Zugfahrt nach Wellington
© Willi Schnitzler
Bereits in Napier war mir eine alte Frau aufgefallen, die von ihrer Tochter und deren Freund nicht schnell genug in den Zug gesteckt werden konnte. Sie war klein und neigte ein wenig zur Zerbrechlichkeit; an ihrem Hals trauerte eine kleine Perle. Ihr Gesicht aus Plissee war eine einzige sorgenzerfurchte Stirn, an deren Falten man die Zeit messen konnte – kleiner Mund, kleine
Nase, kleines Kinn. Die Frau trug ein verwaschenes blaues Kleid aus einem jüngeren Herbst und schien eine Vorliebe für Karomuster zu besitzen: schien eine neuseeländische Spezialität zu sein, schien hierher zu gehören wie das Bandoneon zum Tango. Ihre Füße steckten in flachen Schuhen, die venezianischen Gondeln glichen; die Hände lagen in Reichweite eines Buches, das sie herausgenommen und auf ihre Knie gelegt hatte. Ich konnte nicht sehen, was für eine Art Buch es war. Zunächst verbrachte sie die Zeit zu lesen und ihre Nachbarn über die Brille hinweg schweigend zu betrachten, bis sie ihre Scheu ablegte und erzählte, dass sie von einem Besuch nach Wellington zurückkehre. Sie entpuppte sich als wahre Fundgrube von Tipps und Geschichten für Reisende in die „Glasstadt“ Wellington. Geschichten, die aus der Vergangenheit kamen, um für Augenblicke das Bild einer Welt zu zeichnen, die eine Spur von Verblüffung bei uns zurückließ. Sie fragte:
„Kennst du das Land, das eigentlich ein an der Angel gefangener Fisch ist? Wo Berge sich lieben und Eifersucht zeigen? Wo Götter leben mit seltsamen Namen wie Hina-moki, Nga-rangi-hore, Tiki oder Irawari?“
Verblüfft sagte ich: „Nein, das kenne ich nicht!“
Hürdenrennen mit Kanus
© Willi Schnitzler
Ich hatte kaum Platz auf meinem Rucksack genommen, geschweige denn die Zeit gefunden, mir die Örtlichkeit ins Gedächtnis zu rufen, da näherte sich ein Auto und in Windeseile befand ich mich auf dem Weg nach Rotorua. Ein freundliches Ehepaar von bestimmt hundertfünfzig Jahren bot mir sogleich einen Becher heißen Tee an, von der Sorte, die eine Nonne zum Singen gebracht hätte, weil der Trank mindestens zur Hälfte aus Rum bestand. Sie stammten aus Wanaka, dem Nabel der südlichen Schwester, fuhren der Nordinsel über das Gesicht und lächelten das zufriedene Lächeln zweier Menschen, die nach einem gemeinsamen glücklichen Leben ihre letzte große Reise unternahmen. Die Liebe der beiden alten Menschen hatte der Abnutzung des Tagtäglichen erfolgreich widerstanden und strafte die Worte Lord Byrons Lügen, der schrieb: „Wie Wein ist Liebe, wenn sie himmlisch jung, Die Ehe ist ein Alltagstrunk, Am Anfang nüchtern, auf die Dauer Von Geschmack wie Essig sauer.“
Fjordland
© Willi Schnitzler
Mit einem Mal befand ich mich in einer anderen, in einer verlassenen Welt. Hinter dem Tunnel lag eine karge Landschaft. Graue hochaufgeschossene Berge; rutschendes Geröll; Nebelschwaden, die der Wind über die Baumwipfel fegte; dünnes Gras; Krampfadern im Fels. Ein Ort, vom Leben kaum berührt. Im Winter muss es hier bitterkalt, trostlos, gar bedrückend sein, dachte ich. Doch folgte man der Straße bergab ins Cleddau-Tal, gelangte man schließlich in den Anfang des Milford Sound, den Kipling als das achte Weltwunder bezeichnet hatte. Kipling, der schrieb: „They shut the road through the woods seventy years ago“, könnte mit dem Satz das Fjordland gemeint haben.
Ein Ungar im neuseeländischen Exil
© Willi Schnitzler
Ich sah weder die eine noch die andere Insel, wartete eine Weile, in einer alten Zeitung blätternd, die im Rinnstein gelegen hatte, an einer breiten, kaum befahrenen Straße am Ortsausgang von Whakatane, bevor ein Exilungar und sein altes Auto mich einluden, mitzukommen.
Beim Zuschlagen der Autotür verdrückten sich zwei schwarze Katzen durch ein Loch im Lattenzaun. Ehe wir losfuhren, nahm der Mann seine Brille von der Nase, wischte sie ab und setzte sie wieder auf. Ohne Hilfsmittel war er blind wie eine Wand, kein Wunder, dass er schon jetzt gefährlich dicht am Lenkrad saß. Was für ein merkwürdiger Mensch er war! Ein unsorgfältig gekleideter Mann mit grauem Haar, die mächtigen Koteletten wie Brikettstücke hochkant an den langen Ohren angelehnt. Sein Haarschnitt stammte von einem Friseur, der offensichtlich noch nicht lange dabei war, sich das Saufen abzugewöhnen; lange Strähnen klebten wie Gummihandschuhe an seinem Kopf.
Die Geschichte der beiden Berge
© Willi Schnitzler
Das lange Stück nach Whakatane fand ich Platz auf der Rückbank des nagelneuen Autos eines Maoripärchens. Der Mann war ein bulliger Kerl mit einem akkurat gestutzten Schnurrbart, schwarz wie stark gebrühter Kaffee, und kräftigen Armen, deren Muskeln in jeder Kurve unter dem weißen T-Shirt ihre Elastizität lobten. Er mochte dreißig Jahre alt sein, genau wie seine Frau, die mit drahtigen Haaren schweigsam wie eine Malermuschel neben ihm saß. Ein feines Amulett funkelte an ihrem Hals, ein marakihau. Schnell begriff ich, wie stolz beide auf ihren roten Wagen waren, der innen funkelte wie frisch poliertes Tafelsilber und für kurze Zeit in seltsamer Manier auf meinem Gewissen lag. Muss man erwähnen, dass eine breite Wolldecke die Schonbezüge der Sitzpolster im hinteren Teil des Schmuckstücks wie Augäpfel hütete, dort, wo ich Platz genommen hatte? Ihre Gesichter drückten eine unbestimmte innere Unruhe aus, aber auch Neugierde, denn sie wollten wissen, warum ich den weiten Weg gemacht habe.