aussicht auf Rettung haben, und wie konnten wir das Einfrieren vermeiden, wodurch die Wände der ›Nautilus‹ wie Glas zersprengt würden?

Ich ließ meine beiden Gefährten von dieser neuen Gefahr nichts merken, um nicht ihre für die Rettungsarbeit nötige Tatkraft herabzustimmen. Aber als ich an Bord zurückkam, bemerkte ich Kapitän Nemo den ernsten Fall.

»Ich weiß es«, sagte er mit derselben Kaltblütigkeit, die unter den fürchterlichsten Umständen keine Änderung erlitt. »Es ist eine weitere Gefahr, ich sehe aber keine Mittel, sie abzuwenden. Die einzige Aussicht auf Rettung besteht darin, dass man dem Festfrieren zuvorkommt. Das ist alles.«

Zuvorkommen! An solche Art zu reden hätte ich gewöhnt sein müssen!

An diesem Tag führte ich einige Stunden lang die Hacke mit hartnäckiger Ausdauer. Diese Arbeit hielt mich aufrecht. Zudem war man bei dieser Arbeit nicht in der verdorbenen Luft der ›Nautilus‹ und atmete direkt die reine Luft, die den Apparaten aus den Behältern geliefert wurde.

Gegen Abend war unser Graben abermals um einen Meter tiefer geworden. Als ich wieder an Bord kam, war ich durch die Kohlensäure, womit die Luft gesättigt war, dem Ersticken nah. Ach! wie mussten wir die chemischen Mittel vermissen, wodurch man das verdorbene Gas entfernen kann! An Sauerstoff hatten wir keinen Mangel, und wir konnten ihn durch unsere Voltaischen Säulen aus dem Wasser durch Zersetzung gewinnen. Aber wozu half es, da

die durch unser Atmen erzeugte Kohlensäure alle Teile des Schiffs durchdrungen hatte. Um sie fortzuschaffen, hätte man Gefäße mit kaustischem Kali füllen und beständig rütteln müssen. Dieser Stoff, der durch sonst nichts zu ersetzen war, fehlte aber an Bord.

Diesen Abend musste Kapitän Nemo die Hähne seiner Luftbehälter öffnen und einige Ströme reiner Luft in die ›Nautilus‹

hineinlassen. Ohne diese Vorsorge wären wir nicht wieder aufgewacht.

Am folgenden Tag, dem 26. März, setzte ich meine Grubenarbeit mit dem 5. Meter fort. Die Seitenwände und die innere Fläche der Eisdecke wurden sichtbar dicker. Es war unverkennbar, dass sie zusammengefrieren würden, ehe die ›Nautilus‹ frei sein konnte.

Mutlosigkeit befiel mich einen Augenblick, und die Hacke entfiel meinen Händen. Wozu das Graben, wenn wir ersticken, wenn wir durch das zu Stein gefrierende Wasser zerdrückt werden mussten.

In diesem Augenblick kam Kapitän Nemo, der die Arbeit leitete und selbst Hand anlegte, in meine Nähe. Ich rührte ihn mit der Hand an, und zeigte auf die Wände unseres Kerkers, dessen linke Wand sich nun der ›Nautilus‹ fast 4 Meter genähert hatte.

Der Kapitän verstand mich und winkte mir, ihm zu folgen. Wir begaben uns an Bord; ich legte meinen Skaphander ab und begleitete ihn in den Salon.

»Herr Arronax«, sagte er zu mir, »wir müssen irgendein heroisches Mittel versuchen, sonst werden wir in diesem gefrierenden Wasser wie von Kitt umgossen.«

»Ja!« sagte ich, »aber was anfangen?«

»Ach! Wäre doch meine ›Nautilus‹ stark genug, um diesen Druck auszuhalten, ohne erdrückt zu werden!«

»Nun?« fragte ich, da ich die Idee des Kapitäns nicht begriff.

»Begreifen Sie nicht«, fuhr er fort, »dass dieses Gefrieren des Wassers uns dann zum Beistand käme! Sehen Sie nicht, dass es durch sein Gefrieren die Eisfelder, die uns gefangenhalten, zersprengen würde, wie es beim Gefrieren die härtesten Steine zersprengt! Merken Sie nicht, dass es so anstatt ein Mittel der Zerstörung, ein Mittel der Rettung sein würde!«

»Ja! Kapitän, vielleicht. Aber so groß auch die Widerstandskraft der ›Nautilus‹ gegen Eindrückung sein mag – diesen fürchterlichen Druck würde sie nicht aushalten können und so platt werden wie ein Stück Blech.«

»Ich weiß es, mein Herr. Man muss also nicht auf den Beistand der Natur rechnen, sondern nur auf uns selbst. Man muss dem Festgefrieren einen Widerstand entgegensetzen; man muss es hemmen.

Nicht allein die Seitenwände verengen sich, es bleiben der ›Nautilus‹ vorn und hinten keine 10 Fuß Wasser. Das Einfrieren wird von allen Seiten zu uns herankommen.«

»Wie viel Zeit«, fragte ich, »wird die Luft der Behälter uns noch das Atmen an Bord gestatten?«

Der Kapitän sah mir ins Gesicht.

»Übermorgen«, sagte er, »werden die Behälter leer sein.«

Ein kalter Schweiß befiel mich. Und doch war diese Antwort nicht zum Erstaunen. Am 22. März war die ›Nautilus‹ im freien Meer untergetaucht. Jetzt hatten wir den 26. Seit 5 Tagen also lebten wir von dem Vorrat an Bord! Und den Rest von atmungsfähiger Luft musste man für die Arbeiter aufsparen. Im Augenblick, da ich dieses schreibe, befällt noch beim Gedanken daran ein unwillkürlicher Schrecken mein ganzes Wesen.

Doch der Kapitän sann nach, schweigend, unbeweglich. Man sah, eine Idee fuhr ihm durch den Kopf. Aber er schien sie abzuweisen. Er antwortete sich mit Nein. Endlich entfuhren seinen Lippen die Worte:

»Siedend Wasser!«

»Siedend Wasser?« rief ich.

»Ja, mein Herr. Wir sind in einem verhältnismäßig engen Raum eingeschlossen. Würden denn nicht siedende Wasserstrahlen, welche die Pumpen der ›Nautilus‹ beständig ausströmten, die Temperatur darin erhöhen und so das Gefrieren verzögern?«

»Man muss es versuchen«, sagte ich entschlossen.

»So machen wir einen Versuch, Herr Professor.«

Das Thermometer gab damals außen 7 Grad unter Null an. Kapitän Nemo führte mich in die Küchen, wo ungeheure Destillationsapparate in Tätigkeit waren, um durch Verdunstung trinkbares Wasser zu bereiten. Sie wurden mit Wasser gefüllt, und die ganze Hitze der elektrischen Säulen wurde durch die Serpentinen getrieben. In einigen Minuten hatte dieses Wasser 100 Grad Hitze erreicht. Es wurde zu den Pumpen geleitet, während es durch frisches Wasser nach Verhältnis ersetzt wurde. Die elektrischen Säulen entwickelten eine solche Hitze, dass das aus dem Meer geschöpfte

kalte Wasser nur den Apparat zu durchlaufen hatte, um siedend in die Pumpen zu gelangen.

Die Arbeit der Pumpen begann, und nach 3 Stunden zeigte das Thermometer außen 6 Grad unter Null; 2 Stunden später nur noch 4.

»Es wird gelingen«, sagte ich zum Kapitän, nachdem ich den Fortgang der Operation genau beobachtet hatte.

»Ich denke wohl«, erwiderte er, »wir werden nicht erdrückt werden. Nur das Ersticken ist noch zu fürchten.«

Während der Nacht stieg die Temperatur des Wassers auf einen Grad unter Null; eine höhere ließ sich nicht erzielen. Aber da das Gefrieren des Wassers nur bei 2 Grad vorgeht, so war ich endlich sicher, dass wir nicht einfrieren würden.

Am folgenden Tag, dem 27. März, waren 6 Meter Eis herausgeschafft; 4 blieben noch übrig. Das kostete noch 48 Stunden Arbeit.

Die Luft im Innern der ›Nautilus‹ ließ sich nicht mehr erneuern; sie wurde diesen Tag über fortwährend übler.

Es drückte mich eine unerträgliche Schwere. Gegen 3 Uhr nachmittags wurde dies Gefühl der Beklemmung aufs Höchste gesteigert. Die Kinnladen wurden mir durch Gähnen verrenkt. Meine Lungen keuchten, indem sie das zum Atmen nötige Luftbestandteil suchten, das immer spärlicher wurde. Eine moralische Erstarrung befiel mich; ich lag da ohne Kraft, fast ohne Besinnung. Mein wackerer Conseil, der dasselbe zu leiden hatte, wich nicht von meiner Seite. Er fasste meine Hand, suchte mich zu ermutigen, und ich hörte ihn noch murmeln:

»Ach könnte ich doch zu atmen aufhören, um meinem Herrn mehr Luft zu lassen!«

Tränen traten mir in die Augen, als ich das hörte.

Da diese schlimme Lage für uns alle unerträglich war, so legte man mit hastiger Freude das Skaphanderkleid an, um zu arbeiten.

Die Arme ermüdeten, die Hände wurden wund, aber man achtete diese Beschwerden nicht. Hatte man doch Lebensluft für die Lungen! Man konnte atmen!

Und doch blieb niemand länger als die ihm bestimmte Zeit bei der Arbeit. Jeder trat seinem keuchenden Genossen, der ihn ablöste, den Leben spendenden Ranzen ab. Kapitän Nemo ging mit dem Beispiel voran, unterwarf sich zuerst der strengen Ordnung.

Kam die Stunde der Ablösung, so übergab er seinen Apparat und kehrte in die verdorbene Atmosphäre zurück, stets ruhig, ohne Schwäche, ohne Murren.

An diesem Tag wurde die gewöhnliche Arbeit noch mit mehr Kraft fortgeführt. Es waren nur noch 2 Meter auf der ganzen Oberfläche fortzuschaffen; dann befanden wir uns im freien Meer. Aber die Luftbehälter waren beinah leer; der kleine Rest musste für die Arbeiter aufgehoben werden.

An Bord zurückgekehrt, war ich dem Ersticken nah. Welche Nacht! Solche Leiden lassen sich nicht schildern. Am folgenden Morgen war mein Atmen unterdrückt; betäubender Schwindel machte mich einem Trunkenen gleich. Meine Gefährten hatten gleiches zu erleiden. Einige Mann röchelten.

Nun, am 6. Tag unserer Einsperrung, beschloss Kapitän Nemo, da die Arbeit der Hacke und Schaufel zu langsam war, die Eisschicht, die uns noch von dem Wasser trennte, zu zerdrücken. Dieser Mann bewahrte seine Kaltblütigkeit und Tatkraft, überwand durch moralische Stärke die physischen Schmerzen. Er dachte, handelte.

Auf seinen Befehl wurde das Fahrzeug leichter gemacht, d.h.

durch Minderung seines spezifischen Gewichts von seinem Eisboden emporgehoben. Als es flott war, zog man es über die ungeheure Grube, die ausgehauen wurde. Darauf wurden seine Wasserbehälter gefüllt, dass es wieder abwärtsging und in die Grube sich einsenkte.

Jetzt begab sich die gesamte Mannschaft wieder an Bord, die doppelte Verkehrspforte wurde geschlossen. Die ›Nautilus‹ lag auf der nur noch einen Meter dicken Eisschicht, die an unzähligen Stellen von der Sonde durchbohrt war. Die Hähne der Behälter wurden weit geöffnet, und 100 Kubikmeter Wasser stürzten ein und erhöhten das Gewicht der ›Nautilus‹ um 100.000 Kilogramm.

Wir warteten, horchten, vergaßen unsere Leiden, stets hoffend.

Ein letzter Wurf im Spiel um unsere Rettung.

Trotz dem Summen in meinem Kopf hörte ich bald ein Dröhnen unter dem Rumpf der ›Nautilus‹. Das Niveau legte sich tie

fer. Das Eis krachte gewaltig, und wie Papier zerreißt, wurde die Schicht von der herabsinkenden ›Nautilus‹ zersprengt.

»Wir dringen durch!« murmelte Conseil in mein Ohr.

Unfähig zu antworten, ergriff ich seine Hand und drückte sie unwillkürlich krampfhaft.

Mit einem Mal sank die ›Nautilus‹ infolge ihres bedeutend verstärkten Gewichts wie eine Kugel in die Tiefe hinab!

Nun wurde die elektrische Kraft den Pumpen zugewendet, die alsbald das Wasser aus den Behältern trieben. Nach einigen Minuten war unser jähes Hinabsinken gehemmt; bald zeigte das Manometer eine aufsteigende Bewegung, und die Schraube trieb uns mit höchster Geschwindigkeit dem Norden zu.

Doch wie lange sollte die Fahrt unter der Eisdecke noch dauern? Einen Tag noch? Das hätte ich nicht mehr erlebt!

Auf einem Diwan der Bibliothek liegend, war ich am Ersticken.

Mein Angesicht war violett, meine Lippen blau, meine Geisteskräfte gelähmt. Ich hörte, sah nicht mehr. Der Zeitbegriff war mir geschwunden. Meine Muskeln konnten sich nicht zusammenziehen.Wie viele Stunden so verflossen, weiß ich nicht anzugeben. Aber ich hatte das Bewusstsein des beginnenden Todeskampfs.

Plötzlich kam ich wieder zu mir. Einige Tropfen Luft drangen in meine Lungen. Waren wir bereits an der Oberfläche? Waren wir aus der Versperrung heraus?

Nein! Meine wackeren Freunde, Ned und Conseil, opferten sich, um mich zu retten. Es waren einige Restchen Luft in einem Apparat geblieben, die sie, anstatt selbst einzuatmen, für mich aufgehoben hatten, und träufelten mir, während sie selbst dem Ersticken sich näherten, das Leben tropfenweise ein! Ich wollte den Apparat zurückschieben; sie hielten mir die Hände, und ich schlürfte mit Lust den Atem.

Meine Blicke fielen auf die Uhr. Es war 11 Uhr vormittags; es musste der 28. März sein. Die ›Nautilus‹ fuhr mit der schrecklichen Geschwindigkeit von 40 Meilen in der Stunde.

Wo befand sich Kapitän Nemo? War er gestorben? Waren seine Genossen mit ihm erlegen?

In dem Augenblick zeigte das Manometer, dass wir nur noch 20 Fuß von der Oberfläche waren. Bloß ein Eisfeld trennte uns noch von der Atmosphäre. War es nicht möglich, dieses zu zertrümmern?

Vielleicht! Jedenfalls sollte die ›Nautilus‹ den Versuch machen.

Wirklich fühlte ich, dass sie eine schiefe Lage annahm, das Hinterteil gesenkt, den Schnabel aufwärts. Um ihr Gleichgewicht zu ändern, hatte ein Einführen von Wasser genügt. Darauf mit voller Dampfkraft getrieben, griff sie die Eisdecke wie ein furchtbarer Widder von unten an. Sie brachte sie allmählich zum Bersten, zog sich zurück und schoss mit größter Schnelligkeit wieder dagegen, zersprengte sie und gelangte durch einen letzten, mit äußerstem Ungestüm geführten Stoß auf die Oberfläche des Eises, das sie mit ihrem Gewicht zerdrückte.

Die Luke wurde geöffnet, sozusagen gesprengt, und die reine Luft drang nun in alle Räume der ›Nautilus‹.

 


17. KAPITEL

Vom Kap Horn nach dem Amazonas

Wie ich auf die Plattform kam, weiß ich nicht zu sagen. Vielleicht hatte mich der Kanadier hinaufgetragen. Aber ich atmete, schlürfte die belebende Seeluft. Meine beiden Gefährten an meiner Seite tranken in vollen Zügen die Erfrischung. Die Unglücklichen, die lange Zeit die Nahrung entbehrten, dürfen nicht unbesonnen über die erste Nahrung, die sich bietet, herfallen. Wir dagegen brauchten uns nicht zurückzuhalten, konnten unseren Lungen die volle Erquickung des Einatmens gönnen, und der Seewind selbst übergoss uns mit dieser Wonne der Trunkenheit.

»Ach!« sagte Conseil, »wie erquickend ist der Sauerstoff ! Jetzt braucht mein Herr nicht mehr mit Angst zu atmen. Es ist genug da für jedermann!«

Ned Land sagte nichts, aber er sperrte die Kinnladen auf, dass ein Haifisch erschrecken konnte. Und was für kräftige Atemzüge!

Allmählich kamen uns wieder die Kräfte, und als ich um mich

blickte, sah ich, dass wir uns allein auf der Plattform befanden. Von der Bemannung nicht ein einziger; auch Kapitän Nemo nicht. Sonderbar genug begnügten sich die Seeleute mit der innen befindlichen Luft.

Meine ersten Worte waren Worte des Dankes und der Erkenntlichkeit gegen meine beiden Gefährten. Ned und Conseil hatten

während der letzten Stunden dieses Todeskampfs mein Dasein verlängert. Ich konnte ihnen für diese Hingebung nicht genug Dankbarkeit zollen.

»Lassen Sie das, Herr Professor«, erwiderte Ned Land, »es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden! Wir hatten kein Verdienst dabei. Es war nur ein Rechenexempel. Ihr Dasein ist mehr wert als das Unsrige. Darum musste es erhalten werden.«

»Nein, Ned«, versetzte ich, »es war nicht mehr wert. Über einen edlen und guten Menschen geht nichts, und das seid Ihr!«

»Gut! Gut!« wiederholte der Kanadier in Verlegenheit.

»Und du, lieber Conseil, hast recht zu leiden gehabt.«

»Doch nicht allzu sehr, offen gesagt. Es fehlten mir zwar einige Schluck Luft, aber ich glaube, ich würde mich schon darein gefunden haben.«

Conseil war verlegen, dass er unpassend gesprochen, und brach ab.»Meine Freunde«, sagte ich tief gerührt, »wir sind auf ewig miteinander verbunden, und Sie haben Ansprüche auf mich ...«

»Ich werde diese missbrauchen«, versetzte der Kanadier.

»Wie?« sagte Conseil.

»Ja«, fuhr Ned Land fort, »das Recht, Sie mit mir zu nehmen, wenn ich diese höllische ›Nautilus‹ verlassen werde.«

»Zur Sache«, sagte Conseil, »fahren wir in guter Richtung?«

»Ja«, erwiderte ich, »weil wir der Sonne zufahren, und hier ist die Sonne im Norden.«

»Allerdings«, fuhr Ned Land fort, »aber ich möchte wissen, ob wir wieder in den Pazifik oder Atlantik fahren, d.h. in besuchte oder verlassene Meere.«

Hierauf wusste ich nicht zu antworten, und ich fürchtete, Kapitän Nemo werde uns eher vielmehr in den ungeheuren Ozean führen, der Asien und Amerika zugleich bespült, um seine unterseeische Rundreise zu vollenden und dort seine Unabhängigkeit vollständiger zu finden. Aber was wurde dann aus Ned Lands Plänen?

Wir mussten über diesen wichtigen Punkt bald im reinen sein.

Die ›Nautilus‹ fuhr rasend schnell. Bald war man über den Polar

kreis hinaus, und nun ging es nach dem Kap Horn zu. Am 31. März, um 7 Uhr abends, befanden wir uns der Spitze Amerikas gegenüber.

Nun waren alle überstandenen Leiden vergessen, unsere Gedanken waren nur auf die Zukunft gerichtet. Kapitän Nemo zeigte sich nicht mehr, weder im Salon noch auf der Plattform. Da der Lieutenant jeden Tag die Lage feststellte und auf die Karte eintrug, so war ich imstande, die Richtung der ›Nautilus‹ genau aufzunehmen.

Diesen Abend nun war es zu meiner großen Befriedigung klar, dass wir durch den Atlantik wieder nach Norden fuhren.

Ich teilte dem Kanadier und Conseil das Ergebnis meiner Beobachtungen mit.

»Gute Neuigkeit«, erwiderte der Kanadier, »aber wohin fährt die ›Nautilus‹?«

»Das kann ich nicht sagen, Ned.«

»Will ihr Kapitän nach dem Südpol auch dem Nordpol Trotz bieten und durch die berufene nordwestliche Durchfahrt in den Pazifik kommen?«

»Man sollte ihn nicht dazu herausfordern«, erwiderte Conseil.

»Dann«, sagte der Kanadier, »werden wir zuvor uns davonmachen.«

»Jedenfalls«, fügte Conseil bei, »ist dieser Kapitän Nemo ein ganzer Mann, und wir werden nicht bedauern, seine Bekanntschaft gemacht zu haben.«

»Besonders, wenn wir von ihm fort sind!« versetzte Ned Land.

Am folgenden Tag, dem 1. April, als die ›Nautilus‹ an der Oberfläche fuhr, bekamen wir um Mittag westlich eine Küste in Sicht.

Es war Feuerland, ein Haufen Inseln, die sich zwischen 53 und 56° südlicher Breite und 67° 50ʹ und 77° 15ʹ westlicher Länge, 30

französische Meilen lang und 80 breit, erstrecken. Die Küste schien mir niedrig, aber in der Entfernung ragten hohe Berge empor. Ich glaubte sogar den Sarmiento zu sehen, der sich 2.070 Meter hoch über dem Meeresspiegel erhebt, ein pyramidaler Schieferblock mit sehr spitzem Gipfel, der, je nachdem er mit Dünsten umgeben oder davon frei ist, »gutes oder schlechtes Wetter anzeigt«, wie Ned Land sagte.

»Ein merkwürdiges Barometer, mein lieber Freund.«

»Ja, mein Herr, ein natürliches Barometer, das mich noch nie getäuscht hat, wenn ich in der Magellanstraße fuhr.«

Soeben zeigte sich diese Spitze in klarer Zeichnung vor dem Hintergrund des Himmels. Ein Wahrzeichen guten Wetters.

Die ›Nautilus‹ tauchte wieder unter und näherte sich der Küste, an der sie in einer Entfernung von nur einigen Meilen vorüberfuhr.

Durch die Fenster des Salons sah ich lange Lianen und Riesentang, das birntragende Meergras, wovon wir im freien Polarmeer einige Musterproben gesehen hatten; mit ihren glatten und klebrigen Fasern waren sie bis zu 1.300 Meter lang; wahre Taue, über einen Zoll dick und sehr zäh, dienen sie oft zum Festbinden der Schiffe.

Ein anderes Kraut, unter dem Namen Velp bekannt, mit 4 Fuß großen Blättern, die zwischen den korallenartigen Versteinerungen staken, bedeckte den Meeresgrund. Es diente Myriaden von Schal-und Weichtieren zum Lager und zur Nahrung; bot namentlich den Robben und Ottern ein prächtiges Mahl.

Über diesen fetten und üppigen Grund fuhr die ›Nautilus‹ mit äußerster Schnelligkeit. Gegen Abend näherte er sich dem Archipel der Falklands-Inseln, deren steile Gipfel ich am folgenden Morgen erkennen konnte. Die Meerestiefe war mäßig. Ich dachte daher, nicht ohne Grund, dass diese beiden Inseln umgeben von einer Menge Eilande, ehemals zu den Magellanischen Ländern gehörten.

Die Falklands-Inseln, die jetzt den Engländern gehören, hießen früher, als sie französisch waren, Malouinen.

In diesen Gegenden brachten unsere Garne schöne Sorten von Algen herauf und besonders eine Art Tang, an dessen Wurzeln die schönsten Muscheln hingen. Gänse und Enten ließen sich zu Dutzenden auf der Plattform nieder, und fanden bald ihren Platz in der Küche. Von Fischen beobachtete ich besonders eine Art Trichterfische, die 2 Dezimeter lang und ganz mit weißlichen und gelben Flecken besät waren.

Desgleichen hatte ich zahlreiche Quallen zu bewundern, die schönsten der Gattung, wie sie jenen Meeren eigentümlich sind.

Bald hatten sie die Gestalt eines halbrunden, sehr feinen Schirm

chens, das mit rotbraunen Streifen geschmückt war und in zwölf regelmäßige Blumengehänge endigte; bald bildeten sie ein umgekehrtes Körbchen, woraus reiche Blätter und lange rote Zweige herabhingen. Sie bewegten schwimmend ihre vier blattartigen Arme und ließen ihren reichen Haupt. schmuck von Fühlhörnern herabhängend in den Fluten treiben. Ich hätte gern einige Proben dieser zarten Zoophyten aufgehoben; aber es sind nur Wolken, Schatten und Schein; sie schmelzen und verdunsten, wenn sie aus ihrem Element herauskommen.

Als die letzten Höhen der Falklands-Inseln unterm Horizont verschwunden waren, tauchte die ›Nautilus‹ 20 bis 25 Meter tief unter und fuhr an der amerikanischen Küste entlang. Kapitän Nemo ließ sich nicht sehen.

Bis zum 3. April fuhren wir an den Küsten von Patagonien, bald unterm Ozean, bald an der Oberfläche. Die ›Nautilus‹ passierte die weite, von der Mündung des La Plata gebildete Untiefe und befand sich am 4. April Uruguay gegenüber, aber 50 Meilen auf hoher See.

Ihre Richtung war immer nördlich längs den Krümmungen der südamerikanischen Küsten. Wir hatten damals seit unserer Abreise aus den Japanischen Meeren 16.000 Lieue zurückgelegt.

Gegen 11 Uhr vormittags wurde der Wendekreis des Steinbocks unterm 37. Meridian durchschnitten, und wir fuhren auf hoher See an Kap Frio vorüber. Kapitän Nemo war, zum Ärger Ned Lands, nicht gern in der Nähe dieser bewohnten Küsten Brasiliens, denn er eilte mit schwindelhafter Schnelligkeit. Kein Fisch noch Vogel, so flink sie auch sein mochten, konnten uns begleiten, und die Naturmerkwürdigkeiten dieser Meere entzogen sich aller Beobachtung.

Diese reißende Eile dauerte einige Tage, und am 4. April abends bekamen wir die östliche Spitze Südamerikas, das Kap San Roque, in Sicht. Aber damals entfernte sich die ›Nautilus‹ abermals und suchte in größeren Tiefen ein unterseeisches Tal auf zwischen diesem Kap und Sierra Leone an der afrikanischen Küste. Dieses Tal teilt sich auf der Höhe der Antillen in zwei Richtungen und endigt nördlich in eine enorme, 9.000 Meter tiefe Einsenkung. An dieser Stelle bildet der geologische Aufriss des Ozeans bis zu den Klei

nen Antillen einen steilen senkrechten Abhang von 6 Kilometer und auf der Höhe der Kapverdischen Inseln eine andere, ebenso beträchtliche Wand. Diese beiden umschließen also die ganze versunkene Atlantis. Der Grund dieses ungeheuren Tals ist hier und da mit einigen Bergen besetzt, die malerische Ansichten bieten. Ich berichte dieses hauptsächlich nach den Karten im Manuskript, die offenbar von der Hand Kapitän Nemos aufgrund seiner persönlichen Beobachtungen herrühren.

2 Tage lang wurden diese öden und tiefen Gewässer vermittels der geneigten Ebenen besucht. Doch am 11. April stieg die ›Nautilus‹ plötzlich wieder zur Oberfläche, und wir bekamen das Land an der Mündung des Amazonas zu sehen, dessen Wasser so weit hin und so beträchtlich ausströmt, dass das Meer auf einige Meilen seinen Salzgehalt verliert.

Wir hatten den Äquator durchschnitten und ließen 20 Meilen westlich das französische Cayenne, wo wir leicht eine Zufluchtstätte gefunden hätten. Aber der Wind wehte zu stark, und die wütend aufgeregten Wellen hätten einem einfachen Boot nicht gestattet, ihnen zu trotzen. Ned Land sah dies wohl selbst ein, denn er sprach kein Wort mit mir. Ich meinerseits spielte nicht mit einem Wort auf seine Fluchtprojekte an, denn ich wollte ihn nicht zu einem Versuch veranlassen, der unfehlbar gescheitert wäre.

Ich entschädigte mich leicht für diese Verzögerung durch interessante Studien. Während dieser beiden Tage, am 11. und 12. April, blieb die ›Nautilus‹ auf der Oberfläche, und ihr Sacknetz tat einen wundervollen Fang an Zoophyten, Fischen und Reptilien.

Die Zoophyten waren zum großen Teil schöne Phyctalinen, zu den Strahlentieren gehörig, unter anderem eine in diesem Ozean einheimische Gattung mit kleinem zylindrischem Stamm, der mit vertikalen Linien und roten Punkten verziert, und mit einem wundervollen Strauß von Fühlfäden gekrönt war. Mollusken waren es von den bereits beschriebenen, Turmschnecken, durchsichtige Hyalen, Argonauten, vortreffliche essbare Tintenfische, einige Arten Calmar usw.

Von Fischen, die ich noch nicht zu studieren Gelegenheit hatte, bemerkte ich einige Arten. Unter den Knorpelfischen eine Aal

art, 15 Zoll lang, mit grünlichem Kopf, violetten Flossen, bläulich grauem Rücken, braunsilberfarbenem, lebhaft geflecktem Bauch, einem goldenen Ring um die Iris, merkwürdige Tiere, die im Süßwasser leben und vermutlich vom Amazonas hierher getrieben wurden; kleine, einen Meter lange Haie, unter dem Namen Pantoffelfisch bekannt, grau und weißlich, deren in mehreren Reihen stehende Zähne rückwärts gekrümmt sind; Fledermaus-Seeteufel, eine Art gleichschenkeliger Triangel, rötlich, einen halben Meter groß, mit einer fleischigen Verlängerung der Brustflossen, wodurch sie das Aussehen von Fledermäusen bekommen, und mit einem hornartigen Ansatz neben den Nasenlöchern, weshalb man sie See-Einhorn benannte; einige Sorten Hornfische u.a.m.

Von Knochenfischen beobachtete ich eine große Menge, deren Aufzählung zu langweilig sein würde. Ich hebe daraus hervor: Goldflosser, auf denen Silber- und Goldglanz mit Rubinen und Topasen sich mischen; phosphoreszierende Goldschwanzbrassen; hellrote Lippfische; 3 Dezimeter lange Sardinen mit lebhaftem Silberglanz. Besonders aber muss ich noch einen Fisch nennen, dessen Conseil noch lange Zeit gedenken wird.

Unser Garn brachte einen sehr flachen Rochen, der vollkommen wie eine kreisrunde Scheibe geformt war und 20 Kilogramm wog.

Er war oben weiß, unten rötlich mit großen tiefblauen, schwarz gerandeten Flecken, hatte eine sehr glatte Haut und eine zweilappige Flosse. Er zappelte auf der Plattform, versuchte durch krampfhafte Bewegungen wieder ins Meer zu kommen, und war im Begriff, mit einem letzten Satze diesen Zweck zu erreichen. Da stürzte sich Conseil auf ihn, und fasste ihn, ehe ich ihn noch abhalten konnte, mit beiden Händen.

Aber plötzlich lag er zu Boden geworfen und streckte die Beine in die Luft; an der Hälfte seines Körpers gelähmt, schrie er:

»Ach! Mein Herr! Mein Herr! Zu Hilfe!«

Unterstützt vom Kanadier hob ich ihn auf, und wir rieben ihn aus Leibeskräften. Als er wieder zum Bewusstsein kam, murmelte er mit gebrochener Stimme:

»Klasse der Knorpelfische, Ordnung der Knorpelflosser, mit

festen Kiemen, Unterordnung der Phosphoreszierenden, Familie der Rochen, Gattung der Zitterfische!«

»Jawohl, Lieber«, erwiderte ich, »ein Zitterfisch hat dich in den jämmerlichen Zustand versetzt.«

»Ach, mein Herr kann mir’s wohl glauben«, versetzte Conseil,

»aber ich werde mich an diesem Tier rächen.«

»Und wie?«

»Ich werde es aufzehren.«

Dies tat er noch denselben Abend, aber nur zur Revanche, denn offen gestanden, er war zäh wie Leder.

Es war ein Zitterfisch der schlimmsten Art, la Cumana, von dem Conseil getroffen wurde. Das seltsame Tier ist fähig in einer so leitungsfähigen Umgebung, wie das Wasser ist, mehrere Meter weit die Fische mit seinem Blitz zu treffen, so stark ist die Kraft seines elektrischen Organs, dessen beide Hauptoberflächen nicht weniger als 27 Quadratfuß messen.

Am folgenden Tag, dem 12. April, kam die ›Nautilus‹ in der Nähe der holländischen Küste, bei der Mündung des Maroni, vorbei. Dort lebten einige Trupps Seekühe beisammen. Es waren Manati, die gleich dem Dugong zur Ordnung der Sirenen gehören.

Diese schönen, friedlichen und unschädlichen Tiere, 6 bis 7 Meter groß, mussten wenigstens 4.000 Kilogramm wiegen.

Ich belehrte Ned Land und Conseil, dass die Sorge der Natur diesen Säugetieren eine wichtige Rolle zugewiesen habe. Sie haben in der Tat, gleich den Robben, die Obliegenheit, die unterseeischen Wiesen zu beweiden und also die Anhäufung von Kräutern zu zerstören, welche die Mündung der tropischen Flüsse versperren.

»Und wissen Sie«, fügte ich bei, »was erfolgt ist, seit die Menschen diese nützlichen Rassen fast ganz vernichtet haben? Die verfaulten Gewächse haben die Luft verpestet und das gelbe Fieber erzeugt, wodurch diese herrlichen Gegenden verödet werden.

Die Giftpflanzen sind unter diesen Meeren der heißen Zone zahlreicher geworden, und das Übel hat sich von der Mündung des Rio de la Plata bis nach Florida unwiderstehlich entwickelt!

Und darf man Toussenel glauben, so ist diese Plage noch unbedeutend gegen die, welche unsere Nachkommen treffen wird, wenn die Walfische und Robben in diesen Meeren vertilgt worden sind.

Dann werden sie, voll Polypen, Quallen, Kalmar, ungeheure Herde der Verpestung, weil es nicht mehr die weiten Mägen gibt, die von Gott beauftragt sind, die Oberfläche des Meeres abzuschäumen.«

Die Mannschaft der ›Nautilus‹, ohne jedoch diese Theorien zu verachten, erlegte ein halbes Dutzend dieser Manati. Es handelte

sich in der Tat darum, die Vorratskammer mit einem vortrefflichen Fleisch, das noch vorzüglicher ist als Ochsen- und Kalbfleisch, zu versorgen. Diese Jagd bot kein Interesse dar. Die Manati ließen sich ohne Widerstand erlegen. Einige Tausend Kilo Fleisch, zum Trocknen bestimmt, wurden an Bord gebracht. Ebenso wurden durch einen reichen Fischfang die Vorräte vermehrt.

Als der Fischzug vollendet war, näherte sich die ›Nautilus‹ der Küste. Hier schliefen eine Anzahl Seeschildkröten auf der Oberfläche des Wassers. Es würde schwergehalten haben, sich ihrer zu bemächtigen, da das geringste Geräusch sie aufweckt und ihr Schild sie gegen jede Harpune schützt. Aber mit Hilfe von Seeigeln, deren man einige im Garn gefangen hatte, gelang die Operation mit großer Sicherheit, denn dieses Tier ist wie eine Angel zu gebrauchen.

Die Bootsleute der ›Nautilus‹ befestigten an den Schwanz dieser Fische einen Ring, der weit genug war, um ihre Bewegungen nicht zu hindern, und an diesen Ring ein langes Tau, das mit dem anderen Ende an Bord fest war. Als die Tiere ins Meer geworfen wurden, fingen sie sogleich ihre Rollen an, schwammen hin und hängten sich an den Bauchschild der Schildkröten und hielten da mit solcher Zähigkeit fest, dass sie nicht mehr loszumachen waren. Man zog sie dann samt den Schildkröten an Bord.

Auf diese Weise fing man einige Cacuanen, die einen Meter lang waren und 200 Kilo wogen. Ihre Schilddecken, die mit großen, feinen, durchsichtigen, braun und weiß oder gelb gesprenkelten Horndecken bedeckt sind, haben einen hohen Preis. Zudem sind sie essbar und von ausgezeichnetem Geschmack.

Nach diesem Fang verließen wir den Amazonas und stachen während der Nacht wieder in die hohe See.

 


18. KAPITEL

Riesenpolypen

Einige Tage lang entfernte sich die ›Nautilus‹ beständig von der amerikanischen Küste. Offenbar wollte er nicht in dem mexikanischen Golf oder dem Meer der Antillen fahren. An Wassertiefe hätte es zwar dort nicht gemangelt, denn sie beträgt durchschnittlich 1.800 Meter; aber vermutlich gefiel diese Gegend Kapitän Nemo deshalb nicht, weil sie mit Inseln besät und beständig von Booten befahren ist.

Am 16. April bekamen wir Martinique und Guadeloupe in einer

Entfernung von etwa 30 Meilen in Sicht. Eine Weile konnte ich ihre hohen Spitzberge sehen.

Der Kanadier hatte darauf gerechnet, in dem Golf seine Pläne in Ausführung zu bringen, entweder indem er an Land kam oder in eins der zahlreichen Boote, die beständig von einer Insel zur anderen fuhren; nun geriet er in große Verlegenheit. Das Entrinnen wäre leicht gewesen, wenn es Ned Land gelungen wäre, sich heimlich des Boots zu bemächtigen. Aber in hoher See war nicht mehr daran zu denken.

Wir hatten, der Kanadier, Conseil und ich, darüber eine lange Unterredung. Seit 6 Monaten waren wir Gefangene an Bord der

›Nautilus‹. Wir hatten 17.000 Meilen zurückgelegt, und wie Ned Land sagte, man sah keinen Grund dafür, dass es ein Ende nehmen werde. Er machte mir daher einen Vorschlag, dessen ich mich nicht versehen hatte; nämlich, an Kapitän Nemo kategorisch die Frage zu richten, ob er im Sinne habe, uns ewig an seinem Bord festzuhalten?

Ein solcher Schritt missfiel mir. Meiner Ansicht nach konnte er nicht zum Ziele führen. Man durfte nichts vom Kommandanten der ›Nautilus‹ hoffen; alles nur von uns selbst. Übrigens wurde dieser Mann seit einiger Zeit düsterer, zurückgezogener, weniger gesellig. Er schien mich zu meiden; ich sah ihn nur in seltenen Fällen.

Sonst machte es ihm Vergnügen, mir die unterseeischen Wunder auseinanderzusetzen; jetzt überließ er mich meinen Studien und kam nicht mehr in den Salon.

Welche Veränderung war mit ihm vorgegangen? Weshalb? Ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Vielleicht war ihm unsere Anwesenheit an Bord lästig? Jedoch konnte ich nicht hoffen, dass er fähig sei, uns die Freiheit wiederzugeben.

Ich bat daher Ned, mich überlegen zu lassen, bevor wir handelten. Wenn dieser Schritt keinen Erfolg hatte, so konnte er seinen Argwohn wieder beleben, unsere Lage peinlicher machen und den Projekten des Kanadiers schaden. Ich fügte bei, dass wir uns in Beziehung auf unsere Gesundheit nicht im Mindesten zu beschweren hatten. Ausgenommen das harte Probestück der Eisdecke des Südpols, hatten wir uns niemals besser befunden, weder Ned noch

Conseil, noch ich. Diese gesunde Nahrung, diese zuträgliche Atmosphäre ließen Krankheiten nicht aufkommen, und für einen Mann, dem die Erinnerung an das Land nichts vermissen ließ, für einen Kapitän Nemo, der hier seine Heimat hat, hingeht, wohin er will, der auf Wegen, die für andere, nicht für ihn selbst geheimnisvoll sind, auf sein Ziel zuschreitet, war mir eine solche Existenz begreiflich. Aber wir hatten mit der Menschheit nicht gebrochen. Ich meinesteils wollte nicht meine so merkwürdigen und so neuen Studien mit mir ins Grab nehmen. Jetzt war ich berechtigt, das wahre Buch über das Meer zu schreiben, und ich wünschte, dass dieses Buch lieber früher wie später erschiene.

Auch hier, in diesen Gewässern der Antillen, 10 Meter unterhalb des Meeresspiegels, wenn ich durch die geöffneten Fenster sah, welche interessante Produkte hatte ich in meinem Tagebuch zu verzeichnen! Unter anderen Zoophyten waren da die bekannten Galeerenquallen, große, längliche Blasen mit Perlmutterglanz, mit blauen Fühlfäden, die wie Seidenfäden herabhängend wallten; reizende Medusen zum Anschauen, wahre Nesseln beim Anfühlen, indem sie eine ätzende Flüssigkeit träufeln ließen. Unter den Gliedertieren Ringwürmer von 1 1/2 Meter Länge mit rosenfarbigem Rüssel und 1.700 Fortbewegungsorganen, schlängelten sich unter Wasser und warfen beim Vorbeifahren alle Strahlen des Sonnenspektrums. Unter den Fischen waren Rochen, 10 Fuß lang und 600

Pfund schwer, die bisweilen gleich einem dunkeln Laden unsere Fenster bedeckten; 16 Dezimeter große Skomber, zur Gattung der großen Makrelen gehörig. Sodann in großen Schwärmen Meerbarben mit goldenen Streifen vom Kopf bis zum Schwanz, wahre Juwelen, die schon von den römischen Damen besonders gesucht waren; endlich Stacheldeckel mit smaragdenen Schnüren, in Samt und Seide gehüllt, zogen vor unseren Blicken gleich stattlichen Herren; silberfarbige Mondfische stiegen am Horizont der Gewässer auf, gleich Monden im Silberschein ihres blassen Lichts.

Wie manche wunderhafte Musterstücke hätte ich noch beobachten können, wäre nicht die ›Nautilus‹ allmählich in tiefere Schichten hinabgegangen, bis zu 2.000 und 3.500 Meter, wo das Tierleben

nur noch durch Seesterne, reizende Medusenhäupter, Blutzähne und große Ufermollusken repräsentiert war.

Am 20. April waren wir wieder zu einer Höhe von durchschnittlich 1.500 Fuß aufgestiegen. Das nächste Land war damals der Archipel der Lucayschen Inseln, die an der Meeresfläche wie ein Haufen Pflastersteine liegen. Steile Felsen ragten da hoch unter dem Meer empor, grad anstrebende Mauern aus angefressenen Steinblöcken in mächtigen Schichten aufgebaut, dazwischen schwarze, dunkle Löcher, wohin unsere elektrischen Strahlen nicht durchdringen konnten.

Diese Felsen waren mit starkem Gebüsch überzogen, riesenhafte Laminarien und Seetang, ein wahres Spalier von Wasserpflanzen, einer Riesenwelt entsprechend.

Diese kolossalen Pflanzen führten uns, Conseil, Ned und mich, im Gespräch auf die Riesentiere des Meeres.

Etwa um 11 Uhr machte mich Ned Land auf ein fürchterliches Wimmeln in den großen Tangmassen aufmerksam.

»Nun«, sagte ich, »da sind ja die wahren Polypenhöhlen, und es würde mich nicht eben wundern, wenn wir einige dieser Ungeheuer zu sehen bekämen.«

»Wie?« sagte Conseil, »Kalmar, bloße Kalmar, von der Klasse der Kopffüßler?«

»Nein«, sagte ich, »Meerpolypen von riesenhafter Größe.

Freund Ned hat sich ohne Zweifel geirrt, denn ich sehe nichts.«

»Das tut mir leid«, versetzte Conseil. »Ich möchte gern so einem Ungeheuer ins Angesicht schauen, von denen ich so viel reden hörte und die ja selber Schiffe in den Abgrund ziehen können.

Diese Ungetüme, man heißt sie Krak...«

»Krach genügt schon«, sagte der Kanadier ironisch.

»Kraken«, entgegnete Conseil, ohne sich um die Scherze seines Kameraden zu kümmern.

»Es wird mich nie jemand davon überzeugen«, sagte Ned Land,

»dass es solche Tiere gibt.«

»Warum nicht?« erwiderte Conseil. »Wir haben ja auch an den Narwal meines Herrn geglaubt.«

»Und wir haben nicht recht gehabt, Conseil.«

»Allerdings! Aber andere glauben gewiss noch daran.«

»Vermutlich, Conseil, aber ich für meinen Teil gebe ganz entschieden die Existenz solcher Ungeheuer nicht eher zu, als bis ich sie eigenhändig zerlegt habe.«

»Also«, fragte mich Conseil, »glaubt mein Herr nicht an die Riesenpolypen?«

»Wer den Teufel hat je daran geglaubt?« rief der Kanadier.

»Gar manche Leute, Freund Ned.«

»Keine Fischer. Gelehrte, vielleicht!«

»Entschuldigen Sie, Ned. Fischer und Gelehrte!«

»Aber ich«, sagte Conseil mit der ernstesten Miene von der Welt, »erinnere mich wohl gesehen zu haben, wie ein großes Fahrzeug von den Armen eines Kopffüßlers unters Wasser hinabgezogen wurde.«

»Sie haben das gesehen?« fragte der Kanadier.

»Ja, Ned.«

»Mit eigenen Augen?«

»Mit meinen eigenen Augen.«

»Wo, wenn’s beliebt?«

»Zu St. Malo«, erwiderte Conseil, ohne sich irremachen zu lassen.»Im Hafen?« fragte Ned Land ironisch.

»Nein, in einer Kirche«, erwiderte Conseil.

»In einer Kirche!« schrie der Kanadier.

»Ja, Freund Ned. Ein Gemälde stellte den fraglichen Polypen dar.»

»Gut!« sagte Ned Land mit hellem Lachen. »Herr Conseil hat mich zum besten.«

»Wirklich, er hat recht«, sagte ich. »Ich habe von diesem Gemälde reden hören; aber der dargestellte Gegenstand ist aus einer Legende genommen, und Sie wissen, was von Legenden in Hinsicht auf Naturgeschichte zu halten ist!«

»Aber was ist denn Wahres an den Wundergeschichten?« fragte Conseil.

»Nichts, meine Freunde, wenigstens nichts über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit hinaus, um bis zur Fabel oder Legende ge

steigert zu werden. Ja, doch für die Einbildungskraft der Erzähler bedarf es, wo nicht einer Ursache, doch eines Vorwandes. Unleugbar gibt’s Polypen und Kalmar von riesenhafter Größe; doch sind sie immer nicht so groß als Walfische. Unsere Fischer sehen deren häufig, die fast 2 Meter lang sind.

Die Museen zu Triest und Montpellier haben 2 Meter große Skelette von Polypen. Übrigens hat ein solches Tier, das nur 6 Fuß groß ist, Fühlfäden von 27 Fuß Länge. Und das reicht schon hin, um ein furchtbares Ungeheuer daraus zu machen.«

»Fischt man sie noch heutigentags?« fragte der Kanadier.

»Wenn die Seeleute sie nicht fischen, so sehen sie doch solche.

Einer meiner Freunde, der Kapitän Paul Bos zu Havre, hat mir oft versichert, er habe in den Indischen Meeren ein solches Ungeheuer von kolossaler Größe gesehen. Aber eine Tatsache zum Erstaunen, die keinen Zweifel mehr über die Existenz dieser Riesentiere lässt, ist vor einigen Jahren, 1861, vorgefallen.«

»Was für eine Tatsache?« fragte Ned Land.

»Ich will die Begebenheit erzählen. Im Jahr 1861 bemerkte die Mannschaft des Avisoschiffs ›Alecton‹ nordöstlich von Teneriffa, ungefähr unter dem Breitengrad, wo wir uns jetzt befinden, ein Ungeheuer von Kalmar, das in diesen Gewässern schwamm. Kommandant Bouguer näherte sich dem Tier, griff es mit der Harpune und der Flinte an, ohne großen Erfolg, denn Kugel und Harpune drangen durch das Fleisch hindurch, das weich wie eine Gallerte ohne festen Kern ist. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen gelang es den Leuten, eine Schlinge um den Körper der Molluske zu werfen. Diese Schlinge glitt bis zu den Schwanzflossen, wo sie festhielt.

Darauf versuchte man das Tier an Bord zu ziehen, aber sein Gewicht war so bedeutend, dass es beim Hinaufziehen seinen Schwanz im Stiche ließ, und ohne diese Zierde in den Wogen verschwand.«

»Das ist doch endlich eine Tatsache«, sagte Ned Land.

»Eine unbestreitbare Tatsache, wackerer Ned. Man hat auch vorgeschlagen, diese Polypen ›Kalmar Bouguer‹ zu nennen.«

»Und wie groß war das Tier?« fragte der Kanadier.

»Maß es nicht etwa 6 Meter?« sagte Conseil, der am Fenster stehend wiederholt die Spalten der Küstenwand besah.

»Gerade soviel«, erwiderte ich.

»Waren nicht an seinem Kopf«, fuhr Conseil fort, »acht Fühlfäden, die sich wie eine Brut Schlangen über dem Wasser bewegten?«

»Gerade so.«

»Waren nicht seine vorstehenden Augen von ansehnlicher Größe?«

»Ja, Conseil.«

»Glich nicht sein Maul einem Papageienschnabel, aber einem furchtbaren?«

»Wirklich, Conseil.«

»Nun denn! Wenn’s meinem Herrn beliebt«, versetzte ruhig Conseil, »ist da nicht der Kalmar Bouguer, so ist’s doch ein Bruder von ihm.«

Ich sah Conseil an. Ned Land stürzte ans Fenster.

»Das fürchterliche Tier!« rief er aus.

Ich sah ebenfalls hin und konnte mich einer Bewegung des Widerwillens nicht erwehren. Vor meinen Augen bewegte sich ein grässliches Ungeheuer, das einen Platz in den Wunderlegenden verdiente.

Es war ein Kalmar von kolossaler Größe, 8 Meter lang. Er bewegte sich äußerst schnell rückwärts auf die ›Nautilus‹ zu, mit starrem Blick aus enorm großen Augen von graugrüner Farbe. Seine acht Arme, oder vielmehr Füße, befanden sich am Kopf – weshalb man dieser Gattung Tiere den Namen Kopffüßler gibt –, waren von doppelter Größe wie der Leib und ringelten sich gleich den Schlangen am Haupt der Furien. Deutlich konnte man 200 schröpfkopfartige Warzen erkennen, die an der inneren Fläche der Fühlarme in Form von halbrunden Kapseln saßen. Diese legten sich mitunter am Fensterglas an, sodass sie einen luftleeren Raum bildeten. Das Maul des Ungeheuers – ein hörnerner Schnabel von Gestalt wie der eines Papageis – öffnete und schloss sich vertikal wie eine Blechschere. Aus dieser streckte es zischend eine Zunge von Hornsubstanz, die ebenfalls mit mehreren Reihen spitzer Zähne besetzt war. Wie fantastisch! Eine Molluske mit Vogelschnabel!

Ihr spindelförmiger, in der Mitte aufgedunsener Leib bildete eine fleischige Masse, die 20- bis 25.000 Kilogramm wiegen musste. Die Farbe des Tieres blieb sich nicht gleich, wechselte äußerst schnell, wenn es gereizt war, wobei sie von Grauschwarzblau ins Braunrötliche überging.

Worüber geriet die Molluske in Zorn? Ohne Zweifel über die Anwesenheit dieser ›Nautilus‹, die stärker war und dem seine saugenden Arme oder seine Kinnladen nichts anhaben konnten. Und

doch, was für Ungeheuer sind dies Polypen, welche Lebenskraft hat der Schöpfer ihnen zugeteilt, welche Kraft in den Bewegungen, denn sie sind im Besitz von drei Herzen.

Der Zufall hatte mich mit diesem Kalmar in Berührung gebracht, und ich wollte nicht die Gelegenheit vorüberlassen, dieses Musterstück von Kopffüßler sorgfältig zu studieren. Ich überwand

den widerwilligen Ekel, den mir sein Anblick erregte, ergriff einen Bleistift und fing an es abzuzeichnen.

»Es ist vielleicht dasselbe Tier der ›Alecton‹«, sagte Conseil.

»Nein«, erwiderte der Kanadier, »denn jenes hat seinen Schwanz verloren, und dieses ist damit noch versehen!«

»Das gäbe keinen Grund ab«, entgegnete ich, »Arme und Schwanz erneuern sich bei diesen Tieren, und seit 7 Jahren hatte der Schwanz des Kalmar Bouguer wohl Zeit nachzuwachsen.«

»Übrigens«, versetzte Ned, »ist’s nicht derselbe, so ist er doch von derselben Art und Gattung!«

Wirklich zeigten sich andere Tiere dieser Art vor dem Fenster.

Ich zählte 7. Sie gaben der ›Nautilus‹ das Geleit, und ich hörte, wie sie mit dem Schnabel am eisernen Schiffsrumpf kratzten. Also ein Geleit nach Wunsch.

Ich setzte meine Arbeit fort. Die Ungetüme hielten sich so genau in unserem Wasser, dass sie unbeweglich schienen, und ich hätte sie am Fenster in Verkürzung abzeichnen können. Zudem fuhren wir langsamer.

Plötzlich blieb die ›Nautilus‹ stehen. Ein Stoß, und sie zitterte in allen Fugen.

»Sind wir gestrandet?« fragte ich.

»Jedenfalls«, erwiderte der Kanadier, »würden wir bereits wieder frei sein, denn wir sitzen nicht auf.«

Die ›Nautilus‹ war ohne Zweifel flott, sie fuhr jedoch nicht. Die Schraube war nicht in Tätigkeit. Nach einer Minute trat Kapitän Nemo in Begleitung seines Lieutenants in den Salon.

Ich hatte ihn seit einiger Zeit nicht gesehen; er sah verdrießlich aus. Ohne ein Wort zu reden, vielleicht ohne uns zu sehen, trat er ans Fenster, besah die Polypen und sagte einige Worte zu seinem Lieutenant.

Dieser ging hinaus. Alsbald wurden die Läden geschlossen, der Salon von oben erleuchtet.

Ich trat zum Kapitän.

»Eine merkwürdige Sammlung von Polypen«, sagte ich zu ihm mit dem unbefangenen Ton eines Betrachters vor dem Fenster eines Aquariums.

»Es ist wahr, Herr Naturforscher«, erwiderte er, »und wir sind im Begriff, Mann gegen Mann ihnen zu Leibe zu gehen.«

Ich blickte den Kapitän an; ich glaubte ihn nicht recht verstanden zu haben.

»Mann gegen Mann?« wiederholte ich.

»Ja, mein Herr, die Schraube steht still. Ich glaube, dass der hör

nerne Schnabel eines solchen Kalmars zwischen ihren Schaufeln steckt, sodass sie dadurch gehemmt ist.«

»Und was wollen Sie tun?«

»Zur Oberfläche aufsteigen und die ganze Brut vertilgen.«

»Das ist schwierig.«

»Allerdings. Die elektrischen Kugeln sind unwirksam gegen dieses weiche Fleisch, und sie finden nicht Widerstand genug, um zu platzen. Aber wir greifen sie mit dem Beil an.«

»Und mit der Harpune, mein Herr«, sagte der Kanadier, »wenn Sie meinen Beistand nicht abweisen.«

»Ich nehme ihn an, Meister Land.«

»Wir wollen Sie begleiten«, sagte ich, und wir gingen in Gesellschaft von Kapitän Nemo zur Mittelstiege.

Hier standen zehn Mann mit Enterbeilen bewaffnet zum Angriff bereit. Auch ich nebst Conseil ergriff ein Beil. Ned Land nahm eine Harpune in die Hand.

Die ›Nautilus‹ befand sich damals auf der Oberfläche des Wassers. Einer der Bootsleute stand auf den obersten Sprossen und schraubte die Zapfen des Deckels auf. Aber die Schrauben waren kaum los, als der Deckel mit äußerster Gewalt aufgehoben wurde, offenbar von einem Polypenarme mit seinen Schröpfköpfen.

Alsbald glitt einer dieser langen Arme gleich einer Schlange durch die Öffnung, und zwanzig andere ringelten sich oben. Kapitän Nemo hieb mit einem Beil den fürchterlichen Arm entzwei, der sich krümmend über die Treppenstufen rutschte.

Im Moment, wo wir uns übereinander drängten, um auf die Plattform zu kommen senkten sich zwei andere Arme, die Luft durchschneidend, auf den vor Kapitän Nemo stehenden Mann herab, und hoben ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in die Höhe.

Der Kapitän schrie laut auf und schwang sich hinaus. Wir stürzten hinter ihm nach.

Welche Szene! Der Unglückliche, von dem Fühlarm umschlungen und mit den Warzen festgehalten, wurde von dem enormen Rüssel nach Gelüsten in der Luft geschüttelt. Röchelnd, erstickend rief er um Hilfe. Dieser Angstruf in französischer Sprache versetzte mich in tiefe Bestürzung. Also hatte ich einen Landsmann an Bord,

mehrere vielleicht! Diesen herzzerreißenden Ruf werd’ ich mein Lebtag hören!

Der Unglückliche war verloren. Wer vermochte ihn dieser erdrückenden Umschlingung zu entreißen? Inzwischen hatte sich Kapitän Nemo auf das Ungetüm gestürzt und ihm noch einen Arm mit dem Beil abgehauen. Sein Lieutenant kämpfte wütend gegen

andere Ungeheuer an den Seiten der ›Nautilus‹. Die Bemannung kämpfte mit Beilen. Der Kanadier, Conseil und ich hieben in die Fleischmassen ein. Ein starker Moschusgeruch durchdrang die Atmosphäre. Es war schrecklich.

Einen Augenblick glaubte ich, der unglückliche, von dem Ungeheuer umschlungene Mann werde dem gewaltigen Aussaugen entrissen werden. 7 von den 8 Armen waren abgehauen; ein einziger nur, der das Opfer schwang wie eine Feder, krümmte sich noch in der Luft. Aber in dem Augenblick, da Kapitän Nemo und sein Lieutenant sich auf ihn stürzten, strömte das Tier einen Strahl schwarzer Flüssigkeit, die es in einem Beutel an seinem Unterleib absonderte, uns entgegen. Wir wurden dadurch wie blind. Als diese Wolke sich zerstreute, war der Kalmar verschwunden samt meinem unglücklichen Landsmann!

Wie fielen wir nun wütend über die Ungeheuer her! Gerieten außer uns: Zehn bis zwölf Polypen hatten die Plattform und die Seiten der ›Nautilus‹ angefallen. Wir purzelten durcheinander inmitten der zerstümmelten Schlangen, die auf der Plattform in einer Lache von Blut und Tinte zappelten.

Es schien, als wüchsen die klebrigen Fühlhörner wie die Köpfe der Hydra wieder auf. Ned Lands Harpune tauchte bei jedem Stoß in die graugrünen Augen der Kalmare und bohrte sie aus. Aber plötzlich wurde mein kühner Genosse von den Armen eines Ungeheuers, denen er nicht ausweichen konnte, zu Boden geworfen.

Ah! mein Herz wollte brechen vor Rührung und Grausen!

Schon öffnete sich der fürchterliche Schnabel des Tieres über Ned Land, um den Unglücklichen zu zerreißen. Ich stürzte zu seinem Beistand herbei. Aber Kapitän Nemo war mir schon zuvorgekommen. Sein Beil verschwand zwischen den enormen Kinnbacken, und der Kanadier, wie durch ein Wunder gerettet, richtete sich auf und tauchte seine Harpune tief bis ins dreifache Herz des Polypen.»Diese Revanche war ich mir schuldig!« sagte Kapitän Nemo zu dem Kanadier.

Ned verbeugte sich ohne Antwort.

Dieser Kampf hatte eine Viertelstunde lang gedauert.

Die Ungeheuer, überwältigt, verstümmelt, zu Tode getroffen, räumten uns endlich den Platz und verschwanden unter den Wellen.Kapitän Nemo, in Blut gebadet, unbeweglich neben dem Fanal, sah ins Meer hinaus, das einen seiner Gefährten verschlungen hatte, und dicke Tränen quollen aus seinen Augen.

 


19. KAPITEL

Der Golfstrom

Diese fürchterliche Szene des 20. April wird niemand von uns je vergessen können. Ich habe sie unterm Eindruck heftigster Gemütsbewegung niedergeschrieben und später durchgesehen: meine Darstellung ist völlig genau, aber ausreichend als Schilderung nicht.

Der Schmerz von Kapitän Nemo war unermesslich. Nun hatte er schon den zweiten Genossen an Bord verloren. Und was für ein Tod! Zerdrückt, erstickt, zerfleischt von dem Ungeheuer, sollte er nicht auf dem stillen Friedhof des Korallenreichs seine Ruhestätte finden!

Mir war das Verzweiflungsgeschrei des Unglücklichen herzzerreißend gewesen. Die Todesangst hatte seine Muttersprache verraten. Ich hatte also einen Heimatgenossen unter der Kapitän Nemo mit Leib und Seele verbundenen Mannschaft! War er der einzige Repräsentant Frankreichs in der aus verschiedenen Nationalitäten gemischten Gesellschaft? Ein ungelöstes Rätsel, das mich unablässig quälte.

Kapitän Nemo zog sich in sein Zimmer zurück, und ich bekam ihn einige Zeit lang nicht zu sehen. Aber dass er traurig, verzweifelt, unentschlossen sein musste, gab mir das Fahrzeug, dessen Seele er war, zu erkennen. Die ›Nautilus‹ fuhr nicht mehr in einer bestimmten Richtung, sondern hin und her streifend, dem Spiel der Wellen überlassen wie ein Leichnam. Ihre Schraube war wieder frei, und doch gebrauchte sie sie kaum, segelte aufs Geratewohl.

So verliefen 10 Tage. Erst am 1. Mai setzte die ›Nautilus‹, nachdem sie die Lucayischen Inseln bis zur Mündung des Bahamakanals in Sicht bekommen, entschieden in nördlicher Richtung ihre Fahrt fort. Wir folgten darauf dem Laufe des Golfstroms, des größten Flusses im Meer, der seine Ufer, seine eigene Temperatur und Fische hat.

Es ist in der Tat ein Fluss, der mitten im Atlantik selbstständig fließt, ohne dass sein Wasser mit dem des Ozeans sich mischt. Dieser Fluss hat mehr Salzgehalt als das umgebende Meer. Seine durchschnittliche Tiefe beträgt 3.000 Fuß, seine mittlere Breite 60 Meilen.

An manchen Stellen fließt er mit einer Schnelligkeit von 4 Kilometer die Stunde. Der unveränderliche Umfang seiner Gewässer ist bedeutender als der aller Flüsse der Erde.

Die wahre Quelle des Golfstroms, wie sie der Kommandant Maury erkannte, sein Ausgangspunkt, wenn man will, liegt im Golf von Gascogne. Hier fangen seine Gewässer, an Temperatur und Farbe noch schwach, sich zu bilden an. Er fließt südwärts längs der afrikanischen Küste, wärmt seine Fluten in den Strahlen der heißen Zone, dann quer durch den Atlantik bis zum Kap San Roque an der brasilianischen Küste, wo er sich in zwei Arme teilt, von denen der eine in dem Antillenmeer sich noch satter zu erwärmen trachtet.

Nun beginnt der Golfstrom, der die Bestimmung hat, das Gleichgewicht zwischen den Temperaturen herzustellen und die tropischen Wasser mit den nördlichen zu mischen, seine ausgleichende Rolle. Mit gesteigerter Wärme zieht er aus dem mexikanischen Golf nordwärts den amerikanischen Küsten zu bis zu Neufundland, biegt beim Andrang der kalten Strömung aus der Davisstraße von jener Richtung ab und fließt wieder dem Ozean zu, indem er auf einem der großen Kreise der loxodromischen Linie folgt, teilt sich unter dem 43. Grad in zwei Arme, wovon der eine, unterstützt von den Passatwinden, zu dem Golf von Gascogne und den Azoren zurückkehrt und der andere, nachdem er die laue Temperatur der Küsten Islands und Norwegens veranlasst, bis über Spitzbergen hinaus, wo seine Wärme bis auf 4 Grad herabsinkt, fortströmt und das freie Meer des Polarlandes bildet.

Auf diesem Strom des Ozeans fuhr damals die ›Nautilus‹. Da wo er aus dem Bahamakanal herauskommt, bei 14 Lieue Breite und 350 Meter Tiefe, fließt der Golfstrom im Verhältnis von 8 Ki

lometer die Stunde. Diese Schnelligkeit nimmt regelmäßig ab im Verhältnis, wie er weiter nördlich kommt, und es ist zu wünschen, dass diese Regelmäßigkeit fortbestehe, weil, wenn, wie man zu bemerken glaubte, seine Schnelligkeit und Richtung sich ändern sollten, die europäischen Klimate Störungen ausgesetzt wären, deren Folgen nicht zu berechnen sind.

Gegen Mittag befand ich mich mit Conseil auf der Plattform und teilte ihm die Eigentümlichkeiten des Golfstroms mit. Darauf lud ich ihn ein, seine Hände in die Strömung zu tauchen.

Conseil folgte und war sehr erstaunt, dass er gar kein Gefühl von Wärme oder Kälte empfand.

»Das kommt daher«, sagte ich ihm, »dass der Wärmegrad der Wasser des Golfstroms beim Herausfließen aus dem mexikanischen Golf wenig von der Blutwärme verschieden ist. Der Golfstrom ist ein großer Wärmeleiter, der es den Küsten Europas ermöglicht, sich mit ewigem Grün zu schmücken. Und will man Maury Glauben schenken, so würde die Wärme dieses Stroms, vollständig benutzt, genügend Wärme liefern, um einen Strom von geschmolzenem Eisen, so groß wie der Amazonas oder Missouri, flüssig zu halten.«

In diesem Augenblick betrug die Geschwindigkeit des Golfstroms 2 Meter 25 in der Sekunde. Sein Wasser ist dergestalt von dem umgebenden Meer geschieden, dass es zusammengedrückt über den Ozean vorragt und ein anderes Niveau als das kalte Wasser annimmt. Außerdem sticht es, dunkel und reicher an Salzgehalt, durch seine rein indigoblaue Farbe von der grünen Der umgebenden Wasser ab. Bei Nacht ist es stark phosphoreszierend.

Dieser Strom zieht eine ganze Welt lebender Wesen mit sich fort. Die Argonauten wandern da scharenweise; Rochen finden sich von 25 Fuß Länge, und eine kleine Art Haifische, einen Meter lang, mit mehreren Reihen spitzer Zähne. In der unzähligen Menge von Knochenfischen sind manche eigentümliche, darunter eine Art Lippfische, die in allen Regenbogenfarben schimmernd mit den schönsten Vögeln der Tropengegenden wetteifern, und der sogenannte amerikanische Ritter, ein schöner Fisch, der sich ausnimmt, als sei er mit allen Ordensbändern der Welt geschmückt.

Am 8. Mai befanden wir uns noch dem Kap Hatteras gegenüber, auf der Höhe der Nord-Karolinen, wo der Golfstrom 75 Meilen breit und 210 Meter tief ist. Die ›Nautilus‹ fuhr fortwährend unstet aufs Geratewohl, es schien jede Überwachung zu fehlen. Unter diesen Umständen konnte ein Entweichen gelingen, und die bewohnten Uferlande boten überall leichte Zuflucht. Das Meer war unablässig von zahllosen Dampfern und kleinen Goéletten, die den Küstenverkehr besorgen, befahren, wo man Aufnahme zu finden hoffen konnte. Obwohl die Küste noch 30 Meilen entfernt, war diese Gelegenheit doch günstig.

Aber die sehr ungünstige Witterung machte doch die Ausführung der Pläne des Kanadiers durchaus unmöglich. Gewitter sind in diesen Strichen sehr häufig, und es ist da eine eigentliche Heimat der Wasserhosen, die eben durch den Golfstrom erzeugt werden. Diesem Meer mit einem zerbrechlichen Boot Trotz zu bieten war sicheres Verderben. Ned Land sah dies selbst ein und gab sich darein, ungeachtet eines bis zur Wut gediehenen Heimwehs, das nur durch die Flucht zu heilen war.

»Mein Herr«, sagte er zu mir in diesen Tagen, »es muss jetzt ein Ende haben, mein Gemüt muss davon frei werden. Ihr Nemo entfernt sich wieder vom Land und steuert dem Norden zu. Aber ich habe am Südpol satt bekommen und werde zum Nordpol nicht folgen.«

»Was ist zu machen, Ned, da ein Entweichen in diesem Moment unausführbar ist?«

»Ich komme wieder auf meinen Gedanken, dass man mit dem Kapitän reden muss. Als wir uns in den Meeren Ihrer Heimat befanden, haben Sie geschwiegen; jetzt, da wir meiner Heimat nah sind, will ich reden. In einigen Tagen wird die ›Nautilus‹ auf der Höhe Neuschottlands sein, wo sich bei Neufundland eine weite Bai öffnet, worin der St. Lorenz mündet, mein heimatlicher Fluss, an dem meine Geburtsstadt liegt. Wenn ich daran denke, steigt mir die Wut ins Gesicht, und meine Haare stehen zu Berge. Wissen Sie, mein Herr, ich stürze mich lieber ins Meer! Ich bleibe nicht hier!«

Der Kanadier hatte offenbar die Geduld gänzlich verloren. Seine lebenskräftige Natur konnte sich nicht in die stets fortgesetzte Ge

fangenschaft fügen. Seine Gesichtszüge änderten sich, sein Charakter wurde täglich finsterer. Ich fühlte, wie er leiden musste, denn auch mich befiel das Heimweh. Fast 7 Monate waren verflossen, ohne dass wir irgendetwas vom Land gehört hatten. Ferner die Absonderung von Kapitän Nemo, sein veränderter Humor, besonders seit dem Kampf mit den Ungeheuern, seine Schweigsamkeit, alles ließ mich die Dinge in ganz anderem Licht sehen. Mein Enthusiasmus der ersten Tage war vorüber. Nur ein Flame wie Conseil konnte sich in diese Lage fügen.

»Nun, mein Herr?« fuhr Ned Land fort, als ich nicht antwortete.»Nun, Ned, Sie wollen, dass ich Kapitän Nemo um seine Absichten in Hinsicht auf uns befrage?«

»Ja, mein Herr.«

»Und das, obwohl er sie bereits zu erkennen gegeben hat?«

»Ja. Ich will nun ein für alle Mal darüber im reinen sein. Sprechen Sie nur für mich allein, wenn Sie wollen.«

»Aber ich treffe ihn selten. Er meidet mich sogar.«

»Um so mehr Grund, ihn aufzusuchen.«

»Ich will ihm die Frage stellen, Ned.«

»Wann?« fragte der Kanadier dringend.

»Wenn ich ihn treffe.«

»Herr Arronax, wollen Sie, dass ich ihn selbst aufsuche?«

»Nein. Lassen Sie mich gewähren, morgen ...«

»Heute noch«, sagte Ned Land.

»Meinetwegen. Heute will ich ihn aufsuchen«, erwiderte ich dem Kanadier, denn wenn er selbst handelte, würde er gewiss alles verdorben haben.

Ned ließ mich allein. Da ich zu fragen beschlossen hatte, so wollte ich unverzüglich damit ins reine kommen. Besser getan, als noch zu tun.

Ich begab mich auf mein Zimmer. Hier hörte ich den Kapitän auf und ab gehen. Diese Gelegenheit, ihn zu treffen, durfte ich nicht vorüberlassen. Ich klopfte an seine Tür; keine Antwort. Ich klopfte abermals, drehte die Schlenke, und die Tür öffnete sich.

Ich trat ein. Der Kapitän war über seinen Arbeitstisch gebeugt;

er hatte mich nicht gehört. Entschlossen, nicht wieder fortzugehen ohne ihn zu fragen, trat ich zu ihm heran. Er hob rasch den Kopf, runzelte die Stirn und fuhr mich ziemlich barsch an.

»Sie hier! Was wollen Sie von mir?«

»Mit Ihnen reden, Kapitän.«

»Aber ich bin beschäftigt, mein Herr, ich habe zu arbeiten. Gönnen Sie mir doch auch die Freiheit, allein zu sein, die ich Ihnen lasse.«

Ein wenig ermutigender Empfang. Aber ich war entschlossen, alles anzuhören, um auf alles zu antworten.

»Mein Herr«, sagte ich kalt, »ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen, was sich nicht aufschieben lässt.«

»Und was, mein Herr?« erwiderte er ironisch. »Haben Sie eine Entdeckung gemacht, die mir entgangen ist? Sind Sie auf neue Geheimnisse des Meeres gekommen?«

Unsere Rechnung stimmte bei Weitem nicht überein. Aber ehe ich noch antworten konnte, zeigte er mir ein auf dem Tisch liegendes Manuskript und sagte in ernstem Ton:

»Hier, Herr Arronax, ein Manuskript in mehreren Sprachen. Es enthält eine Übersicht meiner Studien über das Meer, und wenn Gott will, soll es nicht mit mir zugrunde gehen. Dieses Manuskript, von mir unterzeichnet, samt einem Abriss meiner Biografie, soll in ein kleines, unversenkbares Behältnis verschlossen werden. Wer von uns an Bord der ›Nautilus‹ die anderen überlebt, soll es ins Meer werfen, dass es die Wellen tragen, wohin sie treiben.«

Der Name dieses Mannes, seine selbst verfasste Lebensgeschichte, sein Geheimnis sollten also dereinst enthüllt werden? Doch im Augenblick sah ich in dieser Mitteilung nur einen Anlass, auf meinen Gegenstand zu kommen.

»Kapitän«, erwiderte ich, »ich kann die Idee, die Sie dazu bestimmt, nur billigen. Die Frucht Ihrer Studien darf nicht verloren gehen. Aber das Mittel, das Sie anwenden, scheint mir etwas naiv.

Wer weiß, wohin die Winde dieses Behältnis treiben werden? In welche Hände es geraten wird? Ließe sich dafür nichts Besseres finden? Könnten nicht Sie oder einer der Ihrigen ...?«

»Nein, mein Herr«, sagte der Kapitän lebhaft, mich unterbrechend.

»Aber ich und meine Genossen sind bereit, dies Manuskript aufzubewahren, und wenn Sie uns die Freiheit geben ...«

»Die Freiheit!« sagte Kapitän Nemo und stand auf.

»Ja, mein Herr, und deshalb kam ich, Sie zu befragen. Nun sind wir bereits 7 Monate an Bord Ihres Boots, und ich frage Sie heute, in meiner Genossen und meinem eigenen Namen, ob Ihre Absicht ist, uns ewig hier festzuhalten.«

»Herr Arronax«, sagte Kapitän Nemo, »ich antworte Ihnen heute wie vor 7 Monaten: Wer in die ›Nautilus‹ hineinkommt, darf sie nicht wieder verlassen.«

»Die Sklaverei wollen Sie uns also auferlegen!«

»Nennen Sie’s, wie Sie wollen.«

»Aber überall bleibt dem Sklaven das Recht, sich seine Freiheit wieder zu verschaffen! Er darf alle Mittel, die sich ihm bieten, für die richtigen halten.«

»Wer versagt Ihnen dieses Recht?« erwiderte der Kapitän, »habe ich je daran gedacht, Sie durch einen Eid zu binden?«

Der Kapitän blickte mich an und kreuzte die Arme.

»Mein Herr, es würde weder Ihnen noch mir behagen, nochmals über den Gegenstand zu reden. Da wir nun aber einmal davon zu reden angefangen haben, so lassen Sie ihn uns fertig besprechen.

Ich wiederhole Ihnen, es handelt sich nicht bloß um meine Person.

Für mich ist das Studium eine Stütze, eine Ableitung, eine Neigung, eine Leidenschaft, die mich alles vergessen lassen kann. Wie Sie bin ich imstande, ungekannt im Dunkeln zu leben, mit der unsicheren Hoffnung, das Ergebnis meiner Arbeiten dereinst, vermittels eines zweifelhaften den Wellen und Winden preisgegebenen Behältnisses, der Zukunft zu vermachen. Ich kann Sie bewundern, Ihnen ohne Unlust folgen. Aber ich sehe Ihr Leben von Verwicklungen umgeben, die uns fremd sind; und soviel wir auch Teilnahme hegen für Ihr Genie und Ihren Mut: wir fühlen uns hier fremd in Beziehung auf alles, was Sie betrifft; und das macht unsere Lage unerträglich, unmöglich, selbst für mich, geschweige für Ned Land.

Haben Sie sich gefragt, was Freiheitsliebe, Hass gegen Sklaverei, für

Racheentwürfe in einer Natur wie die des Kanadiers hervorrufen, was er denken, planen, versuchen kann ... ?«

Hier brach ich ab. Kapitän Nemo stand auf.

»Ned Land«, sagte er, »mag denken, planen, versuchen, was er will, was liegt mir daran? Ich habe ihn nicht aufgesucht! Ich halte ihn nicht zu meinem Vergnügen an Bord! Sie, Herr Arronax, können alles begreifen, selbst das Schweigen. Ich habe Ihnen nichts weiter zu erwidern. Lassen Sie dieses erste Wort, das Sie über diesen Gegenstand führten, auch das letzte sein, denn ein andermal würde ich Sie nicht einmal anhören.«

Ich zog mich zurück. Von diesem Tag an war unsere Lage sehr gespannt. Ich benachrichtigte meine Gefährten vom Inhalt unserer Unterredung.

»Wir wissen jetzt«, sagte Ned Land, »dass wir von diesem Mann nichts zu erwarten haben. Die ›Nautilus‹ kommt jetzt in die Nähe von Long Island. Wir wollen entfliehen trotz allem Unwetter.«

Aber das Wetter wurde immer drohender; die Vorzeichen eines bevorstehenden Orkans gaben sich kund. Die Atmosphäre wurde weißlich, milchfarben. Statt feiner Wolkengarben sah man am Horizont Schichten sich auftürmenden Gewölks; niedriger zog anderes in reißender Flucht. Das Meer schwoll an in hohlen Wogen; die Vögel verschwanden, mit Ausnahme der Sturmvögel. Das Barometer sank erheblich, und zeigte in der Luft eine äußerste Spannung der Dünste. Die Mischung im Wetterglas zersetzte sich unter Einwirkung der Elektrizität, wovon die Atmosphäre durchdrungen war. Der Kampf der Elemente stand kurz bevor.

Das Gewitter kam im Laufe des 18. Mai zum Ausbruch, gerade als die ›Nautilus‹ auf der Höhe von Long Island fuhr, einige Meilen von den Engen New Yorks. Kapitän Nemo, anstatt dem Sturm in der Tiefe des Meeres auszuweichen, zog es mit unbegreiflicher Laune vor, ihm an der Oberfläche Trotz zu bieten.

Der Wind wehte aus Südwest, anfangs sehr frisch, d.h. mit einer Geschwindigkeit von 15 Meter in der Sekunde, und stieg gegen 3 Uhr nachmittags bis auf 25, der Ziffer des Sturms.

Kapitän Nemo, gegen die Windstöße unerschütterlich, nahm seinen Platz auf der Plattform. Um dem Andringen ungeheurer

Wogen widerstehen zu können, hatte er sich mit halbem Körper angebunden; ich folgte seinem Beispiel, um diesen Sturm zu bewundern und zugleich den unvergleichlichen Mann, der ihm Trotz bot.Das entfesselte Meer wurde von großen Fetzen Gewölk, das in seine Fluten tauchte, wie mit Besen gefegt.

Von den kleinen mittleren Wellen, die sich innerhalb der großen Höhlungen bilden, sah ich nichts mehr: nichts als lange, rußfarbige Wogen, die so dicht sind, dass sich ihre Spitze nicht bricht. Sie nahmen an Höhe zu, türmten sich gegeneinander auf. Die ›Nautilus‹, bald auf der Seite liegend, bald wie ein Mast sich aufbäumend, schwankte und stampfte fürchterlich.

Gegen 5 Uhr fiel Regen wie ein reißender Bergstrom; aber er stillte weder den Wind noch das Meer. Der Orkan brach los mit einer Geschwindigkeit von 45 Metern pro Sekunde, d.h. etwa 40

Lieue in der Stunde. Bei solcher Stärke reißt er Häuser zu Boden, schleudert die Dachziegel durch die Türen, zerbricht eiserne Gitter, rückt Vierundzwanzigpfünder-Kanonen von der Stelle. Die

›Nautilus‹ trotzte diesem Sturm und rechtfertigte das Wort eines geschickten Ingenieurs: »Ein Schiff ist nicht richtig gebaut, wenn es dem Meer nicht Trotz bieten kann!« Es war wohl nicht ein Fels, den solche Wogen zertrümmert hätten; es war eine Spindel von Stahl, folgsam und beweglich, ohne Takelwerk und Masten, gefahrlos ihrer Wut trotzend.

Inzwischen beobachtete ich aufmerksam diese entfesselten Wogen. Sie waren bis zu 15 Meter hoch bei einer Länge von 150 bis 175 Meter, und die Geschwindigkeit, mit der sie sich fortschoben, der des Windes zur Hälfte entsprechend, betrug 15 Meter in der Sekunde. Ihr Umfang und ihre Stärke wuchsen mit der Tiefe der Gewässer.

Die Stärke des Sturms nahm beim Herannahen der Nacht zu.

Das Barometer sank bis auf 710 Millimeter. Mit dem Sinken des Tages gewahrte ich am Horizont ein großes Schiff, das fürchterlich ankämpfte.

Es war wohl ein Dampfer der Linie zwischen New York und Liverpool oder Havre.

Um 10 Uhr abends war der Himmel wie in Feuer und Flammen, die Atmosphäre von Blitzen durchzuckt. Ich konnte ihren blendenden Glanz nicht aushalten, während Kapitän Nemo mit unverwandtem Blick die Seele des Sturms in sich einzuatmen schien.

Ein entsetzliches Getöse füllte die Luft, ein zusammengesetztes aus dem Tosen der gebrochenen Wellen, dem Heulen des Sturmwinds,

dem Rollen des Donners. Der Wind sprang von allen Seiten des Horizonts über.

Ja! Dieser Golfstrom rechtfertigt wohl die Benennung König der Stürme! Er verursacht die fürchterlichen Wirbelwinde durch die Unterschiedlichkeit der Temperatur der Luftschichten, die sich über seiner Strömung befinden.

Auf den Platzregen folgte ein Feuerregen. Die Wassertropfen verwandelten sich in leuchtende Strahlenbüschel. Man hätte meinen sollen, Kapitän Nemo, nach einem Tod trachtend, der seiner würdig wäre, wolle vom Blitz getroffen werden. Bei einer schrecklichen Stampfbewegung streckte die ›Nautilus‹ ihren stählernen Schnabel in die Höhe wie den Schaft eines Blitzableiters, und ich sah lange Funken daraus sprühen.

Erschöpft an Kräften, rutschte ich auf plattem Leib der Luke zu, öffnete und stieg hinab in den Salon. Das Gewitter war eben auf dem Höhepunkt seiner Stärke. Im Innern der ›Nautilus‹ war es unmöglich, sich auf den Beinen zu halten.

Kapitän Nemo erschien gegen Mitternacht wieder. Ich hörte, wie die Behälter sich allmählich füllten, und die ›Nautilus‹ tauchte gemächlich unter die Oberfläche der Wellen.

Durch die unverdeckten Fenster des Salons sah ich große Fische voll Bestürzung, die wie Phantome in den feurigen Gewässern schwammen. Einige wurden vor meinen Augen vom Blitz getroffen!Die ›Nautilus‹ senkte sich fortwährend. Ich dachte, sie werde in einer Tiefe von 15 Meter wieder ruhiges Wasser finden. Nein. Die oberen Schichten waren zu sehr aufgeregt. Man musste die Ruhe bis in die Tiefe von 50 Meter aufsuchen.

Da aber, welche Ruhe, welche Stille, welche friedliche Umgebung! Wer hätte denken können, dass damals auf der Oberfläche dieses Ozeans ein furchtbarer Orkan sich entfesselte!

 


20. KAPITEL

Unter 47° 24ʹ Breite und 17° 28ʹ Länge Infolge dieses Sturms waren wir östlich zurückgeworfen worden.

Jede Hoffnung, auf die Landungsstellen von New York oder St. Lorenz zu entrinnen, schwand. Der arme Ned, in Verzweiflung, ent

zog sich, gleich Kapitän Nemo, der Gesellschaft. Conseil und ich, wir blieben unzertrennlich.

Ich habe gesagt, die ›Nautilus‹ sei in östlicher Richtung gefahren; genauer hätte ich gesagt, in nordöstlicher. Einige Tage lang fuhr sie unstet, bald an der Oberfläche, bald unterhalb, mitten in den Nebeln, die den Seefahrern so furchtbar sind. Sie entstehen hauptsächlich durch das Auftauen des Eises, das in der Atmosphäre eine ausnehmende Feuchtigkeit fortwährend unterhält. Wie viele Fahrzeuge gingen in diesen Strichen zugrunde, als sie im Begriff waren, die unsicheren Feuer der Küste zu erkennen! Welche Unglücksfälle werden durch diese dichten Nebel verursacht! Wie manche scheiterten an diesen Klippen, deren Brandung vor dem Getöse des Winds nicht gehört wurde! Wie viele Fahrzeuge stießen zusammen trotz den Leuchtfeuern, trotz den Warnungen ihrer Pfeifen und ihrer Alarmglocken!

Daher bot auch der Meeresgrund hier den Anblick eines Schlachtfelds, wo von Trümmern bedeckt die vom Ozean geforderten Opfer lagen, mit Schiff und Geräte; Fahrzeuge aller Art, die mit Mann und Maus untergegangen, mit den Massen von Auswanderern an den gefährlichen Stellen wie Kap Race, Insel St. Paul, Straße Belle-Isle, Mündung des St. Lorenz! Die ›Nautilus‹ fuhr mitten durch diese Trümmer wie zu einer Totenschau! Am 15. Mai befanden wir uns am Südende der Neufundländer Bank. Diese ist ein Produkt der Anschwemmung des Meeres, eine beträchtliche Anhäufung organischer Abfälle, die teils durch den Golfstrom vom Äquator her, teils durch die längs der amerikanischen Küste laufende Gegenströmung kalten Wassers vom Nordpol herbeigeschwemmt werden. Hier häufen sich auch die durch den Eisgang beigeführten Treibeisblöcke; und es hat sich da eine ungeheure Totenstätte für Fische, Mollusken oder Zoophyten gebildet, die dort myriadenweise zugrunde gehen.

Die Meerestiefe ist in dieser Bank nicht bedeutend, beträgt höchstens einige Hundert Ellen. Aber nach Süden zu bildet sich plötzlich eine tiefe Einsenkung, ein 3.000 Meter tiefes Loch. Hier erweitert sich der Golfstrom. In dieser Ausbreitung seiner Gewässer verliert er an Geschwindigkeit und Temperatur, aber er wird zu einem Meer.

Ich übergehe hier die Menge der schönen oder seltenen Fische, welche die ›Nautilus‹ in diesen Strichen aufscheuchte, um mich etwas bei dem Kabeljau aufzuhalten, der hier in unerschöpflicher Menge seinen Lieblingsaufenthalt hat.

Man könnte den Kabeljau einen Bergfisch nennen, denn Neufundland ist nur ein unterseeisches Gebirge.

Als die ›Nautilus‹ durch ihre dicht gedrängten Massen fuhr, machte Conseil die Bemerkung:

»Ei! Die Kabeljaue! Ich meine, sie seien platt, wie die Klieschen und Solen?«

»Wie naiv!« erwiderte ich. »Die Kabeljaue sind platt beim Krämer, wo sie ausgenommen und zum Verkauf ausgelegt sind; aber im Wasser sind sie rund wie die Seebarben.«

»Ich will’s glauben, mein Herr«, versetzte Conseil. »Aber welch Gewimmel, welche Schwärme!«

»Ei! mein Freund, es gäbe deren noch weit mehr, hätten sie nicht die Menschen und die Seeskorpione zu Feinden! Weißt du, wie viele Eier man in einem einzigen Weibchen gezählt hat?«

»Ich will einmal tüchtig raten«, sagte Conseil. »500.000.«

»11 Millionen, mein Freund.«

»11 Millionen! Das lass’ ich nicht gelten, wenn ich sie nicht selbst zähle.«

»Zähle nur immer, Conseil. Aber du wirst schneller fertig, wenn du mir glaubst. Übrigens werden sie von Franzosen, Engländern, Amerikanern, Dänen, Norwegern zu Tausenden weggefischt. Man verzehrt sie in unglaublicher Menge, und wäre nicht die Fruchtbarkeit dieser Fische so erstaunlich, so wären diese Meere bald entvölkert. So sind allein in England und Amerika 75.000 Mann auf 5.000 Schiffen mit dem Fang des Kabeljaus beschäftigt. Jedes Schiff liefert deren durchschnittlich 40.000, das macht 25 Millionen. An den norwegischen Küsten dasselbe Ergebnis.«

»Gut«, erwiderte Conseil, »ich will mich auf meinen Herrn berufen und das Zählen unterlassen.«

»Was denn?«

»Die 11 Millionen Eier. Aber ich will die Bemerkung machen, dass, wenn alle diese Eier ausschlüpften, vier Kabeljauweibchen genug wären, um England, Amerika und Norwegen zu versorgen.«

Während wir am Grund der Bank von Neufundland her fuhren, sah ich genau die langen, mit 200 Angeln versehenen Schnüre, die jedes Boot zu Dutzenden auswirft. Jede Schnur, an einem Ende vermittels eines kleinen Hakens fortgezogen, war durch eine Leine, die an einer Korkboje befestigt wurde, an der Oberfläche festgehalten. Die ›Nautilus‹ musste inmitten dieses unterseeischen Netzes gut manövrieren.

Übrigens verweilte sie nicht lange in diesen bevölkerten Gegenden. Sie fuhr bis zum 42. Breitengrad hinauf, die Höhe von St. Jean de Terre Neuve und von Heart’s Content, wo das transatlantische Kabel endigt. Von da an richtete sie ihre Fahrt östlich, als wollte sie der telegrafischen Hochfläche folgen, worauf das Kabel ruht.

Am 17. Mai, als wir etwa 500 Meilen von Heart’s Content entfernt waren, bemerkte ich in einer Tiefe von 2.800 Meter das auf dem Boden liegende Kabel. Conseil, dem ich nichts davon zum Voraus gesagt hatte, nahm ihn Anfangs für eine Riesenschlange. Ich belehrte ihn über die Sache näher wie folgt: Das erste Kabel wurde in den Jahren 1857 und 1858 gelegt; aber nachdem es etwa 400 Telegramme befördert hatte, hörte es auf zu funktionieren. Im Jahr 1863 verfertigten die Ingenieure ein neues Kabel in der Länge von 3.400 Kilometer und 3.400 Kilogramm schwerer, das auf der ›Great Eastern‹ eingeschifft wurde. Auch dieser Versuch scheiterte.

Am 25. Mai befand sich die ›Nautilus‹ in einer Tiefe von 3.836

Meter genau an der Stelle, wo das Kabel gerissen war, 638 Meilen von der Küste Irlands entfernt. Man gewahrte damals, um 2 Uhr nachmittags, dass die Mitteilungen nach Europa unterbrochen waren. Die Sachverständigen an Bord beschlossen, das Kabel zu zerhauen und es dann wieder aufzufischen, und um 11 Uhr abends hatte man die beschädigte Partie wieder heraufgeholt. Man machte ein Gelenk und eine Splissung, und senkte das Kabel von Neuem unter. Aber einige Tage später zerriss es und konnte in den Tiefen des Ozeans nicht wieder aufgefischt werden.

Die Amerikaner verloren den Mut nicht. Der kühne Cyrus Field, der die Unternehmungen zuwege gebracht und sein ganzes Vermögen dafür eingesetzt hatte, veranlasste eine neue Subskription, die sogleich mit Zeichnungen bedeckt wurde. Nun wurde unter den besten Bedingungen ein anderes Kabel gefertigt. Der Bund leitender, in einer Hülle von Guttapercha isolierter Drähte wurde durch ein Polster spinnbarer Stoffe in einer Metallfassung geschützt. Die

›Great Eastern‹ stach am 13. Juli 1866 abermals in See.

Die Operation hatte guten Fortgang, doch begab sich ein Zwischenfall. Einige Mal hatten die Ingenieure beim Abwickeln des Kabels wahrgenommen, dass Nägel frisch eingeschlagen waren, um dessen Seele zu beschädigen. Der Kapitän Anderson beriet mit seinen Offizieren und Ingenieuren, und sie machten bekannt, wenn sich der Täter an Bord betreffen ließe, würde er ohne Weiteres ins Meer geworfen werden. Seitdem kam der sträfliche Versuch nicht weiter vor.

Am 23. Juli war die ›Great Eastern‹ nur noch 800 Kilometer von Neufundland entfernt, als man ihr von Irland aus die Nachricht vom Abschluss des Waffenstillstands zu Sadowa telegrafierte. Am 27. erreichte sie mitten im Nebel den Hafen von Heart’s Content, die Unternehmung war glücklich zustande gebracht, und das junge Amerika schickte dem alten Europa als erste Depesche zum Gruß die so selten verstandenen Worte: »Ehre sei Gott im Himmel, und Friede den gutgesinnten Menschen auf Erden!«

Ich hatte nicht erwartet, das Kabel in dem frischen Zustand, wie es aus den Werkstätten der Fabriken hervorgegangen war, zu treffen. Die lange Schlange, mit Muscheltrümmern bedeckt, war mit einem steinigen Teig überzogen, der sie gegen die durchbohrenden Mollusken schützte.

Sie lag ruhig, gegen die Bewegungen des Meeres gesichert, und unter einem Druck, der die Hinüberleitung des elektrischen Funkens, der in 32/100 einer Sekunde von Amerika nach Europa läuft, begünstigt. Das Kabel ist ohne Zweifel von unbegrenzter Dauer, denn man hat die Beobachtung gemacht, dass die Guttapercha-Hülle durch das dauernde Verweilen im Meerwasser besser wird.

Übrigens ist auf dieser so glücklich gewählten Hochfläche das Kabel niemals so tief untergesenkt, dass es reißen könnte. Die ›Nautilus‹ folgte ihm bis zum tiefsten Punkt seiner Lage, 4.431 Meter, und hier lag es noch, ohne dass das Ziehen irgend anstrengte. Hernach kamen wir zu der Stelle, wo es im Jahr 1863 Schaden gelitten hatte.

Der Grund des Meeres bildete damals ein 120 Kilometer breites Tal, auf das man den Montblanc hätte stellen können, ohne dass sein Gipfel über den Meeresspiegel emporragte. Es ist im Westen durch eine steile Wand von 2.000 Meter geschlossen. Wir langten da am 28. Mai an, und die ›Nautilus‹ war nur noch 150 Kilometer von Irland entfernt.

War Kapitän Nemo im Begriff, noch weiter aufwärtszufahren in die Nähe der Britischen Inseln? Nein. Zu meiner großen Überraschung fuhr er wieder südwärts und kam in die europäischen Meere. Indem wir um die Smaragd-Insel fuhren, gewahrte ich einen Augenblick das Kap Clear und das Feuer von Fasteart, das den Tausenden von Schiffen, die von Glasgow oder Liverpool ausfahren, zur Leuchte dient.

Es stellte sich mir damals eine wichtige Frage: Sollte die ›Nautilus‹ es wohl wagen, in den Kanal einzudringen? Ned Land, der, seit wir uns dem Land näherten, wieder zum Vorschein gekommen war, fragte mich unablässig. Was könnt’ ich ihm antworten? Kapitän Nemo ließ sich fortwährend nicht sehen. Nachdem er dem Kanadier das Küstenland Amerikas zu sehen vergönnt hatte, wollte er’s nun gegen mich mit der französischen Küste ebenso machen?

Indessen fuhr die ›Nautilus‹ immer mehr südwärts.

Am 30. Mai bekam sie Land’s End zu sehen, zwischen der äußersten Spitze Englands und den Scilly-Inseln, die sie rechter Hand ließ.Wollte sie in den Kanal einfahren, so musste sie genau ostwärts fahren. Sie tat es nicht.

Am 31. Mai beschrieb die ›Nautilus‹ den ganzen Tag lang eine Reihe von Kreislinien, die mich lebhaft beunruhigten. Sie schien einen Ort zu suchen, den zu finden ihr schwer wurde. Zu Mittag nahm Kapitän Nemo die Lage selbst auf. Er gönnte mir nicht ein Wort; schien düsterer wie jemals. Was konnte ihn so verstimmen?

Etwa die Nähe der europäischen Gestade? Empfand er heimatliche Erinnerungen? Und was für Empfindungen waren es, Vorwürfe oder Sehnsucht? Solche Gedanken beschäftigten mich, als hätte ich eine Ahnung, dass mir der Zufall bald die Geheimnisse des Kapitäns enthüllen würde.

Am folgenden Tag, dem 1. Juni, machte die ›Nautilus‹ dieselben Bewegungen. Es war offenbar, dass sie einen bestimmten Punkt des Ozeans zu erkennen suchte. Kapitän Nemo kam, wie tags zuvor, den Höhenstand der Sonne aufzunehmen. Das Meer war schön, der Himmel rein. 8 Meilen östlich zeigte sich ein großes Dampfschiff am Horizont. Es wehte keine Flagge von seinem Mast, und ich konnte seine Nationalität nicht erkennen.

Einige Minuten, bevor die Sonne den Meridian durchschnitt, ergriff Kapitän Nemo seinen Sextanten und beobachtete mit äußerster Genauigkeit. Die vollständige Ruhe der Wellen erleichterte es ihm. Die ›Nautilus‹ lag unbeweglich ohne Wanken und Schwanken.Ich befand mich gerade auf der Plattform. Als der Kapitän seine Aufnahme gemacht, sprach er nur das einzige Wort:

»Hier!«

Er stieg wieder durch die Luke hinab. Hatte er das Fahrzeug gesehen, das seinen Lauf änderte und uns nah zu kommen schien?

Ich wusste es nicht zu sagen.

Ich begab mich wieder in den Salon. Die Luke schloss sich, und ich hörte das Zischen des Wassers in den Behältern. Die ›Nautilus‹ fing an in vertikaler Richtung unterzusinken, indem die Bewegung der Schraube gehemmt war.

Nach einigen Minuten hielt er in einer Tiefe von 833 Meter an und ruhte auf dem Grund.

Die Leuchte am Plafond des Salons erlosch darauf, die Läden öffneten sich, und ich sah durch die Fenster das Meer von den Strahlen des Fanals im Umfang einer halben Meile hell erleuchtet.

Ich blickte rechts und sah nichts als ruhiges Gewässer bis in unermessliche Ferne.

Links zeigte sich auf dem Boden eine starke Erhöhung, die meine Aufmerksamkeit erregte. Man konnte es für Ruinen hal

ten, die unter einer Decke weißlicher Muscheln wie unter einem Schneemantel vergraben waren. Als ich die Masse achtsam betrachtete, glaubte ich, etwas verdickt, die Formen eines Schiffs ohne Masten zu erkennen, das vorlängst untergesunken war. Das Unglück musste schon vor langer Zeit sich begeben haben, wie aus der Verkalkung seiner Hülle abzunehmen war.

Was für ein Schiff war es? Weshalb besuchte die ›Nautilus‹ seine Grabstätte? War das Schiff nicht durch Schiffbruch untergegangen?

Ich wusste nicht, was ich davon denken sollte, als ich an meiner Seite den Kapitän langsam sprechen hörte:

»Früher hatte dies Schiff den Namen Le Marseillais. Es wurde 1762 erbaut und trug 74 Kanonen. Im Jahr 1778, am 13. August, kämpfte es tapfer gegen den Preston.

1779 am 11. Juli war es mit dem Geschwader des Admirals d’Estaing bei der Eroberung Granadas. 1781 am 5. September nahm es am Kampf des Grafen de Grasse in der Bai von Chesapeak teil. Im Jahr 1794 gab ihm die französische Republik einen anderen Namen. Am 16. April desselben Jahres schloss es sich zu Brest dem Geschwader von Villaret-Joyeuse an, das eine Ladung Getreide aus Amerika zu eskortieren hatte. Am 11. und 12. Prairial des Jahres II traf dieses Geschwader mit den englischen Schiffen zusammen.

Heute ist der 13. Prairial 1. Juni 1868. Heute sind’s gerade 74 Jahre, dass an derselben Stelle, unter 47° 24ʹ Breite und 17° 28ʹ Länge, dieses Schiff, als es nach heroischem Kampf seine drei Masten verloren, das Wasser in seine Räume drang, ein Drittel seiner Mannschaft kampfunfähig geworden, samt seinen 356 Mann lieber sich versenkte als sich ergab und mit aufgepflanzter Flagge und dem Ruf: ›Es lebe die Republik!‹ in die Tiefe sank.«

»Die ›Vengeur‹!« rief ich aus.

»Ja, mein Herr, die ›Vengeur‹! Ein schöner Name!« murmelte Kapitän Nemo mit gekreuzten Armen.

 


21. KAPITEL

Eine Hekatombe

Diese Art zu reden, das Unvorbereitete der Szene, die Geschichte des patriotischen Schiffs, die Aufregung, womit der außerordentliche Mann diese letzten Worte sprach, der Name ›Vengeur‹, dessen Bedeutsamkeit mir nicht entging – alles dieses machte auf mich tiefen Eindruck. Meine Blicke waren unablässig auf den Kapitän ge

richtet, wie er dastand und die ruhmvollen Reste betrachtete. Vielleicht sollte ich niemals erfahren, wer er war, wohin er ging, aber ich lernte mehr und mehr den Menschen in ihm kennen. Nicht ein gewöhnlicher Menschenhass hielt Kapitän Nemo mit seinen Genossen abgesondert in seiner ›Nautilus‹, sondern ein ungeheurer oder erhabener Hass, den die Zeit nicht abschwächen konnte.

War es ein Hass, der noch nach Rache dürstete? Die nahe Zukunft sollte mich’s lehren.

Inzwischen stieg die ›Nautilus‹ wieder langsam zum Meeresspiegel auf, und bald gab mir ein leichtes Schwanken zu erkennen, dass wir wieder in freier Luft schwammen.

In diesem Augenblick hörte man einen dumpfen Knall. Ich blickte den Kapitän an. Er rührte sich nicht.

»Kapitän?« sagte ich.

Keine Antwort.

Ich ließ ihn und begab mich auf die Plattform. Conseil und der Kanadier waren mir vorausgegangen.

»Woher dieser Ton?« fragte ich.

»Ein Kanonenschuss«, erwiderte Ned Land.

Ich richtete meine Blicke nach dem Schiff hin, das ich bemerkt hatte. Es kam näher heran, und man sah, dass es mit verstärkter Kraft fuhr. 6 Meilen noch war es von uns entfernt.

»Was ist’s für ein Schiff, Ned?«

»Seinem Takelwerk, seinen Masten nach«, erwiderte der Kanadier, »wollte ich wetten, dass es ein Kriegsschiff ist. Wenn es doch käme, die verfluchte ›Nautilus‹ nötigenfalls zu versenken.«

»Freund Ned«, erwiderte Conseil, »was kann er der ›Nautilus‹

für einen Schaden zufügen? Soll er sie unterm Meer angreifen?

Werden seine Kanonen sie auf dem Meeresgrund erreichen?«

»Sagen Sie mir, Ned, können Sie erkennen, welcher Nation das Schiff angehört?«

Der Kanadier runzelte die Augenbrauen, senkte seine Wimpern, blinzelte mit den Augen und heftete eine Weile seinen Blick mit aller Schärfe auf das Schiff.

»Nein, mein Herr«, erwiderte er. »Ich kann nicht erkennen, welcher Nation es angehört. Es ist keine Flagge aufgesteckt. Aber ich kann versichern, dass es ein Kriegsschiff ist, denn ein langer Wimpel weht von der Spitze seines Hauptmastes.«

Eine Viertelstunde lang fuhren wir fort, das Schiff, das auf uns zufuhr, zu beobachten. Ich konnte jedoch nicht annehmen, dass es aus dieser Entfernung die ›Nautilus‹ erkannt hätte, und noch weniger, dass es wusste, was es für eine unterseeische Maschine war.

Bald meldete mir der Kanadier, das Schiff sei ein großes Kriegsschiff mit Schnabel, ein gepanzerter Zweidecker. Aus seinen beiden Rauchfängen stieg eine dichter Rauch auf, seine Segel waren zusammengeschlagen, sein Mast ohne Flagge. Die weite Entfernung ließ noch nicht die Farben seiner Wimpel erkennen.

Es näherte sich rasch. Wenn Kapitän Nemo es herankommen ließ, bot sich uns eine Aussicht auf Rettung.

»Mein Herr«, sagte Ned Land, »fährt das Schiff nur 1 Meile entfernt, so stürz’ ich mich ins Meer und fordere Sie auf, meinem Beispiele zu folgen.«

Ich gab auf diesen Vorschlag keine Antwort und betrachtete fortwährend das Schiff, das immer näher kam. Mochte es englisch, französisch, amerikanisch oder russisch sein, sicherlich fanden wir Aufnahme an Bord, wenn wir hingelangen konnten.

»Mein Herr wird sich wohl erinnern, dass wir einige Übung im Schwimmen haben. Er kann sich auf mich verlassen, dass ich ihn bis zu dem Schiff bugsieren werde, wenn es ihm gefällig ist, Freund Ned zu folgen.«

Ich war im Begriff zu antworten, als vorne am Kriegsschiff eine weiße Dampfwolke sichtbar wurde. Nach einigen Sekunden wurde das Hinterteil der ›Nautilus‹ von einem ins Meer fallenden Körper bespritzt. Kurz darauf vernahm man einen Knall.

»Wie? Sie schießen auf uns!« rief ich aus.

»Wackere Leute!« murmelte der Kanadier.

»Sie nehmen uns also nicht für Schiffbrüchige auf einem Wrack!«

»Mit Erlaubnis, mein Herr ... – Gut«, sagte Conseil und schüttelte das Wasser ab, womit eine abermalige Kugel ihn bespritzt hatte. – »Mit Erlaubnis, mein Herr, sie haben den Narwal erkannt und schießen auf den Narwal.«

»Aber sie müssen wohl sehen«, rief ich, »dass sie’s mit Menschen zu tun haben.«

»Vielleicht eben deshalb!« erwiderte Ned Land und sah mich an.Nun ging mir im Kopf ein Licht auf. Ohne Zweifel wusste man jetzt, was man von dem vermeintlichen Seeungeheuer zu halten

hatte. Ohne Zweifel hatte der Kommandant der ›Abraham Lincoln‹

bei ihrem Zusammentreffen mit der ›Nautilus‹, als der Kanadier seine Harpune darauf schleuderte, erkannt, dass der Narwal ein unterseeisches Fahrzeug sein und zwar gefährlicher, als ein übernatürliches Seetier.

Ja, so musste es sein, und ohne Zweifel verfolgte man jetzt auf allen Meeren das fürchterliche Zerstörungswerkzeug.

Ein schreckliches gewiss, wenn, wie man annehmen konnte, Kapitän Nemo die ›Nautilus‹ zu einer Racheübung gebrauchte!

In jener Nacht, als er mitten im Indischen Ozean uns einsperrte, hatte er wohl einen Kampf mit einem Schiff zu bestehen. Jener auf dem Korallenkirchhof bestattete Mann war gewiss bei einem Zusammenstoß der ›Nautilus‹ getroffen worden. Ja, sagte ich abermals, so musste es sein. So enthüllte sich ein Teil der geheimnisvollen Existenz des Kapitäns Nemo. Und wenn er auch nicht als derselbe wiedererkannt wurde, so machten doch die gegen ihn verbundenen Nationen jetzt nicht auf ein schimärisches Wesen Jagd, sondern auf einen Mann, der ihnen unversöhnlichen Hass geschworen hatte.

Diese ganze fürchterliche Vergangenheit stand mir jetzt vor Augen. Anstatt auf dem herannahenden Schiff Freunde zu treffen, konnten wir nur auf erbarmungslose Feinde stoßen.

Inzwischen fielen häufiger Kugeln in unserer Nähe nieder. Manche, die den Meeresspiegel trafen, sprangen abprallend weiter, um in weiter Ferne sich zu verlieren. Aber die ›Nautilus‹ traf keine.

Das Panzerschiff war damals nur noch 3 Meilen entfernt. Trotz der heftigen Kanonade ließ sich der Kapitän nicht auf der Plattform sehen. Und doch hätte eine einzige seiner Spitzkugeln, wenn sie regelrecht den Rumpf der ›Nautilus‹ traf, ihr verderblich sein müssen.

Der Kanadier sagte da zu mir:

»Mein Herr, wir müssen alles aufbieten, um uns aus dieser schlimmen Lage zu ziehen. Wir wollen Signale geben! Tausend Teufel! Vielleicht wird man einsehen, dass wir brave Leute sind!«

Ned Land nahm sein Taschentuch, um es in der Luft zu schwin

gen. Aber kaum hatte er’s entfaltet, als er trotz seiner furchtbaren Stärke von einer eisernen Hand zu Boden geworfen wurde.

»Elender«, rief der Kapitän, »soll ich dich an den Schnabel der

›Nautilus‹ nageln, ehe ich damit dieses Schiff ramme?«

So fürchterlich dieser Zuruf war, noch fürchterlicher war das Aussehen von Kapitän Nemo. Sein Angesicht erbleichte bei den

Kämpfen seines Herzens, dessen Pulsschläge einen Augenblick stocken mussten. Seine Augäpfel zogen sich fürchterlich zusammen.

Seine Stimme brüllte. Mit vorgebeugtem Körper schüttelte der den Kanadier bei den Schultern.

Darauf ließ er ihn, wendete sich gegen das Kriegsschiff, dessen Kugeln um ihn regneten, und rief:

»Ah! Du weißt, wer ich bin, du Schiff einer verfluchten Nation!

Ich brauchte deine Farben nicht zu sehen, um dich zu erkennen!

Schau! Hier zeig’ ich dir meine!«

Und Kapitän Nemo entfaltete vorn auf seiner Plattform eine schwarze Flagge, gleich derjenigen, die er am Südpol aufgepflanzt hatte.

In dem Moment schlug eine Kugel schief auf den Rumpf der

›Nautilus‹, ohne einzudringen, prallte neben dem Kapitän ab und sprang weiter ins Meer.

Kapitän Nemo zuckte die Achseln. Darauf sagte er zu mir im barschen Ton: »Gehen Sie hinab samt Ihren Genossen!«

»Mein Herr«, rief ich, »wollen Sie denn dieses Schiff angreifen?«

»Mein Herr, ich werd’ es in den Grund bohren.«

»Tun Sie das nicht!«

»Ja, ich werd’ es tun«, erwiderte kalt Kapitän Nemo. Lassen Sie sich nicht einfallen, mein Richter zu sein, mein Herr. Der Zufall hat Sie sehen lassen, was Sie nicht sehen durften. Der Angriff ist geschehen. Die Erwiderung wird schrecklich sein. Gehen Sie.«

»Was ist’s für ein Schiff ?«

»Sie wissen’s nicht! Nun denn, um so besser! Seine Nationalität wenigstens soll Ihnen ein Geheimnis bleiben. Gehen Sie hinab!«

Ich konnte nicht anders als gehorchen, samt Conseil und dem Kanadier. Fünfzehn Mann von den Leuten der ›Nautilus‹ umgaben den Kapitän und blickten mit unversöhnlichem Hass auf das gegen sie anfahrende Schiff. Man fühlte, wie alle diese Gemüter von gleichem Rachedurst beseelt waren.

Ich begab mich in dem Augenblick hinab, als abermals ein Geschoss auf die ›Nautilus‹ aufschlug, und hörte den Kapitän ausrufen:

»Schieße nur, törichtes Schiff ! Vergeude unnütz deine Kugeln!

Du sollst dem Schnabel der ›Nautilus‹ nicht entgehen. Aber nicht an dieser Stelle sollst du sinken. Ich will nicht, dass deine Trümmer sich mit denen der ›Vengeur‹ vermischen!«

Ich ging wieder auf mein Zimmer. Der Kapitän war mit seinem Lieutenant auf der Plattform geblieben. Die Schraube wurde in Bewegung gesetzt. Die ›Nautilus‹ entfernte sich rasch aus der Schuss

weite des Schiffs. Aber die Verfolgung dauerte fort, indes Kapitän Nemo sich damit begnügte, seine Distanz zu wahren.

Gegen 4 Uhr nachmittags konnte ich die Ungeduld und Unruhe, die mich peinigten, nicht aushalten und begab mich zur Mittelstiege. Die Luke war offen; ich wagte mich auf die Plattform. Der Kapitän ging mit raschen Schritten noch immer auf und ab. Ich sah nach dem Schiff, das 5 bis 6 Meilen unterm Wind ihm standhielt.

Er kreiste um es wie ein Stück Rotwild, zog es östlich und ließ sich von ihm verfolgen. Doch griff er’s nicht an; schwankte er vielleicht noch?

Ich wollte noch einmal ein Wort einlegen. Aber ich hatte den Kapitän kaum angeredet, als er mir Schweigen anbefahl:

»Ich bin im Recht, ich übe Gerechtigkeit!« sagte er zu mir. »Ich bin unterdrückt, und hier ist der Unterdrücker! Durch ihn hab’ ich alles verloren, was ich geliebt und verehrt habe; Vaterland, Weib, Kinder, Vater, Mutter, das alles sah ich zugrunde gehen! Dort ist alles, was ich hasse! Schweigen Sie!«

Ich warf einen letzten Blick auf das Kriegsschiff, das seine Dampfkraft verstärkte. Darauf suchte ich Ned und Conseil auf.

»Wir wollen entfliehen!« rief ich aus.

»Gut«, sagte Ned. »Was ist’s für ein Schiff ?«

»Ich weiß nicht. Aber was es auch für eins sein mag, vor Abend wird es in Grund gebohrt sein. Jedenfalls besser mit ihm untergehen, als an einer Racheübung teilzuhaben, deren Gerechtigkeit man nicht ermessen kann.«

»Der Meinung bin ich auch«, erwiderte Ned Land kalt. »Warten wir die Nacht ab.«

Die Nacht kam heran. Tiefe Stille herrschte an Bord. Der Kompass zeigte, dass die ›Nautilus‹ ihre Richtung nicht geändert hatte.

Ich hörte die Schraube mit reißender Regelmäßigkeit die Wogen schlagen. Sie hielt sich an der Oberfläche des Wassers und in leichtem Schwanken neigte sie bald auf die eine, bald auf die andere Seite.

Ich war mit meinen Gefährten entschlossen, in dem Augenblick zu entfliehen, wo das Schiff nah genug wäre, dass es uns hören oder sehen konnte, denn es war heller Mondschein, einige Tage vor

Vollmond. Wären wir einmal an Bord dieses Schiffs, so wollten wir, wenn es nicht möglich wäre, dem drohenden Stoß zuvorzukommen, wenigstens alles tun, was die Umstände uns zu versuchen gestatten würden. Einige Mal glaubte ich, die ›Nautilus‹ schicke sich zum Angriff an. Aber sie beschränkte sich darauf, ihren Gegner nah an sich herankommen zu lassen, und kurz darauf zog sie sich wieder fliehend zurück.

Ein Teil der Nacht verfloss ohne Zwischenfall. Wir lauerten auf die Gelegenheit zu handeln, sprachen wenig, weil wir zu aufgeregt waren. Ned Land hätte sich gern ins Wasser gestürzt; ich nötigte ihn zu warten. Meiner Ansicht nach sollte die ›Nautilus‹ auf der Oberfläche des Wassers den Zweidecker angreifen und dann wäre eine Flucht nicht nur möglich, sondern leicht.

Um 3 Uhr morgens stieg ich voll Unruhe auf die Plattform. Kapitän Nemo hatte sie nicht verlassen. Er stand auf dem Vorderteil nah bei seiner Flagge, die ein leichter Seewind über seinem Kopf entfaltete. Er behielt das Schiff beständig im Auge. Dieses Schiff hielt sich 2 Meilen von uns entfernt. Es hatte sich genähert, immer auf den phosphoreszierenden Schein zufahrend, der die Anwesenheit der ›Nautilus‹ bezeichnete. Ich sah seine Warnungsfeuer, grün und rot, und seine weiße Schiffsleuchte, die am Fockstag hing. Ein unklarer Widerschein, der auf sein Takelwerk fiel, zeigte an, dass man das Feuern auf den höchsten Grad getrieben hatte. Strahlenbüschel, Schlacken brennender Kohlen, die aus seinen Rauchfängen ausgeworfen wurden, bestrahlten die Atmosphäre.

Ich blieb also bis 6 Uhr früh, ohne dass Kapitän Nemo mich zu bemerken schien. Das Schiff hielt erst in einer Entfernung von 1 1/2

Meilen stand und begann mit Anbruch des Tages seine Kanonade von Neuem. Der Augenblick konnte nicht mehr fern sein, wo ich, während die ›Nautilus‹ ihren Gegner angriff, nebst meinen Genossen diesen Mann für immer verlassen würde.

Ich war im Begriff hinabzugehen, um ihnen davon Kenntnis zu geben, als der Lieutenant von einigen Matrosen begleitet auf die Plattform kam. Kapitän Nemo sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen. Es wurden einige einfache Vorkehrungen getroffen: man legte die Geländereinfassung der Plattform nieder: die Gehäuse des Fa

nals und des Steuerers wurden in den Schiffskörper so weit eingezogen, dass sie dem Boden gleich waren. Die Oberfläche der langen Zigarre von Eisenblech hatte keinen Vorsprung mehr, der ihren Bewegungen hinderlich sein konnte.

Ich begab mich wieder in den Salon. Die ›Nautilus‹ war noch immer auf der Oberfläche. Einiger Dämmerungsschein drang durch die obere Wasserschicht. Der schreckliche 2. Juni brach an.

Um 5 Uhr gab mir das Log zu erkennen, dass die ›Nautilus‹ langsamer fuhr; offenbar wollte sie den Gegner herankommen lassen.

Übrigens wurde der Geschützdonner heftiger, und die Kugeln flogen ringsum.

»Meine Freunde«, sagte ich, »der Augenblick ist da. Einen Handschlag, und Gott sei mit uns!«

Ned Land war entschlossen, Conseil ruhig; ich in allen Nerven erregt, konnte mich kaum halten.

Wir gingen in die Bibliothek. Im Augenblick, als ich die Tür, die zur Mitteltreppe führte, öffnen wollte, hörte ich, dass man die Luke hastig abschloss.

Der Kanadier stürzte zur Treppe, aber ich hielt ihn zurück. Ein wohlbekanntes Rauschen gab mir zu erkennen, dass die Behälter sich mit Wasser füllten. In der Tat tauchte die ›Nautilus‹ unverweilt einige Meter tief unter die Oberfläche des Wassers.

Ich verstand das Manöver. Es war zum Handeln zu spät. Die

›Nautilus‹ hatte nicht vor, den Zweidecker an seinem undurchdringlichen Panzer zu treffen, sondern unterhalb der Wasserlinie, wo er nicht mehr von der Metalldecke geschützt war.

Wir wurden von Neuem eingesperrt, gezwungene Zeugen der Unglückszene, die man vorbereitete. Übrigens hatten wir kaum Zeit, unsere Gedanken zusammen zu fassen. In mein Zimmer geflüchtet, sahen wir uns einander an, ohne ein Wort zu reden. Große Bestürzung befiel meinen Geist; die Bewegung des Gedankens stockte in mir. Ich befand mich in dem peinlichen Zustand, welcher der Erwartung einer fürchterlichen Katastrophe vorausgeht.

Ich wartete, horchte, ich lebte nur noch durchs Gehör!

Inzwischen nahm die Geschwindigkeit der ›Nautilus‹ wirklich zu. So nahm sie ihren Anlauf; sie zitterte am ganzen Körper.

Plötzlich schrie ich auf. Ein Stoß war versetzt worden, doch verhältnismäßig leicht. Ich spürte, wie der stählerne Schnabel kräftig eindrang; ich hörte ein Kratzen und Schaben. Aber die ›Nautilus‹

drang mit der mächtigen Gewalt ihres Stoßes durch die Schiffsmasse wie die Nadel des Segelmachers durch die Leinwand!

Ich konnte mich nicht halten. Bis zum Wahnsinn verstört, stürzte ich aus meinem Zimmer in den Salon.

Kapitän Nemo befand sich darin. Stumm, düster, unversöhnlich schaute er durch das Fenster zur Linken.

Eine enorme Masse sank unter das Wasser, und um von ihrem Todeskampf nichts zu verlieren, senkte sich die ›Nautilus‹ zugleich mit ihr in die Tiefe. In einer Entfernung von 10 Meter sah ich den aufgeschlitzten Schiffskörper, in den mit donnerähnlichem Getöse das Wasser einstürzte, darauf die doppelte Reihe der Kanonen und die Schanzverkleidung. Das Verdeck war mit schwarzen Schattengestalten bedeckt in unruhiger Bewegung.

Das Wasser stieg. Die Unglücklichen schwangen sich ins Tauwerk, kletterten auf die Masten, rangen und drehten sich unterm Wasser. Es war ein Menschenschwarm, vom eindringenden Meer überwältigt!

Gelähmt, starr vor Schrecken, die Haare zu Berge, schaute auch ich mit weit aufgerissenen Augen, stockendem Atem, lautlos! – Unwiderstehlich zog mich’s an das Fenster!

Das enorme Schiff sank langsam in die Tiefe. Die ›Nautilus‹

spähte auf alle seine Bewegungen. Plötzlich eine Explosion. Die zusammengepresste Luft sprengte das Verdeck, als sei Feuer in den Schiffsräumen ausgebrochen. Die Wasser waren so stark in Bewegung, dass die ›Nautilus‹ aus ihrer Richtung kam.

Darauf sank das Unglücksschiff schneller. Sein mit Opfern gefüllter Mastkorb kam zum Vorschein, dann sein mit Menschen belastetes Gebälk, endlich die Spitze seines Hauptmastes. Hierauf verschwand die düstere Masse und mit ihr die ganze Mannschaft als Leichen, in fürchterlichem Wirbel hinabgezogen.

Ich wandte mich um nach Kapitän Nemo. Dieser entsetzliche Henker, ein wahrer Erzengel des Hasses, schaute fortwährend zu.

Als alles zu Ende war, ging der Kapitän auf die Tür seines Zimmer zu, öffnete und trat ein. Ich folgte ihm mit den Augen.

Auf dem hintersten Feld, über den Bildern seiner Heroen, sah ich das Porträt einer noch jungen Frau nebst zwei kleinen Kindern. Kapitän Nemo betrachtete sie einige Augenblicke, breitete die Arme nach ihnen aus und kniete schluchzend nieder.

 


22. KAPITEL

Kapitän Nemos letzte Worte

Die Läden wurden nach diesem schrecklichen Anblick geschlossen, aber das Licht im Salon nicht wieder angezündet. Im Innern der ›Nautilus‹ nur Dunkel und Schweigen. Sie verließ diesen heillosen Ort, 100 Fuß unter Wasser, mit reißender Schnelligkeit. Wohin fuhr sie? Nord- oder südwärts? Wohin floh dieser Mann nach der grauenhaften Racheübung?

Ich begab mich zurück in mein Zimmer, wo Ned und Conseil sich schweigend befanden. Ich empfand ein unüberwindliches Grauen vor Kapitän Nemo. Was er auch vonseiten der Menschen erlitten haben mochte, so zu strafen war er nicht befugt. Er hatte mich, wenn auch nicht zum Mitschuldigen, doch zum Zeugen seiner Untat gemacht! Das war schon zu viel.

Um 11 Uhr kam das elektrische Licht wieder zum Vorschein.

Ich begab mich in den Salon. Er war leer. Ich besorgte die verschiedenen Instrumente. Die ›Nautilus‹ floh nordwärts mit einer Schnelligkeit von 25 Meilen pro Stunde, bald auf der Oberfläche des Meeres, bald 30 Fuß darunter.

Ein Blick auf die Karte zeigte mir, dass wir am Eingang des Kanals fuhren und unsere Richtung uns mit unvergleichlicher Schnelligkeit in die nördlichen Meere führte.

Am Abend hatten wir 200 Lieue des Atlantiks zurückgelegt. Es wurde Nacht, und das Meer war mit Dunkel bedeckt bis zum Aufgang des Mondes.

Ich begab mich wieder in mein Zimmer, konnte nicht schlafen; ich war von Albdrücken geplagt. Die grauenhafte Vernichtungsszene stand immer erneuert vor meinem Geist.

Seit diesem Tag, wer konnte sagen, bis zu welchem Punkt im Nordatlantik die ›Nautilus‹ uns schleppte? Stets mit einer nicht zu schätzenden Schnelligkeit! Stets inmitten hyperboräischer Nebel.

Berührte er die Vorgebirge Spitzbergens oder die Küsten von Novaja Semlja? Durchlief er das Weiße Meer, das Meer von Kara, den Busen des Ob, den Archipel Lizarow und die unbekannten Gestade der aisatischen Küste? Ich kann es nicht sagen, und konnte auch

die verflossene Zeit nicht berechnen. Die Uhren an Bord standen still; Tag und Nacht schienen nicht mehr regelmäßig aufeinander zu folgen.

Ich schätze – aber vielleicht irre ich mich –, dass diese abenteuerliche Fahrt der ›Nautilus‹ 14 bis 20 Tage dauerte, und ich weiß nicht, wie lange sie gedauert haben würde ohne die Katastrophe, womit diese Reise endigte. Vom Kapitän Nemo war nicht mehr die Rede; auch nicht von seinem Lieutenant. Nicht ein Mann von den Bootsleuten ließ sich nur einen Augenblick sehen. Fast beständig fuhr die ›Nautilus‹ unter Wasser, und wenn sie zur Lufterneuerung auftauchte, öffneten oder schlossen sich die Luken automatisch.

Die Lage wurde nicht mehr eingetragen; ich wusste nicht, wo wir uns befanden.

Auch der Kanadier, dessen Geduld und Kraft erschöpft war, ließ sich nicht mehr sehen. Conseil konnte nicht ein Wort aus ihm herausbringen und fürchtete, er möge, in einem Anfall von Wahnsinn oder von schrecklichem Heimweh getrieben, Hand an sich legen.

Er überwachte ihn daher jeden Augenblick mit Hingebung.

Es ist begreiflich, dass unter diesen Umständen die Lage unhaltbar war.

Eines Tages – wann, kann ich nicht angeben – war ich gegen Morgen eingeschlafen, – ein peinigender und krankhafter Schlaf.

Als ich aufwachte, sah ich Ned Land über mich gebeugt und hörte ihn leise sagen:

»Wir wollen entfliehen!«

Ich richtete mich auf.

»Wann wollen wir fliehen?« fragte ich.

»In nächster Nacht. Jede Überwachung scheint von der ›Nautilus‹ verschwunden. Man meint, es herrsche Verstörung an Bord.

Werden Sie bereit sein, mein Herr?«

»Ja. Wo befinden wir uns?«

»Im Angesicht von Land, das ich diesen Morgen mitten im Nebel 20 Meilen östlich wahrgenommen habe.«

»Was für Land?«

»Ich weiß nicht, aber es sei, was es wolle, wir wollen dahin fliehen.«

»Ja! Ned. Ja, wir fliehen diese Nacht, sollte uns auch das Meer verschlingen!«

»Das Meer ist schlimm, der Wind stark, aber 20 Meilen in dem leichten Boot der ›Nautilus‹ zu machen ist für mich nichts Schreckliches. Ich habe unbemerkt einige Lebensmittel und einige Flaschen Wasser hinschaffen können.«

»Ich schließe mich an.«

»Übrigens«, fügte der Kanadier bei, »wenn ich ertappt werde, wehr’ ich mich, lasse mich umbringen.«

»Dann werden wir miteinander sterben, Freund Ned.«

Ich war zu allem entschlossen. Der Kanadier verließ mich. Ich begab mich auf die Plattform, wo ich mich gegen den Wellenschlag kaum halten konnte. Der Himmel war drohend, aber da im dichten Nebel Land in der Nähe war, so musste man fliehen. Kein Tag, keine Stunde war zu verlieren.

Ich kam in den Salon zurück, fürchtete und wünschte zugleich Kapitän Nemo zu treffen, wollte und wollte nicht mehr ihn sehen.

Was hätte ich ihm sagen können? Konnte ich ihm das unwillkürliche Grauen verhehlen, das er mir einflößte? Nein! Besser war, nicht mehr vor sein Angesicht zu kommen. Besser war, ihn vergessen! Und doch!

Wie wurde mir dieser Tag lang, der letzte, den ich an Bord der

›Nautilus‹ verleben sollte! Ich blieb allein. Ned Land und Conseil vermieden mit mir zu reden, aus Furcht sich zu verraten.

Um 6 Uhr speiste ich, aber ich hatte keinen Hunger. Ich zwang mich wider Willen zu essen, um nicht an Kräften schwächer zu werden.

Um halb 7 kam Ned Land auf mein Zimmer und sagte:

»Wir werden uns vor unserer Abfahrt nicht wiedersehen. Um 10 Uhr ist der Mond noch nicht aufgegangen, und die Dunkelheit wird uns zugutekommen. Kommen Sie zum Boot. Ich werde mit Conseil Sie dort erwarten.«

Darauf entfernte sich der Kanadier, ehe ich Zeit hatte, ihm zu antworten.

Ich wünschte über die Richtung der ›Nautilus‹ Auskunft zu haben, und begab mich in den Salon.

Wir fuhren Nord-Nord-Ost unter schrecklicher Geschwindigkeit bei 50 Meter Tiefe.

Ich warf einen letzten Blick auf diese Wunder der Natur, auf die in diesem Museum gehäuften Schätze der Kunst, auf diese unvergleichliche Sammlung, die einst in der Tiefe des Meeres zugleich mit ihrem Gründer zugrunde gehen sollte. Ich wünschte in meinem Geist einen letzten Eindruck festzuhalten. Eine Stunde lang blieb ich hier, in der hellen Beleuchtung die Schätze musternd, die unter ihren Glaskästen glänzten. Darauf kehrte ich auf mein Zimmer zurück.

Hier zog ich dauerhafte Meerkleidung an, nahm meine Notizen zusammen und steckte sie wie Kostbarkeiten zu mir. Mein Herz pochte gewaltig; seine Schläge ließen sich nicht hemmen. Gewiss, meine Unruhe, meine Aufregung würden mich Kapitän Nemo verraten haben.

Was tat er in diesem Moment? Ich horchte an der Tür seines Zimmers; hörte da Fußtritte. Der Kapitän war darin; er hatte sich nicht zu Bett gelegt. Bei jeder Bewegung kam es mir vor, er werde zu mir treten und mich fragen, weshalb ich fliehen wollte! Ich empfand unablässige Beunruhigung. Meine Einbildungskraft vergrößerte sie noch. Diese Empfindungen waren so peinigend, dass ich mich fragte, ob es nicht besser wäre, ins Zimmer des Kapitäns zu treten, ihm gerade ins Angesicht zu sehen, mit Blick und Gebärde zu trotzen!

Ein wahnsinniger Gedanke. Glücklicherweise tat ich’s nicht und legte mich auf mein Bett, um die körperliche Aufregung in mir zu stillen. Meine Nerven wurden ein wenig ruhiger, aber bei der Überspannung meines Gehirns überblickte ich in rascher Erinnerung mein ganzes Leben an Bord der ›Nautilus‹, alle die glücklichen oder unglücklichen Erlebnisse seit meinem Verschwinden von der ›Abraham Lincoln‹ bis zu der grässlichen Szene des mit seiner Mannschaft versenkten Schiffs. Da erschien mir Kapitän Nemo über die Maßen groß, als ein Charakter von übermenschlichen Verhältnissen, der seinesgleichen nicht hatte.

Es war damals halb 10. Ich hielt meinen Kopf mit beiden Händen, damit er nicht zerspringe. Ich schloss die Augen; wollte nicht

mehr denken. Also noch eine halbe Stunde! Das Warten konnte mich zum Narren machen!

In dem Augenblick vernahm ich die Akkorde der Orgel, eine traurige Harmonie, eine unbeschreibliche Melodie, den klagenden Ausdruck einer Seele, die ihre irdischen Bande sprengen will. Ich lauschte mit allen Sinnen zugleich, kaum atmend, gleich Kapitän Nemo in die musikalische Entzückung versenkt, die ihn über die Grenzen dieser Welt hinauszog.

Darauf erschreckte mich ein plötzlicher Gedanke. Kapitän Nemo befand sich in dem Saal, durch den ich kommen musste, um zu entfliehen. Hier sollte ich ihn zum letzten Mal treffen. Er würde mich sehen, vielleicht mit mir sprechen! Eine Bewegung von ihm konnte mich vernichten, ein einziges Wort mich an seinen Bord fesseln!

Indessen war es gleich 10 Uhr. Der Zeitpunkt war gekommen, wo ich mein Zimmer verlassen und zu meinen Gefährten mich begeben musste.

Es war nicht mehr zu zögern, sollte auch Kapitän Nemo mir entgegentreten. Ich öffnete behutsam meine Tür, und doch schien mir’s, als knarrte sie in den Angeln. Vielleicht bildete ich mir’s auch nur ein.

Ich schlich weiter durch die dunklen Gänge der ›Nautilus‹, hielt bei jedem Schritt inne, um mein Herzklopfen zu unterdrücken.

Als ich an der Ecktür des Salons ankam, öffnete ich leise. Der Salon lag in tiefem Dunkel; die Akkorde der Orgel klangen schwach.

Kapitän Nemo befand sich da, sah mich aber nicht. Ich glaube sogar, bei hellem Tageslicht hätte er mich nicht bemerkt, so sehr war er in Entzücken versunken.

Ich schlich auf dem Teppich und vermied das geringste Geräusch, das meine Anwesenheit verraten hätte. Ich brauchte 5 Minuten, um zu der Tür zu gelangen, die zur Bibliothek führte.

Ich war im Begriff, sie zu öffnen, als ein Seufzen des Kapitäns mich an der Stelle fesselte. Er stand auf, kam auf mich zu, mit gekreuzten Armen, schweigend, schwebend wie ein Gespenst. Er schluchzte aus gedrückter Brust, und ich hörte ihn murmeln – die letzten Worte, die ich aus seinem Mund vernahm:

»Allmächtiger Gott! Genug! Genug!«

War’s ein Ausdruck von Gewissensbissen? ...

Ganz bestürzt eilte ich in die Bibliothek. Ich stieg die Mitteltreppe hinauf und gelangte durch den oberen Gang zum Boot.

Durch die Öffnung, die bereits meinen beiden Gefährten gedient hatte, stieg ich ein.

»Fort nur! fort!« rief ich.

»Im Augenblick!« erwiderte der Kanadier.

Die in dem Eisenblech der ›Nautilus‹ ausgeschnittene Öffnung wurde erst geschlossen, und mit einem englischen Schlüssel, den sich Ned Land zu verschaffen gewusst hatte, zugeschraubt. Ebenso auch die Öffnung des Boots und der Kanadier fing an die Schrauben zu öffnen, die uns noch am unterseeischen Boot festhielten.

Da vernahm man plötzlich ein Geräusch innen; Stimmen in lebhaftem Wortwechsel. Was gab’s? Hatte man unsere Flucht bemerkt? Ned Land steckte mir still einen Dolch in die Hand.

»Ja?« murmelte ich, »wir werden zu sterben wissen!«

Der Kanadier hatte mit seiner Arbeit innegehalten. Doch ein Wort, zwanzigmal wiederholt, ein fürchterliches Wort enthüllte mir die Ursache dieser unruhigen Bewegung an Bord der ›Nautilus‹. Uns galt die Aufregung nicht!

»Maelstrom! Maelstrom!« rief es.

Der Maelstrom! Ein schrecklicheres Wort in einer schrecklicheren Lage hätten wir nicht hören können. Wir befanden uns also an dieser gefährlichen Stelle der norwegischen Küste? Wurde die

›Nautilus‹ in diesen Abgrund gerissen im Moment, wo unser Boot sich von ihm loszumachen im Begriff war?

Bekanntlich bilden die zwischen den Färoer- und Lofoteninseln eingeengten Gewässer zur Zeit der Flut einen Strudel mit unwiderstehlicher Gewalt, dem noch niemals irgendein Schiff entronnen ist. Von allen Seiten des Horizonts her strömen ungeheuerliche Wogen hier zusammen, und die Anziehungskraft dieses Strudels erstreckt sich auf eine Entfernung von 15 Kilometer, sodass nicht allein Schiffe, sondern auch die Walfische und Eisbären fortgerissen werden.

Hierhin war die ›Nautilus‹ von ihrem Kapitän – ohne oder vielleicht mit Absicht – geleitet worden. Sie beschrieb eine Spirallinie,

deren Umfang stets enger wurde. Mit ihr wurde auch das noch daran befestigte Boot in schwindelhaftem Zug fortgerissen. Todesschrecken befiel uns, im höchsten Grauen stockte das Blut, kalter Schweiß drang auf die Stirne! Und welches Getöse um unser zerbrechliches Boot herum! Ein Brausen, das vom Echo wiederholt gehört wurde. Ein Krachen der Wogen, die sich auf den Felsenspit

zen meilenweit brachen im tiefen Grund, wo die härtesten Körper zerschmettert werden.

Welche Lage! Wir wurden grässlich hin und her geschleudert.

Die ›Nautilus‹ verteidigte sich, dass ihre eisernen Muskeln krachten.»Wir müssen wacker festhalten«, sagte Ned, »und die Schrauben wieder befestigen! Bleiben wir an der ›Nautilus‹ fest, so können wir uns noch retten!...«

Er hatte noch nicht ausgeredet, als es krachte. Die Schrauben mangelten, das Boot wurde aus seinem Gehäuse gerissen und wie ein Stein aus einer Schleuder mitten in den Strudel geworfen.

Mein Kopf wurde gegen einen eisernen Rahmen geschmettert, und bei der heftigen Erschütterung verlor ich die Besinnung.

 


23. KAPITEL

Schluss

Hiermit schließt die unterseeische Reise. Was diese Nacht vorfiel, wie das Boot aus dem furchtbaren Wirbel des Maelstroms entrann, wie ich mit Ned Land und Conseil aus dem Schlund wieder herauskam, kann ich nicht sagen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer Fischerhütte der Lofoteninseln. Meine beiden Gefährten waren gesund und wohlbehalten an meiner Seite und drückten mir die Hände. Wir umarmten uns mit Innigkeit.

In diesem Augenblick können wir nicht daran denken, nach Frankreich zurückzukehren. Die Verkehrsmittel zwischen dem nördlichen Norwegen und dem Süden sind spärlich! Ich muss daher die Vorüberfahrt des Dampfboots abwarten, das alle 2 Monate nach dem Nordkap fährt.

Hier also, umgeben von den braven Leuten, die uns aufgenommen haben, sehe ich die Erzählung dieser Abenteuer durch. Sie ist genau: keine Tatsache ist übergangen, kein Detail übertrieben worden. Es ist der treue Bericht über diese unwahrscheinliche Fahrt unter einem für den Menschen unzugänglichen Element, dessen Bahnen der Fortschritt dereinst eröffnen wird.

Wird man mir glauben? Ich weiß es nicht. Es liegt auch nicht viel daran. Ich habe jetzt, kann ich wohl versichern, das Recht, über diese Meere zu reden, unter denen ich nicht allein volle 10 Monate, 20.000 Meilen zurückgelegt habe; von dieser unterseeischen Reise zu erzählen, die mir so manche Wunder im Pazifik, dem Indischen Ozean, dem Roten Meer, dem Mittelmeer, dem Atlantik, dem nördlichen und südlichen Eismeer enthüllte.

Aber, was ist aus der ›Nautilus‹ geworden? Hat sie dem gewaltigen Druck des Maelstroms widerstanden! Verfolgte sie ihre schrecklichen Repressalien weiter, oder ist sie bei dieser letzten Hekatombe stehen geblieben? Werden uns die Fluten eines Tages das Manuskript mit seiner ganzen Lebensgeschichte zuführen? Werde ich endlich den Namen dieses Mannes erfahren?

Ich hoffe es. Hoffe ebenfalls, dass sein mächtiges Fahrzeug das Meer in seinem schrecklichsten Schlund überwältigt und dass die

›Nautilus‹ unbeschädigt geblieben ist, wo so viele Schiffe zugrunde gegangen sind! Wenn das letztere der Fall ist, wenn Kapitän Nemo immer noch im Meer haust, seinem Adoptivvaterland, so möge der Hass in diesem wilden Gemüt sich beschwichtigen lassen! Die Anschauung so vieler Wunder möge den Rachedurst in ihm austilgen!

Möge der strafende Richter aufhören, und der Gelehrte die friedliche Erforschung des Meeres fortsetzen. Das seltsame Geschick ist auch ein erhabenes. 10 Monate habe ich das außernatürliche Leben geführt.

Vor 6.000 Jahren hieß es, wie geschrieben steht: »Wer hat je die Tiefen des Abgrunds zu erforschen vermocht?« Zwei Männer sind die einzigen in der Menschenwelt, die jetzt die Antwort auf diese Frage geben können. Kapitän Nemo – und ich.

 

Reiseromane