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10. KAPITEL

Unterseeische Kohlenminen

Am folgenden Tag, dem 20. Februar, stand ich sehr spät auf. Die Ermüdung der nächtlichen Partie hatte mich bis 11 Uhr zu Bett gehalten. Ich zog mich rasch an, um mich bald über die Richtung der

›Nautilus‹ zu versichern. Die Instrumente gaben mir an, dass er mit einer Schnelligkeit von 20 Meilen in der Stunde bei einer Tiefe von 100 Metern stets südlich fuhr.

Conseil trat ein. Ich erzählte unseren nächtlichen Ausflug, und da die Läden geöffnet waren, so konnte er noch einen Teil des versunkenen Kontinents aus der Ferne erkennen.

Die ›Nautilus‹ fuhr in der Tat nur 10 Meter hoch über dem Boden der Atlantis hin, und zwar so schnell wie ein Ballon, den der Wind über Wiesenland treibt; richtiger gesagt, wir waren in die

sem Salon wie in dem Waggon eines Eilzugs. Der Vordergrund vor unseren Augen bestand aus fantastisch zugeschnittenen Felsen, Bäumen, die bereits aus dem Pflanzen- ins Mineralreich übergegangen waren; ferner aus steinigen Massen mit einem Teppich von Axidien und Anemonen bedeckt, voll langen senkrechten Wasserpflanzen; ferner aus seltsam gestalteten Lavablöcken, die von der wütenden Gewaltsamkeit plutonischer Umgestaltungen Zeugnis gaben.

Während diese bizarren Landschaften in der Beleuchtung unseres elektrischen Lichts glänzten, erzählte ich Conseil von jenen Atlanten, von den Kriegen dieser Heroenzeit. Ich besprach die Frage der Atlantis wie ein Mann, der davon überzeugt ist. Aber Conseil, in voller Zerstreuung, zeigte wenig Sinn für diesen historischen Punkt. Zahlreiche Fische zogen seine Blicke an, und in die Tiefen der Klassifikation versunken, befand er sich nicht mehr in der wirklichen Welt. Ich schloss mich ihm an in ichthyologischen Untersuchungen.

Übrigens zeigten die Fische des Atlantiks keinen erheblichen Unterschied von den bisher beobachteten. Es waren Rochen von riesenhafter Größe, 5 Meter lang und von ungeheurer Muskelkraft, sodass sie sich über die Oberfläche des Wassers emporschnellen konnten; verschiedene Arten Haifische, unter anderen ein blaugrüner, 15 Fuß langer, der wegen seiner Durchsichtigkeit mitten im Wasser fast unsichtbar war, braune Speerhaie, Störe gleich denen im Mittelmeer, Seepferde, Trompetenfische, 1 1/2 Fuß lang, gelbbraune, mit kleinen grauen Flossen, ohne Zähne noch Zunge.

Unter den Knochenfischen notierte Conseil schwärzliche Makaïra, 3 Meter lang und mit einem scharfen Degen am Oberkiefer; Seedrachen von lebhaften Farben, die wegen der Stacheln ihrer Rückenflossen schwer zu fangen sind, schöne Goldbrassen; 8 Meter lange Schwertfische, die truppweise ziehen, mit gelblichen sichelförmigen Flossen und 6 Fuß langen Schwertern, unverzagte Tiere, die jedoch mehr von Pflanzen als Fischen leben und ihren Weibchen auf einen Wink gehorchen wie ein bestgezogener Ehemann.

Aber neben der Beobachtung der Seefauna verabsäumte ich nicht, die ausgedehnten Ebenen der Atlantis zu untersuchen.

Manchmal war die ›Nautilus‹ durch launenhafte Unebenheiten des Bodens genötigt, langsam zu fahren, und glitt dann so gewandt wie ein Delfin durch die engen Wege zwischen Hügeln. War dies unmöglich, so stieg sie wie ein Luftballon aufwärts und setzte, nachdem das Hindernis beseitigt war, ihre Schnellfahrt einige Meter tiefer fort. Diese Fahrt war reizend zum Staunen, ähnlich den Bewegungen einer Luftschifffahrt, nur dass die ›Nautilus‹ folgsam der Hand seines Steuerers gehorchte.

Um 4 Uhr abends zeigte das Erdreich, das im allgemeinen aus dichtem Schlamm mit mineralisiertem Gezweig vermischt bestand, allmählich eine andere Beschaffenheit; es wurde steinig und schien bedeckt mit einem Gemenge von Basalttuff mit einigen Lagen Lava mit schwefligem Obsidian. Ich dachte, auf die ausgedehnten Ebenen werde bald die Bergregion folgen, und wirklich, bei einigen Schwenkungen der ›Nautilus‹ sah ich den südlichen Horizont durch eine hohe Wand versperrt, die jeden Ausweg abzuschneiden schien. Sie ragte offenbar über den Meeresspiegel hinan.

Es musste ein Kontinent oder wenigstens eine Insel sein, eine der Kanarischen oder Kapverdischen. Wo wir uns befanden, war mir völlig unbekannt. Jedenfalls schien eine solche Wand das Ende der Atlantis, wovon wir nur einen sehr kleinen Teil durchstreift hatten, zu bilden.

Die Nacht unterbrach meine Beobachtungen nicht. Ich befand mich allein, da Conseil sich in seine Kabine begeben hatte. Die

›Nautilus‹ fuhr langsam, bewegte sich leicht über unklaren Massen des Bodens, bald daran hinstreifend, bald zur Oberfläche aufsteigend. Dann sah ich durch die Gewässer einige lebhafte Sternbilder, oben gerade von denjenigen, die zum Schweif des Orion gehören.

Ich wäre noch lange an meinem Fenster geblieben, um die Schönheiten des Meeres und Himmels zu bewundern – da schlossen sich die Läden. Die ›Nautilus‹ war eben an die senkrechte Wand gekommen. Wie sie nun manövrieren würde, konnte ich nicht erraten. Ich begab mich auf mein Zimmer. Die ›Nautilus‹ rührte sich nicht. Ich schlief ein, fest entschlossen, nach einigen Stunden wieder aufzustehen.

Aber am folgenden Morgen kam ich erst um 8 Uhr in den Salon.

Ich sah auf das Manometer und fand, dass die ›Nautilus‹ auf der Oberfläche des Meeres schwamm. Ich vernahm übrigens Fußtritte auf der Plattform. Doch verriet kein Schwanken den Wellenschlag des Meeresspiegels.

Ich stieg zur Lukenöffnung; sie war geschlossen. Aber anstatt des Tageslichts, wie ich erwartete, sah ich mich von dichtem Dunkel umgeben. Wo befanden wir uns? Hatte ich mich geirrt? War es noch Nacht? Nein, es schimmerte kein Stern, und so stockfinstere Nacht gibt’s nicht.

Ich wusste nicht, was ich davon denken sollte, als eine Stimme mich anrief:

»Sind Sie’s, Herr Professor?«

»Ah! Kapitän Nemo«, erwiderte ich, »wo sind wir?«

»Unter der Erde, Herr Professor.«

»Unter der Erde!« rief ich aus. »Und die ›Nautilus‹ schwimmt noch?«

»Sie schwimmt fortwährend.«

»Aber, ich begreife nicht?«

»Warten Sie einige Augenblicke. Unsere Leuchte wird angezündet werden, und wenn Sie Klarheit lieben, sollen Sie befriedigt werden.«

Ich betrat die Plattform und wartete. Das Dunkel war so vollständig, dass ich nicht einmal Kapitän Nemo wahrnehmen konnte.

Doch als ich zum Zenit aufblickte, gerade über meinem Kopf, glaubte ich einen unbestimmten Schimmer zu bemerken, eine Art Dämmerlicht durch ein rundes Loch. In dem Augenblick wurde die Leuchte plötzlich angezündet, und vor ihrem lebhaften Glanz verschwand jener unbestimmte Schimmer.

Einen Augenblick musste ich meine durch das elektrische Licht geblendeten Augen schließen, dann blickte ich umher. Die ›Nautilus‹ lag still auf der Wasserfläche neben einer steilen Küste, die wie ein Kai gestaltet war. Dies Meer, worauf er eben lag, war ein See, umschlossen von Felswänden in einem Umkreis, der 2 Meilen Durchmesser, also 6 Meilen Umfang hatte. Sein Wasserspiegel konnte nur – das Manometer wies es nach – von gleicher Höhe wie der äußere sein, denn es fand notwendig eine Verbindung zwi

schen diesem See und dem Meere statt. Die hohen Wände wölbten sich oben und bildeten einen ungeheuren umgekehrten Trichter von 5 bis 6 Meter Höhe. An der Spitze befand sich eine kreisrunde Öffnung, durch die ich den matten Schein, offenbar vom Tageslicht, bemerkt hatte.

Bevor ich die innere Beschaffenheit dieser enormen Höhle auf

merksam untersuchte, bevor ich mir die Frage vorlegte, ob sie ein Werk der Natur oder des Menschen sei, wendete ich mich an Kapitän Nemo.

»Wo sind wir?« fragte ich.

»Mitten im Zentrum eines erloschenen Vulkans«, erwiderte mir der Kapitän, eines Vulkans, in dessen Inneres das Meer eingedrungen ist infolge einer Zerreißung des Bodens. Während Sie schliefen, Herr Professor, ist die ›Nautilus‹ durch einen natürlichen Kanal, 10

Meter unter dem Meeresspiegel, in diesen See eingelaufen. Hier ist ihr Haupthafen, ein sicherer, bequemer, geheimnisvoller, gegen alle Windstriche geschützt! Ist denn auf den Küsten Eurer Kontinente oder Inseln eine Reede zu finden, die eine so sichere Zuflucht und Schutz gegen wütende Orkane böte.«

»Wahrhaftig«, erwiderte ich, »hier sind Sie in Sicherheit, Kapitän Nemo. Wer könnte im Zentrum eines Vulkans Ihnen beikommen?

Aber habe ich nicht in seinem Gipfel eine Öffnung bemerkt?«

»Ja, sein Krater, der vormals von Lava, Dünsten und Flammen erfüllt, nun diese erquickende Luft, die wir einatmen, hereinlässt.«

»Aber was ist es für ein vulkanischer Berg?« fragte ich.

»Er gehört zu einem der zahlreichen Eilande, womit dieses Meer bedeckt ist. Nur eine Klippe für die Schiffe, für uns eine unermessliche Höhle. Der Zufall hat mich sie finden lassen und hat mir damit sehr genützt.

»Aber könnte man nicht durch diese Öffnung, die den Krater des Vulkans bildet, hinabsteigen?«

»Ebenso wenig wie ich hinaufsteigen könnte. Bis zu einer Höhe von 100 Fuß ist der untere Teil des Berges innen zu ersteigen, aber darüber hinaus hängen die Wände über, und auf ihren Abhängen kann man nicht hinaufkommen.«

»Ich sehe, Kapitän, dass die Natur Ihnen überall und immer zu Diensten ist. Sie sind auf diesem See in Sicherheit, und kein Mensch außer Ihnen kann seine Gewässer besuchen. Aber wozu ein Zufluchtsort? Die ›Nautilus‹ bedarf eines Hafens nicht.«

»Nein, Herr Professor, aber sie bedarf Elektrizität, um sich zu bewegen, Elemente zur Erzeugung ihrer Elektrizität; Sodium, um die Elemente zu nähren; Kohle, um ihr Sodium zu bereiten, und

Kohlenminen, um ihre Kohlen zu gewinnen. Nun aber bedeckt das Meer eben hier ganze Wälder, die in der Urzeit versanken und, mineralisiert und in Steinkohle verwandelt, mir eine unerschöpfliche Vorratsgrube bilden.«

»Ihre Matrosen also, Kapitän, sind die Grubenleute?«

»Jawohl. Diese Minen laufen unter dem Meer her wie die Gruben von Newcastle. Hier holen meine Leute in ihren Skaphandern, mit Hacke und Schaufel die Kohle, welcher ich aus den Gruben der Erde nicht bedarf. Wenn ich diesen Stoff für Gewinnung des Sodiums verbrenne, bekommt der Berg durch den aus dem Krater aufsteigenden Dampf noch das Aussehen eines tätigen Vulkans.«

»Und wir können Ihre Leute bei der Arbeit sehen?«

»Nein, diesmal wenigstens nicht, denn ich habe Eile, unsere unterseeische Fahrt fortzusetzen. Darum beschränke ich mich jetzt darauf, aus meinem Vorrat von Sodium mich zu versehen. Wir brauchen nur einen Tag, um es an Bord zu schaffen, dann werden wir unsere Fahrt fortsetzen. Wenn Sie also, Herr Arronax, diese Zeit benutzen wollen, diese Höhle zu durchwandern und den See rings zu befahren, so steht’s in Ihrem Belieben.«

Ich dankte dem Kapitän und suchte meine Gefährten auf, die noch nicht aus ihrer Kabine herausgekommen waren. Ich lud sie ein, mir zu folgen, ohne ihnen zu sagen, wo sie sich befanden.

Sie kamen auf die Plattform. Conseil, der über nichts mehr sich verwunderte, sah es als etwas ganz Natürliches an, dass er unter einem Berg aufwachte, nachdem er unter dem Wasser eingeschlafen war. Aber Ned Land hatte keinen anderen Gedanken, als zu forschen, ob die Höhle nicht einen Ausgang habe.

Nach dem Frühstück, gegen 10 Uhr, stiegen wir aus an die Küste.

»Da sind wir einmal wieder auf dem Land«, sagte Conseil.

»Das nenn’ ich nicht ›Land‹«, erwiderte der Kanadier. Und zudem sind wir nicht darauf, sondern darunter.«

Zwischen dem Fuß der Gebirgswände und dem Wasser des Sees zog sich ein sandiger Uferrand, der, wo am weitesten, 500 Fuß breit war. Auf diesem sandigen Rand konnte man leicht um den See herumgehen. Aber die Basis der hohen Wände bildete ein unebe

ner Boden, worauf malerisch aufgeschichtet vulkanische Felsblöcke und ungeheure Bimssteine lagen. Alle diese durcheinandergeworfenen Massen, durch die Einwirkung der unterirdischen Feuer mit einem glatten Schmelz bedeckt, warfen, wenn die elektrischen Strahlen der Leuchte sie trafen, einen schimmernden Glanz zurück. Der Glimmerstaub des Ufers, den unsere Tritte erregten, flog auf gleich einer Wolke von Funken.

Der Boden erhob sich merklich, sowie man sich von dem Wasser entfernte, und wir gelangten bald zu langen, gewundenen Aufwegen, wahren Anbergen, die allmählich hinaufzukommen gestatteten, aber man musste inmitten dieser von keinem Bindemittel zusammengehaltenen Haufen vorsichtig schreiten, und der Fuß glitt auf diesen glasartigen Trachyten, die aus Kristallen von Feldspat und Quarz gebildet waren.

Die vulkanische Natur dieser enormen Höhlung bestätigte sich allerwärts. Ich machte meine Gefährten darauf aufmerksam.

»Können Sie sich vorstellen«, fragte ich sie, »wie dieser Trichter sein müsste, wenn er mit siedender Lava sich füllte und das Niveau dieser glühenden Masse bis zur Mündung des Berges stieg, wie das siedende Metall über die Wände des Gießofens?«

»Ich kann mir’s völlig so vorstellen«, erwiderte Conseil. »Aber kann mir mein Herr sagen, weshalb der große Gießer seine Verrichtung eingestellt hat und woher es kommt, dass an die Stelle des Gießofens ein See mit so stillem Wasser getreten ist?«

»Sehr wahrscheinlich, Conseil, weil irgendeine gewaltsame Zerklüftung unterhalb der Meeresoberfläche diese Öffnung hervorgebracht, die der ›Nautilus‹ zur Einfahrt gedient hat. Da stürzten die Wasser des Atlantiks ins Innere des Berges hinein. Es gab dann einen fürchterlichen Kampf zwischen beiden Elementen, aus dem Neptun als Sieger hervorging. Aber es sind seitdem viele Jahrhunderte verflossen, und der vom Wasser überwältigte Vulkan hat sich zu einer friedlichen Grotte umgewandelt.«

»Sehr richtig«, versetzte Ned Land. »Ich lasse die Erklärung gelten, aber ich bedauere in unserm Interesse, dass diese Öffnung, wovon der Herr Professor spricht, nicht oberhalb des Meeresspiegels entstanden ist.«

»Aber, Freund Ned«, erwiderte Conseil, »wäre diese Öffnung nicht unter der See gewesen, so hätte die ›Nautilus‹ nicht dahin gelangen können!«

»Und ich will hinzufügen, Meister Land, die Wasser wären dann nicht unter dem Berg eingedrungen, und der Vulkan wäre Vulkan geblieben. Ihr Bedauern ist also überflüssig.«

Wir stiegen weiter aufwärts. Die Aufwege wurden immer steiler und enger. Mitunter wurden sie von tiefen Schluchten unterbrochen, über die man setzen musste. Überhängende Massen mussten umgangen werden. Man glitt auf den Knien, man rutschte auf dem Bauch. Aber mithilfe der Geschicklichkeit Conseils und der Kraft des Kanadiers wurden alle Hindernisse überwunden.

In einer Höhe von etwa 30 Meter änderte sich die Beschaffenheit des Bodens, ohne dass er darum bequemer zu passieren wurde.

An der Stelle der Konglomerate und Trachyte traten schwarze Basalte; diese zogen teils in blasigen Streifen, teils bildeten sie regelmäßige Prismen, die sich wie eine Kolonnade reihten, auf der das ungeheure Gewölbe ruhte, ein staunenswertes Muster natürlicher Architektur. Sodann schlängelten sich weithin Gänge kalt gewordener Lava mit Harzstreifen durchzogen, und stellenweise bereiteten sich weite Schwefellager. Durch den oberen Teil des Kraters fiel ein stärkeres Licht herein und übergoss mit einem Dämmerschein alle diese für immer im Schoß des erloschenen Gebirges vergrabenen vulkanischen Auswürfe.

Doch wurde unser Aufsteigen bald auf einer Höhe von etwa 250 Fuß durch unüberwindliche Hindernisse gehemmt. Die innere Wölbung wurde überhängend, und wir mussten nun seitwärts um den See herumwandern. Auf dieser Stufe fing das Tierreich an mit dem Mineralreich zu ringen. Es ragten einige Gebüsche und selbst Bäume aus den Krümmungen der Wand. Ich erkannte Euphorbien und Heliotropien. Diese letzteren konnten freilich nicht sich der Sonne zuwenden, weil ihre Strahlen nicht zu ihnen reichten; einige Chrysanthemen wuchsen schüchtern neben Aloe mit langen, traurigen und kränkelnden Blättern. Aber zwischen den Lavagängen bemerkte ich kleine Veilchen, die noch leicht dufteten, und erquickte mich an dem köstlichen Geruch.

Wir waren zu einem Gebüsch gekommen, das mit starken Wurzeln die Felsen auseinandertrieb, als Ned Land ausrief:

»Mein Herr, ein Bienenstock!«

»Ein Bienenstock!« versetzte ich mit ungläubiger Miene.

»Ja! ein Bienenstock«, wiederholte der Kanadier, »und da summen Bienen herum.«

Ich trat hinzu und musste mich durch den Augenschein überzeugen. Es fanden sich da, an der Mündung eines Loches in einem hohlen Baum einige tausend dieser fleißigen Insekten, die auf den Kanarischen Inseln sehr häufig sind, wo man auch den Honig sehr zu schätzen weiß.

Ganz natürlich wünschte da der Kanadier sich mit Honig zu versehen, und er hätte mir’s sehr übel genommen, wenn ich ihm hätte entgegen sein wollen. Er zündete mit seinem Feuerstahl ein Häufchen dürrer Blätter mit Schwefel vermischt an, und ließ den Rauch zu den Bienen dringen. Bald hörte das Summen auf, und die Waben lieferten einige Pfund duftenden Honig, den Ned Land in seinem Ranzen barg.

»Wenn ich diesen Honig mit dem Teig vom Brotfruchtbaum menge«, sagte er, »bin ich imstande, Ihnen einen schmackhaften Kuchen vorzusetzen.«

»Potz!« sagte Conseil, »das gibt ja Lebkuchen.«

»Lassen wir jetzt den Lebkuchen«, sagte ich, »und setzen unseren interessanten Spaziergang fort.«

Nachdem wir auf dem Pfade, worauf wir uns befanden, noch etwas weiter gegangen, lag der See in seiner ganzen Ausdehnung vor unseren Blicken. Die Leuchte ließ seinen riesigen Spiegel vollständig erkennen, wie er ohne Wellen und Runzeln war. Die ›Nautilus‹

hielt sich völlig unbeweglich. Auf ihrer Plattform und dem Ufer regte sich die Mannschaft gleich schwarzen Schatten, die mitten aus dem Lichtkreise sich deutlich hervorhoben.

In diesem Augenblick kamen wir um die höchste Spitze des Vordergrunds der Felsen, auf der das Gewölbe ruhte. Da sah ich, dass Bienen nicht die einzigen Repräsentanten des Tierreichs im Innern dieses Vulkans waren. Raubvögel schweiften und streiften hier und da im Dunkel oder flohen aus ihren Nestern auf Felsen

spitzen. Es waren Sperber und schreiende Weihe. Auf den Abhängen gab’s auch hübsche fette Trappen, die so schnell, als ihre Läufe sie trugen, davoneilten. Man kann sich denken, wie der Kanadier Lust nach einem solchen Braten bekam, und wie leid es ihm war, keine Flinte zur Hand zu haben. Er versuchte durch Steine das Blei zu ersetzen, und es gelang ihm auch, nach einigen fruchtlosen Versuchen, eins der prächtigen Tiere zu verwunden. Zwanzigmal, das ist reine Wahrheit, setzte er sein Leben daran, bis dass er es in seinen Sack zu den Lebkuchen bekam.

Darauf mussten wir uns wieder abwärts nach dem Ufer zuwenden, denn auf den Gebirgskamm konnten wir nicht gelangen. Über uns sah der klaffende Krater aus wie eine weite Brunnenmündung.

Von dieser Stelle aus konnte man den Himmel ziemlich klar erkennen, und ich sah vom Westwind zerzaustes Gewölk ziehen, das mit seinen Nebelfetzen am Gipfel des Berges streifte, also in mäßiger Höhe, denn der Vulkan ragte nicht mehr als 800 Fuß über den Meeresspiegel.

Eine halbe Stunde nach der letzten Tat des Kanadiers waren wir wieder am inneren Ufer angelangt. Hier war die Flora durch ein dichtes Beet Meerfenchel repräsentiert, die kleinen Schirmpflänzchen, die man gern zum Einmachen verwendet. Conseil sammelte einige Büschel davon. Die Fauna zählte nach Tausenden, Schaltiere aller Art, Hummer, Krabben, Palämon, Feldspinnen, Seejungfern und eine zahllose Menge von Muscheln, Porzellan-, Purpurschnecken, Napfmuscheln.

Hier öffnete sich eine prachtvolle Grotte. Wir genossen ein wahres Vergnügen, uns auf den feinen Sand hinzustrecken. Ihre Wände waren vom Feuer glatt emailliert und funkelnd, ganz mit Glimmerstaub bestreut. Ned Land betastete die Wände, als wolle er untersuchen, wie dick sie seien. Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten. Die Unterhaltung wendete sich auf die ewigen Entweichungsprojekte, und ich glaubte, ohne Übertreibung, ihm die Hoffnung geben zu können, Kapitän Nemo sei nur deshalb so weit nach Süden gegangen, um sich mit Sodium zu versehen. Ich hoffte demnach, er werde jetzt sich wieder den Küsten Europas und Amerikas

nähern; dann sei es möglich, mit mehr Aussicht auf Erfolg den gescheiterten Versuch nochmals zu machen.

Seit einer Stunde hatten wir uns in dieser reizenden Grotte gelagert. Die anfangs so belebte Unterhaltung stockte, und wir neigten zum Schlaf. Da ich gar keinen Grund sah, dieser Neigung Widerstand zu leisten, so gab ich mich tiefem Schlummer hin. Ich

träumte – die Träume liegen nicht in unserer Wahl –, ich träumte, mein Dasein habe sich nun auf das vegetative Leben einer Molluske eingeengt. Es kam mir vor, diese Grotte bilde die doppelte Schale meiner Muschel ...

Da weckte mich plötzlich Conseils lauter Ruf:

»Auf ! Auf !« schrie der wackere Junge.

»Was gibt’s?« fragte ich und richtete mich etwas auf.

»Das Wasser dringt auf uns ein!«

Ich sprang auf. Das Meer stürzte reißend wie ein Bergstrom in unsere Zufluchtsstätte, und da wir keine Molluske waren, so mussten wir allerdings flüchten.

In einigen Augenblicken waren wir in Sicherheit auf dem höchsten Punkt ebendieser Grotte.

»Was geht denn vor?« fragte Conseil. »Ist’s ein neues Phänomen?«

»Nein! meine Freunde«, erwiderte ich, »es ist die Flut, nichts weiter. Der Ozean schwillt draußen an, und nach dem Naturgesetz muss auch der Wasserspiegel des Sees steigen. Wir sind mit einem kleinen Bade davongekommen. Wir wollen zur ›Nautilus‹ und uns umkleiden.«

Nach einer Dreiviertelstunde hatten wir unseren Rundgang vollendet und kamen wieder an Bord. Die Leute der Bemannung waren eben mit dem Einladen des Sodiums fertig, und die ›Nautilus‹ hätte sogleich abfahren können.

Doch Kapitän Nemo gab keinen Befehl dazu. Wollte er die Nacht abwarten und im stillen die unterseeische Einfahrt passieren? Vielleicht.

Wie dem auch sein mag, am folgenden Morgen fuhr die ›Nautilus‹, nachdem sie ihren Zufluchtshafen verlassen, weit ab von jedem Land auf hoher See, einige Meter unter dem Spiegel des Atlantiks.

 

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