Im Gebiet der Gletscher
© Willi Schnitzler
Je näher ich dem Fox Glacier kam, um so mehr verschwand die Sonne hinter düsteren Gardinen. Feuchte Winde zogen über die Tasmanische See, der Regen stand vor mir wie eine Wand, sodass ich die Einfahrt um ein Haar verpasst hätte. Eine holprige Straße führte, sich windend wie ein Hirn, hinauf zur eisigen Zunge des Gletschers. Fetter undurchdringlicher Wald verdunkelte stark das Tageslicht, Blätter und Äste und Tiere schienen auf den nahen Regen zu warten. Eine unnatürliche Stille schwebte über den hohen Wipfeln und ließ mich an meinen letzten Theaterbesuch denken. Nachdem ich das Auto auf dem Parkplatz abgestellte hatte, stampfte ich in Richtung Gletscherzunge. Nach einer Weile endete abrupt der Buschwald, gab die Sicht frei auf eine graue, zwischen steil aufsteigenden Bergen liegende Geröll-Lawine und ich hörte meinen Geografielehrer intonieren: eine Moräne ist der Gesteinsschutt, den die Gletscher transportieren. Firngrat, Wechte, Schneerinne, Bergschrund, Kreuzspalte, Querspalte, Gletscherbruch. Gletscherbrücke, Tisch, Mühle, Tor, Milch. Seitenmoräne, Mittelmoräne, Grundmoräne. Die ganze steinige Chose wurde an der Gletscherzunge zur Endmoräne zusammengeschoben.
Das breite Tal, an dessen unterster Stelle ich nun stand, sah aus wie ein Hüne in Hufeisenform. Wolken legten sich wie eine lange flauschige Federboa um die Schultern der runden Bergbuckel. Der zum großen Teil befestigte Weg zur Gletscherzunge war durch Pfähle und Wegweiser gut markiert, sodass man nur schwer in Gefahr geriet, auf dem gerölligen Terrain auszurutschen und mitsamt dem Gesteinsschutt als „Mensch-Moräne“ ins Tal gegossen zu werden. Wie unsichere Kletterer auf ungeschützter Höhe hatten zwei ältere Besucher dennoch arge Probleme mit der Standfestigkeit, setzten vorsichtig einen Fuß vor dem anderen, hielten aneinander fest, als drohe ein Fall wie auf rutschigem Eis; oben angekommen suchten sie erst einmal nach ihrem Atem. Plötzlich schien es noch eine Nuance stiller zu werden, es war, als hielte die Welt kurz den Atem an, und schon sah ich die ersten fetten Tropfen auf die Erde fallen. Der Wind wurde so stark, dass sich die Bäume bogen, und wenig später goss es in Strömen. So etwa muss sich ein Butterblümchen fühlen, wenn es eine geballte Ladung Bullenpisse auf den Kopf kriegt, dachte ich schmunzelnd bei mir. Der Mensch war völlig schutz- und wehrlos zwischen all dem Schutt. Doch ebenso plötzlich hörte der Regen auf, der kurz die Landschaft verdüstert hatte und so schnell kam, als habe er im Hinterhalt gelegen. Geräuschvoll hörte ich das Wasser in Kaskaden schäumen; es rann mir aus dem Haar den Nacken hinab in die Kleider. Ich spürte den kalten Strom, der mein Hemd an die Haut heftete und den Rücken bis zum Steißbein hinabrieselte, lauschte und holte tief Atem.
Da schon mehr als die Hälfte des Wegs hinter mir lag, ging ich an schweren Felsbrocken vorbei, steil bergaufkletternd, weiter. Steine lösten sich, schossen hinab wie Wurfgeschosse. Eine massive Wand, ein von der Natur gegebener Vorhang aus schmutzigem Eis, türmte sich vor meinen Augen auf und hatte Geröll und Hinkelsteine von Felsbrocken auf die Seite geschoben. Das späte Nachmittagslicht verwandelte das Eis in eine leuchtend grünblaue Materie, ansonsten dominierte ein schmutzig grauer Film, der sich mit den vielen Jahren abgelagert hatte. Schäbig gekleidete, von der Zeit geformte Eisgestalten wachten aufmerksam über den atemlosen Schlund des Gletschertors, aus dem sich vorsichtig ein Bach heraustraute. Der alte Mann, der eben noch erhebliche Standprobleme hatte, befingerte einen spitzen kahlen Felsen mit dem Ausdruck im Gesicht, als umarme er die ganze Welt. Er konnte nicht umhin, einen Blick in den natürlichen Spiegel zu werfen und einen Moment sein Gesicht zu betrachten, von der Anstrengung erhitzt, glänzend, lange genug, um rote Flecke zu bemerken, die auf seinen Wangen lagen wie Clownsschminke. Weit oben und durch die Wolkenschicht teilweise verdeckt lag der Ausgangspunkt für die sich langsam in das Tal abwärts bewegenden Eisströme. Der Zahn der Zeit hatte auch den beiden hiesigen Wadern übel mitgespielt. Geschrumpfte Gesellen in launischem Klima.
Mittlerweile hatte sich ein unnatürliches Halbdunkel über das Land gelegt, während der Gletscher eine wehmütige Stimmung ausströmte, wie es zuweilen Tage tun, die im Regen alleingelassen werden; doch mir blieb kaum Zeit, mich der aufkommenden Melancholie preiszugeben, und trat vorsichtig den Rückweg ins Tal der Steine an. Eigenartig, aber Steine machten mich immer etwas trübsinnig und traurig. Auf halbem Weg schüttete es wieder fingerdick aus grauen Wolkenbergen; der Regen kam hierher, um Steine zu waschen, Blätter zu färben und zu öffnen und einen tapferen Wandersmann zu foppen. Aus den nebelverhüllten Berggipfeln schlugen sich ungebändigte Sturzbäche blindwütig den Weg ins Tal, wo sich die dichten Bäume unter der Last des Regens bogen, bis dann mit einem Mal der Himmel aufriss. Nach dem kurzen Intermezzo räumte die Sonne, die angefangen hatte, den Regen in den Himmel zurückzurufen, kräftig mit dem bunt zusammengewürfelten Haufen von nichtsnutzigen Wolken auf und sorgte dafür, dass der Wald lebendig wurde. Man hörte ihn, satt und frisch, wie er nun einmal war, atmen, keuchen, gurgeln, stöhnen, knacken; er tobte mit all seiner Lebensfreude. An Astwerk und Stämme drängte sich ein dämpfendes Polster von schwammigen Moosen und Flechten wie Eisenspäne an dem Magnet; auf den Ästen hockten Orchideen in dicken Klumpen. Die Farne führten eine verrückte Zwiesprache miteinander, Tanzsäle voll von Vögeln stimmten einen atonalen Chorgesang an, Dunst stieg von der Erde auf. Im Wald regnete es gleich zweimal, dicke Tropfen fielen plump zu Boden. Es roch nach Borke, Moos, Blumen und Erde. Jenseits der Bäume brandete das Meer. Man ging durch den Wald, um plötzlich wieder von der Sonne wie von einem Stier besprungen zu werden.
Im nächsten Moment tauchten sie wieder auf, die Sandfliegen. Sie kamen überall her, machten das Leben hier in der Gegend ein wenig schwieriger.
Regen war hier im westlichen Teil der Southern Alps die Zuverlässigkeit in Person, fiel aus herbeieilenden Wolken der Roaring Forties, immer, wie es schien, denn die Menge, legte man sie zusammen, wäre so hoch wie ein Wolkenkratzer. Viele kleine Flüsse durchzogen wie Äderchen die Landkarte, kein Wunder, denn sie galt als die feuchteste bewohnte Gegend Neuseelands. Heinrich Bölls Worte schienen für diesen Teil Neuseelands ebenso zutreffend zu sein wie für Irland:
„Und wieviel Wasser sammelte sich über viertausend Kilometern Ozean, Wasser, das sich freut, endlich Menschen, endlich Häuser, endlich festes Land erreicht zu haben, nachdem es so lange nur ins Wasser, nur in sich selbst fiel. Kann es dem Regen schließlich Spaß machen, nur immer ins Wasser zu fallen?“
Die Natur randalierte immer noch, als ich noch einmal über die Schulter blickte. Das Bild, das mir vom Fox Glacier im Gedächtnis bleiben sollte, war eine Sprungschanze dreckigen Schnees mit an der Seite aufgetürmtem Schutt.
Ein winziger Ort mit gleichem Namen lag etwa einen Kilometer vom Gletscher entfernt. Eine kleine Windhose, aus deren schwindliger Staubwolke ein Kind in den Schutz der Häuser rannte, die Haare zu kurz, um hinterher zu wehen, wirbelte winzige Schatten von Erde herum.
„Du bist zum Abendessen wieder zu Hause!“, hörte ich eine Frauenstimme dem Jungen hinterher rufen. „Hast du das verstanden?“
Sein „O.k. Mom!“ ging im hastigen Lauf unter.
Ich fand im Ivory Towers Unterschlupf, der am Hang eines Hügels einen grasbewachsenen Innenhof umsäumte.
There's always a warm welcome at Ivory Towers. Don’t miss The West Coast and don't miss Fox Glacier, NZ's most accessible glacier (1 hr walk). On the edge of the World Heritage Park and a short distance from renowned Lake Matheson Fox has everything you need except pretensions and a bank. Non-smoking, unsuitable for children and close to the pub, we're in Sullivans Rd, Towering behind YHA's Golden Glacier.
An soliden Holztischen und -bänken schrieben Schwedinnen in linienlose Blättern hinein. Aha, dachte ich, unsere Freunde aus dem Dreißigjährigen Krieg. Von Raum zu Raum wuselte, mit Großreinemachen beschäftigt, eine junge schwarzhaarige Schönheit, bis alles blank gescheuert war. Dabei beförderte sie ihr Baby mit sich; zunächst trug sie die blasse Kleine auf ihrem Rücken, später legte sie sie irgendwo in der Nähe ab. Little Jenny blinzelte mit großen wasserblauen Augen in die Sonne und freute sich auf jedes neuankommende Gesicht. Ihre Mutter fegte gerade ein Zimmer aus und wetzte anschließend mit zum winzigen Büro zwecks Immatrikulation. Erleichtert duschte ich den Staub von der Haut. Das nahm eine ganze Zeit in Anspruch, doch als ich wieder in den Innenhof trat, schrieben die Mädchen immer noch ihre Geschichten blau und halbtrocken in die gefalteten Zettel. Sie waren genauso blond, wie man sich Schwedinnen gemeinhin vorstellt, bis auf eine, die war schwarz. Die gerade einmal achtzehn Lenze zählenden Mädchen kamen aus unterschiedlichen Städten des skandinavischen Mittelfingers. Was alle drei gemeinsam hatten, waren ihre lustigen, immer strahlenden Gesichter, die dünnen speckigen Lederhüte, Bluejeans und die T-Shirts vom Bungy Jumping aus Queenstown, die sie wie Trophäen trugen. Unbändiger Stolz rieb ihre Brustwarzen gegen das schmutzige Gewebe. Sie erzählten, dass der Sprung in ihrer Erinnerung recht lange gedauert habe, mir kam alles hingegen recht kurz vor. Einsteins Zeit.
Nicht weit entfernt lag der Lake Matheson, Pilgerort vieler Menschen mit geschulterten Kameraausrüstungen, um das perfekte Spiegelbild des weit entfernten Mount Cook, den die Maori Aorangi, Wolkendurchstoßer, nannten und vom Eis des Tasman Glaciers umarmt wurde, und seiner Brüder zu verewigen. Der abgetretene Weg führte teilweise über sorgfältig nebeneinandergelegte Bretter am See entlang, während der späte Nachmittag in feuchter Wärme schwelgte, die mir den Schweiß aus den Poren saugte. Am Wegesrand hatten sich weiche Moose den halb aus dem Boden ragenden Wurzeln bemächtigt und hohes Schilf stand aufrecht in dem vorbeifließenden Gewässer. Gelegentlich zerplatzten, von Farnwedeln taumelnde, dicke Tropfen auf unseren Köpfen. Als der Weg an einer gezimmerten Plattform endete, warteten in kurzen Lederhosen vier mit Stativen und Kameras ausgestattete Deutsche, die aus Angst vor hellhörigen Wolken nur flüsterten, auf das Freiwerden des noch wolkenverhangenen Mount Cook. Zu ihren Füßen schlief der See ruhig wie ein zusammengerolltes Kätzchen, wagte aufgrund der anwesenden Fotokünstler kaum zu atmen. Ich hegte schon seit frühester Kindheit eine Abneigung gegen derartige Ansammlungen und kletterte zum Seeufer hinab. Wie auf ein verabredetes Zeichen hin trieben die Wolken an den Gipfeln von Mount Cook, Tasman und La Perouse vorbei, sodass unvermittelt aus heiterem Himmel die perfekten Zwillingsbrüder kopfüber im Wasser lagen. 17.18 Uhr. Die helle Wolke des Himmels, wie der hohe Berg dann und wann auch genannt wird, atmete auf. Ein Fingerhut voll Wasser in den See geschüttet hätte das Gleichgewicht der Natur ins Wanken gebracht, der alte Gletschersee kannte da keine Gnade. Und unversehens geriet ich in die Erinnerung eines warmen Sonntagabends des Jahres 1988, als ich in Lissabon ziellos durch die engen Gassen der Alfama streunte und durch puren Zufall Zeuge des Fado auf offener Straße wurde. Da hoben zwei Männer kurzerhand eine gesplissene Eingangstür aus den Angeln, legten sie auf zwei Böcke, stellten Brot, Käse und Wein darauf und das verarmte Gässchen zelebrierte ein spontanes Fest. Obwohl ich ihre Worte nicht verstand, nahm der sentimentale und melancholische Volksgesang jede Faser meines Herzens gefangen. Ich merkte rasch, dass die bloße Artikulation der Worte ein sehnsüchtiges Verlangen und Heimweh in mir hervorrief, nie zuvor hatte ich das Gefühl der Bescheidenheit dermaßen stark gespürt. Hier am anderen Ende der Welt geschah ähnliches mit mir. Zum Glück gab es Ereignisse, die nicht von der Vergangenheit verschluckt wurden und manchmal auftauchten wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die kleine Welt hier draußen schwieg wie ein Spiegel, an dem das Glas fehlte, und ich erwartete jeden Augenblick den Aufschrei der Bäume, denen die bohrende Stille das Leben nahm, bis weiter oben Stimmen schlafende Vögel weckten, die erbost aufschrien. Man hatte die Aufnahmen beendet und konnte der Stimme wieder Macht geben ...
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