Zugfahrt nach Wellington
© Willi Schnitzler
Bereits in Napier war mir eine alte Frau aufgefallen, die von ihrer Tochter und deren Freund nicht schnell genug in den Zug gesteckt werden konnte. Sie war klein und neigte ein wenig zur Zerbrechlichkeit; an ihrem Hals trauerte eine kleine Perle. Ihr Gesicht aus Plissee war eine einzige sorgenzerfurchte Stirn, an deren Falten man die Zeit messen konnte – kleiner Mund, kleine
Nase, kleines Kinn. Die Frau trug ein verwaschenes blaues Kleid aus einem jüngeren Herbst und schien eine Vorliebe für Karomuster zu besitzen: schien eine neuseeländische Spezialität zu sein, schien hierher zu gehören wie das Bandoneon zum Tango. Ihre Füße steckten in flachen Schuhen, die venezianischen Gondeln glichen; die Hände lagen in Reichweite eines Buches, das sie herausgenommen und auf ihre Knie gelegt hatte. Ich konnte nicht sehen, was für eine Art Buch es war. Zunächst verbrachte sie die Zeit zu lesen und ihre Nachbarn über die Brille hinweg schweigend zu betrachten, bis sie ihre Scheu ablegte und erzählte, dass sie von einem Besuch nach Wellington zurückkehre. Sie entpuppte sich als wahre Fundgrube von Tipps und Geschichten für Reisende in die „Glasstadt“ Wellington. Geschichten, die aus der Vergangenheit kamen, um für Augenblicke das Bild einer Welt zu zeichnen, die eine Spur von Verblüffung bei uns zurückließ. Sie fragte:
„Kennst du das Land, das eigentlich ein an der Angel gefangener Fisch ist? Wo Berge sich lieben und Eifersucht zeigen? Wo Götter leben mit seltsamen Namen wie Hina-moki, Nga-rangi-hore, Tiki oder Irawari?“
Verblüfft sagte ich: „Nein, das kenne ich nicht!“
Doch im nächsten Moment wusste ich, welches Land sie meinte. Von ihr erfuhren wir von der merkwürdigen Eulenart, die der Neuseeländer morepork nannte, weil das Tier unentwegt schreiend nach immer mehr Schweinefleisch verlangte.
„Hier gibt’s Vögel, die nicht fliegen können. Eine Echse, die tuatara heißt, und mit ihrem dritten Auge schon Dinosaurier angestarrt hat. Da staunt ihr, was? Gänseblümchen, die auf Bäumen wachsen. Und den Alptraum-Baum, rata, der als unschuldige Rebe beginnt und am Ende den Baum erstickt, an den er sich angehängt hat. Wir haben eine Raupe, die Larve des Maikäfers, aus deren Herzen sich nach dem Tod eine Pflanze formt und blüht und einen Samenstand bildet, wie es in ihrer Familie der Kryptogamen üblich ist! Mmh, ob es sie heute noch gibt, weiß ich nicht, ich bin so alt, dass alle meine Freunde schon begraben sind.“
Ich staunte sie lächelnd an. Und Maui. Sie erzählte uns diese Geschichte, wie sie sie in ihrer Erinnerung wiederfand, dabei legte sie ihre alte fleckige Hand auf meinen Arm und ich bemerkte erst jetzt die kleinen Löcher, die tollwütige Motten in ihre Ärmel hineingefressen hatten.
„In der zwischen Nord- und Südinsel liegenden Wasserstraße hat sich Tawhiri-matea, der polynesische Gott des Windes und des Sturmes, mit seinen göttlichen Brüdern hitzige Schlachten geliefert. Maui, der zarte fünfte Sohn der Ureltern, ist nach der Maori-Mythologie von den Göttern mit magischen Kräften ausgestattet worden. Also fischte er die Nordinsel als Nahrung für die Familien seiner Brüder aus dem Meer. Der große Fisch hing mit seinem Maul, dem Hafen von Wellington, an der Angel, das Auge war der Lake Wairarapa. In ihrer Gier fingen Mauis Brüder an, den Fisch aufzuteilen und zu zerschneiden, bevor er sein tapu aufheben konnte, was einem Sakrileg gleichkam. Die Götter waren darüber so erzürnt, dass der Fisch sich wand und um sich schlug. Dadurch entstanden die steilen Berge, welche die Nordinsel zerteilten. Noch heute machen sich die Auswirkungen durch viele Erdbeben bemerkbar, die seither immer wieder den Kopf des Fisches erschüttern.“
Die alte Frau trug eine Brille auf der Nase, mit der sie nun beim Erzählen Achten in die Luft zeichnete, während sie ruhig und mit leiser Stimme sprach. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Schatz an Geschichten abwenden, der in ihren gutmütigen Augen lag, in denen sich Adern wanden wie Flüsse auf dem Globus. Es entstand fast der Eindruck, als könne man darin das ganze Leben sehen, wie man es sonst nie zu sehen bekommt. Ganz warm wurde mir, als ich hineinblickte in diese Augen in dem faltigen Gesicht.
„Ich erinnere mich da an einen Kerl“, flüsterte sie plötzlich ganz leise, den dünnen Silberring um ihren Mittelfinger drehend, „Tom, Tom Soundso, der nach Gold wusch und in einer Hütte lebte, die so klein war wie ein Hühnerstall. Verglichen mit meinem Zuhause war das bloß ein Loch. Er besaß ein altes schwarzes Grammophon und einen halben Meter Glen Miller Platten. Er trug immer ein Jackett aus derbem Stoff. Er aß Kartoffeln und Eier und Suppen von irgendwelchen Vögeln und sonntags Huhn, deren Federn er manchmal mit den Zähnen ausrupfte und deren Füße er kaute wie ein Chinese. Der hat Tiere verspeist, das glaubt ihr nicht. Mann, war das ein Kerl. Stark wie ein Ochse, einer mit Disziplin, fing immer im Purpur der Morgenröte an, schuftete bis er nichts mehr sehen konnte. Er vergrub sein Gold, das bisschen, was er fand, immer unter einem Busch in einer rostigen Blechbüchse.“
„Er hatte“, fuhr sie schwärmerisch fort, „ein großes Herz. Ich will nicht behaupten, dass er gut aussah. Nein, das nicht gerade. Aber in ein freundlicheres Gesicht habe ich nie mehr geschaut, obwohl es schief und krumm war wie eine Gurke mit tiefen Sorgenfalten schon in jüngeren Jahren. Wenn er nervös war, kaute er unentwegt auf seiner Unterlippe herum, als wäre sie ein Kaugummi. Eine Angewohnheit, die er nie ablegen konnte. Mir gefielen die schweren Bücher der Enzyklopädie, die seine Hütte noch kleiner erscheinen ließen, und die bunte Wandtafel mit chemischen Elementen, Ordnungszahlen und Atomgewichten. Mir gefiel seine Taschenuhr, die zur vollen Stunde schlug. Mmh. Am besten gefiel mit aber seine Aufmerksamkeit, wenn er mir mit offenem Mund zuhörte, als seien meine Worte Gesetzestafeln. Ich hab’ ihn oft besucht, in meiner Jugend. Verliebt war ich wie ein Backfisch, wie ein Backfisch. So etwas passiert nicht einfach so.“
Es war, als bröckelte aus ihrem Mund ein Stück Vergangenheit. Sie lächelte in ihre Erinnerungen und kreiste auf der Karte, die ich ihr reichte, mit dem Zeigefinger den Ort ein.
Sie schaute ein wenig geistesabwesend, als sie dann wenig später sagte: „Habt ihr schon mal das Wort haka gehört?“ Wir schüttelten gleichzeitig die Köpfe.
„Haka werden Liebeslieder und manchmal auch scherzhafte Lieder genannt, die von jungen Männern und Mädchen, wenn sie sich abends versammeln, gesungen und von mimischen Körperbewegungen begleitet. Jung, wie wir waren, standen wir hüpfend im Kreis und sangen Lieder wie: Am Waitemata weilest du/dein Geist aber kam hierher/und weckte mich auf vom Schlaf. Hier jetzt wurden heftige kehlige Laute vom Chor ausgestoßen, der Refrain, und die Hände vollführten eindringlich zitternde Bewegungen, die man kakapa nennt. Der Text wurde wenig später wieder aufgenommen.
Haere ra, e ta wai o aku kamo – Geht, Tränen meiner Augen/und verkündet es ihr/huia, die an meinem Herzen zehrt/tawera ist der schöne Stern/der Morgens glänzt./Nicht weniger schön bist du./Huia, die an meinem Herzen zehrt.
Früher war das so, heute nicht mehr. Ich weiß nicht!“
Sie ließ es offen, ob sie auch Tom, Tom Soundso, ihre Liebe auf diese Weise gestanden hatte. Ihr Finger war verrutscht und lag nun im Nordwesten der Insel und es war ein gutmütiger Finger.
„Danke“, sagte ich, „ich habe immer gern gewusst, wo ein Ort liegt.“
„Unsere Musik“, sagte sie noch, „stammt von den Vögeln. Der Gesang ist ihre Sprache. Sie erzählen Geschichten. Wir erzählen Geschichten.
Wenn ich über den Berg spreche, so sagt immer ein Freund von mir, dann sage ich: Ich bin der Berg und der Berg, das bin ich. Wir sind das. Wenn ich über den Fluss spreche, dann sage ich: Ich bin der Fluss und der Fluss, das bin ich. Wir sind das. Das alles ist ein wesentlicher Teil von uns. Der Klang selbst stammt vom Wind, vom Fluss, vom Berg, vom Blätterrascheln – und dies alles ist ein wesentlicher Teil der Musik. Wir haben religiöse Lieder und rituelle, wir haben Lieder für die unterschiedlichsten Anlässe: Lieder zum Kochen, Lieder zum Kanufahren, Lieder zum Schlafen, Lieder zum Trauern, Lieder zum Lieben, Lieder für alles und jeden. Und jeder Stamm hat seine eigenen Lieder. Es ist wie bei den Vögeln. Sie singen immer nur ihre eigenen Lieder, eine Amsel die Lieder der Amseln, ein Rotkehlchen die Lieder der Rotkehlchen. Genauso ist das bei uns auch. Wir singen die Lieder, zu denen wir eine Beziehung haben.“
Vis-à-vis saß ein Mann, der von Zeit zu Zeit aus dem Fenster sah und so alt war wie das Magnetophon. Sein Blick, ein sanfter gleichgültiger Blick, den er von Cary Grant ausgeliehen hatte, ruhte auf dem Land, das im Rhythmus seiner Schafe vorüberzog. Die einzelnen Werkzeuge seines Gesichts waren viel zu groß für dieses kleine Bild von Breughel, auf das sie verpflanzt schienen, aber vielleicht wirkten sie deshalb so bäuerlich, so warm, so pflichtbewusst. Seinen Händen nach zu urteilen, hätte er gewiss ein Schmied sein müssen, so groß und klobig wirkten sie, er hatte Hufeisenhaare auf dem Ei seines Kopfes. Manchmal fegte ein leises Schnarchen die Nasenhase vor die Haustür, die aus breiten Flügeln bestand, vor der eine gewaltige schwarze Hecke wuchs.
Es schien mir, als bummele der Bay Express schon eine halbe Ewigkeit durch das hügelige Land, das giftgrüne Hemden trug, deren Chlorophyll im Herbstlicht loderte und über das Tausende von Schafen entlang der Strecke herfielen. Sechs von vierundzwanzig kleine Tropfen Zeit. Wir sahen die Landschaft am Fenster vorbeiziehen. Hin und wieder kamen winzige Ortschaften zum Vorschein, die schneller wieder verschwanden als sie gekommen waren. Schön, dass die Fahrgäste während der Fahrt zwischen den Waggons stehen durften. Manche benutzten die Pontons auch nur, um sich eine Zigarette anzustecken. Und immer wieder tauchten Schafe auf, verschwanden, um dann als kleine fressende Wolken wieder zu erscheinen.
Die Geleise vervielfältigten sich, schienen zu pfeifen. Wellington, die Hauptstadt, erreichten wir am Abend. Während der Zug quietschend in den Bahnhof einfuhr, waren die Fahrgäste damit beschäftigt, Taschen, vom schweren Reiseproviant befreit, mit Kordeln zusammengehaltene Kartons, einschlägige Kleidungsstücke aus den Gepäcknetzen zu manövrieren.
Kurz bevor wir ausstiegen, sagte die alte Frau:
„Ja, ja, kaumoana, du bist ständig unterwegs und dabei kannst du mancherlei gewinnen und verlieren!“ Schwimmender Ozean, dachte ich, passt gut zu dem Maori-Wort für Reisender, und noch ehe ich über ihre Worte weiter nachdachte, verschwand sie mit ihrem braunen Lederkoffer und dem schadhaften Griff durch die Tür des Abends, blieb noch für kurze Augenblicke ein vertrauter Punkt in dem aussteigenden und sich entfernenden Trubel.
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