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Friedrich Gerstäcker 1816-1872
Friedrich Gerstäcker wurde in Hamburg als Sohn des Opernsängers Samuel Friedrich Gerstäcker (1790-1825) (Darsteller des Max in der Dresdner Erstaufführung von Carl Maria von Webers „Freischütz“) und seiner Frau Friederike, geb. Herz (Opernsängerin) geboren. Nach dem Tod seines Vaters lebte er mit seiner Schwester Molly zunächst bei seinem Onkel, dem Hofschauspieler Eduard Schütz in Braunschweig und besuchte dort auch die Schule, das traditionsreiche Martino-Katharineum. Nach dem Abschluss der mittleren Reife begann er 1833 in Kassel eine kaufmännische Lehre, die er nach wenigen Monaten wieder abbrach. Zu Fuß kehrte er zur Mutter nach Leipzig zurück und eröffnete ihr, dass er nach Amerika auswandern wolle. Seine Mutter konnte ihn zu einer landwirtschaftlichen Ausbildung auf dem Rittergut Doeben bei Grimma als Vorbereitung für ein Leben als Farmer überreden. Gerstäcker war ein begeisterter Leser von Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe sowie der ersten Lederstrumpferzählungen von James Fenimore Cooper und gründete seine Vorstellung von der Neuen Welt gerade auf diese Lektüre. Gerstäcker bezeichnete sich stets als einen „Schüler Coopers“, erlebte die Realität im amerikanischen Westen und an der Grenze der Zivilisation und berichtete in seinen Romanen und Erzählungen wahrheitsgemäß und ohne romantische Ausschmückungen über das harte Leben der Siedler.

 

Friedrich Gerstäcker - Nach Amerika! Erster Band

Friedrich Gerstäcker (* 10. Mai 1816 in Hamburg; † 31. Mai 1872 in Braunschweig) war ein deutscher Schriftsteller. Er ist vor allem durch seine Bücher über Nordamerika bekannt; seine Bestseller waren Die Regulatoren von Arkansas (1846) und Die Flußpiraten des Mississippi (1847). Er gehört zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen ethnographischen Abenteuerliteratur. Auch nach über hundert Jahren erscheinen zu Recht immer wieder neue Ausgaben seiner bekannten Romane.

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Friedrich Gerstäcker in der Deutschen Nationalbibliothek.

Friedrich Gerstäcker beim Project Gutenberg.

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Friedrich-Gerstäcker - mit einer ausführlichen Bibliographie

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Nach Amerika! Ein Volksbuch

Erster Band von Friedrich Gerstäcker. Illustrirt von Theodor Hosemann. Leipzig, Hermann Costenoble, Verlagsbuchhandlung Berlin, Rudolph Gaertner, Amelang’sche Sort-Buchhandlung

1855

 

 

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NACH AMERIKA!

Wie man ein Bild, aus einem Werk heraus, vorn auf den Umschlag bringt, den Beschauer dadurch gewissermaßen in den Charakter des Ganzen einzuweihen, so will auch ich hier den Anfang des einen Capitels, aus der Mitte des Bandes heraus, zum Vorwort wählen, den Leser gleich von vorn herein mit dem bekannt zu machen, was ich ihm biete.

»Nach Amerika!« — Leser, erinnerst Du Dich noch der Märchen in »Tausend und eine Nacht«, wo das kleine Wörtchen »Sesam« dem, der es weiß, die Thore zu ungezählten Schätzen öffnet? hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie gesprochen, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt die es heraufbeschworen.

_Die_ Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergeben sie zu rufen — aber ein anderes dafür gefunden das, kaum minder stark, mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten.

»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen sollte, seinen Muth stählen — »nach Amerika,« flüstert der Verzweifelte der hier am Rand des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — »nach Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft, und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein »tägliches Brod« mit blutigem Schweiß gebeten — und es nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen _kann_ — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach Amerika,« jubelt der Idealist, der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem Ocean drüben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen — liegen die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen die sie für hier gehegt, die Sorgen die sie gedrückt — _»nach Amerika!«_

So gährt und keimt der Saame um uns her — hier noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain, der ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer geärgert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, herrlichen Land; — der Handwerker in seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt, mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thür zu locken; der Künstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der über einer freieren Entwickelung brütet, und von einem Lande schwärmt wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden; — der Kaufmann hinter seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht, und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefüllten Waarenhäusern träumt; in Tausenden von ihnen drängt’s und treibt’s und quält’s, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort — ein stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und wie weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding — nach Leuten die vordem »hinüber« gezogen und denen es gut gegangen — nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk — für Andere natürlich, nicht für sich etwa — sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf.

So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war — aus dem, aus jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen wir im Leben nie geglaubt daß _sie_ je an Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinüberziehn.

Und dort? —

— Die vorliegenden Blätter sollen dem Leser ein Bild geben von dem Leben und Treiben solcher Leute. Hier aus unserer Mitte heraus, aus den verschiedenartigsten Verhältnissen und Sphären, aus allen Schichten der menschlichen Gesellschaft sehen wir sie ziehen — Gute und Böse, den Leichtsinnigen und den Spekulanten, den Bauer und Handwerker, den Gelehrten und den Arbeiter, den rechtschaffenen Bürger und den heimlichen Verbrecher, Alle dem _einen_ Ziel entgegenstrebend. Und _Alle_ vereinigt sie das Schiff; der eine kleine Bau, der hunderte von Menschen auf seinem schwanken Kiel hinüberträgt, dem fernen Welttheil zu; oh was für Hoffnungen, was für Pläne und Träume birgt er in seinem Schooß. Aber die Auswanderer liegen die langen Wochen, ja Monate, verpuppten Raupen gleich, im engen Haus, still und gedrängt beisammen; Jeder mit dem alten Leben abgeschlossen hinter sich, mit dem neuen noch nicht begonnen, in einem wunderlichen unnatürlichen Zustand, ungeduldiger Ruhe, bis der Anker in die Tiefe rollt, und die ausgeschobene schmale Planke der bunten Schaar von Tag- und Nachtfaltern den Weg in’s Freie öffnet.

Hinaus flattern sie da nach allen Seiten, wie eine Hand voll Spreu, vom Winde fort geführt; die Einen selbstbewußt und keck dem fremden, unbekannten Leben in die Arme springend, die Anderen scheu und zaghaft bei jedem Schritte fast moralische Selbstschüsse und Fußangeln fürchtend; Alle aber entschlossen, die meisten sogar gezwungen, dem neuen Vaterlande die, im alten aufgegebene Existenz abzuringen, Jeder in seiner Art, auf seine Weise.

Dort nun sehen wir sie schaffen und wirken in Gutem und Bösen, die Einen mit ihren kühnsten Hoffnungen erfüllt, Andere, zerknirscht und zertreten, die Stunde verwünschend, die den Gedanken an Auswanderung gebar — sehn wie sich die Wildniß lichtet, wie Farmen und Städte entstehn, und sich das deutsche Element ausbreitet nach allen Seiten, und folgen den einzelnen Bekannten und Freunden, die wir zu Hause schon, oder auf der Fahrt erst lieb gewonnen, oder für die wir uns interessiren, auf ihren verschiedenen, oft wunderlichen Bahnen.

Manchen alten Reisegefährten führ ich dabei dem Leser vor, und hoffe ihn nicht zu langweilen, den weiten Weg; schlafen wir dann auch manchmal draußen im Freien, oder in niederer Blockhütte auf dünnem »Quilt«, müssen wir auch eine Zeit lang mit Maisbrod und Wildpret, oder gar mit Speck und Syrup verlieb nehmen, wie es der Farmer am Ohio liebt, wir lernen doch das Land kennen, mit seinen guten und schlechten Eigenschaften, seinen Vortheilen und Mängeln, seinen Bürgern und Einwanderern, seinen inneren Verhältnissen, seinem Leben und seiner Lebenskraft, und bin ich im Stande ihn auch nur einen Blick in jene ferne, von Tausenden so heiß ersehnte Welt, wie ich sie selbst gefunden, thun zu lassen, so hab ich meinen Zweck mit diesem Buch erreicht.

_Rosenau_ bei Coburg im September 1854.

Friedrich Gerstäcker.

 

 

INHALT DES ERSTEN BANDES.

  1. Das Dollinger’sche Haus
  2. Der rothe Drachen
  3. Der Diebstahl
  4. Franz Loßenwerder
  5. Die Auswanderungs-Agentur
  6. Die Weberfamilie
  7. Nach Amerika
  8. Der Tanz im rothen Drachen
  9. Rüstungen
  10. Die beiden Familien

 

 


 

Capitel 1.

DAS DOLLINGER’SCHE HAUS.

Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger zu Heilingen — einer nicht unbedeutenden Stadt Deutschlands — hatte am Sonntag Mittag, ein kleines Familienfest die Glieder des Hauses um den Speisetisch versammelt, und diesen heute in außergewöhnlicher Weise mit Blumen geschmückt, und delicaten Speisen und Weinen gedeckt. Es war der Geburtstag der zweiten Tochter des Hauses, der liebenswürdigen Clara und nur ihr erklärter Bräutigam, ein junger deutscher, in New-Orleans ansässiger Kaufmann, als Gast der Familie zugezogen worden.

Am oberen Ende des Tisches, um dem Leser die Personen gleich in Lebensgröße vorzuführen, saß Vater Dollinger, ein etwas wohlbeleibter aber behäbiger, stattlicher Mann, mit klaren, blauen, unendlich gutmüthigen Augen und schneeweißen Locken und Augenbrauen, die aber dem edel geschnittenen Gesicht gar gut und ehrwürdig standen. Ihm zur Rechten saß seine Frau, allem Anschein nach etwa funfzehn oder sechzehn Jahre jünger wie er selber, und durch ihr volles, dunkelbraunes Haar vielleicht auch noch sogar jünger aussehend, als sie wirklich war. Sie ebenfalls, mit ihrer stattlichen Gestalt, hatte einen leichten Anflug zu Corpulenz, aber das etwas ausgeschnittene Kleid, wie die schwere goldene Kette, Broche und Ohrringe, die sie fast etwas zu reichlich schmückten, paßten nicht ganz zu dem sonst so freundlichen, matronenhaften Aeußern.

Clara neben ihr, war das veredelte Bild der Eltern; die lieben treublauen Augen schauten gar so vertrauungs- und unschuldsvoll hinein in die Welt, an deren Schwelle sie stand, und die ihr, wie ein eben geöffnetes, prachtvoll gebundenes Buch auf den ersten, flüchtig durchblätterten Seiten, nur freundliche Blumen und ihr zulächelnde Gestalten zeigte. Kein Schmerz hatte diese engelsanften Züge noch je durchzuckt, keine Thräne wirklichen Schmerzes den reinen Blick getrübt, und die ganze zarte, sinnige Gestalt glich der eben entkeimenden Frühlingsblüthe im sonnigen Wald, die dem jungen Frühlingstag in Glück und Unschuld die schwellenden Lippen zum Kusse bietet, und in der blitzenden Thauperle ihres Kelchs, den reinen Aether über sich, nur schöner, nur glühender zurückspiegelt.

Ihre um nur wenige Jahre ältere Schwester, Sophie, die an des Vaters Seite saß, ähnelte der Schwester in mancher Hinsicht an Gestalt, aber das einfach kindliche, was Clärchen jenen unendlichen Reiz verlieh, fehlte ihr. Ihre Gestalt war voller, majestätischer, aber auch ihr Blick mehr kalt und stolz; »ich bin des reichen Dollingers Kind« lag klar und deutlich in den scharf zusammengezogenen Mundwinkeln, in dem fest und entschieden, blitzenden Auge, und auch ihre Kleidung, ihr Schmuck war, wenn nicht reicher, doch jedenfalls mehr in’s Auge springend, Bewunderung fordernd.

Zwischen Beiden saß Clara’s Bräutigam, ein junger, bildhübscher Mann in moderner, fast für einen Mann etwas zu gewählter und sorgfältig geordneter Kleidung; er trug das Haar in natürlichen dunkelbraunen Locken und das Gesicht glatt rasirt, bis auf einen kleinen, aufmerksam gekräußten, und nur bis zur halben Backe reichenden Backenbart, an den Fingern aber mehre sehr kostbare Diamant-Ringe, eine Brillant-Tuchnadel von prachtvollem Feuer, und eine schwere goldene, ebenfalls mit kleinen Edelsteinen besetzte Uhrkette.

Die Bekanntschaft Clara’s und ihrer Eltern hatte er dabei auf eine etwas romantische Weise, und zwar gleich als ihr Lebensretter oder doch Befreier aus einer nicht unbedeutenden Gefahr gemacht. Herr und Frau Dollinger waren nämlich mit ihren beiden Töchtern im vorigen Herbst auf einer Rheinreise bei Rüdesheim aus- und zu dem kleinen Waldtempel oben über Asmannshausen hinaufgestiegen, um sich von dort nach dem Rheinstein übersetzen zu lassen; die Mutter hatte aber durch das nicht gewohnte Bergsteigen heftige Kopfschmerzen bekommen oder, was wahrscheinlicher ist, ennuyirte sich am Land und wünschte an Bord des Dampfers zurückzukehren, und als sie gerade mit dem Kahn über den Rhein fuhren, kam ein Dampfboot stromab, und hielt auf ihr Winken, sie an Bord zu nehmen. Herr und Frau Dollinger, mit Sophie, von den Kahnführern unterstützt, hatten auch schon glücklich die Treppe und das Deck erreicht, und dicht hinter ihnen folgte Clara, als diese sich plötzlich erinnerte, ihre Geldtasche im Kahn vergessen zu haben, und anstatt diese sich heraufreichen zu lassen, selber wieder zurücksprang sie zu holen. Durch das Hineinspringen fing aber der schmale Kahn an zu schwanken, während sie, die vergessene kleine Tasche aufhebend, das Gleichgewicht verlor und, mit dem Kopf voran, in den Rhein stürzte. Unglücklicher Weise waren gerade in dem nämlichen Augenblick die Kahnleute an Deck des Dampfers gestiegen, den Koffer eines Passagiers, der mit an Land fahren wollte, in ihren Kahn zu heben, und wenn sie jetzt auch, auf das Geschrei an Bord, rasch in diesen zurücksprangen, trieb doch Clara schon hinter dem Dampfboot aus, als der junge, eben von Amerika zurückgekehrte Mann, der dem ganzen Vorfall vom Deck des Dampfers zugesehn, mit keckem Muth ins Wasser sprang und die Jungfrau doch wenigstens so lange an der Oberfläche unterstützte, bis das Boot herbeikam sie beide aufzunehmen.

Das Weitere nahm einen ziemlich einfachen Verlauf, Joseph Henkel, wie der junge Mann hieß, gewann sich in den nächsten Wochen, die er in der Gesellschaft der ihm zu großen Dank verpachteten Familie zubrachte, die Achtung des Vaters und die Liebe von Mutter und Tochter, und als er zuerst bei der Mutter um die Hand der Tochter anhielt, sagten Beide nicht nein. Allerdings wollte der Vater erst, wenn auch nicht gerade Schwierigkeiten machen, doch etwas Genaueres über die Existenzmittel eines Mannes erfahren, dem er das Glück und Leben eines lieben Kindes anvertrauen sollte. Henkel selber bot ihm dazu die Hand und gab ihm Adressen an verschiedene Häuser in New-Orleans, die ihm über seine dortige Stellung genaue Auskunft geben konnten.

Nach seinem Vermögen mochte der alte Dollinger, wenn auch Kaufmann, nicht so genau forschen; er war selber reich genug, einen _reichen_ Schwiegersohn entbehren zu können, und etwas Vermögen mußte der junge Mann haben, dafür bürgte sein ganzes Auftreten, bürgte besonders in den Augen seiner Frau der reiche und wirklich kostbare Schmuck, den er trug. Joseph Henkel war aber auch außerdem ein interessanter und sehr gescheidter Mann, der Manches in der Welt schon gesehen und erlebt, und das Gesehene und Erlebte mit lebendigen Farben und Worten zu schildern wußte. Er hatte die ganzen Vereinigten Staaten von Nord nach Süd und von Ost nach West durchstreift, und dort theils seinen Geschäften gelebt, theils gejagt, sogar ein kleines Dampfschiff auf dem Arkansas laufen gehabt, mit den Indianern Handel zu treiben, und ihnen die Produkte des Ostens gegen ihre eigenen Fabrikate und den Gewinn ihrer Jagden einzutauschen. Er war auch einmal von jenen wilden trotzigen Stämmen, die uns Cooper so herrlich und unübertroffen beschrieben, gefangen genommen und zum Opfertod verdammt, und damals wirklich nur durch ein halbes Wunder gerettet worden, und Clara hatte eine ganze Nacht nicht schlafen können, nur in der Angst und Unruhe um die entsetzliche Gefahr, der sich der tollkühne Mensch damals schon ausgesetzt.

Der junge Mann schien aber zwischen jenen wilden Stämmen den Umgang mit civilisirten Menschen keineswegs verlernt zu haben, und besaß ganz besonders ein fast wunderbares Geschick, sich seiner Umgebung anzuschmiegen, und sich in ihre Charaktere ordentlich hineinzuleben. Als ein tüchtiger und raffinirter Kaufmann, der vorzüglich eine vortreffliche statistische Kenntniß der Union besaß, gewann er sich dabei, und gleich von allem Anfang an, die Achtung des alten Dollinger. Der Frau aber hatte er leicht ihre kleinen, oft liebenswürdigen Schwachheiten abgelauscht, und wußte ihnen auf so geschickte Art zu begegnen, daß Frau Dollinger, mit der Rettung des geliebten Kindes im Hintergrund, schon nach sehr kurzer Zeit ganz entzückt von ihm war, und sein Lob dem Gatten unaufhörlich redete. Auch mit der älteren Schwester, Sophie, wußte sich Henkel bald auf guten Fuß zu stellen; er hatte bei ihr das leichteste Spiel, denn ihre Schwächen lagen offen zu Tag, denen aber schmeichelte er mit solcher Liebenswürdigkeit, daß ihm Clara, die es fühlte wie er dabei aus sich herausging und etwas annahm was ihm nicht natürlich war, oder doch jedenfalls dem Mann, den sie liebte, nicht natürlich sein _sollte_, dennoch nicht böse darüber werden konnte.

Desto freier, offener und natürlicher war er dafür gegen sie selber; er las, sang und spielte Pianoforte mit ihr, lehrte sie eine Menge kleiner reizender, schottischer und irischer Lieder, oder plauderte mit ihr leicht und sorglos Stunden lang in den Tag hinein, und konnte oft so herzlich dabei lachen, daß es Einem ordentlich gut that, ihm zuzuhören. Selbst Sophie entsagte dann nicht selten ihrem sonst etwas mehr abgeschlossenen, fast steifen Wesen und kam zu ihnen, Theil an ihrer Fröhlichkeit zu nehmen.

Nur in den letzten Tagen war der junge »Amerikaner« wie er im Hause gewöhnlich scherzhaft hieß, oder der »Delaware« wie ihn Sophie, wenn sie manchmal bei recht guter Laune war, nannte, auffällig niedergeschlagen gewesen; er hatte Briefe von Amerika bekommen, wie er sagte, und ein sehr lieber Freund von ihm war dort schwer erkrankt, auch ein Schiff das ihm gehörte, und das nicht versichert worden, so lange ausgeblieben, daß sein Compagnon fast den Untergang desselben befürchte. Der alte Herr Dollinger tröstete ihn deshalb, und er schien sich auch darüber hinwegzusetzen, die sonst so blühende Farbe seiner Wangen wollte aber doch nicht sogleich wieder dorthin zurückkehren, und das Auge hatte etwas Unsicheres, Unstätes, ihm sonst gar nicht Eigenes bekommen.

Nur heute, zu dem Fest der holden Jungfrau, die er bald die seine zu nennen hoffte, hatte er all die trüben Gedanken, welcher Art sie auch gewesen, und woher sie stammten, von sich abgeschüttelt, und war ganz wieder der frohe glückliche Mann, wie ihn Clara kennen — _lieben_ gelernt. Auf seinen Wunsch nur, womit Frau Dollinger eigentlich nicht ganz einverstanden gewesen, war auch heute keine größere Gesellschaft geladen worden, sondern die kleine Familie speiste ganz »unter sich« in dem festlich mit Blumen und Guirlanden geschmückten Zimmer des jungen liebenswürdigen Geburtstagkindes. Frau Dollinger hatte sich eigentlich schon länger auf eine zu diesem Zweck einzuladende, größere Gesellschaft gefreut. Herr Dollinger selber hielt aber nicht viel von solchen Fêten; dafür jedoch bedung sie sich aus, daß sie wenigstens den Nachmittag spatzieren fahren wollten, wobei sie der junge Henkel gewöhnlich zu Pferde begleitete.

Etwas that aber der alte Herr Dollinger gern, und zwar ein Glas Champagner trinken, und der zweite Stöpsel war eben lustig hinausgeknallt, der Gesundheit des »jungen Brautpaares« zu Ehren, als die Thür aufging und Loßenwerder, ein Comptoirdiener des Hauses, mit einem kleinen Paket in’s Zimmer trat.

Loßenwerder war schon seit elf oder zwölf Jahren im Haus, und seinem Aeußern nach eben keine angenehme Persönlichkeit; er hinkte auf dem linken Bein, das er als Kind einmal gebrochen, war überhaupt häßlicher und magerer Natur, und schielte auf dem rechten Auge, wodurch sein sonst gerade nicht unangenehmes Gesicht einen etwas falschen Ausdruck bekam. Das Störendste aber an dem ganzen Menschen war sein Stottern, wegen dem man sich auf ein längeres Gespräch gar nicht mit ihm einlassen konnte, und kam er einmal in Affekt, konnte er kein Wort mehr herausbringen. Frau Dollinger sowohl wie Sophie konnten ihn auch nicht leiden, ja die letztere behauptete sogar er verstelle sich und sie habe ihn schon ganz ordentlich, wenigstens zehntausend Mal besser sprechen hören, als er es jedesmal affektire, wenn er zu ihnen in die Wohnung komme; Clara aber hatte Mitleid mit dem armen Menschen, den sie seines Unglücks wegen innig bedauerte, schenkte ihm oft eine Kleinigkeit und spottete nie über ihn, während Herr Dollinger selber, ihn als einen brauchbaren und treuen Diener, der noch außerdem eine vortreffliche Hand schrieb, kannte und sehr zufrieden mit ihm war, ihm auch jedes nur mögliche Vertrauen bewieß.

»Hallo, Loßenwerder, was bringst Du mir da in’s Haus?« rief ihm sein Principal jetzt halb lachend, halb erstaunt entgegen, als der kleine Mann das Zimmer betrat und schüchtern an der Thüre stehen blieb — »ist das für mich oder meine Tochter?«

»Gewiß für mich, Väterchen,« rief Clara, rasch von ihrem Sitze aufspringend — »siehst Du, der Onkel hat mich doch nicht ganz vergessen mit meinem Fest, und mir Gruß und Geschenk geschickt.«

»Hehehe — mö — mö — möchten es sich wo — wo — wo — wo — wohl wü — n — nschen Fräulein« lachte aber der Stotternde, indem er Herrn Dollinger zuwinkte, daß das Paket für ihn sei — »ka — ka — ka — kann ich mir de — de — de — de — denken — Go — go — gold und Ba — ba — ba — ba — bank — no — noten.« Er zog dabei einen Brief aus der Tasche, den er dem Herrn übergab.

»Hm, hm, hm« sagte aber dieser kopfschüttelnd, »und das bringst Du mir jetzt in’s Haus — gerade wo ich ausfahren will — warum hast Du es denn nicht dem Cassirer gegeben?«

»Ni — ni — nirgends zu fi — fi — fi — finden« stotterte Loßenwerder.

Herr Dollinger warf den Kopf, den Brief flüchtig durchfliegend, herüber und hinüber, sagte dann aber, aufstehend und das Papier vor sich hinlegend:

»Ja, da läßt sich denn weiter Nichts ändern; gieb mir das Paket Loßenwerder, und sieh dann zu, daß Du Herrn Reibich findest. Ich lasse ihn bitten um sieben oder halb acht Uhr heute Abend auf einen Augenblick zu mir zu kommen — verstanden?«

»Ja — ja — jawohl He — he — he — herr Do — do — do — Do — «

»Schon gut« lachte Herr Dollinger, ihm zuwinkend, »und hier, Loßenwerder, magst Du auch einmal ein Glas auf das Wohl meiner Tochter trinken. Fräulein Clara’s Geburtstag ist heute — hier Clara, reich es dem jungen Herrn.« Er füllte dabei ein Wasserglas bis zum Rande voll von dem funkelnden, schäumenden Naß, und während Clara mit freundlichem Lächeln dem armen Teufel das Glas credenzte, nahm Herr Dollinger das Paket mit Geld, ging zu dem nahen Secretair, in dem der Schlüssel stak, öffnete ihn, legte das Geld hinein, zog dann den Schlüssel ab und sagte, diesen der Tochter überreichend:

»So Kinder, heute müßt Ihr einmal auf ein paar Stunden mein Cassirer sein, bis der andere aufgefunden werden kann.«

Clara nickte dem Vater freundlich zu, und Loßenwerder, der das volle Glas in der Hand hielt und auf einmal ganz blutroth im Gesicht geworden war, hob es empor und rief stotternd:

»Fr — re, re, re, re, re, räu — le — le — lein Cla — ra — ra — ra — ra — aus ga — ga — ganzem He — he — he — he — he — he — her — ze — ze — zen.«

Als ob er aber mit den Worten in der Kehle Luft gemacht, setzte er das Glas an, und der Wein verschwand wie durch Zauberei.

»Alle Wetter« lachte Herr Dollinger, der sich gerade nach ihm umdrehte, »Loßenwerder hat einen vortrefflichen Zug — nun? — hat’s geschmeckt?«

»Gu — gut Herr Do — do — do — do — do.«

»Genug, genug« winkte ihm der Principal wieder ab — »also bestell mir das ordentlich.«

Loßenwerder, der Art entlassen, und vielleicht froh aus einer Umgebung zu kommen, in der er sich nicht heimisch fühlen konnte, setzte das Glas auf einen Seitentisch ab, machte eine etwas linkische Verbeugung, und wohl wissend daß er zu einem ordentlichen Danke doch keine Zeit mehr übrig hatte, empfahl er sich ohne weiter auch nur einen Versuch zu mündlichem Abschied zu machen.

»Eine unangenehme Persönlichkeit« sagte Frau Dollinger zu ihrem Schwiegersohn _in spe_, als der Mann noch die Thür nicht einmal ordentlich hinter sich geschlossen hatte; »ich kann mir nicht helfen, auf mich macht der Mensch immer einen fatalen Eindruck.«

»Wie — wie befehlen Sie meine Gnädige?« sagte der junge Henkel etwas zerstreut; Sophie bog sich in diesem Augenblick zu ihm nieder und flüsterte ihm ein paar Worte zu —

»Er kann ja doch Nichts für seine Gebrechen« nahm Clara aber die Antwort auf, »und thut gewiß Alles in seinen Kräften sie eben durch gutes Betragen vergessen zu machen.«

»Papa, ich würde das Geld auch nicht so offen in dem Secretair da liegen lassen« sagte Sophie.

»Nicht so offen? — ich habe ja zugeschlossen — «

»Nun, es ist immer nicht gerade gut, wenn die Dienstleute wissen wo man Geld liegen hat« stimmte die Mutter bei.

»Dienstleute?« meinte Herr Dollinger — es war ja Niemand von ihnen im Zimmer — «

»Doch Loßenwerder?«

»Bah« lachte der Kaufmann, mit dem Kopf schüttelnd.

»Ist es denn viel?« frug seine Frau.

»Nun, der Mühe werth wär’s immer« sagte Herr Dollinger, »fünf Tausend Thaler etwa — es soll aber auch nicht über Nacht da liegen bleiben, und Loßenwerder hat mir auf heute Abend den Cassirer zu bestellen, das Geld an sicheren Ort zu legen, bis ich morgen darüber verfügt habe.«

»Der Loßenwerder verwandte keinen Blick von dem Geld, so lang er im Zimmer war« sagte die Mutter, mit dem Finger vor sich hindrohend.

»Lieber Gott, Mütterchen, Du weißt ja aber doch daß er schielt« vertheidigte ihn lachend Clara — »eben so fest und unverwandt hat er mich indessen mit dem andern Auge angesehen; seine Schuld ist’s nicht daß er zwei Stellen auf einmal im Auge behalten muß.«

»Laßt mir den armen Teufel zufrieden« sagte aber auch Herr Dollinger — »der ist mir nützlicher wie zwei von meinen anderen Leuten; mehr zum Nutzen wie Staat freilich, aber Staat will er auch nicht machen. Jetzt übrigens Kinder wird es Zeit daß wir uns rüsten, und Henkel, Sie müssen noch Ihr Pferd holen lassen.«

»Ich habe es schon, in der Voraussetzung daß wir bei dem schönen Wetter doch wohl eine kleine Parthie machen würden, hierher bestellt,« erwiederte rasch der junge Mann — wünschen Sie den Wagen jetzt?«

»Ich glaube ja, je eher, desto besser; die Tage sind kurz und wenn wir noch eine Stunde oder zwei fahren wollen, dürfen wir nicht mehr viel länger warten.«

»Aber Ihr Mädchen möchtet Euch ein wenig warm einpacken« sagte jetzt die Mutter, alles Andere in dem Gedanken an ihre Toilette vergessend — »zum still im Wagen Sitzen paßt ein Sommerkleid noch nicht und heute Abend wird es kühl werden.«

»Und nicht so lange machen,« mahnte der Vater, der sich sein Glas noch einmal voll schenkte und leerte; »der Wagen wird im Augenblick da sein.«

Der Wagen fuhr auch wirklich kaum zehn Minuten später vor, Herr Dollinger, der nun seinen Hut und Stock aufgenommen, ging, seine Handschuh anziehend, im Hofe auf und nieder, und endlich erschienen, diesmal in wirklich sehr kurzer Zeit, die Damen, ihre Sitze einzunehmen.

»Nun, wo ist Henkel?« sagte Herr Dollinger, sich nach seinem zukünftigen Schwiegersohne umschauend, »ich habe sein Pferd auch noch nicht gesehen; jetzt wird uns der warten lassen.«

Die Familie hatte indessen im Wagen Platz genommen, und der alte Herr schaute etwas ungeduldig zum Schlag hinaus, als der junge Henkel zum Thor, aber ohne Pferd, hereinkam.

»Nun? und Sie sitzen noch nicht im Sattel?« rief er ihm schon von weitem entgegen — »das ist eine schöne Geschichte; jetzt dürfen wir den Frauen nie im Leben wieder vorwerfen, daß sie uns warten lassen.«

»Ich muß tausend Mal um Entschuldigung bitten,« sagte der junge Mann, zum Wagen hinantretend, »aber mein Stallmeister hat mich sitzen lassen. Wenn Sie mir erlauben schicke ich einen der Leute danach, oder gehe selber, es ist nicht weit von hier. Aber thun Sie mir die Liebe und fahren Sie langsam voraus, ich hole Sie in Zeit von zehn Minuten ein.«

»Wir können ja hier warten,« sagte die Mutter.

»Ja, wenn die Pferde stehen wollten,« brummte Herr Dollinger — »zieh nicht so fest in die Zügel Johann, das Handpferd kann das nicht vertragen und wird nur noch immer unruhiger — wir wollen langsam vorausfahren — machen Sie aber daß Sie nachkommen; auf dem Balkon vom rothen Drachen trinken wir Kaffee, dort ist eine wundervolle Aussicht — der Stalljunge mag hinüberlaufen und Ihnen das Pferd holen.«

Die Pferde zogen in diesem Augenblick an, Henkel mußte aus dem Weg springen und verbeugte sich leicht gegen die Damen, von denen ihm Clara freundlich lächelnd zunickte.

Eine starke Viertelstunde später sprengte der junge »Amerikaner,« seinem Thiere die Sporen gebend, daß es Funken und Kies hintenaus stob, über das Pflaster, zum Entsetzen der Fußgänger dahin, dem Wagen nach, den er nur erst eine kurze Strecke vor dem bezeichneten Platz wieder einholte. Im Stall wollte Niemand etwas davon gewußt haben, daß er sein Pferd bestellt gehabt — Einer schob die Vergessenheit natürlich auf den Andern, und Dollinger’s Stallknecht mußte die Leute sogar erst zusammensuchen, bis er das Pferd bekam, deshalb hatte es so lange gedauert. Als er mit demselben zurückkehrte, ging der junge Mann in dem kleinen, dicht am Haus liegenden Garten auf und ab, sprang aber dann, dem Burschen ein Trinkgeld zuwerfend, und dessen Entschuldigung nur halb hörend, rasch in den Sattel und flog, wie vorher erwähnt, in vollem Carrière die Straße nieder.

Er hatte den Hof kaum verlassen, als Loßenwerder, einen großen, wunderschön blühenden Monatsrosenstock unter dem Arm, vorsichtig und wie scheu, daß ihn Niemand gewahre, über den Hof und in die Hinterthür des Hauses schlich, und sich leise und geräuschlos die Treppe damit hinaufstahl. Er blieb etwa zehn Minuten im Haus und wollte dann aus derselben Thür wieder über den Hof zurück, als der Stallknecht aus der Futterkammer kam. Unschlüssig blieb der kleine Mann eine kurze Zeit hinter der Thür stehen, und schlich sich dann, als der Bursche den Platz nicht verlassen wollte, vorn zur Hausthür hinaus auf die Straße, den Weg nach seiner Wohnung einschlagend.

 

 


Capitel 2.

DER ROTHE DRACHEN.

Der »rothe Drachen«, ein Wirthshaus, das wegen seines vortrefflichen Bieres, wie sonst mancher schätzenswerthen Eigenschaften einen sehr guten Namen hatte, lag etwa eine halbe Stunde von Heilingen, an der großen Landstraße, die gen Norden führte. Ein freundlicher Thalgrund umschloß Haus und Garten und die dunklen, den Gipfel des nächsten Hanges krönenden Nadelhölzer hoben nur noch mehr das freundliche Grün der jungen Birken und Weißeichen hervor, die sich über die niedere Abdachung erstreckten, und bis scharf hinan an den hocheingefriedigten und sorgfältig in Ordnung gehaltenen Frucht-, Gemüse- und Blumengarten des Hauses selber lehnten.

Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag; der Bach, der am Hause dicht vorbeirieselte, plätscherte und schäumte in frischem jugendlichen Uebermuth, des Eises Hülle, die ihn so lange gefangen gehalten oder doch fest und ängstlich eingeklemmt, nun endlich einmal enthoben zu sein, und die Vögel zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten knorrigen Linde, die unfern der Thüre stand, und flatterten und suchten herüber und hinüber, aus den blühenden Obstbäumen fort über den Hof und von dem Hof wieder fort in dicht versteckten Ast und Zweig hinein, mit einem gefundenen Strohhalm oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, daß Einem das Herz ordentlich aufging über das rege glückliche Leben. Und wie blau spannte sich der Himmel über die blühende, knospende Welt, wie leicht und licht zogen weiße duftige Wolken, Schwänen gleich, durch den Aether hin, farbige, flüchtige Schatten werfend über Wiesen und Feld und die weite Thalesflucht, die sich dem Auge in die Ferne öffnete und dem leuchtenden Blick neue Schätze bot, wohin er fiel.

Ein Frühling in Deutschland — ein Frühling im _Vaterland_; oh wie sich das Herz da mit der wirbelnden, schmetternden Lerche hebt und jubelnd, jauchzend gen Himmel steigt; zwinge die Thräne da nicht zurück, die sich Dir, dem Glücklichen, in’s Auge drängt — in ihrem Blitzen preisest Du den Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort thut, die mit zitterndem Flügelschlag über den grünen Matten schwebt; — wie das raschelnde flüsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, thaugeschmückte Halm und die knospende, duftende Blüthe im Thal. Ein Frühling im Vaterland — oh wie schön, wie jung und frisch die Welt da um uns liegt in ihrem bräutlichen Glanz, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen Keim, und wie sich das Herz der schönen Blume gleich zusammenzog, als der Herbststurm über die Haide fuhr, mit rauher Hand den Blattschmuck von den Bäumen riß und zu Boden warf und Schnee und Eis vor sich hin jagte über die erstarrende Flur, so öffnet es sich jetzt mit vollem Athemzug wieder den balsamischen Frühlingsgruß, und vorbei, vergessen liegt vergangenes Leid — wie der verwehte Sturm selber keine Spur mehr hinterließ und die schönsten Blumen jetzt gerade an den Stellen blühen, wo er am tollsten, rasendsten getobt.

Ein warmer erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, und so gut er dem Land gethan, hatte er doch die Bewohner des nahen Städtchens in ihre Häuser und Straßen gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsüchtig die nahen grünenden Berge theils, theils die dunklen Wolken betrachteten, die nicht nachlassen wollten Segen auf die Fluren niederzuträufeln. Heute aber hatte sich das geändert; voll und warm glühte die Sonne am Himmelszelt und hinaus strömten sie in jubelnden Schaaren, hinaus in’s Freie. Der »rothe Drachen« vor allen anderen Plätzen, der so reizend an der Oeffnung des Thales lag und die Aussicht bot in das darunter liegende freie Land, hatte dabei sein reichlich Theil erhalten der fröhlichen Schaar, daß die Wirthin mit ihren Kellnern und Mägden nicht Hände genug hatte zu schaffen und herzurichten, und die Tische und Bänke im Garten draußen fast alle besetzt waren rund herum von Schmausenden.

Der »rothe Drachen« sollte übrigens, wie die Sage ging, seinen Namen von einem wirklichen Drachen bekommen haben, der einmal vor vielen hundert Jahren in der Schlucht weiter oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die Drachenschlucht hieß, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen hatte. Der Wirth des »rothen Drachen« nun, Thuegut Lobsich, dessen Voreltern schon diesen Platz gehalten, behauptete dabei, Einer seiner »Ahnen« habe den Drachen im Einzelkampf erlegt — (die Gäste meinten, mit schlechtem Bier vergiftet) und dafür von dem damals regierenden Fürsten Platz und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, erhalten.

Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich that wirklich gut auf dem Platz, der ihm vortreffliche Nahrung bot, und befand sich so wohl, wie sich nur ein Wirth in einer gut gelegenen Wirthschaft befinden kann. Seine Frau war aber dabei der Nerv des Ganzen, in Küche und Stall, in Keller und Haus, und während sich Vater Lobsich, wie er sich gern nennen ließ, obgleich er noch jung und rüstig war, am Liebsten zu seinen Gästen irgendwo an einen Tisch drückte und »das Bier controllirte«, wie er sagte, daß ihm die Burschen kein Saures brachten und die Gäste verjagten, arbeitete die Frau im Schweiße ihres Angesichts vor dem Heerd, die bestellten Portionen herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von Kaffee, Thee, Milch und Kuchen zu überwachen. Dabei führte sie die Kasse und rechnete mit Kellnern und Mädchen ab, und wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee oder Kuchen vergessen, ein nichtbezahltes Glas nicht aufnotirt oder einem schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen Befehl geborgt hatten.

Böse Zungen meinten dabei nicht selten, Frau Lobsich sei der »einzige Mann im Hause« und Thuegut dürfe nur tanzen, wenn sie nicht daheim wäre; böse Zungen erwähnten dann aber nicht dabei, daß sie wirklich allein das Hauswesen in Zucht und Ordnung hielt, und so scharf und heftig sie draußen in Küche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch eigentlich nur zu sehen bekamen, sein konnte, und so große Ursache sie dabei oft hatte ärgerlich zu sein, und die Ursache dann auch für vollkommen genügend hielt, es wirklich zu werden, so still und freundlich konnte sie sich betragen, wenn sie allein mit ihrem Manne war, und so gern gab sie ihm in Allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome Lobsich war das Muster einer Hausfrau, und was ebensoviel sagen will, eine gute Gattin dabei — ob ihr Mann dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem anderen Blatt.

Heute hatte sich übrigens eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft in dem gar so freundlich gelegenen Garten des rothen Drachen eingefunden, und dicht vor der Thür desselben, unter der alten breitschattigen Linde, die ihre Arme so weit nach rechts und links hinüberstreckte, daß man sie schon hatte stützen müssen, nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu behalten, saß Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter Bekannten, d. h. alter Kunden und quasi Stammgäste von ihm, denn er selber kam selten irgend wo anders hin, und wer also sein Bekannter _bleiben_ wollte, mußte ihn eben besuchen.

Zu diesen gehörte besonders Jacob Kellmann, ein Kürschner und Pelzhändler aus Heilingen, dann der Aktuar Ledermann von dort, eine lange hagere, etwas ungeschickte Gestalt, mit aber nicht unangenehmen, gutmüthigen Gesichtszügen, und der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die es gewöhnlich so einzurichten wußten, daß sie an einen Tisch mit einander zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am Liebsten zwischen dieser kleinen Gesellschaft Platz, und nur dann und wann, besonders wenn er die Stimme seiner Frau irgendwo hörte, stand er auf und ging einmal durch den Garten und die Reihen seiner Gäste, zu sehn ob Alle ordentlich bedient würden, und keine Klagen einliefen gegen unaufmerksame Kellner, die er in dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle mit einem Knuff oder einer Ohrfeige abstrafte, als warnendes Beispiel. Er mußte an irgend Jemand seinen Aerger auslassen, daß er nicht bei seinem Biere konnte sitzen bleiben.

»Ist doch ein prachtvolles Wetter heute,« sagte Kellmann, der eben einen tüchtigen Zug aus seinem Glase gethan, und nun mit vollem zufriedenen Blick über das freundliche Bild hinaus schaute, das sich, von der warmen Nachmittagssonne beschienen, in all seinem blitzenden Glanz und Farbenschimmer vor ihnen aufrollte »und es wächst und gedeiht Alles draußen so schön und steht so prächtig — merkwürdig dabei, daß Alles so theuer bleibt, und die Preise, statt herunter zu gehen, immer nur steigen und steigen.«

»Ja das weiß Gott,« seufzte der Aktuar, dem der Gedanke selbst den Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, denn er setzte das schon zum Mund gehobene Glas unberührt vor sich nieder — »und wenn das noch eine Weile so fort geht, können wir alle mit einander verhungern oder davonlaufen.«

»Nun Ihr habt gut reden,« sagte Kellmann, »Ihr bekommt vom Staat Euer Gewisses und könnt Euch genau danach einrichten — Euer Geld muß Euch werden, wenn der erste jedes Monats kommt, unsereins hängt aber allein von den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauft Niemand einen Pelz. Holz will auch sein und daran kann sich nachher die ganze Familie wärmen.«

»Ihr redet wie Ihr’s versteht,« brummte der Aktuar, — »unser Gewisses bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, damit wir gewisses Elend vor den Augen haben. Ich habe fünfhundert Thaler Gehalt, und Frau und Kind und Dienstmädchen zu ernähren, und soll anständig dabei gekleidet gehn, denn vor zehn und zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in meiner Stellung auch nicht mehr, und machte das Alles möglich, ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber wird Brod, Butter, Fleisch, Holz, Wohnung, kurz Alles was wir nun einmal zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine fünfhundert Thaler _bleiben_; vor zehn Jahren kaufte ich zwanzig Pfund Brod für dasselbe Geld, für das ich jetzt nicht zehn bekomme — aber _meine_ fünfhundert Thaler _bleiben_. Auch mein Hausherr verlangt höheren Zins — schon voriges Jahr bin ich höher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, d. h. für denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage gezogen, aber dies Jahr muß ich ganz hinaus, denn er will wieder zehn Thaler mehr haben und ich kann’s ihm nicht geben. Ihr Leute habt Euch gut in die Zeiten schicken, denn wenn das Brod theuer wird, schlagt Ihr desto mehr auf Euere Waare, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen Lohn, das ist das geplagte, gefährdete Geschöpf, und jede neue Taxe macht ihm keine neue Berechnung, sondern schnallt ihm nur den Leibriemen um ein Loch enger, daß er weniger ißt, bis er in’s _letzte_ Loch geworfen wird, zum ersten Mal von seinen irdischen Strapatzen, ohne Furcht vor rasch abgelaufenen Ferien, wirklich ungestört auszuruhen.«

»Ach geht mit Eueren erbärmlichen Lamentationen an solch freundlichem Tag,« fiel ihm der Wirth hier in die Rede, der sich erst vor ein paar Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile ungeduldig mit dem Kopf geschüttelt hatte. »Das Reden macht’s nicht besser und Stöhnen und Seufzen hilft auch Nichts — Kopf oben, das ist die Hauptsache; das andere macht sich von selber — aber hallo« — unterbrach er sich plötzlich, von seinem Sitze aufstehend und die Straße hinunterzeigend, die in das weite Thal führte — »was kommt dort für ein Trupp den Weg entlang?« — und in der That wurde dort oben ein ganzer Zug Männer, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen Wägelchen sichtbar.

»Das sind Auswanderer!« rief Jacob Kellmann, von seinem Stuhl aufspringend und dem Zug entgegenschauend — »seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer Schwarm aus dem Hessischen; Heiland der Welt, da muß doch endlich einmal Platz werden.«

»Na nu ist wieder der Frieden beim Henker,« rief aber der Apotheker mürrisch — »hier Lobsich setzt Euch auf Eueren Stuhl und trinkt Euer Bier aus, und Ihr Kellmann, laßt das Volk da draußen laufen, wohin sie wollen — unzufriedene Bande, die es ist und die es nirgends gut genug kriegen kann, wo ihr nicht das Confekt auf goldenen Tellern präsentirt wird. Na kommt nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht — Euch werden sie schon noch das Fell über die Ohren ziehn, daß Ihr am hellen lichten Tag die Sterne zu sehn bekommt.«

»Nein was für ein Zug!« rief aber Kellmann, die langsam näher kommende Schaar mit unverkennbarem Interesse betrachtend; »die armen Teufel.«

»Hört Kellmann,« rief aber Schollfeld ärgerlich, »tretet mir da ein wenig aus dem Weg, daß ich auch was sehen kann, und setzt Euch wieder, ich dächte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Straße wären nichts so besonders Neues, daß Ihr Maul und Nase aufsperrt und thut, als ob Euch so etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.«

Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch; er hatte einen Zorn auf Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte Beleidigung gegen den Staat, gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm geradezu unter die Nase sage — : »ich mag nicht mehr in Dir leben und weiß einen Platz, wo’s besser ist.« Das _dachten_ sich nämlich die »Tölpel«, wie er sie nannte, aber Sie _wußten_ es nicht — gar Nichts wußten sie und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat hätte auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen; hunderte von Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei vorbei, Anderen noch obendrein ein böses Beispiel gebend, und er begriff die Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Paß gestatten konnte.

Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewöhnlich eine Menge junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst hatten; um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals trocken machte.

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Die ersten Wägen passirten still vorbei; die Führer warfen einen langen, vielleicht sehnsüchtigen Blick nach den behaglich hinter ihren Tischen sitzenden Gästen und dem kühlen funkelnden Bier hinüber, aber hielten nicht an, sich längere Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den Fußgängern blieben mehre Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine Gesellschaft saß, und nicht weit von der Gartenthüre stehn, und während ein paar der Männer dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als ob sie sich scheuten in ihrer bestaubten schmuzigen Kleidung, mit der schweißbedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen herübersehenden Gruppen hineinzugehn, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen hier nach unten zu das Thal öffnete, durch das sie gekommen, blieben sie erfreut und überrascht stehn und schauten dabei auf das reizende Bild hin, das wie mit einem Schlage so vor ihnen in’s Leben sprang.

»Heiland der Welt, Lisbeth,« rief ein junges, sechzehnjähriges Mädchen der, vielleicht zwei Jahr älteren Schwester zu — »dort drüben liegt Holstetten, und von da ist’s nur noch neun Stunden zu Haus — dahinter kann ich den weißen Weg durch’s schwarze Nadelholz sehn, der hinüberführt nach Krisheim.«

»Ja Marie,« antwortete das Mädchen, und während sie sprach, liefen ihr die großen hellen Zähren an den bleichen Wangen nieder, »gleich hinter dem Berg dort muß die Windmühle liegen, und dann kommt Bachstetten und nachher« — sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll und sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, noch schwerer machen. Aber zurückdämmen ließ sich das auch nicht, die Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark, und beide Mädchen standen wenige Minuten still und weinend da, die schönen thränenüberströmten Züge den ihr nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimath, die sie wohl nie im Leben wieder schauen sollten, zugekehrt.

»Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält und pflegt, wie sie es versprochen,« brach die Jüngste endlich wieder mit leiser kaum hörbarer Stimme das Schweigen.

»Sie hat’s ja versprochen,« flüsterte fast eben so leise die Schwester zurück, »aber — — — — so lieb wird sie’s doch nicht haben wie wir.«

»Komm Lisbeth,« sagte die Jüngere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei anzusehn, der Schwester Hand — »wir wollen gehn — die Wagen sind schon ein Stück voraus.«

Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimath zu und schritten dann schweigend Hand in Hand den Weg entlang, der nach und durch Heilingen führte, ihre weite, unbekannte Bahn.

»He Marie, Lisbeth!« rief sie der Vater an, der eben an der Thür des Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte — »wollt Ihr einmal trinken Kinder?«

»Ich danke Vater,« sagte Marie zurück, ohne sich umzusehn oder stehn zu bleiben, »wir sind nicht durstig.«

»Woher des Wegs Ihr Leute?« wandte sich jetzt Kellmann, der trotz Schollfeld’s ärgerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen.

»Aus Hessen,« sagte der Mann ruhig und that einen langen durstigen Zug aus dem, mit dem trefflichen Bier gefüllten, schäumenden Glas.

»Und wohin?«

»Nach Amerika.«

»Hm — ist ein weiter Weg — ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Lande?« sagte Kellmann, die kräftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten Landmanns teilnehmend betrachtend.

Der Bauer, dessen Blick auch an dem fernen Punkt indeß gehangen, wo seine frühere Heimath lag, ließ das Auge einen Moment wie mißtrauisch über den Frager gleiten und erwiederte dann leise und kopfschüttelnd:

»Schlecht? — lieber Gott wie man’s nimmt; man soll g’rad nicht klagen; der liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen.«

»Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen die in Amerika herumfliegen?« mischte sich hier der Apotheker in’s Gespräch, der nicht umhin konnte dem »Auswanderer«, wie er sich ausdrückte, »einen Hieb zu versetzen« — »habt Ihr auch Messer und Gabeln mit?«

Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann einen Augenblick ruhig von der Seite an, zahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem er das Glas zurückgab, sein Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu erwiedern, oder ärgerlich darüber zu scheinen, ja als ob er sie nicht gehört hätte, wandte er sich und folgte mit einem »grüß Euch Gott Ihr Herren«, seinen vorangegangenen Töchtern.

»Holzkopf,« brummte der Apotheker, nur noch mehr gereizt über diese anscheinende Misachtung, hinter ihm drein — »dem Volk ist zu wohl hier,« setzte er dann, mit einem kräftigen Zug aus seinem Glase hinzu — »der Art Leute fühlen sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem Daumen gehalten werden.«

»Guten Abend miteinander,« sagte in diesem Augenblick ein Anderer der Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifenstummel in der Hand zu dem Tisch trat, auf dem in einem schützenden Kelchglas ein Licht mit darum gesteckten Fidibus zum Anzünden der Cigarren stand — »wenn’s erlaubt ist, möchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen.«

»Mit Vergnügen,« sagte Ledermann, ihm einen Fidibus anzündend und hinreichend.

»Danke schön,« nickte der Mann, das Feuer benutzend und den blauen Qualm in schnellen kurzen Zügen ausblasend. —

»Und wo geht die Reise hin?« frug Ledermann dem Rauchenden.

»Da hinüber,« sagte dieser; immer noch scharf ziehend, indeß er mit dem linken, zurückgebogenen Daumen über die linke Achsel wieß — »übers große Wasser.« —

»Habt Ihr dort schon einen Platz?« frug der Aktuar.

»Ja,« sagte der Mann freundlich — »mein Bruder hat mir geschrieben aus dem Wiskonsin heraus; da soll’s gut sein.«

»Und geht Ihr Alle dorthin?« frug ihn Kellmann.

»Die meisten von uns, ja; eine Parthie will aber auch hinüber in’s Missuri; da ist’s wärmer.«

»Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?«

»Ja meistens — ein Schneider ist dabei, und der Schmied aus dem Dorfe und der Herr Pastor ist schon voraus.«

»Der Pastor geht auch mit?« frug Kellmann schnell.

»Ahem,« nickte der Mann, »der ist aber mit der Post gefahren, aber er hat gesagt er wollte sehn daß wir Alle auf ein Schiff kämen. Danke schön Ihr Herren, adje.«

»Glückliche Reise,« rief ihm Kellmann nach.

»Danke,« nickte der Mann noch einmal zurück, »könnens brauchen,« und schloß sich den übrigen wieder an, von denen die letzten gerade die Thür des Wirthshauses passirten.

Es waren ärmliche, viele von ihnen kränklich oder wenigstens bleich aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer Gegend gekleidet; die meisten Frauen mit Kindern auf dem Arm, Manche sogar deren an der Brust, und ein Bündel dazu auf dem Rücken, die im Schweiß ihres Angesichts, wie sie bis jetzt gelebt, mühsam der fernen ersehnten Heimath entgegenstrebten. Hie und da waren auch ein paar kräftige junge Burschen von zwölf bis vierzehn Jahren vor ein kleines leichtes Handwägelchen gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstücke und Lebensmittel die weite Straße entlang zu ziehen. — Die Leute hatten kein Geld übrig, denn das wenige, was sie zur Reise aufgespart, mußten sie für das Schiff aufheben, und ein paar Thaler sollten doch auch noch wenigstens, wenn das irgend anging, übrig bleiben, damit sie nur die ersten Tage in Amerika, ehe sie Arbeit bekämen, vor Sorge geschützt wären. Den glänzenden Schilderungen die ihnen von dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht waren, trauten die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfange; von Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kräfte wurden ihre jüngeren Geschwister in der Welt herumzuschleppen, hatten sie arbeiten, hart arbeiten müssen, und viel anders würde es auch wohl nicht da drüben sein. Der Sorgen waren hier nur gar so viele angewachsen, mit jedem Jahre mehr, wie sie sich auch plagten und quälten, und schlechter _konnte_ es dort drüben nicht sein. Das war für jetzt der einzige Trost den sie mit sich trugen die lange, heiße Straße entlang mit einer kleinen Hoffnung möglicher Besserung vielleicht, und sie drückten dann die Kinder nur fester an ihr Herz und küßten sie, und flüsterten ihnen leise und heimlich zu daß sie nicht mehr schreien sollten, denn sie gingen nach _Amerika_, und da würde schon Alles gut werden, wie ihnen der Vater gesagt.

Die Männer und Burschen zogen der fernen Welt aber schon mit mehr Vertrauen entgegen; das Bewußtsein der eigenen Fähigkeit und Kraft hob sie dabei auch über Manches hinweg das die abhängigen Frauen schwerer zu Boden drückte. Wer bei einer langen Wanderung voran geht, und für den Weg zu _denken_ hat, wird nie so müde als der, der ihm folgt, nur für sich denken läßt, und hinter drein zieht. Viele von den Männern trugen auch Jagdtaschen und Gewehre auf dem Rücken, Büchsen und Schrotflinten — was sollte es »da drüben« nicht Alles zu schießen geben; — Manche auch nachgemachte bunte Blumensträuße auf dem Hut. Einzelne, aus Baiern und Thüringen, die sich ihnen angeschlossen, hatten sogar ein paar kleine gefärbte Maraboutfedern mit ihren Landesfarben, blau und weiß, und grün und weiß in ihrem Hutband stecken; die Meisten aber schienen keine solche Erinnerung an die Heimath mitnehmen zu wollen, in das neue Vaterland.

Die Leute gingen vorüber, und die Gäste hatten ihnen schweigend nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nächste Biegung der Straße ihren Blicken entzog. Auch Lobsich war wieder vor die Thür seines Gartens getreten, und sich jetzt kopfschüttelnd zurück zu seinem Tische wendend, brummte er vor sich hin.

»S’ist mir doch was Unbedeutendes« — es war dieses eine seiner stehenden Redensarten, die in der That unbegrenztes Erstaunen ausdrücken sollte — »was die Leute dieß Frühjahr wieder an zu ziehen fangen; Tag für Tag geht das so fort; Trupp nach Trupp kommt über die Berge herüber, mit Sack und Pack, mit Weib und Kind — und Alles fort, Alles fort, und man merkt nicht einmal von _wo_ sie fort sind.«

»Doch, doch,« sagte Kellmann, die Augenbrauen in die Höhe ziehend und mit dem Kopf nickend, »doch, doch Lobsich; ob man’s wohl merkt? — geht einmal da über die Berge hinüber und seht Euch in den Dörfern um; da steht manches alte halbzerfallene _leere_ Haus, an das irgend eine Familie da drüben noch mit Schmerzen zurückdenkt, und in das Niemand anderes mehr Lust hat einzuziehen, weil er noch eine Menge _bessere_, ebenfalls leer, in demselben Dorfe findet. Es ist immer ein trauriger Anblick solch ein leeres Haus, und ich seh’s nicht gern.«

»Und was für _Geld_ tragen sie außer Land,« fiel der Apotheker hier ein, der indeß, sich zu zerstreuen, im Heilinger Tageblatt gelesen hatte, jetzt aber nicht umhin konnte auch noch ein Wort mit drein zu werfen — »was sie nicht mit hinübernehmen können, lassen sie wenigstens in den Seestädten, und zu uns kommt Nichts mehr davon zurück. Wenn ich nur das erst einmal erlebe, daß die Leute zu ihrem Glück förmlich _gezwungen_, und nicht mehr aus dem Land hinausgelassen werden; geht das aber so fort, so werden sie so lange auswandern, bis uns hier weiter gar Nichts übrig bleibt als mitzugehen, wenn wir nicht eben allein sitzen wollen in dem verödeten Land, unseren Acker selber zu bauen. Hol sie der Teufel, wofür hat sie denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt und ihnen den Holzkopf gegeben, der sie zu allem Anderen untauglich macht. Ackern und Düngen müssen sie drüben doch auch, und weshalb können sie das nicht eben so gut _hier_? — Nein Gott bewahre, die paar Thaler die sie sich _hier_ erspart haben, müssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen werden an Experimente und reinen Uebermuth, und nachher sitzen sie erst recht da; dort drüben _können_ sie Nichts mehr sparen, und _müssen_ schon drüben bleiben, wenn sie auch wieder herüber möchten. Die Paar die sich doch noch ein paar Thaler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug wieder zurück, aber es sind nur wenige, und die anderen armen Teufel haben die Brücke muthwillig hinter sich abgebrochen, und sitzen nun auf der wohlriechenden Haide ohne Unterfutter. Jesus Maria und Joseph, es muß ein ordentlicher Jammer drüben sein.«

»Na, _so_ arg nun denn doch wohl noch nicht, Schollfeld,« sagte Kellmann kopfschüttelnd, »man hört doch nun auch so Manches von da drüben was nicht gar so schlecht klingt, und wo sich’s schon aushalten ließe, wenn man — wenn man eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut thun müßte oder wollte.«

»Nicht so arg?« rief aber Schollfeld, der hier sein Steckenpferd ritt, und sich selten eine Gelegenheit entgehen ließ auf Amerika zu schimpfen — »nicht so arg? da, hier lesen Sie einmal das Tageblatt, was der wackere Dr. Hayde darüber schreibt; das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zähnen und muß die Sache verstehn, denn er ist Einer von den Wenigen die drüben gewesen und glücklich wiedergekommen sind. Er bringt kaum eine Nummer in der er nicht ein oder den anderen Hieb auf die Verhältnisse Ihres »glücklichen Amerika« hat — das muß ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie nur einmal.«

»Hören Sie lieber Schollfeld, ich will Ihnen einmal ’was sagen,« erwiederte ihm Kellmann ruhig, »dieser Dr. Hayde, der Ihnen die schönen Artikel schreibt ist, der Meinung aller ordentlichen Kerle in Heilingen nach, das wenigste zu sagen eine kleine geschwollene Giftkröte, ein weggelaufener Advokat, den die Verhältnisse aus Deutschland vertrieben, und den in Amerika Niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul zum arbeiten, und nicht im Stande etwas Anderes zu thun, wurde er dort wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoßen, und wie ein aus einer Thür geworfener Mops, stellt er sich jetzt draußen hin, wo sich Niemand die Mühe giebt ihn zu stören, und schimpft und klefft. Ich will Amerika eben nicht in allem vertheidigen, aber was _der_ gerade darüber sagt würde mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkäfer schleppt er sich nur mit größter Mühe kleine Stückchen Koth herbei, und rollt sie zusammen eine Kugel zu machen in die er sein Ei legt — pfui über den Burschen.«

»Na jetzt freut mich aber mein Leben,« rief Herr Schollfeld erstaunt aus — »erst schimpfen Sie selber auf Amerika, und nun auf einmal soll der arme Doktor die ganze Schuld tragen.«

»Ich _schimpfe_ nicht auf Amerika,« sagte Kellmann ruhig, »ich kann nur nicht leiden wenn man es auf Kosten unseres eigenen Vaterlandes herausstreicht, und gegen alle seine Nachtheile blind ist. Es wäre allerdings noch viel gefährlicher sich die Lichtseiten alle zu bunt auszumalen; die armen Leute die nachher hinübergehn und es anders finden, sind dann zu sehr enttäuscht, und fallen gewöhnlich, wie mir gesagt ist, aus einem Extrem in’s Andere — aber so taugt’s auch Nichts.«

»Guten Abend selbander,« sagte in dem Augenblick eine andere Stimme dicht hinter ihnen, und als sie sich danach umschauten, stand ein alter Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, ein reicher junger Bauer aus dem nächsten Dorf, an ihrem Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand entgegen.

»Hallo Mathes, wie geht’s?« rief Kellmann die gebotene herzlich schüttelnd — »Wetter noch einmal Mann, wo habt Ihr jetzt gerade in der Saatzeit gesteckt, daß Ihr in der Welt herumreist wie ein Baron, der seine Güter verpachtet hat? Ihr seid verreist gewesen.«

»Ja Herr Kellmann, in Bremen.«

»Wo seid Ihr gewesen?« frug Schollfeld erstaunt.

»In Bremen, Herr Schollfeld!« rief der junge Bauer, gegen diesen gewandt, »oben in der Hafenstadt.«

»Guten Abend Mathes,« kam hier der Wirth dazwischen, der den alten Kunden ebenfalls begrüßte — »lange nicht gesehn, recht groß geworden mein Junge; hast Du Durst?«

»Merkwürdigen,« sagte der Bauer lächelnd.

»Na warte, den wollen wir begießen,« schmunzelte aber Lobsich, rasch in den Garten zurückgehend, »der soll mir nicht umsonst in den rothen Drachen gefallen sein.«

»Aber was hat Euch nach Bremen geführt?« wiederholte Kellmann, fast etwas mißtrauisch gemacht durch das wunderliche halb verlegene Benehmen des jungen Burschen.

»Ja Herr Kellmann,« sagte der reiche Bauerssohn, wirklich jetzt verlegen seinen Hut um den Zeigefinger der linken Hand drehend — »das hat — das hat so seine eigene Bewandtniß — Ich bin — ich bin zu einem Entschluß gekommen — ich will — ich will auswandern.«

»Was will er?« schrie Schollfeld, der die Worte nicht ganz verstanden, den ungefähren Sinn aber etwa errathen hatte. Jedenfalls schöpfte er Verdacht und ehe Kellmann nur im Stande war ein Wort darauf zu erwiedern rief er nochmals laut: »wo will er hin?«

»Nach Amerika,« sagte aber der junge Mann entschlossen und wollte noch etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug dermaßen auf den Tisch, und fing so an zu schimpfen und zu fluchen, Niemand wußte eigentlich auf was und gegen wen, daß Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte, und vielleicht auch eben nicht böse darüber war.

»Hallo, wer ist todt?« rief aber in dem Augenblick Lobsich, der mit dem bestellten Bier für einen seiner besten Kunden selber ankam — »daß Dich die Milz sticht, was ist denn dem Apotheker eigentlich in die Krone gefahren?«

»Dem Apotheker Nichts,« nahm aber Kellmann kopfschüttelnd das Wort, »doch hier dem Dings da, dem Mathes — was meint Ihr, Lobsich was er vor hat?«

»_Heirathen_?« sagte dieser, und ein breites vergnügtes Schmunzeln über den so richtig und schnell gerathenen Vorsatz zog sich über sein dickes gutmüthiges Gesicht.

»Heirathen!« schrie aber der Apotheker dazwischen, indem er sich seinen Hut in die Stirn drückte und seinen Rock anfing zuzuknöpfen — »heirathen? — ja prost die Mahlzeit; _auswandern_ will der Kerl, wie ein blindes Pferd das durch die Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen.«

»_Auswandern_?« schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem Erstaunen — »na das ist mir aber doch wahrhaftig was Unbedeutendes.«

»Oh hol Euch der Teufel mit Eurer albernen Redensart!« rief aber der nun einmal ärgerliche Apotheker, und nahm seinen Stock unter den Arm — sein stetes Zeichen daß er fertig zum Gehen sei — »was Unbedeutendes; ja wohl, wenn der Raptus erst einmal in _solche_ Köpfe und Geldbeutel fährt, nachher werden wir sehn was wir hier anrichten. Ich will mir aber mein Abendbrod nicht verderben — gute Nacht Ihr Herren.«

»Halt Schollfeld!« rief aber Kellmann, ihn am Arm fassend und zurückhaltend — »brennt mir nicht durch, ich gehe auch gleich mit und wollte nur erst hören, was Mathes den Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Hol’s der Henker, er macht sich entweder einen Spaß mit uns, oder es ist nur so eine Idee von ihm, die wir ihm wieder ausreden können.«

»Wenn ich das wüßte blieb ich die ganze Nacht hier,« sagte Schollfeld, seinen Stock wieder auf den Tisch legend und zu dem verlassenen Stuhl zurückgehend. »Mensch, Mathes, seid Ihr denn rein vom Teufel besessen, oder habt Ihr nur heute, in irgend einer Kneipe, ein wenig des Guten zu viel gethan, daß Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt.«

Mathes blieb aber bei allen diesen Ausbrüchen des Erstaunens, die erste Erklärung nur einmal überstanden, vollkommen ruhig, und zog nur, statt jeder weiteren Antwort, einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam auffaltete und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte.

»Nun was soll’s mit dem Wisch?« rief aber der Apotheker ärgerlich, »Ihr habt Euere Seele doch noch nicht dem Gott sei bei uns verkauft?«

»So schlimm noch nicht,« lachte der junge Bursch, »das hier ist nur ein Brief von Caspar Lauber, den Sie ja Alle kennen und der vor etwa sieben Jahren nach Wisconsin auswanderte.«

»Der was that?« rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend und das linke Ohr zu ihm hindrehend — »nuschelt nicht so in den Bart, daß Euch ein Christenmensch noch verstehen kann ehe Ihr unter die Heiden geht.«

»Der nach Wisconsin auswanderte,« sagte der junge Bauer lächelnd — »er hatte mir damals versprochen zu schreiben wie es ihm ginge, schlecht oder gut; — wenn schlecht, wollte ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht nachkommen. Aber er schrieb nicht Jahr nach Jahr, und da er überhaupt Nichts von sich hören ließ, glaubte ich schon er sei da drüben gestorben oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier Wochen etwa einen Brief von ihm erhielt und seit der Zeit habe ich keine Ruhe gehabt bis zu dem heutigen Tag.«

»Nun ja natürlich,« brummte der Apotheker.

»Aber so laßt ihn doch nur reden,« rief jetzt auch ärgerlich der Actuar dazwischen, »Ihr raisonnirt nur in einem fort und glaubt nachher, wenn Ihr recht geschrieen habt, Ihr hättet recht.«

»So lest den Brief einmal!« sagte Kellmann, die Arme auf den Tisch stützend, »nachher wissen wir ja gleich woran wir sind.«

»Aber erst muß ich noch Bier haben,« rief Schollfeld dazwischen, »ich mag die Lügen wenigstens nicht trocken mit anhören.«

Lobsich winkte einem der nächsten Kellner, die indeß leer gewordenen Gläser wieder zu füllen, denn der Brief interessirte ihn selber zu sehr, den Tisch jetzt zu verlassen, und Mathes sagte wie entschuldigend:

»Der Brief ist sehr kurz, aber es steht Alles darin was ich zu wissen verlangte, und er lautet:

»Lieber Mathes — ich habe bis jetzt mein Versprechen nicht gehalten, Dir zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen ist.«

»Na ja,« fiel ihm hier der Apotheker in das Wort — »und nun müßt Ihr Hals über Kopf machen daß Ihr auch hinüber kommt.«

Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwiedern, aber Mathes fuhr, lächelnd die Hand gegen ihn aufhebend, wieder laut fort:

»Ich wollte aber nicht gern, daß mich Jemand Anders unterstützen sollte, weil das hier im Lande eine Schande ist; ich wollte mir selber helfen, und habe mir kümmerlich, aber ehrlich und fleißig durchgeholfen. Jetzt habe ich eine kleine Farm von achtzig Acker, und vier und zwanzig Stück Rindvieh, und dreißig Schweine und zwei Pferde und es geht mir gut. Ich habe hart arbeiten müssen, aber ich komme durch. Wenn Du mit Geld hier herüber kommst und willst mich aufsuchen, daß ich Dir mit Rath und That an die Hand gehen kann, dann brauchst Du keine Angst zu haben, daß Du nicht durchkommst. Wenn Du eine Frau hast, bringe sie mit; Kinder sind ein Segen hier, kein Fluch wie für manchen armen Mann in Deutschland. Wer arbeiten will kommt fort, wer faul ist geht zu Grunde. Es grüßt Dich zehntausend Mal Dein Caspar Lauber — Lauber’s Farm bei Milwaukie, Wisconsin.«

»Und auf den Brief wollt Ihr auswandern?« rief aber auch Kellmann jetzt erstaunt — »Mathes, ist Euch denn das Auswanderungsfieber so plötzlich in die Glieder geschlagen, daß Ihr die Seekrankheit für das einzige Mittel haltet die es curiren könnte?«

Mathes schüttelte aber gar ernsthaft mit dem Kopf, faltete den Brief zusammen, den er zurück in seine Tasche schob, und sagte mit fester und entschlossener Stimme:

»Lange im Sinn hab’ ich’s schon gehabt, aber der Brief hat es zuletzt zum Ausbruch gebracht.«

»Aber Mathes, Ihr vor allen Anderen habt doch Euer Auskommen hier im Land,« rief jetzt auch Lobsich, während der Apotheker das ihm eben gebrachte Glas auf einen Zug hinuntergoß, wie um seinen Ingrimm damit nieder zu spülen — »wenn Ihr nach Amerika auswandern wollt, wer soll denn noch da bleiben?«

»Ich _bliebe_ auch,« sagte Mathes rasch und mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme, »ich bliebe auch, wenn mich mein Vater ließe, aber — der will nicht in die Heirath willigen mit Roßner’s Käthchen, des Häuslers Tochter aus Rodnach; hier hält er mich dabei unter dem Daumen mit seinem Gut und Geld, und das Mädchen stirbt mir indessen in Arbeit und Gram; dort drüben aber ist ein Platz, wo fleißige Menschen auch durchkommen können mit Gottes Hülfe _ohne_ Geld, _ohne_ Ansehn. Der Lauber hatte gar Nichts wie er hinüberging; nicht das Hemd auf seinem Rücken war sein, und ich weiß daß er nicht einen rothen Pfennig mit in das fremde Land gebracht hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener Farmer geworden, mit eigenem Land, Haus und Vieh, und was der kann — schwere Noth noch einmal — das kann ich auch. Ich gehe hinüber, nehme das Käthchen mit — Geld zur Ueberfahrt krieg ich schon, und wenn ich meine beiden Schimmel um den halben Werth verkaufen sollte, und dort hilft der liebe Gott schon weiter. Verhungern werden wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die Nase reiben zu lassen, »das sollst Du thun und das nicht, und _die_ sollst Du heirathen, die Du nicht magst und willst, und die Dich lieb hat und Dich glücklich machen kann, der sollst Du das Herz brechen — weil ihr eben nur der volle Geldsack fehlt.«

»Unsinn!« sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im Ernste aufstehend — »wenn Jemand einmal rein verrückt geworden ist, läßt sich auch nicht mehr mit ihm streiten. Gehn Sie mit Kellmann?«

»Ja, gleich,« erwiederte der Gefragte — »weiß denn aber schon Euer Vater um den Plan, Mathes?«

»Heute hab’ ich’s ihm gesagt,« erwiederte der Gefragte leise — »aber er glaubt es noch nicht.«

»Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt?« sagte Kellmann theilnehmend.

»Meine Passage in Bremen für mich und — meine _Frau_ ist schon bezahlt,« rief der junge Bursch da entschlossen — »den funfzehnten geht das Schiff ab, und ich habe nur noch eben Zeit das Nothwendigste in Ordnung zu bringen.«

»Ja da kömmt freilich jeder gute Rath zu spät,« sagte Kellmann, jetzt ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend, »wenn der Sprung erst einmal geschehen ist, braucht man nicht mehr über das Springen zu streiten und ich wünsche Euch das Beste in Euerer neuen Heimath.«

»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte Mathes gerührt — »aber vielleicht seh ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden drüben, mit Axt oder Pflug in der Hand, wie ein wackerer, richtiger Farmer.«

»Wen — mich?« rief aber Kellmann ordentlich erschreckt aus — »ich nach dem vermaledeiten Lande, daß alle unsere besten Bürger frißt? Nein Mathes, für dies Leben nicht — aber wann geht Ihr fort? vielleicht läßt Euer Vater doch noch mit sich reden, und lenkt ein wenn er sieht daß es Euch wirklich Ernst ist.«

Mathes schüttelte mit dem Kopf und der Actuar rief:

»Ein Bauer und einlenken, Kellmann? — da kennt Ihr unseren deutschen Bauer nicht; worauf der einmal seinen Dickkopf gesetzt hat, da muß er durch, und wenn’s nicht geht, so zerhaut er sich eben den Schädel, aber er läßt nicht nach. Der alte Vogel und nachgeben; Du lieber Gott, wenn er den eigenen Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten könnte — er spräch es nicht.«

»Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschließen und mitgehn,« sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend — »Schwerebrett das ist mir — hm — hm — ist mir doch was Unbedeutendes, das — das Amerika.«

»Und was sagt denn das Käthchen dazu?« frug Kellmann jetzt den Mathes, während die Uebrigen schon aufgestanden waren und sich zum fortgehn gerüstet hatten.

»Die weint und will nicht mit,« sagte Mathes leise — »aber sie wird schon gehen.«

»Sie will nicht mit?«

»Sie meint, es bräche meinem Vater das Herz.«

»Das Herz brechen? — dem alten Vogel?« lachte aber dieser verächtlich — »na Gott sei Dank, die hat einen guten Begriff von ihm — als ob dem etwas das Herz brechen könnte.«

»Nun, es frägt sich nur jetzt wem sie es lieber bricht,« meinte der Actuar, »dem Alten, wenn sie geht, oder dem Jungen, wenn sie bleibt — die Wahl wird ihr nicht schwer werden. Aber Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal so still geworden?«

»Ach laßt mich zufrieden,« brummte dieser ärgerlich — »weiß es Gott, man möchte am Ende selber mit hinüberlaufen, nur Nichts mehr von dem verwünschten Auswandern reden zu hören.«

»Hahahaha!« rief da Kellmann, »Schollfeld bekömmt auch überseeische Ideen.«

»Ueberseeische — hätte bald was gesagt,« knurrte dieser aber, auf der Straße hingehend, ohne weder Mathes noch Lobsich gute Nacht zu sagen.

Die Uebrigen wechselten noch kurzen Gruß mit ihren Bekannten dort, zündeten sich frische Cigarren an, und schlenderten langsam, den freundlichen Abend so viel als möglich zu genießen, die Straße hinab, der eigenen Heimath zu.

 

 


 

Capitel 3.

DER DIEBSTAHL.

Zehn Minuten mochten sie so etwa schweigend nebeneinander hergegangen sein, als hinter ihnen auf der Straße eine Equipage und klappernde Hufschläge gehört wurden, die sie rasch einholten und an ihnen vorbeirauschten, eine dicke Staubwolke dabei über den Weg wälzend. Es war die Familie Dollinger mit dem, neben dem Wagen hin galoppirenden Fremden, dem Bräutigam der Tochter.

»Die kommen schneller von der Stelle als die armen Auswanderer vorhin,« sagte Kellmann, als sie vorbei waren — »Wetter noch einmal, es ist doch ein anderes Ding so ein paar flüchtige Rappen vor sich zu haben, und wie im Flug durch die Welt zu jagen, als mit einem schweren Packen auf dem Rücken und wunden Füßen vielleicht, mühselig die staubige Straße entlang zu keuchen.«

»Ja, die Gaben sind ungleich vertheilt in der Welt,« seufzte der Actuar, »was der Eine haben möchte, _hat_ der Andere schon, und das ist auch wohl das ganze Geheimniß der socialen Frage, läßt sich aber nun einmal nicht ändern, und wir dürfen vielleicht den Kopf darüber schütteln, und wünschen daß es anders wäre, aber weiter eben Nichts.«

»Der auf dem Pferd, war der Dings da von Amerika,« sagte der Apotheker jetzt, »der das schmählige Geld hat und des reichen Dollingers Tochter noch dazu heirathet. Soll mir noch einmal einer sagen daß Eisen der stärkste Magnet sei; Gold ist’s, und wo das liegt zieht es anderes hin.

»Und wie steht’s mit Actien?« lachte Kellmann.

»Bah — bleibt immer dasselbe,« brummte der Apotheker, »das Gold steckt darin, und kann durch einen sehr einfachen chemischen Proceß leicht herausgezogen werden — wenn man sie hat.«

»Es wundert mich übrigens daß der alte Dollinger sein Kind über das große Wasser hinüberziehen läßt,« meinte der Actuar — »dem hätte es doch auch hier im Lande nicht an einer eben so guten Parthie gefehlt.«

»Liebe,« meinte Kellmann achselzuckend — »Liebe ist blind sagt ein altes Sprichwort; dagegen lassen sich eben keine Gründe anbringen. Wär’s übrigens auch nicht wegen dem großen Wasser, der Bursche gefällt mir außerdem nicht, und ich möchte ihm meine Tochter nicht geben und wenn er bis über die Ohren in Golde stäcke. Er hat ein verschlossenes, hochfährtiges Wesen, behandelt den gemeinen Mann wie einen Hund, und spricht von Allem was wir hier haben, unseren Einrichtungen, unseren Gesetzen, unseren Vergnügungen selber, ja unserem Klima und Land, das doch zum Henker auch _sein_ Vaterland ist, mit der größten Verachtung. Amerika, und immer wieder Amerika, hinten und vorn; ei Blitz und Hagel, ich will gar nicht leugnen daß es manche gute Seiten haben mag, das Amerika, wenn ich sie auch gerade nicht einsehen kann, aber so viel besser wie unser Deutschland ist es doch auch nicht drüben, und wenn’s so einem Burschen da einmal zufällig geglückt ist, sollt’ er nicht als Lockvogel sich hier mitten zwischen uns hineinsetzen, anderen vernünftigen Leuten unglückselige Ideeen in den Kopf zu pflanzen.

»Wenn sich andere vernünftige Leute solche Ideeen einpflanzen _lassen_, geschieht’s ihnen ganz recht,« sagte der Apotheker — »man braucht nicht zu glauben was jeder dahergelaufene Lump eben sagt.«

»Nun _ganz_ ohne kann’s aber auch nicht sein,« meinte Kellmann kopfschüttelnd, »und ich — ich halt’ es immer für gefährlich. S’ist merkwürdig, wie rasch sich das mit der Hochzeit gemacht hat.«

»Nun, wer sich die Braut gleich fix und fertig aus dem Wasser zieht hat leicht freien,« sagte der Actuar — »Glück muß der Mensch haben, dann geht Alles wie am Schnürchen; wer aber _das_ nicht hat, der mag sein Lebtag fischen und fängt doch Nichts — am wenigsten aber solch einen Goldfisch.

»Wo stammt er denn eigentlich her?« frug der Apotheker jetzt, wie sie wieder eine Weile schweigend neben einander hingegangen waren, »man hört doch sonst eigentlich gar Nichts von ihm, und er kommt auch mit keinem Menschen weiter zusammen — stolzer aufgeblasener Bursche der.«

»Gott weiß es,« sagte der Actuar; »er ist, glaub’ ich, mit einem holländischen Schiff herübergekommen, und hatte einen Paß von Amsterdam.«

»Und der Paß lautete nach Heilingen?«

»Nun nicht gerade nach Heilingen, aber doch nach der Residenz, und wie sich die Sache dann hier mit der Dollingerschen Familie gestaltete, nun lieber Gott, da drückte der Stadtrath das eine, und die Stadtverordneten drückten das andere Auge zu, und man sah nicht so genau nach den Papieren. Ueberdieß verzehrte er ja hier viel Geld; wär’ es ein armer Teufel gewesen, hätten wir ihn wahrscheinlich schon bald wieder über die Grenze gehabt.

»Hm, ja, glaub’s,« sagte Kellmann mit dem Kopfe nickend, »s’ist in Heilingen eben nicht anders wie — wie anderswo — warum auch?«

Das Gespräch drehte sich von da ab, auf die städtischen Einrichtungen, deren wärmster Vertheidiger der Apotheker war, und über die sich der Actuar natürlich nur sehr vorsichtig ausließ, während sie Kellmann um so unnachsichtiger angriff; kam dann auf die Saat und die Preise, und wieder mit einem Seitensprung auf die jetzige Politik unseres lieben deutschen Reiches, bis sie das Thor und zwar gerade mit Sonnenuntergang erreichten, wo Jeder seinen Weg ging, die eigene Heimath aufzusuchen.

Der Actuar Ledermann besonders, der an dem entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte, beeilte seine Schritte, noch vor einbrechender Dunkelheit seine Wohnung zu erreichen; das Gerücht ging nämlich in der Stadt, daß ihn seine Ehehälfte bei solchen Gelegenheiten oft allerdings sehr unfreundlich empfange, und ihm einmal sogar schon einige sonst sehr nützliche, bei _der_ Gelegenheit aber nichts weniger als passende häusliche Geräthe entgegen und vor die Füße geworfen habe. Thatsache war, daß »Madame« oder Frau Actuar Ledermann, was auch ihres Gemahls Thätigkeit und Ansehn außerhalb seiner eigenen vier Pfählen sein mochte, _innerhalb_ derselben jedenfalls das Commando, und nicht immer mit Mäßigung führte, und der Actuar suchte den Hausfrieden wenigstens soviel als möglich zu erhalten und jeden Anlaß, zu irgend einer Störung desselben, zu vermeiden.

Mit solchen Gedanken vielleicht im Kopf, wollte Ledermann eben vom Marktplatz aus in die Straße einbiegen, an deren äußersten Ende seine eigene, sehr bescheidene Wohnung stand, als er seinen Titel genannt und sich selber gerufen hörte.

»Herr Actuar — Herr Actuar Ledermann.«

Er drehte sich rasch um und sah einen Gerichtsdiener eilig auf sich zukommen, der, die Mütze abnehmend, vor ihm stehen blieb und ihm meldete, daß er eben abgeschickt worden ihn zu holen oder aufzusuchen, da ein Einbruch geschehen sei, über den an Ort und Stelle Protokoll aufgenommen werden solle.

»Protokoll aufnehmen?« sagte Actuar Ledermann, keineswegs angenehm überrascht; »ja was hab ich denn heute damit zu thun, wo ist mein _College_?«

»Herr Actuar Beller sind unwohl geworden, heute Nachmittag,« berichtete der Polizeidiener, »und mußten zu Hause gehn; ich bin eben abgeschickt zu sehn, welchen von den andern Herren ich zuerst treffen könnte.«

»Hm — ist sehr amüsant,« brummte Ledermann vor sich hin — »kommt mir gerade apropos. Bei wem ist es denn?«

»Bei Herrn Dollinger.«

»Was? — bei Kaufmann Dollinger?« rief der Actuar rasch und erstaunt — »am hellen Tag, während er ausgefahren war?«

»Er ist, wenn ich nicht irre, eben zu Hause gekommen,« berichtete der Mann, und hat glaub’ ich sein Pult geöffnet, und eine bedeutende Summe Geldes entwendet gefunden.«

»Hm, hm, hm,« sagte der Actuar kopfschüttelnd und seinen Rock dabei, den er der Bequemlichkeit wegen aufgelassen hatte, zuknöpfend, »es wird immer besser hier bei uns. Am hellen lichten Tage. Aber die ganze Stadt steckt auch voll fremden Volkes, das sich natürlich keine Gelegenheit entschlüpfen läßt Reisegeld zu bekommen.«

»Es muß doch wohl Jemand gewesen sein der mit dem Hause genau bekannt war,« sagte der Polizeidiener — »nach dem wenigstens, was ich bis jetzt von den Dienstleuten darüber gehört habe, kann’s nicht gut anders sein.«

»Nun wir werden ja sehn; da muß ich aber erst — «

»Wenn sich der Herr Actuar nur eben an Ort und Stelle bemühen wollen,« sagte jedoch der Diener des Gerichts, »alles Nöthige ist schon dorthin geschafft und ich war eben nur fortgelaufen, einen der Herren zu suchen.«

Der Actuar, dem Dienste natürlich Folge leistend, seufzte tief auf und schritt, im Geist wahrscheinlich des Empfangs gedenkend, der seiner harrte, wenn seine Frau auf ihn mit dem Abendessen warten mußte, rasch die »Poststraße« hinaufbiegend, dem gar nicht weit entfernten Dollinger’schen Hause zu, dort den Thatbestand in Augenschein und zu Protokoll zu nehmen, etwaige Spuren des Uebelthäters zu entdecken und zu verfolgen, und die Leute im Hause nach möglichem Verdachte zu inquiriren.

* * * * *

Im Hause des reichen Kaufmanns Dollinger, in dem Alles sonst so still und ruhig und wie am Schnürchen zuging, wo Jeder seine angemessene und fest bestimmte Beschäftigung hatte, genau wußte was ihm oblag, und das that, ohne eben viel Lärm darum zu machen, lief und rannte und sprach heute alles durcheinander, und sämmtliche Bande der Ordnung schienen gelöst.

Frau Dollinger vor allen Dingen lag in Krämpfen in ihrem Boudoir, und beanspruchte die Hülfe ihrer beiden Töchter und der weiblichen Dienstboten im Haus, ihren Zustand zu bewachen; Herr Dollinger selber war in seinem Zimmer des obern Stocks, und ging dort mit raschen Schritten und auf den Rücken gekreuzten Armen auf und ab, während dem jungen Henkel indessen die Bewachung des Platzes selber übertragen war, und die andern Dienstboten, mit einem nicht unbedeutenden Theil der Nachbarschaft und deren Verwandten, in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Hauses herumstanden und kopfschüttelnd, die Hände ein über das andere Mal in Verwunderung zusammenschlugen. Die verschiedenartigsten Vermuthungen und Beweise wurden da laut, und die Orte und Stellungen oder Beschäftigungen jedes Einzelnen auf das Genaueste und Peinlichste angegeben, wo und wie sich Jeder gerade in der Zeit etwa befunden haben mochte, als die entsetzliche, verruchte That geschehen und vollbracht sein mußte.

Dem Actuar, mit dem ihm folgenden Gerichtsdiener wurde übrigens willig und dienstfertig Platz gemacht; Alle wollten aber hinter drein, und die Frauen besonders gaben dabei durch die entschiedensten Ausrufe — »Ne Du meine Güte« und »Ne so was« ihre vollkommenste Misbilligung des Geschehenen zu erkennen. Nichts desto weniger wurde auch selbst ihnen die Thüre vor der Nase zugemacht, und Einer der Bedienten bekam strenge Ordre die Hausflur zu räumen, und Niemand mehr, so lange die Untersuchung dauere, die Treppe hinaufzulassen, ausgenommen, es wisse Jemand noch um den Diebstahl, und könne irgend einen Fingerzeig geben den Dieben auf die Spur zu kommen; solche Zeugen sollten nachher vernommen werden.

Oben an der Treppe empfing sie Herr Henkel, um sie gleich zu dem Ort, wo der Diebstahl verübt worden, hinzuführen; einer der Leute war indessen abgeschickt Hrn. Dollinger selber zu rufen, und dieser erschien jetzt, den Actuar freundlich grüßend.

Es war indessen schon ziemlich dunkel, und im Zimmer Licht angezündet worden.

»Ich bedaure sehr, Herr Dollinger,« sagte der Actuar, »daß, wie ich gehört habe, eine so fatale Sache mich hier in Ihr Haus geführt haben muß.«

»Ja allerdings,« erwiederte der alte Herr, »ist es sehr unangenehm; weniger des Verlustes wegen, der sich allenfalls ertragen ließ, als wegen dem Bewußtsein getäuschten Vertrauens, mit selbst keinem gewissen Anhaltspunkt auf Verdacht. Ich wollte gern das Doppelte verloren haben, wenn es hätte können auf andere Weise geschehn.«

»Das Ganze ist übrigens mit einer raffinirten Geschicklichkeit ausgeführt,« fiel Henkel hier ein, »und der Thäter, wer auch immer, jedenfalls ein höchst gefährliches Subject, von dem ich nur hoffen will daß wir ihm auf die Spur kommen.«

»Dürfte ich Sie bitten mir den Platz zu zeigen?«

»Treten Sie hier in das Zimmer meiner Töchter; dort der Secretair ist erbrochen.«

»Hm — mit einem breiten meißelartigen Instrument,« sagte der Actuar nach kurzer Besichtigung der offenen, arg beschädigten Mahagoniplatte — »und die Thür ebenfalls eingebrochen?«

»Nein — die Thür ist unbeschädigt und muß jedenfalls mit einem Nachschlüssel geöffnet sein.«

»Und was vermissen Sie in dem Secretair?«

»Eine Summe Geldes, die ich erst vor wenigen Stunden, und im Beisein meiner Familie und eines zuverlässigen Comptoirdieners, im Paket wie ich sie von der Post erhalten, hier eingeschlossen hatte, und von der der Dieb auf eine mir unbegreifliche Weise muß Kenntniß bekommen haben.«

»Wer ist dieser Comptoirdiener?«

»Oh, Loßenwerder; Sie kennen ihn ja wohl?«

»Loßenwerder,« sagte der Actuar nachdenkend — »ist wohl schon eine ganze Weile in Ihrem Geschäft?«

»Schon zwölf Jahr; mit keinem Schatten irgend eines Verdachts; ich nahm ihn als einen ganz jungen Burschen in mein Haus; er muß aber gegen irgend Jemand davon gesprochen haben.«

»Hm, hm, wollen ihn uns doch einmal nachher besehn; also hier hinein hatten Sie das Geld gelegt?«

»Es ist ein Secretair, den meine Töchter gemeinschaftlich benutzen, und zu dem jede von ihnen ihren Schlüssel hat. Bitte lieber Henkel, lassen Sie doch einmal Sophie oder Clara einen Augenblick zu uns herüber rufen.«

»Ich habe schon das Mädchen geschickt, eine der jungen Damen ersuchen zu lassen,« entgegnete der junge Henkel, der indessen im Zimmer umhergegangen war, und sich überall umgesehen hatte, ob nicht vielleicht doch der Dieb irgend eine Spur, irgend ein Zeichen hinterlassen habe, an das man sich später einmal halten könne. —

»Und vermissen Sie weiter Nichts als das Geld?« frug der Actuar.

»Auch ein Schmuck meiner ältesten Tochter scheint mit geraubt zu sein,« sagte Herr Dollinger — »aber da kommt Clara, die Ihnen das Nähere davon selber angeben wird.«

Clara betrat in diesem Augenblick das Gemach; sie sah todtenbleich und angegriffen aus, und Henkel eilte ihr entgegen sie zu unterstützen.

»Clara, mein liebes armes Kind,« sagte Herr Dollinger, auf sie zugehend und die Hand nach ihr ausstreckend, »fehlt Dir etwas? — Der Schreck hat Dich wohl so angegriffen. Mach Dir doch nur keine Sorge, mein Herz; vielleicht bekommen wir Alles wieder und wenn nicht — nun ein _Unglück_ ist es dann auch nicht; wenn Ihr mir nur Alle gesund bleibt, können wir die paar tausend Thaler schon verschmerzen.«

»Es ist nicht der Verlust, lieber Vater,« sagte aber das junge Mädchen, sich gewaltsam zusammennehmend, und des Vaters Hand ergreifend — »nur die Ueberraschung, der Schreck wahrscheinlich, und das — das Unheimliche dabei, als ich mein Zimmer vorhin betrat, und die Spuren des verübten Verbrechens entdeckte. Ich fürchtete die entsetzlichen Menschen noch irgend wo zu sehn, die vielleicht hinter einer Gardine stehen, unter einem der Divans liegen, hinter einem Ofen lauern konnten und, wenn entdeckt, zu verzweifelter Gegenwehr getrieben mich anfallen würden, und all solch kindische Gedanken mehr. Dort der auf den Tisch geworfene Regenschirm dabei, die hinuntergeworfene Stickerei von dem Secretair selber, am meisten aber der Tabaksgeruch im Zimmer und die verlöschte, angerauchte Cigarre dort auf dem Fensterbret, erfüllten mir das Herz mit einem unbeschreiblichen Grausen.«

»Eine Cigarre?« sagte Ledermann, sich vergebens nach dem bezeichneten Gegenstand umschauend — »wo lag sie?«

»Dort im Fenster, als ich zurückkam.«

»Die alte angerauchte Cigarre?« sagte Henkel rasch — »die hab’ ich zum Fenster hinausgeworfen; ich glaubte Einer der Dienerschaft hätte sie in der Aufregung mit hereingebracht und dort abgelegt — sie muß unten auf der Straße liegen.«

»Bitte schicken Sie doch einmal einen Burschen danach, daß er sie heraufholt,« sagte der Actuar; »man darf auch das Unbedeutendste nicht unbeachtet lassen, und wir wollen indessen die vermißten Gegenstände aufnehmen. Das Geld? — «

»Davon giebt Ihnen dieser Brief das genaue Verzeichniß,« sagte Herr Dollinger, »aber ich fürchte fast daß wir durch das Geld selber nicht auf die Spur kommen werden, indem das Paket fast nur Gold und kleinere Banknoten enthielt, die leicht umzusetzen und schwer zu controliren sind. Eher hoffe ich durch den Schmuck den Dieb verrathen zu sehn, da einige sehr auffällige Stücke, wie ich höre, dabei gewesen sind.«

»Dürfte ich Sie um eine genaue Angabe derselben, heute Abend noch, wenn irgend möglich _schriftlich_ bitten?« erwiderte, nach einigem Besinnen, der Actuar, »diese Einzelheiten würden mich jetzt zu lange aufhalten.«

»Kannst Du das geben, Clara?

»Bis auf die kleinste Nadel hinunter,« sagte das junge Mädchen rasch, »besonders auffällig war eine kleine, rundum mit Brillanten besetzte Broche, ein Erbstück unserer Großmutter, und ausgezeichnet vor jedem andern Schmuck, den ich noch in meinem ganzen Leben gesehen, durch einen, in der Mitte gefaßten, genau dreieckigen, hellblauen und wundervollen Turquis. Mein Schmuck lag gleich dicht dahinter, den aber muß der Dieb in der Eile übersehen haben; er ist unangerührt geblieben.«

»Das ist allerdings glücklich,« sagte der Actuar, »wäre wohl auch des Mitnehmens werth gewesen. Lag gleich dabei?«

»Hier in dem rothen Kästchen.«

»Aber das ist auch geöffnet worden.«

»Das? — nein, das hab ich wohl selbst geöffnet, nachzusehen, ob auch Alles darin sei, und nicht wieder ordentlich geschlossen. Die Haken waren allerdings auf, wenn ich mich nicht ganz irre, aber der Dieb hat keinenfalls eine Ahnung gehabt, welchen Werth das kleine unscheinbare Kästchen enthalte, oder es stände jetzt nicht mehr da.«

»Sehr wahrscheinlich, hm — aber Sie vergeben wohl nicht, mein Fräulein, alle diese Einzelheiten besonders zu notiren; wer weiß ob sie nicht noch einmal wichtig werden. Ah, da kommt auch Herr Henkel wieder; haben Sie die Cigarre gefunden?«

»Gott weiß wo sie ist;« lachte dieser, »irgend Jemand muß es doch noch der Mühe werth gehalten haben sie aufzuheben, und in einer Pfeife vielleicht zu verrauchen — ich bin selber hinunter gegangen, kann sie aber nirgends mehr entdecken. Uebrigens ist es auch fast dunkel geworden, und ich werde morgen ganz früh nachsuchen lassen. Der Stummel wird Ihnen freilich nicht viel helfen.«

»Man weiß nicht,« sagte der Actuar kopfschüttelnd, »je nach der Güte des Tabaks ließ sich vielleicht auf die Schicht der menschlichen Gesellschaft schließen, in der sich unser heimlicher Besuch herumtriebe. Aber das ist allerdings Nebensache; wo also ist der Dieb hereingekommen? — hier durch diese Thür?«

»Doch wohl vom Garten her durch das Fenster Euers Schlafzimmers,« sagte Herr Dollinger, »denn durch das Haus würde er es sich am hellen Tage im Leben nicht getraut haben.«

»Aber ich möchte meine Seligkeit zum Pfande setzen daß ich den Schlüssel, der nach unserer Schlafkammer führt, ehe wir fortgingen, herumgedreht und stecken gelassen hätte, so daß von innen ein Oeffnen unmöglich war.«

»Und war die Thür noch verschlossen wie wir zurückkamen?«

»Nein, nur in’s Schloß gedrückt, aber der Schlüssel stak darin.«

»Hm, hm, hm — dann ist der Bursche dort wahrscheinlich hinaus« — sagte der Actuar — »zur Thür hier hereingekommen und dort zur Nothröhre hinaus — hm, muß aber genau mit der Gelegenheit bekannt sein. Mein lieber Herr Dollinger, wir werden Ihre Leute doch ein wenig scharf in’s Gebet nehmen müssen, denn ein ganz Fremder, kann sich die Zeit nicht so abgepaßt haben.«

»Wo kommt der Blumenstock her?« sagte da plötzlich Clara rasch und erstaunt, auf einen sehr schönen Rosenstock deutend, der in ihrem Fenster, zunächst der Thüre stand — »wer hat den jetzt hier heraufgestellt?«

»So lange wir hier sind Niemand« — rief Henkel — »war er vorher nicht da?«

»Nicht heute Mittag, das weiß ich gewiß; aber vielleicht hat ihn eins der Dienstleute mir heimlich hier hereingesetzt.«

»Heimlich? — so?« sagte der Actuar, »den freundlichen Geber wollen wir also vor allen Dingen einmal herauszubekommen suchen.«

»Es ist heute mein Geburtstag,« sagte Clara leise und erröthend.«

»Oh?« meinte Herr Ledermann mit einem freundlichen Lächeln, »da thut es mir freilich leid, meine ganz ergebensten Gratulationen zu keiner angenehmeren Zeit vorbringen zu können — will eben nicht passen bei einer solchen Untersuchung, kann es aber doch auch nicht geradezu hinunterschlucken — ich gratulire eben nicht zur Untersuchung.«

»Es muß gewiß ein gesegnetes Land sein,« sagte Henkel mit einem leisen, halb boshaften Lächeln, »wo die Polizei sogar witzig sein kann.«

»Hm,« meinte der lange Aktuar, sich nach dem Sprecher umdrehend, »die Polizei macht eben keinen Anspruch darauf, und ist das meistens Privateigenthum. Aber wir wollen die Zeit nicht mit Allotrien vergeuden; ist nicht herauszubekommen wer den Blumenstock hier, während Ihrer Abwesenheit in das Zimmer gesetzt hat?«

»Jedenfalls müssen die Dienstboten darum wissen,« sagte der junge Henkel, »und es wird das Beste sein sie einzeln darum zu befragen.«

»Allerdings; — Einzelverhör hat überhaupt viele Vortheile, bitte schicken Sie einmal die Leute herauf, daß man vor allen Dingen ihre Gesichter zu sehen bekommt.«

»Aber nicht hier, Väterchen, nicht wahr nicht hier in meiner Stube?« bat Clara — »ich würde den fatalen Gedanken im Leben nicht wieder los.«

»Wir wollen hinuntergehn in das untere Zimmer,« sagte Herr Dollinger, freundlich dem Wunsch der Tochter nachgebend, »es läßt sich das dort eben so gut abmachen als hier.«

»Manchmal ist der Platz des Verbrechens selber der geeignetste,« warf der Actuar ein, »aber wie Sie wünschen — nur um eines möchte ich Sie noch vorher bitten, daß ich mir einmal die Stelle oder das Fenster ansehn darf, durch das sich Ihrer Vermuthung nach, der oder die Diebe entfernt haben könnten.«

»In unserem Schlafzimmer?«

»Doch durch diese Thür?«

»Lieber Henkel, Sie sind wohl indessen so freundlich, meine Leute unten zusammenzurufen; wir kommen gleich hinunter. Sie werden heut viel belästigt.«

»Aber ich bitte Sie, bester Herr Dollinger,« sagte der junge Mann, rasch seinen Hut aufgreifend, »wenn ich Ihnen nur darin von irgend einem wirklichen Nutzen sein könnte. Lieber erlauben Sie mir vielleicht mit Ihnen einer möglichen Spur zu folgen, denn meine Augen sind darin vielleicht schärfer als manche andere.«

»Es wird in der Dunkelheit nicht eben mehr viel zu spüren geben,« meinte indeß der Actuar; »das werden wir uns müssen auf morgen früh aufsparen — also jetzt noch das Fenster, wenn ich bitten darf — ich möchte mir nur die Gelegenheit einmal von oben besehn.«

Clara selber öffnete die Thür und führte dem Actuar mit ihrem Vater in das kleine freundliche Gemach, dessen beide, schon von Blätter schießenden Weinranken überzogene Fenster, auf den Garten hinaussahen. Das eine Fenster war allerdings geöffnet gewesen, aber der Rankenwuchs so dicht zusammengezogen, daß sich ein Körper kaum hätte hindurchzwingen können. Die Höhe nach dem Garten hinunter, und gerade unter dem Fenster sollte ein kleiner Rasenplatz sein, war eben nicht beträchtlich, vielleicht zehn oder zwölf Fuß, und unten umgab niederer aber ziemlich dichter Hollunder den Rasen. Im Zimmer selber ließ sich aber nicht das mindeste erkennen, das einen solchen Verdacht unterstützt hätte; das Einzige was dafür sprach, war die aufgeschlossene Thür.

Zu der Unterstube des Hauses waren indessen die Dienstleute versammelt worden, streng examinirt zu werden. Der Hausmagd vor allen andern lag die Pflicht ob, die Etage, wenn sie nach unten in die Küche ging, in Abwesenheit der Herrschaft verschlossen zu halten. Diese aber behauptete steif und fest, und weinte dabei und rief Gott und alle Heiligen zu Zeugen an, daß sie die Vorsaalthür auch ordentlich, »zweimal herum« abgeschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt hätte, und Niemanden in der weiten Gotteswelt gesehen habe, der das Haus in der Zeit betreten haben könne. Trotzdem aber sei die Vorsaalthür, als sie wieder nach oben gekommen offen, wenigstens aufgeschlossen, wenn auch zugeklinkt gewesen, und sie hätte selber im Anfang nicht begreifen können wie das möglich wäre, aber auch nicht weiter darüber nachgedacht, und es ihrer eigenen Unaufmerksamkeit zugeschoben. Nach der Abfahrt der Herrschaft sei sie aber nur eine ganz ganz kurze Zeit unten geblieben um — sie wollte erst nicht mit der Sprache heraus, aber der Herr Actuar drängte gar so sehr — um den jungen Herrn Henkel fortreiten zu sehn. Nachher mochte sie vielleicht noch zehn Minuten der Köchin geholfen haben, und war dann nicht wieder von dem Vorsaal oben fortgekommen, auf dessen Balkon sie gesessen und genäht hatte. In der Zeit habe Niemand mehr den Vorsaal oder des Fräuleins Zimmer betreten, darauf wolle sie das heilige Abendmahl nehmen, und der Diebstahl müsse jedenfalls in den paar Minuten, die zwischen dem Fortreiten des jungen Herrn und ihrem eigenen Wiederhinaufgehn nach oben gelegen hätten, verübt sein — anders war es nicht möglich.

»Wer aber hatte den Blumenstock in des Fräuleins Zimmer gestellt?«

»Einen Blumenstock? — während die Herrschaft fort war?«

»Allerdings, eine Monatsrose — in das Fenster nächst der Thür.«

»Der das gethan hat, müsse damit zum Fenster, oder in derselben Zeit mit einem Nachschlüssel zur Thür hereingekommen sein, als der Diebstahl verübt worden, denn sie hätte keine Seele im Haus gesehn.

Die Dienstboten hatten indessen mit einander geflüstert, als der Actuar das Wort nahm und mit langsam bedächtiger, aber ziemlich ernster Stimme sagte:

»Hört einmal Leute, ich will Euch etwas sagen; Ihr habt Euch da gut unschuldig stellen, als ob Ihr eben erst auf die Welt gekommen wärt, damit dringt Ihr aber nicht durch. Das Geld ist fort — Ihr seid die Einzigen die unter der Zeit im Haus waren, und Euere Pflicht wäre es gewesen —

»Aber Herr Actuarius« —

»Ruhe da, wenn ich Euch etwas mitzutheilen habe — und Euere Pflicht wäre es gewesen, sag’ ich, aufzupassen, daß niemand Fremdes den Platz betrat, der Euch anvertraut war, und für den Ihr also auch in der Zeit zu stehn hattet. Jemand ist aber in der Zeit da gewesen, und hat etwas gebracht und etwas geholt, und man wird sich jetzt an _Euch_ halten müssen, bis der Jemand ausfindig gemacht ist. Was giebt’s da hinten — was ist gekommen?«

»Dullmanns Rieke von über dem Weg drüben,« sagte die Köchin jetzt, gegen den Actuar vortretend, »will den Loßenwerder haben heimlich aus dem Haus schleichen sehn. Da _haben_ Sie einen; _uns_ brauchen Sie so etwas nicht unter die Nase zu reiben, Herr Actuar — wir sind ehrliche Dienstboten die sich ihr bischen Brot sauer genug im Schweiße ihres Angesichts — «

»Ach halt’ sie das Maul,« fiel ihr aber der Actuar etwas unsanft in die Rede — »_wer_ ist im Haus gewesen, Loßenwerder? — und heimlich hinausgeschlichen? — wer hat ihn gesehn?«

»Hier die Rieke von Dullmann’s — «

»Wann war das?« fragte der Actuar das jetzt vorgeschobene Mädchen, das feuerroth wurde und ihren einen Schürzenzipfel anfing wie einen Plumpsack zusammenzudrehen. Erst ganz kurze Zeit vorher hatte sie einer ihrer Freundinnen im Dollinger’schen Haus, und gewiß nicht in der Absicht die Mittheilung gemacht, gleich damit, ohne weitere Warnung, vor die Polizei gezogen zu werden.

»Nun Mamsell — wie hieß sie? — Rieke? — Wann haben Sie Loßenwerder aus dem Haus kommen sehn, und ist er ruhig hinausgegangen oder _geschlichen_?«

»Wenn Loßenwerder im Haus war,« sagte Herr Dollinger ruhig, »so wird er auch ordentlich hinaus_gegangen_ und nicht geschlichen sein; der wäre der Letzte dem ich so etwas zutrauen möchte.«

»Die Rieke behauptet,« fiel aber hier die Köchin in dem Bewußtsein unrechtlich gekränkten Ehrgefühls rasch ein, »daß sie gar nicht auf ihn geachtet haben würde, wenn er sich nicht so schnell und heimlich, und dicht unter den Fenstern, am Hause hingedrückt hätte. Wer kein böses Gewissen hat, kann gerade und offen gehen.«

»Sie sind aber gar nicht gefragt, zum Henker noch einmal,« rief der Actuar jetzt ungeduldig werdend — »wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich Sie so lange hinausführen, bis wir Sie wieder brauchen. Hier Mamsell Rieke; wenn Sie sich die Schürze abgedreht haben, dann sein Sie so gut und sagen Sie uns einmal wo und wie Sie den Herrn Loßenwerder gesehen haben.«

»Ich — ich weiß nicht gewiß« — stammelte das Mädchen verlegen — »aber — aber Loßenwerder kam — bald nachher wie die Herrschaft fortgefahren war — «

»Wie lange nachher?« frug der Actuar.

»Etwa eine halbe Stunde denk’ ich — vielleicht nicht so lange — kam er viel rascher als es sonst seine Art ist, denn er geht gewöhnlich immer sehr langsam — kam er — kam er aus der Thür heraus, die er geschwind hinter sich zuzog — und dann — «

»Und dann?« —

Und dann hielt er den Kopf nieder, als ob er nicht wollte daß ihn Jemand, der vielleicht von oben heruntersähe, erkennen möchte — hielt er den Kopf nieder und drückte sich — drückte sich dicht am Haus hin, so schnell er konnte die Straße hinunter, und um die Ecke.«

»Und nachher?« frug der Actuar.

»Nu, um die Ecke kann sie doch nicht sehn,« sagte die Köchin.

»Ob Sie still sein wird,« sagte Herr Ledermann jetzt aber wirklich böse gemacht — »Wenzel, wenn mir die Person da jetzt noch einmal das — noch einmal den Mund aufthut, dann wissen Sie was Sie zu thun haben.«

»Sehr wohl, Herr Actuar,« sagte der Gerichtsdiener —

»Und sind Sie dann nachher nicht herübergekommen und haben das den Leuten im Hause gesagt, was Sie gesehn?« frug der Actuar.

»Ich habe ja aber Nichts gesehen,« sagte die Rieke.

»Sie haben doch den Loßenwerder gesehn« —

»Ja aber der geht doch so oft in das Haus hier herein, und kommt nachher immer wieder heraus.«

Der Actuar warf sich ungeduldig herüber und hinüber und sagte endlich mürrisch:

»Unsinn — baarer Unsinn — aber hatte er denn irgend etwas in der Hand? — _trug_ er etwas?«

»_Trug_? — ja — ja sehn Sie Herr Actuar — das kann ich Sie nicht sagen — das weiß ich nicht — «

»Nun Sie werden doch gesehen haben, ob er irgend ein schweres Paket in der Hand hatte oder nicht.«

»Ja sehn Sie, das weiß ich Sie wahrhaftig nicht, aber ich glaube es fast,« sagte das Mädchen, »denn ich habe den Herrn Loßenwerder eigentlich noch gar nicht anders gesehn, als daß er irgend ’was getragen hätte; und wenn’s nur ein paar Briefe gewesen wären, oder ein Regenschirm.«

»Lieber Herr Actuar, ich glaube Sie sind da auf einer falschen Fährte,« sagte Herr Dollinger jetzt — »man kann einem Menschen allerdings nicht in’s Herz sehen, aber für den Loßenwerder möchte ich fast selber einstehen.«

»Mein bester Herr Dollinger,« sagte aber der Actuar kopfschüttelnd, »es ist das mit den Untersuchungen eine wunderliche Sache, und Leute auf die man am allerwenigsten gedacht, von denen man nie das geringste Unrechte vermuthet hatte, kommen da oft in den sonderbarsten Verwickelungen vor und — sind schuldig. Ich selber kenne Loßenwerder als einen ordentlichen braven Menschen, und will zu Gott hoffen, daß unser ganzer Verdacht unbegründet ist; das heimliche Schleichen aus dem Haus aber, und daß ihn Niemand sonst im Haus gesehen hat macht ihn verdächtig. Meine Pflicht ist es wenigstens ihn selbst deshalb zu vernehmen und ich werde jedenfalls noch heute Abend nach ihm schicken müssen — unsere Eisenbahnverbindungen sind jetzt zu schnell, und man darf keiner Menschenseele mehr zwölf Stunden Vorsprung lassen, wenn man nicht oft das leere Nachsehn haben will.«

»Passen Sie auf,« sagte Herr Dollinger, »der Loßenwerder wird den Blumenstock zum Geburtstag Clara’s oben hinaufgetragen haben, und zum Dank dafür kommt der arme Teufel jetzt noch in den Verdacht des fatalen Diebstahls.«

»Wie aber ist er ohne Nachschlüssel in die verschlossene Thür gekommen,« warf der Actuar ein —

»Hm — « sagte Herr Dollinger, »das weiß ich freilich nicht — nun fragen Sie ihn selber, das wird jedenfalls der kürzeste Weg sein.«

»Um das Verzeichniß der gestohlenen Gegenstände dürfte ich Sie dann vielleicht nachher noch bitten.«

»Meine Tochter wird es gerade jetzt eben schreiben,« sagte Herr Dollinger, »wenn Sie nur noch kurze Zeit warten wollen.«

»Dann dürfte ich Sie wohl bitten, es mir gleich in meine Wohnung zu schicken,« meinte der Actuar nach kurzer Ueberlegung, »ich muß vor allen Dingen erst in meine Wohnung und werde dann von da gleich noch einmal in’s Bureau gehen. Wo ist denn der Loßenwerder wohl am leichtesten zu finden?«

»Ich habe eben nach seinem Hause geschickt,« sagte Herr Dollinger, »aber dort ist er nicht. Paul, der Bursche, behauptet, er ginge manchmal, aber selten, in eine Bierstube an der Ecke der Rößnitzer und Hertzergasse, aber dort war er auch nicht; es ist übrigens an beiden Orten bestellt, ihn gleich, so wie Jemand seiner ansichtig wird, hierherzuschicken.«

»Sehr wohl,« sagte der Actuar, seine Papiere zusammenpackend, und sie dem Gerichtsdiener übergebend; nach kurzer Begrüßung wollte er sich dann eben entfernen, als er noch einmal in der Thür stehen blieb und, sich scharf auf dem Absatz herumdrehend, fragte:

»A prospos — _raucht_ Loßenwerder?«

»Soviel ich weiß _nicht_,« sagte Herr Dollinger.

»Doch ja, manchmal,« sagte Einer der Leute — Sonntags nach Tisch z. B. regelmäßig eine Cigarre.«

»Hm, so?« sagte der Actuar und verließ dann rasch das Zimmer und Haus.

Er hatte übrigens auch alle Ursache sich zu beeilen, denn daheim wartete ein mit jeder Minute drohender aufsteigendes Unwetter auf ihn, das er mit einer Art von verzweifelten Hoffnung immer noch mit den, dem Gerichtsdiener wieder zu dem Zweck abgenommenen, und geschäftsmäßig unter den Arm geklemmten Streifen Akten abzuleiten gedachte. Jedenfalls mußte ihm der Vorfall im Dollinger’schen Haus, der so viel von seiner Zeit in Anspruch genommen, entschuldigen. Frau Actuar Ledermann aber hatte sich schon den ganzen Nachmittag über, mit immer wachsender Ungeduld, vorgenommen gehabt mit ihrem Gatten gegen Abend einen der vor der Stadt gelegenen Gärten, wo Concert sein sollte, zu besuchen und die Parthie war ihr jetzt — was halfen alle Gründe dagegen — zu Wasser geworden; es verstand sich von selbst daß Actuar Ledermann die Schuld, und deshalb auch die Folgen trug.

Frau Actuar Ledermann hatte sich übrigens vor einigen Tagen, wo sie trotz dem nassen Wetter und allen Vorstellungen ihres Mannes spatzieren gegangen war, furchtbar erkältet, und brachte keinen lauten Ton über die Lippen. Das aber, und daß sie ihren gerechtfertigten Ingrimm nicht mit der vollen Kraft ihrer Stimme hinaus_gießen_ konnte über den Gatten, wie sie es — und er auch — gewohnt war, sondern alles das was sie ihm zu sagen hatte — und sie hatte ihm viel zu sagen — heraus_flüstern_ mußte, reizte ihren Zorn nur noch immer mehr.

»Aber liebes Kind, ich versichere Dich,« sagte der Actuar in einem vergeblichen Versuch den aufsteigenden Sturm zu beschwichtigen, »daß ich mich über anderthalb Stunden bei dem verwünschten Diebstahl im Dollinger’schen Hause aufgehalten habe und — «

»Und ich versichere Dich,« zischte sie, mit einem Gesicht, dem die Anstrengung die es sie kostete die Worte hörbar zu machen, einen noch viel unfreundlicheren, ja sogar boshaften Ausdruck gab — »daß ich Dich vor anderthalb Stunden schon gerade so erwartet habe wie jetzt, und seit drei Stunden vollkommen angezogen dasitze und auf Dich passe.«

»Aber Du _bist_ ja gar nicht angezogen, beste Therese.«

»Weil ich mich wieder ausgezogen habe,« rief die Frau — »glaubst Du ich soll mir ein Beispiel an einem liederlichen Menschen nehmen, und bei Nacht und Nebel noch draußen herumstreichen, wie Leute die das Licht zu scheuen haben? — Und dann mit meinem Katharr — daß ich mir den Tag über im warmen Sonnenschein ein wenig Bewegung machte, das fällt Dir nicht ein; aber Nachts, wenn der schädliche Thau niederfällt, der für mich gerade Gift wäre, da möchtest Du mich jetzt wohl noch hinausschleppen nicht wahr? damit ich nur recht schnell unter die Erde käme — o ich armes unglückseliges Weib — «

»Aber Therese Du bist unbillig, ich habe Dir doch angeboten heute Nachmittag mit mir nach dem rothen Drachen hinauszugehn — «

»Weil Du wußtest daß das nichtsnutzige Geschöpf von einer Wäscherin mir mein Kleid nicht vor vier Uhr bringen würde,« zischte die Frau.

»Aber Du hast ja noch andere — «

»Am Sonntag zum Skandal der andern Menschen mit einer solchen _Fahne_ zu einem anständigen Vergnügungsort hinausziehn, nicht wahr? — _Dir_ läge natürlich Nichts daran was die Leute über Deine Frau sagten; aber Du bist auch an anderen Orten lieber wie zu Hause, und statt Deiner Frau einmal ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten, und nachher mit ihr zusammen auszugehen, mußt Du natürlich g’rad in’s Wirthshaus laufen, und ein Bischen vor Mitternacht dann wieder zu Hause kommen.«

»Liebes Kind, es ist halb neun Uhr jetzt« — sagte der Actuar ruhig, »dann aber Therese,« fuhr er nach kleinem Zögern, mit einer fast gewaltsamen Anstrengung etwas herauszubringen, das er auf dem Herzen hatte, fort — »bist Du theilweise mit selbst Schuld daran, _daß_ ich mir eben außer dem Hause mein Vergnügen suchen _muß_.«

»Ich?« wollte die Frau erstaunt rufen, der etwas zu hoch eingesetzte Ton blieb aber total aus, und Ledermann sah nur, mit der entsprechenden Gesticulation, das zum Höchsten erstaunte Gesicht der Gattin. Dadurch aber vielleicht, und durch die ungewöhnliche, freilich erzwungene Stille, etwas muthiger gemacht, fuhr er entschlossen fort:

»Ja liebes Kind, Du; denn anstatt Deinem Mann, wenn er von seinen Berufsgeschäften ermüdet zu Hause kommt den Aufenthalt daheim zu einem freundlichen zu machen, in dem er gerne bleibt, läßt Dich Dein unglückseliges, heftiges Temperament nicht ruhen noch rasten, sondern Du mußt irgend eine Gelegenheit vom Zaune brechen mit mir zu zanken. Gebricht es Dir aber vollkommen an Stoff, was jedoch nur in höchst seltenen Fällen zu sein scheint, so bist Du mürrisch und verschlossen, machst ihm ein finsteres, verdrießliches Gesicht, und sprichst kein Wort.«

Sprachlos nur vor Zorn und Staunen über die unerhörte, bodenlose Frechheit, hatte die Frau indessen dem heute so redseligen Gatten (der aber nicht dabei zu ihr aufzuschauen wagte, sondern bald die rechte, bald die linke Ecke der Stube mit den Augen suchte) angesehn. Es war eine allerdings noch jugendliche schlanke, aber eher magere als volle Gestalt, die Frau Actuar Ledermann, mit etwas vorstehenden, wenigstens stark markirten Backenknochen und durchdringend scharfen, wenn auch kleinen lichtgrauen Augen, die Lippen schmal und um den Mund in vielen kleinen Fältchen, zusammengezogen, das Kinn jedoch etwas zurückstehend, was ihr ein besonderes, und nicht eben angenehmes Profil gab. Auch in ihrem Anzug ließ sie sich zuviel gehn; der Zauber reinlicher Kleidung fehlte ihr, der selbst der ärmlichsten Tracht etwas Nettes, Freundliches giebt; die Krause die das oben am Hals dicht anschließende Kleid einfaßte, war schon mehrere Tage getragen und verdrückt, ebenso zeigten die Manschetten Spuren längeren Dienstes, und die Haube saß ihr verschoben und zu viel zurückgedrängt auf dem, nicht überreich mit Haaren bedeckten Scheitel. Frau Actuar Ledermann war nicht hübsch, und der Affect der ihre Züge in diesem Augenblick mehr entstellte als belebte, nahm ihnen leider auch die letzte Spur sanfter Weiblichkeit, die sonst doch wohl noch hie und da darin verborgen lag. Der bis jetzt mehr durch Erstaunen als Mäßigung niedergekämpfte Zorn gewann aber auch endlich die Oberhand, und während die Anstrengung, sich bei ihrer Heiserkeit gehört zu machen, ihr Antlitz fast dunkel färbte, keuchte sie, die Arme in die Seite gestemmt, den Oberkörper gegen den überrascht einen Schritt zurückweichenden Gatten vorgebeugt:

»Spreche kein Wort, _heh_? sagt der Herr? — prahlt da, »wenn er von Berufsgeschäften nach Hause kommt« — spreche kein Wort? — sitzt in der Kneipe den ganzen gesegneten Nachmittag — im rothen Drachen und das nennt er Berufsgeschäfte; vertrinkt das Geld das wir hier zum nothwendigsten Leben brauchten, und wirft mir jetzt meine Heiserkeit vor, die mir der Himmel geschickt hat, oder mein böses Glück, dem ich auch einen solchen Mann verdanke — daß ich kein Wort spreche und verdrießlich bin. Ich soll wohl _tanzen_? eh? — wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist vor Jammer und Elend daheim, und wenn ich den ganzen Tag da sitze, und brüte und denke wie wir auskommen wollen mit den paar Groschen, die zum Sterben und Verhungern zu viel, zum Leben aber zu wenig sind. Dann soll ich nachher, wenn der gestrenge Herr sein Gesicht zeigt, lachen und vergnügt und lustig sein, nur damit der Haustyrann sich nicht unbehaglich fühlt in _seinen_ vier Wänden.«

Heftiger Husten unterbrach hier die Zornesrede der Frau, der die übermäßig angestrengte Luftröhre den Dienst versagte, und der Actuar Ledermann nahm still und schweigend, den Moment benutzend, ein Licht von dem kleinen Seitenschrank, zündete es an der Lampe an, und verließ kopfschüttelnd und seufzend das Gemach, sich auf sein eigenes kleines Stübchen zurückzuziehn.

 

 


Capitel 4.

FRANZ LOSSENWERDER.

In Heilingen, in der Glockenstraße, stand ein vortreffliches Weinhaus, in dem die wohlhabenderen Bürger Abends gewöhnlich zusammenkamen und ihr Fläschchen, aus denen auch oft zwei und drei wurden, tranken. Das Lokal war ziemlich gemütlich, und dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner Zimmerchen abgetheilt, die theils durch wirkliche Thüren und Verschläge, theils durch Vorhänge von einander getrennt lagen, einzelnen Gesellschaften zu gestatten eben einzeln zu bleiben, und ihr Glas, ungestört von dem Nachbar, zu trinken.

Das Haus hieß »der Pechkranz« nach einer alten Sage, die der Wirth sehr gern mit der Heilinger Chronik belegte, und die noch in dem dreißigjährigen Kriege spielte; ein, über der Eingangsthür in neuerer Zeit erst aus Stein gehauener Bachus, hielt auch in der einen Hand einen Tyrsusstab, und in der anderen einen Pechkranz, in höchst wunderlicher Weise Sage und Geschäft mit einander vereinigend. Die Allegorie war aber gar nicht so übel angebracht, und hätte sich auch schon ohne Tilly recht leidlich und genügend erklären lassen, denn Bachus hatte hier schon in der That in manchen Kopf seinen Pechkranz hineingeworfen, daß es lichterloh zum Dache hinausbrannte, ohne weiter eben größeren Schaden anzurichten, als der alte Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte.

Der Wirth war übrigens nicht in Heilingen geboren und erzogen, sondern ein Rheinländer, der sich hier erst vor einigen Jahren niedergelassen, und durch gute Getränke auch bald gute und schlechte Kunden genug bekommen hatte. Seine Preise waren allerdings ein wenig theuer, »aber,« sagten die Heilinger, »wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf einen Groschen dabei ankommen, wenn er nur ächt und rein ist,« und Wirth und Gäste befanden sich wohl dabei.

Es war am Abend des nämlichen Tages, an welchem ich meine Erzählung begann, als die Gäste, die den Tag über meist auf Spaziergängen im Freien gewesen waren, anfingen einzutreffen, und die Kellner geschäftig herüber und hinüber sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen zu bringen. Die kleinen Räumlichkeiten füllten sich nach und nach, und selbst in dem großen Mittelsaal, der ungefähr das Centrum des Ganzen bildete, hatten sich schon hie und da einzelne Gruppen gebildet, oder auch einzelne Gäste saßen in irgend einer Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, und auf eigene Hand, in ungeselliger Gemüthlosigkeit, langsam Glas nach Glas zu leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art; zu einer schönen Landschaft und einer guten Flasche Wein gehören mindestens zwei Personen, um Beides recht und ordentlich zu genießen, die eine sich _darüber_, die andere sich _dabei_ auszusprechen; wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genuß von Beiden verloren. Es giebt allerdings Menschen, die sich zufriedener fühlen wenn sie Alles allein genießen können, aber denen geh’ aus dem Weg; es sind Hypochonder oder Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen schuldig bist ist dafür, daß sie sich eben auch von Dir zurückziehn. Nur wer Niemanden hat an den er sich anschließen darf, wer allein und freundlos in der Welt dasteht und das Leid das ihn drückt, allein tragen, die wenigen frohen Momente seines Lebens allein genießen muß, den bedauere und hilf ihm, wenn Du kannst, denn er ist der Unglücklichste von Allen.

Es mochte neun Uhr Abends sein, als ein Bekannter von uns, der Kürschnermeister Kellmann, die Weinstube betrat und, sich überall umschauend, ob er nicht irgend einen Freund träfe zu dem er sich setzen könnte, in einer der Ecken eine bekannte Gestalt entdeckte. Aber er sah erst ein paar Secunden wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen traute, und sagte dann, auf Jenen losgehend und neben dem Tisch stehen bleibend:

»Hallo, _Loßenwerder_? Ihr hier im Pechkranz? na da möchte man doch, wie die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. Alle Wetter Mann und vor einer Flasche Rüdesheimer; nun das laß ich gelten und es freut mich wahrhaftig, daß Ihr endlich einmal aufthaut und unter Menschen kommt. Aber was ist denn heute los bei Euch? denn einen ganz besonderen Grund muß doch die Festlichkeit haben.«

»Ha — ha — ha — hat sie auch He — he — he — he — herr Ke — ke — ke — kellmann,« sagte der kleine Mann verlegen lächelnd und sich etwas schüchtern dabei umschauend, denn es schien ihm nicht angenehm, die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste so direkt auf sich gelenkt zu sehn.

»Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen,« sagte Kellmann, seinen Hut und Stock an einen der nächsten Haken hängend und sich neben ihn setzend, »wenn sie behaupten Ihr tränkt nur Wasser, und Sonntags höchstens einmal ein Glas Dünnbier — ich kriege Leibschneiden, wenn ich nur an das Zeug denke — und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit einem halben Thaler auskommen müßtet. Alle Wetter Mann, das ist recht, daß Ihr Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein gönnt; das hält Leib und Seele zusammen, und stärkt die Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Würde mir schwer ankommen, wenn ich unseren vaterländischen Wein entbehren müßte,« setzte er mit einem halbunterdrückten Seufzer hinzu.

»Ha — ha — ha — haben Sie a — a — a — auch wohl ni — ni — nicht nö — nö — nö — nö — nö — nöthig, be — be — be — bester He — he — he — he — he — he.«

»Ih nun wer weiß was Einem noch Alles bevorsteht,« unterbrach ihn Kellmann — »hier Kellner — mir auch eine Flasche von dem Rüdesheimer; der Duft hat mir Appetit gemacht.«

»Hallo Loßenwerder bei einer Flasche Rüdesheimer,« rief aber jetzt noch eine andere Stimme aus dem nächsten Stübchen, wo ein paar junge Kaufleute bei ihrem Glase zusammensaßen — »da müssen wir auch dabei sein; Loßenwerder hat vielleicht heute seinen splendiden Tag und traktirt — haben Sie was in der Lotterie gewonnen?«

Die jungen Leute, die Kellmann und Loßenwerder begrüßten, kamen mit ihrer Flasche heraus, und setzten sich an denselben Tisch, mit dem immer verlegener werdenden kleinen Mann anstoßend und trinkend. Denen gesellten sich aber noch bald darauf Andre zu; Loßenwerder war in der ganzen Stadt bekannt und oft auch, seiner körperlichen Mängel wegen, zum Besten gehalten. Vertheidigen konnte er sich aber schon seines Stotterns wegen nicht, was den Gegnern gleich nur noch mehr Anlaß und Stoff gegeben hätte; so wurde denn diese freilich gezwungene Zurückhaltung endlich für Gutmütigkeit ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig gefallen ließ, und was die schärfste Erwiderung nicht vermocht, erreichte er unfreiwillig dadurch, daß man es endlich müde wurde, den sich nicht Verteidigenden zum Besten zu haben, und ihn eben zufrieden ließ. Aber in des Verwachsenen Betragen änderte das Nichts; abgestoßen und verhöhnt — in nur sehr wenigen Ausnahmen — von Allen, mit denen er in Berührung kam, zog er sich mehr und mehr in sich selbst zurück, ging, außer den nöthigen Geschäftswegen und außer der Geschäftszeit, fast nirgends hin, und lebte so einfach, ja fast dürftig, wie nur ein Mensch leben kann, der eben _nur_ Geld ausgiebt, um zu existiren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch Niemand gesehn, und die Gäste dort, die überdies keinen weiteren Zweck da hatten als sich zu amüsiren, glaubten das einmal einen Abend mit dem kleinen »Stotterberg«, wie er spottweis, seines Stotterns und Höckers wegen genannt wurde, am Besten thun zu können.

Im Anfang wollte sich Loßenwerder aber auf Nichts einlassen, ja machte sogar zwei oder drei, wenn gleich vergebliche Versuche, sich zu entfernen, denn von allen Seiten wurde er gehalten, und Jeder wollte und mußte mit ihm trinken. Nach und nach aber fing er an aufzuthauen; der ungewohnte kräftige Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die Adern jagen. Nun sollte er erzählen, aber das ging nicht, sein Stottern wurde, mit der schwereren Zunge, kaum verständlich, bis Einer, im Spott eben, auf den Gedanken kam, ihn zum Singen aufzufordern. Loßenwerder weigerte sich erst ganz verschämt; das aber kam den Anderen zu komisch vor, und mit Lachen und Toben, während ein paar schon Champagner bestellten, den Genuß würdig zu feiern, räusperte sich Loßenwerder plötzlich und stieg, von dem Wein erregt, und jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdrängenden Gäste, auf einen Stuhl.

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Was aber, wie sich die Uebrigen gedacht, Spott und Scherz hatte werden sollen, das erstarb in athemlosem Schweigen, nur von leisen Ausrufungen des Staunens und der Bewunderung unterbrochen, als der kleine verkrüppelte Mensch, mit einer hellen, glockenreinen Stimme, und Tönen, die zum innersten Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit fortgerissen, dieses also begann:

»Ich habe schon zu oft geschaut In Deiner Augen Glanz, Du Holde, Auf meine Kraft zu fest vertraut, Viel mehr, als ich vertrauen sollte.

Doch nein, für Dich Geliebte sind Des Lebens schönste, reinste Blüthen, Von keinem Schmerz getrübt, bestimmt, Und was könnt’ ich dafür Dir bieten?

Nichts — gar Nichts, als ein treues Herz; Doch nimmer sollst Du es erfahren — Ich kann, wie früher, meinen Schmerz In tiefer, innerer Brust bewahren.

Sei glücklich! — wenn auch ohne mich, Ich will Dich lieben, aber schweigen Und mein Gebet nur soll für Dich Empor, zum Thron des Höchsten steigen.

Wenn dann mein Herz im Grabe liegt, Und austräumt seine stillen Leiden, Dann soll der Geist zum Himmel nicht Entfliehn, und zu der Seel’gen Freuden. —

Ein schön’res Loos werd’ ihm zu Theil, Umschwebend Dich in trüben Tagen, Soll er, zu Deinem Schutz und Heil, Selbst seiner Seligkeit entsagen.«

Loßenwerder war ganz gerührt geworden beim Schluß des Liedes, und die Thränen standen ihm in den Augen; während sein wirklich häßliches Gesicht durch den Schmerz aber eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, jubelte die Schaar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Athem und Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme von ihnen genommen war.

»Bravo — bravo Loßenwerder — bravo dacapo! Donnerwetter Mann, Ihr habt ja eine Stimme wie eine Nachtigall, und stottert nicht die Probe dabei — wie am Schnürchen geht das!«

»Es ist erstaunlich!« rief Kellmann, vor lauter Verwunderung über das eben Gehörte wirklich fast sprachlos.

»Nun aber auch trinken — hier Loßenwerder — hier,« riefen sie, ihm das Glas bis zum Rand mit dem schäumenden Trank füllend, »und dann noch ein Lied; bei Gott, das zuckt und prickelt Einem ordentlich durch die Adern, und klingt wie Glockenton so rein und voll; Loßenwerder wo habt Ihr das Singen gelernt?«

»Vo — vo — vo — vo — vo — von mi — mi — mir se — se — se — se — selb — bber,« stotterte der kleine Mann, kaum im Stande jetzt mit immer schwerer werdender Zunge nur die paar Worte vorzubringen, während ihm im Gesang die Strophen wie der Lerche das schmetternde Lied; aus der Kehle wirbelten.

»Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon erfahren,« rief Kellmann wieder — »behält die liebe Gottesgabe da ebenfalls für sich allein, kommt nirgends hin, spricht mit Niemand, trinkt und singt mit Niemand, und hat eine Stimme in der Luftröhre sitzen, die Einer, wer es darauf anzulegen verstände, in reines Gold verwandeln könnte.«

Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann zu, und überschütteten ihn mit Lob und Jubel, und dieser schwamm wirklich in einem wahren Meer von Wonne. So wohl war ihm auch noch nie geworden — Niemand hatte sich bis jetzt um ihn bekümmert, Jeder ihn verspottet und verhöhnt, und zum ersten Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, fühlte er sich unter Menschen einem Menschen gleich, wußte sich nicht mehr verachtet und unter die Füße getreten, und sah freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihres Gleichen anschauten.

Dem löste sich auch endlich seine Zunge, oder wenigstens sein guter Wille zu reden, so weit, daß er beginnen wollte Geschichten zu erzählen. Das ging aber unter keiner Bedingung; beim Singen ja, aber beim Sprechen brachte er kein Wort mehr über die Lippen, und selbst das Singen versagte ihm zuletzt den Dienst; die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu lallen, und war eben zurück auf seinen Stuhl und dem Schlaf in die Arme gesunken, als die Thür aufging und zwei Gerichtsdiener in’s Zimmer traten. Es war etwa elf Uhr Abends und die meisten Gäste, mit Ausnahme des einen Tisches, hatten das Haus schon verlassen.

»Hallo was ist das?« sagte Herr Kellmann, der die beiden Leute zuerst bemerkte, »das ist wunderlicher Besuch — es wird doch nicht etwa eine Polizeistunde eingeführt in Heilingen?«

Aber auch der Wirth war die »Diener der Gerechtigkeit«, wie sie meist etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden und ging auf sie zu, sich zu erkundigen was sie hierher geführt.

»Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei Ihnen sein,« sagte der Erste — »er ist aus dem Dollingerschen Geschäft.«

»Dort sitzt er in der Ecke,« sagte der Wirth vom Pechkranz nach Loßenwerder hinüberzeigend, »hat er etwas verbrochen?«

»Ich weiß nicht,« erwiederte der Zweite ziemlich kurz — »wir sollen ihn abholen.« —

»Wird schwer sein,« meinte der Wirth — »sie haben ihm heute Abend hier ordentlich zugetrunken, und der Wein hat jetzt das Uebergewicht — wenn er aufsteht kippt er wieder um.«

»Hm — da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus ihm herauszubringen sein, Meier; was meinst Du, nehmen wir ihn mit?«

»Ich denke das Beste wird sein wir führen ihn zu Haus, und Einer bleibt bei ihm bis er morgen früh wieder zu Verstande kommt; jetzt ist doch Nichts mit ihm anzufangen.«

»Aber um Gottes Willen was ist denn vorgefallen?« frug Kellmann bestürzt; »der arme Teufel hat doch nicht etwa irgend ’was verbrochen?«

»Noch ist nichts Gewisses bekannt,« erwiederte der erste Polizeidiener, »nur bei Dollinger’s ist heute Nachmittag eingebrochen, und die Untersuchung muß jetzt erst ergeben, wer schuldig sei.«

»Bei Dollinger’s eingebrochen?« riefen Mehrere, »heute Abend?«

»Nein heute am hellen Tag,« sagte der Mann.

»Alle Wetter das muß dann gewesen sein während sie nach dem rothen Drachen gefahren waren,« sagte Kellmann rasch — »sie kamen an uns vorbei mit dem jungen Henkel.«

»In der Zeit war’s,« bestätigte der Polizeidiener, »denn wie sie zu Hause kamen, wurde es entdeckt — hier da Loßenwerder — Sie da — wachen Sie auf.«

»Ja wenn Sie den stoßen wollen bis er munter wird,« lachte Einer der jungen Leute, »da haben Sie Arbeit.«

»Sie — Loßenwerder — hören Sie?«

»Ja — ja« — stammelte der von dem ungewohnten Weine, von dem er eigentlich gar nicht so sehr viel getrunken, Betäubte — »me — me — me — mehr We — we — wein; ich za — za — za — zahle A — a — a — a — a — alles!«

»So?« sagte der Polizeidiener ruhig — »nun für heute möcht’ es doch wohl genug sein; komm, faß ihn da drüben unter den Arm, er wohnt ja auch nicht so sehr weit von hier — wo ist sein Hut?«

»Hier — armer Teufel, das wird ein böses Erwachen werden.«

»Wie man sich bettet so schläft man,« sagte der zweite Polizeidiener, und den Betrunkenen in die Höhe richtend, der dabei unverständliche Sachen stammelte und sogar einen total misglückenden Versuch machte wieder zu singen, führten sie ihn hinaus und seiner Wohnung zu, indeß die Gäste noch das »für und wider« der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas Uebles gehört bei einer anderen Flasche besprachen.

Und es _war_ ein böses Erwachen für den Mann; von dem Weindunst betäubt schlief er, wie ein Todter, bis zum lichten Tag, und als er die Augen aufschlug und ihm der Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster Blick auf den ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden Polizeidiener, den er einen Moment bestürzt anstarrte, und dann die Augen wieder schloß, wie vor einem unangenehmen Traumbild.

»Nun Loßenwerder, ausgeschlafen?« sagte der Mann aber, froh endlich einmal zu einem Resultat zu kommen — »das hat lange gedauert — kommen Sie, stehn Sie auf und ziehn Sie sich an.«

Die Stimme war _kein_ Traum, und der kleine Mann richtete sich erschreckt von seinem Bett, auf dem er noch mit den Kleidern vom vorigen Abend lag, empor. Wo war er? — wie war er hierher gekommen? er drückte sich mit beiden Händen die Stirn und der klare Angstschweiß brach ihm aus über den ganzen Körper; er _wußte_ nicht mehr was gestern Alles geschehn, und die unheimliche finstere Gestalt vor ihm füllte sein Herz mit einer wilden Ahnung von Unheil, die alles Blut dorthin in jähem Strom zurücktrieb.

Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem entdecktem Diebstahl, das Gefühl, daß der Verdacht auf ihm laste, und die nächste Stunde — während ein anderer Polizeibeamter bei ihm visitirte und man nichts weiter, als in einem Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter dreifachem Schloß, ein Päckchen mit 200 Thalern in fünf und zwanzig Thaler Cassenanweisungen, wie noch einige Goldstücke fand, wie seine Abführung dann nach dem Dollingerschen Hause, da Herr Dollinger gebeten hatte den Mann, an dessen Schuld er nicht glauben wollte, erst einmal an Ort und Stelle selber zu befragen — lag wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen Last er auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht einmal eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte.

In dem Dollingerschen Hause angekommen, wurde er gleich in Herrn Dollinger’s Zimmer hinaufgeführt, und der alte Herr ging, als Loßenwerder die Stube betrat, mit auf dem Rücken gekreuzten Händen in seinem Zimmer auf und ab. Der junge Henkel saß in der einen Ecke des Sophas, das rechte Knie über das linke geschlagen, mit einem Buch in der Hand, über das hin er aufmerksam den Gefangenen betrachtete.

Loßenwerder war bleich wie ein Todter — jeder Blutstropfen hatte sein Antlitz verlassen, und bei dem Versuch den er zum Reden machte, kam kein Laut über seine Lippen.

»Loßenwerder,« sagte Herr Dollinger endlich, nach einer kleinen Weile vor ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig betrachtend — »ein böser Mensch ist gestern, während unserer Abwesenheit, in unser Haus geschlichen und hat, außer einigen Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir gestern Mittag gebracht und das ich, wie Du weißt, in den Secretair dort schloß. Warst Du während unserer Abwesenheit wieder im Haus und in dem Zimmer meiner Töchter?«

»He — he — he — he — he — he — he — rr Do — Do — Do — Do.«

»Schon gut Loßenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das Sprechen wird Dir schwer; beschränke Dich auf ein einfaches ja und nein.«

»Ja — a — !«

»In dem Zimmer meiner Töchter?«

»J — a — a — a aber — i — i — i — i — ich wo — wo — wollte« —

»Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?« sagte Herr Henkel jetzt ruhig.

Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schläfe hinauf, aber der nächste Moment ließ sein Antlitz wieder so weiß als vorher; er nickte nur, zur Betätigung des eben Gesagten, mit dem Kopf.

»Loßenwerder,« sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter Stimme und dicht zu dem kleinen Mann hinantretend, wobei er die Hand auf dessen Schulter legte, »Loßenwerder, noch gestern würde ich eben so leicht geglaubt haben, daß eines von meinen eigenen Kindern eines schlechten, unrechtlichen Streiches fähig wäre, bis mich leider die immer deutlicher sprechenden Thatsachen in meinem Glauben an Dich _wankend_ gemacht haben.«

»He — he — he — he — he — herr Do — Do — Do — Do — — Dollinger« —

»Ich will Dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht vorlegen,« sagte da der alte Herr, dem Angeklagten jedes unnütze Wort zu ersparen — »gestern, während unserer Abwesenheit, ist der Secretair meiner Töchter erbrochen und das Dir bekannte Geld entwendet worden — drüben über der Straße hat Dich ein Mädchen gesehn, wie Du heimlich aus dem Hause geschlichen bist. Ebenso bestätigt Wilhelm, der Stalljunge, Dich gesehn zu haben, wie Du hättest das Haus durch die nach dem Hofe zu führende Thür verlassen wollen, bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen ist, zurückgefahren, und dann auch nicht über den Hof gekommen wärst. Das Stubenmädchen, die keine Ahnung davon haben konnte daß Geld in dem Secretair lag, ist bereit den schwersten Eid abzulegen, daß sie, wenige Minuten später, nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die Vorsaalthür nicht mehr aus den Augen gelassen, und gewiß wäre, daß Niemand die Schwelle mehr überschritten habe, bis sie den zurückkehrenden Wagen in den Hof einfahren gehört. Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in welcher das Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, die man an Dir nicht gewöhnt ist, wie die bei Dir gefundene Summe, lassen allerdings das Schlimmste fürchten. Loßenwerder — ich brauche Dir nicht zu sagen, wie weh — wie weh mir das gerade von _Dir_ thut, und ich wollte die doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn es _nicht_ geschehen wäre. Mache aber jetzt Deinen Fehler, wenigstens so weit das noch in Deinen Kräften steht, wieder gut; gestehe was Du mit dem übrigen Gelde gemacht, wo Du es verborgen hast, und ich selber will dann auch Alles thun was in meinen Kräften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein anderer Welttheil mag Dir nachher in späterer Zeit Gelegenheit geben Deinen Fehltritt zu bereuen, und das wieder zu werden, für was ich Dich, selbst bis diesen Morgen noch, gehalten habe.«

Loßenwerder hatte während dieser Auseinandersetzung wie aus Stein gehauen vor seinem Prinzipale gestanden, nur das Zittern seiner Glieder verrieth daß er lebe; jetzt aber brach er in die Knie, und zum ersten Mal vielleicht mit dem vollen Bewußtsein der gegen ihn erhobenen Anklage — oder auch von Schuld und Angst zu Boden gedrückt, denn wer konnte in den stieren, überdies nicht geraden Augen und in den todtenbleichen, mit großen Schweißperlen bedeckten Zügen das richtige lesen — umfaßte er die Knie des alten Herrn und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser nur mit äußerster Anstrengung einen Sinn herausfinden mußte — ihn nicht unglücklich zu machen — Nichts so Schreckliches von ihm zu denken.

»Ein aufrichtiges Geständniß, Loßenwerder,« entgegnete darauf Herr Dollinger, »ist das Einzige, was Deine Schuld jetzt noch in etwas erleichtern kann. Das Gericht wird einen unbewachten Augenblick, dem die Reue auf dem Fuße folgt, nicht so schwer strafen, wie den hartnäckigen Uebelthäter.

»A — a — a — a — a — aber ich bi — bi — bin ni — ni — ni — nicht schu — schu — schu — schuldig,« — stotterte der Unglückliche — »ich we — we — we — we — weiß vo — vo — vo — von Ni — ni — ni — nichts — «

»Du weißt von Nichts, Loßenwerder?« sagte Herr Dollinger leise mit dem Kopf schüttelnd — »und woher ist das Geld das man bei Dir gefunden, woher die Fünfundzwanzig Thaler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und die Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?«

»Ge — spa — pa — pa — pa — partes Geld — e — e — e — e — e — ehrlich ge — ge — gespartes G — g — g — geld!« stammelte der arme Teufel.

Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herr Dollinger zu, dem er ein paar Worte in’s Ohr flüsterte und dann, während dieser leise und traurig mit dem Kopf nickte, das Zimmer verließ. Loßenwerder aber, der ihm ängstlich mit den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung fühlte daß man ihn fortführen — in ein Gefängniß bringen werde, ergriff wieder und jetzt aber wie in Todesangst des alten Mannes Hand, und bat ihn um Gottes — um seiner Seligkeit willen, soweit es ihm die, jetzt in der Aufregung nur noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, daß er ihm nur das nicht anthun — daß er ihn in kein Gefängniß möge führen lassen. Herr Dollinger erklärte aber natürlich darin Nichts thun zu können, denn wenn er Nichts gestehen wolle oder zu gestehen habe, so müsse allerdings das Gericht, bei so stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, wonach sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen würde.

»Hab’ ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen,« stotterte der Unglückliche, »so bin ich gebrandmarkt mein Lebelang« —

Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Thür öffnete sich in diesem Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der Loßenwerder leise auf die Achsel klopfte und freundlich sagte:

»Wenn’s gefällig wäre.«

Loßenwerder zuckte zusammen als ob er einen Schlag bekommen, und wandte sich noch einmal, wie Hülfe suchend, an Herrn Dollinger, aber ein Blick auf diesen überzeugte ihn, daß er schon nicht mehr helfen könne, wo das Gericht die Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Händen bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos hinaus.

Gerade als er durch die Thür schritt begegnete ihm, noch auf der Schwelle, Frau Dollinger, und rasch bei Seite tretend, als ob sie selbst durch seine Berührung angesteckt zu werden fürchte, warf sie ihm einen zornigen, verächtlichen Blick zu und ging an ihm vorüber.

Loßenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn wie er den Kopf hob, sah er am andern Ende des Vorsaals Clara mit dem jungen Henkel in eifrigem Gespräch, und auch dort mußte er vorbei. Das war zu viel und wie unschlüssig blieb er stehn und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht suche.

»Na kommen Sie, Loßenwerder, machen Sie keine Dummheiten,« sagte aber, ihm ermunternd auf die Schulter klopfend, der Polizeidiener — »es ist Alles ein Uebergang, wie der Fuchs sagte, als sie ihm das Fell über die Ohren zogen.«

Loßenwerder nahm sich zusammen und schritt festen Trittes an dem jungen Mädchen vorüber, das ihn mitleidig betrachtete.

»Etwas über zweihundert Thaler hat man schon bei ihm gefunden,« flüsterte der junge Henkel ihr leise zu — »ich hoffe daß Vater Dollinger das andere auch noch wieder bekommen soll.«

»Ach Loßenwerder, warum habt Ihr das gethan?« sagte Clara, leise und mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an ihr vorüberging.

»U — u — u — und Si — si — si — si — sie g — g — g — glau — ben d — d — das a — a — a — a — auch?« rief Loßenwerder und die großen hellen Thränen standen ihm dabei in den Augen, aber der Polizeidiener hatte sich schon länger mit ihm aufgehalten, als er meinte verantworten zu dürfen, nahm ihn leise an der Hand und führte ihn die Treppe hinunter. Loßenwerder folgte ihm wie in einem Traum.

Das Polizeigebäude war nur höchstens fünfhundert Schritt von dort entfernt, und stand an der andern Seite einer kleinen steinernen Brücke die über den, mitten durch die Stadt und häufig überbrückten kleinen Fluß führte. Als sie hinunter auf die Straße kamen, ließ der Polizeidiener seinen Gefangenen los, kein Aufsehn zu erregen, und flüsterte ihm zu nur ruhig neben ihm hinzugehn. Loßenwerder verstand ihn wohl gar nicht, denn er sah verstört zu ihm auf, und dann um sich her, und fand die Augen der Vorübergehenden alle neugierig auf sich geheftet; sich aber doch, wenn auch nur dunkel, des Zwanges bewußt der auf ihm lag, nahm er sein Taschentuch heraus, trocknete sich die feuchte Stirn damit ab, und ging mit krampfhaft zusammenengebissenen Zähnen neben seinem Wächter her. So erreichten sie die Brücke, wo vier oder fünf Jungen standen, die neugierig die Ankommenden betrachteten; Loßenwerder’s Blick schweifte über sie hin, aber er sah sie nicht, bis er dicht bei ihnen war und einer derselben spottend rief:

»Hoho, hoho — Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat gestohlen!«

Die Anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und der Polizeidiener drehte sich ärgerlich und drohend gegen die Buben um, die scheu auseinander stoben; Loßenwerder aber fuhr sich mit beiden Händen krampfhaft gegen die Stirn — »hat gestohlen!« schrie er dabei, ohne zu stottern, mit gellendem wilden Schrei, und ehe sein Wächter es verhindern konnte, ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem verzweifelten Sprung, über die niedere Ballustrade hin in den unten vorbeilaufenden Strom. Noch über dem Geländer erfaßte ihn der Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des niederfallenden Körpers war aber zu groß, als daß er es mit einer Hand hätte aufhalten können, ja er mußte sogar loslassen, nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und der Unglückliche schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen Oberfläche er im nächsten Augenblick verschwand.

Der Fluß war indeß hier weder breit noch tief, und auf der ziemlich belebten Straße fanden sich gleich mehre Leute, die unterhalb der Brücke in’s Wasser sprangen, das ihnen etwa bis unter die Arme reichte, den niedertreibenden Körper aufzufangen. Sie hatten ihn auch bald erreicht und gefaßt, und von kräftigen Armen wurde derselbe an die Oberfläche gehoben und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser selber noch nichts geschadet hatte, war der Unglückliche doch durch den Sturz, in dem er wahrscheinlich durch das Zurückhalten seines Rockes gegen einen der Brückenpfeiler geworfen worden, schwer am Kopf verletzt — die Wunde blutete stark, und die Männer trugen den Bewußtlosen zuerst auf die Polizei, und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen Arztes, in die Charité.

 

 


 

Capitel 5.

DIE AUSWANDERUNGS-AGENTUR.

Am Marktplatz zu Heilingen, und an der Ecke eines kleinen, auf diesen auslaufenden Gäßchens, stand ein ziemlich großes, grün gemaltes und gewiß sehr altes Erkerhaus, dessen Giebel und Stützbalken geschnitzt, und mit wunderlichen Köpfen und Gesichtern verziert, und braun angestrichen waren, und sich so weit dabei nach vorn überneigten, daß es ordentlich aussah, als ob der ganze Bau mit dem spitzen, wettergrauen Dach nächstens einmal ohne weitere Meldung nach vorn über, und gerade mitten zwischen die Töpfer und Fleischer hineinspringen würde, die an Markttagen dort unten ihre Waare feil hielten.

Nichtsdestoweniger wurde es noch immer, bis fast unter das Dach hinauf bewohnt, und der untere Theil desselben ganz besonders zu kleinen Waarenständen und Läden benutzt. Die Ecke desselben nun, hatte seit langen Jahren ein Kaufmann oder Krämer in Besitz, der sich zu seinen Materialwaaren, Kaffee, Zucker, Tabak, Lichten, Grütze &c. auch noch in der letzten Zeit die Agentur mehrer Bremer und Hamburger Schiffsmakler zu verschaffen gewußt, und damit bald in einer Zeit, wo die Auswanderungslust so überhand nahm, solch brillante Geschäfte machte, daß er die Materialwaarenhandlung seiner Frau, wie seinem ältesten Sohn übertrug, und für sich selber nur ein kleines Stübchen, ebenfalls nach dem Markt hinaus, behielt, über dessen Thüre ein riesiges, sehr buntgemaltes Schild jetzt prangte. Dies Schild verdient übrigens mit einigen Worten beschrieben zu werden, da die Heilinger in den ersten Tagen — als es eben erst aufgehangen worden — in wirklichen Schaaren davor stehen blieben und es anstaunten.

Es war ein breites, länglich viereckiges Gemälde, ein großes, dreimastiges Schiff vorstellend, wie es sich unter vollen Segeln der fremden, ersehnten Küste näherte. Die See selber war hellgrün gemalt, mit einer Unmasse von sichtbar darin herumschwimmenden Fischen, die den Beschauer wirklich etwas besorgt um die Sicherheit des Fahrzeugs selber machen konnten. Dessen wackerer Kiel schäumte aber mitten hindurch, und der, dem Anschein nach vollkommen runde, nur nach hinten zu etwas länglich auslaufende Rumpf, preßte eine große grün und weiß gestreifte Welle vorne auf, die sich wie eine breite Falte quer vor seinen Bug legte. Die Segel standen dazu fast ein wenig zu sackartig, und nur an den vier Zipfeln festgehalten, stramm und steif von den Raaen ab, und die langen blutrothen Wimpel mit roth und weißer Bremer Flagge hinten an der Gaffel, strömten und flatterten lustig nach hinten aus, wahrscheinlich den raschen Durchgang des Schiffes durch das Wasser anzuzeigen, das derart, durch den Wind getrieben, selbst diesen überflügelte. Ueber Deck war aber auch die Mannschaft, und Kopf an Kopf eine volle Reihe bunter Passagiere sichtbar, mit sehr dicken rothen Gesichtern, die Gesundheit an Bord des Schiffes bestätigend, und mit sehr hellgelben und sehr breiträndigen, rothbebänderten Strohhüten auf, während hinten auf Deck der Capitain des Schiffes mit einem dreieckigen Hut, wie einem Fernglas in der einen und einem Dreizack in der andern Hand stand. Was der Maler mit dem Dreizack andeuten wollte weiß nur er und Gott; er müßte denn gemeint haben daß der Capitain, wie früher Neptun, das Meer beherrsche. Uebrigens war es auch möglich daß er fischen wolle, und sich mit dem Fernrohr nur eben den stärksten und fettesten der ihn reichlich umschwimmenden Fische ausgesucht habe.

Den Hintergrund dieses prachtvollen Seestücks bildete ein schmaler Streifen mit einzelnen Palmen bedeckter Küste, an der eine Anzahl pechschwarzer, nackter Männer standen, die nur einen gelb und blauen Schurz um die Hüfte und einen grünen Busch in der Hand trugen. — Diese sahen übrigens gerade so aus, als ob sie die Ankunft des Schiffes schon sehnsüchtig und vielleicht sehr lange Zeit erhofft hätten, und nun die Zeit nicht erwarten könnten daß die Fremden an Land stiegen, damit sie geschwind für sie arbeiten, und ihnen den Boden urbar machen dürften.

Neben dem Bild, und zu beiden Seiten der Thür, wie sogar noch an dem innern Theile des Fensterschalters, hingen lange Listen der verschiedenen anzupreisenden Plätze für Auswanderung. Obenan New-York, Philadelphia und Boston, dann Quebeck und New-Orleans, Galveston; in Brasilien, Rio de Janeiro und Rio Grande; in Australien Adelaide, dann Chile, Valdivia und Valparaiso, und Buenos Ayres mit einer Menge neu entdeckter verschiedener Kolonien und Ansiedlungen, wohin überall die besten kupferfesten Schiffe A¹, in unglaublich kurzer Zeit und mit Allem versehen ausliefen, was dem glücklichen Passagier das Leben an Bord eines solchen Schiffes nur in der That zu einer Vergnügungsfahrt machen müsse und würde.

Weigel, wie der Eigentümer dieser »ausländischen Versorgungsanstalt« (ein Spottname den die Heilinger der Weigelschen Agentur gaben) hieß, war ein dicker, vollgenährt und blühend aussehender Mann, ungefähr sechs bis achtunddreißig Jahr alt, mit ein wenig fest umgeschnürter Cravatte, was seinen Augen etwas Stieres gab, und sonst einem leisen Anflug von Grau in den sonst braunen, widerspenstigen Haaren. Die Augen waren groß, blau und ziemlich ausdruckslos; ein fast mitleidiges Lächeln aber, das oft, und besonders dann wenn er irgend Jemandes Meinung bestritt, um seine Mundwinkel spielte, gab dem Ausdruck seiner Züge jene scheinbare Ueberlegenheit, die sich zuversichtliche Menschen oft über Andere, wenn mann es ihnen gestattet, anzumaßen wissen. Ganz vorzüglich wußte er diese Miene anzunehmen, wenn er über Amerika, oder irgend einen überseeischen Fleck Landes sprach, über dem für ihn ein gewisser heiliger und unantastbarer Zauber schwamm, und Jemand dann irgend einen Zweifel gegen das Gesagte zu hegen wagte. Er schwärmte besonders für Amerika, und es gab deshalb auch, seiner Aussage nach, keinen größeren Lügner in der Stadt, als den Redacteur des Tageblatts, den Advokaten und Doctor Hayde in Heilingen. Dieser und er waren denn auch, wie das sich leicht denken läßt, grimme und erbitterte Feinde und Gegner, woselbst sich nur irgend eine Gelegenheit dazu fand.

Weigel bekam, wie das gewöhnlich bei den Agenturen der Schiffsbeförderung üblich und der Fall ist, für jede Person die er einem Bremer oder Hamburger Rheder sicher an Bord lieferte, einen Thaler, kurzweg genannt »für den Kopf« und er theilte deshalb die Leute — seine Mitbürger sowohl wie sämmtliche übrige Bewohner Deutschland’s, in solche ein »die Energie hatten,« d. h. zu ihm kamen und sich bei ihm einen »Platz nach Amerika« besorgen ließen, wo sie nachher drüben selber sehn konnten wie sie fertig wurden, und in solche, die »im alten Schlendrian hinkrochen, und hier lieber verfaulten, ehe sie einen männlichen entscheidenden Schritt thaten, ihrer Existenz auf die Beine zu helfen.« Jeder der hier blieb betrog ihn aber wissentlich und mit kaltem Blut um seinen, ihm in ehrlichem Verdienst zustehenden Thaler, und es verstand sich von selbst, daß er vor einem solchen Menschen keine Achtung haben konnte.

Er selber kannte die Verhältnisse Amerika’s nur aus Büchern die das Land lobten, denn andere las er gar nicht, und bekam er sie einmal zufällig in die Hand, so warf er sie auch gewiß mit einem Kernfluch über den »nichtswürdigen Literaten, der wieder einmal einen ganzen Band voll Lügen zusammengeschmiert« in die Ecke. Sein größter Aerger war aber jedenfalls — und so regelmäßig wie die Uhr Morgens acht schlug — das Tageblatt, das er der häufigen Annoncen wegen halten _mußte_, und das ebenso regelmäßig kleine gehässige und schmutzige Artikel gegen Amerika wie überhaupt gegen Alles brachte, was sich frei und selbstständig bewegte.

Zehnmal hatte er sich schon vorgenommen den »kleinen erbärmlichen Doctor« zu prügeln, und sehr vielen Leuten würde er dadurch ein großes Vergnügen bereitet haben; aber er unterließ es doch jedesmal auch wieder, wenn sich ihm gleich oft genug die Gelegenheit dazu bot; Beide mußten jedenfalls schon einmal früher etwas mit einander gehabt haben, vielleicht mehr von einander wissen als Beiden zuträglich war, und ein solcher Bruch wäre da nicht räthlich gewesen.

Sonst lebte Weigel still, und anscheinend als ein vollkommen guter und achtbarer Bürger, vor sich hin, aber im Stillen wirkte und wühlte er seinem Ziel entgegen, und richtete in der That viel Unheil an. Seine Beschreibungen Amerika’s, die er sich selber in kleinen Brochüren aus anderen Büchern zusammentrug, und um ein Billiges verkaufte, waren ein langsames Gift, das er in manche friedliche und glückliche Familie warf, ein Saatkorn das dort wucherte und Wurzel schlug, und während es die Leser anreizte nur gleich ohne weiteres ihr Bündel zu schnüren und jenen herrlichen Länderstrichen zuzueilen, wo von da an ihr Leben nur einem murmelnden Bache gleichen würde, der zwischen Blumen dahin fließt, füllte er ihre Köpfe mit falschen Ideen und Begriffen von dem Land, das ihre neue Heimath werden sollte, und machte viele, viele Menschen unglücklich. In der neuen Heimath dann angekommen, die ihnen, mit mäßigen Ansprüchen, wirklich Manches geboten haben würde was ihre Lage, im Vergleich mit dem alten Vaterland gebessert haben könnte, fanden sie sich jetzt plötzlich in all den wilden extravaganten Ideen, die sie durch solche Lectüre eingesogen, enttäuscht, fanden die Hoffnungen nicht realisirt, die man ihnen gemacht, hielten sich für schlecht behandelt und unglücklich, und verfielen nun oft in das Extrem trostloser und eben so unbegründeter Verzweiflung, wobei sie den Mann verwünschten, der sie hierverlockt, und sie verleitet hatte, Heimath und eigenen Heerd zu verlassen, einem Phantom zu folgen. Weigel aber hatte seinen Thaler für den richtig abgelieferten »Kopf« bekommen, und dachte schon gar nicht mehr an die früher Beförderten, die seiner Meinung nach jetzt in einem Meer von Behagen schwammen und »unter Palmen wandelten.«

Herr Weigel war allein in seinem kleinen Bureau, einem niederen, etwas dumpfen und nicht überhellen Stübchen, dessen eines breites Fenster mit durch Zeit und Rauch arg mitgenommenen Gardinen verziert war, während die Wände durch Karten und statistische Tabellen-Anzeigen von Schiffen und Gasthäusern, Plänen von neuangelegten Städten oder zu verkaufenden Farmen fast völlig bedeckt hingen. Er saß an einem hohen, ziemlich breiten Pult, das einen mächtigen Kamm von Gefachen und Schiebladen trug und las, mit einer Tasse Kaffee neben sich, eben seinen täglichen Aerger, das Tageblatt, als es an die Thür klopfte, und auf sein lautes »Herein« ein junger, sehr anständig, aber trotzdem etwas ärmlich gekleideter Mann das Zimmer betrat.

»Herr Weigel?« sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung.

»Bitte — ja wohl,« sagte Herr Weigel, seine Brille rasch in die Höhe schiebend und auf seinem Drehstuhl herumfahrend, seinen Besuch besser in’s Auge zu fassen — »womit kann ich Ihnen dienen?«

»Sie befördern Passagiere nach Amerika?«

»Nach Amerika? — denke so, hehehe,« lachte Herr Weigel, sich vergnügt die Händ reibend, »habe schon ganze Colonien hinüber geschafft, Männer und Frauen, Weiber und Kinder; sitzen jetzt drüben in der Wolle und schreiben einen Brief über den andern an mich, wie gut es ihnen geht — da nur den einen hier, den ich vor ein paar Tagen bekommen habe — der Mann ist blos mit zwei tausend Dollarn hinübergegangen und hat schon eine eigene Farm, achtzig Acker Land, vierundzwanzig Stück Rindvieh, einige sechzig Schweine, fünf Pferde und will jetzt eine Schäferei anlegen — schreibt an mich ich soll ihm einen Schäfer hinüber schicken, aber einen der die Sache aus dem Grund versteht, kommt ihm auf ein paar Dollar Lohn nicht dabei an — bitte lesen Sie einmal den Brief.«

»Sie sind sehr freundlich Herr Weigel,« sagte der junge Fremde mit einem verlegenen wie schmerzhaften Zug um den Mund — »aber der Brief würde gerade nicht maßgebend für mich sein, da ich mich gegenwärtig nicht in den Verhältnissen befinde, gleich einen Platz zu _kaufen_. Sind die Passagierpreise jetzt theuer?«

»Theuer? spottbillig,« lachte Herr Weigel, den Brief offen wieder zurück auf sein Pult, und seine Brille darauf legend, ihn zu weiterem Gebrauch bereit zu haben; »spottbillig sag’ ich Ihnen, man könnte wahrhaftig auf dem festen Land nicht einmal dafür leben — _so_ nicht; und unter uns — ich weiß wahrhaftig nicht wie die Leute dabei auskommen, aber es muß eben die rasende _Menge_ von Passagieren machen, die sie jetzt wöchentlich, ja fast täglich hinüber spediren. Es ist fabelhaft was jetzt für Menschen auswandern; auf einmal werden sie Alle gescheidt, und merken endlich was sie hier haben, und was sie dort erwartet — ist doch ein famoses Land, das Amerika.«

Und wie viel beträgt die Passage nach dem _nächsten_ Hafen der Vereinigten Staaten, wenn ich fragen darf, für — für eine erwachsene Person und ein Kind?«

»_Nächsten_ Hafen? — hehehe, fürchten sich wohl vor der Seekrankheit? lieber Gott, daran gewöhnt man sich bald; ist auch gar nicht so arg wie’s eigentlich gemacht wird. Der Mensch, der Doctor Hayde hier im Tageblatt, hat neulich einen Artikel über die Seekrankheit gebracht den er wahrscheinlich auch selber geschrieben, und wonach Einem gleich ach und weh zu Muthe werden müßte; der ist aber nur dazu bezweckt den Leuten das Auswandern zu verleiden. Sie möchten sie gern hier behalten, damit sie sie nur recht ordentlich plagen und schinden können, weiter Nichts; davor braucht sich kein Mensch zu fürchten.«

»Sie wollten mir aber den _Preis_ der Passage nennen.«

»Den Preis? — ja so — warten Sie einmal« — sein Blick fiel auf die Glacéhandschuhe und die schneeweiße Wäsche des Fremden, dessen etwas abgetragene Kleider er in dem halbdunklen Raum nicht so leicht erkennen konnte, oder auch übersah — »der Preis — Dampfschiff oder Segelschiff?«

»Segelschiff.«

»Segelschiff — wird — sein — Preis in erster Cajüte vier und achtzig Thaler Gold.«

»Und die — die billigeren Plätze?«

»Billigeren Plätze — zweite Cajüte oder Steerage fünfundsechzig Thaler Gold — «

»Und Zwischendeck?« sagte der Fremde leise und verlegen.

»Zwischendeck würde ich Ihnen nicht rathen,« meinte Herr Weigel, seine Brille jetzt abwischend und wieder aufsetzend; »besonders wenn man eine Frau und ein Kind bei sich hat und es nur irgend ermachen kann, sollte man nie Zwischendeck gehn, man ruinirt sich’s und den Seinigen an der Gesundheit herunter, was die paar Thaler mehr kosten.«

»Aber Sie können mir wohl den Preis des Zwischendecks sagen?«

»Ja wohl, mit dem größten Vergnügen — Zwischendeck nach New-York kostet — warten Sie einmal, ich habe ja hier die letzten Briefe von meinen Häusern. Zwischendeck nach New-York kostet vierundvierzig Thaler Gold.«

»Vierundvierzig Thaler?«

»Ja es ist seit ein paar Tagen erst wieder um vier Thaler aufgeschlagen, weil die Leute eben nicht Schiffe genug anschaffen können für die Auswanderer. Ist fabelhaft was besonders dieses Jahr für Leute übersiedeln. Soll ich Sie vielleicht einschreiben? es trifft sich jetzt gerade glücklich, denn am 15ten geht ein ganz vortreffliches Schiff ab, die _Diana_, Dreimaster, gut gekupfert, mit allen nur möglichen Bequemlichkeiten versehn und einem Capitain, ich sage Ihnen ein wahrer Schentelmann, wie er sich gerade nicht immer auf den Schiffen findet.«

»Ich danke Ihnen für jetzt noch bestens, lieber Herr Weigel,« sagte der junge Mann — »ich muß doch nun erst mit meiner Frau Rücksprache über dieß nehmen, denn erst seit gestern ist mir die Idee überhaupt gekommen auszuwandern; aber — noch eine Bitte hätte ich an Sie,« und er drehte dabei den Hut den er in der Hand hielt, fast wie verlegen zwischen den Fingern — «

»Ja? womit könnte ich Ihnen dienen?« frug Herr Weigel.

»Könnten Sie mir wohl sagen, ob die Capitaine der Segelschiffe — ich habe einmal irgendwo gelesen daß das manchmal geschähe — auch Leute — Passagiere mitnähmen, die unterwegs ihre Passage — abarbeiten dürften und also — auch keine Ueberfahrt zu bezahlen brauchten?«

»Keine Passage zahlen?« sagte Herr Weigel, die Lippen vordrückend und die Augenbrauen in die Höhe ziehend, während er langsam und halb lächelnd mit dem Kopfe schüttelte — »keine Passage bezahlen? — ne lieber Herr — ja so wie heißen Sie denn gleich — «

»Eltrich,« sagte der junge Mann etwas zögernd —

»So? — ne mein lieber Herr Eltrich, davon steht Nichts in unseren Verzeichnissen und Contracten; im Gegentheil, _da_ kommen wir zusammen; das ist der Hauptpunkt, der Nervum Rehrum, der die ganze Geschichte eigentlich zusammenhält, Amerika und Europa und die umliegenden Dorfschaften, heh, heh, heh.«

»Aber wenn nun irgend ein armer Teufel,« fuhr der Fremde etwas lauter, fast wie ängstlich fort — »irgend ein armer Teufel sein ganzes Hoffen eben auf eine Reise nach Amerika gesetzt hätte, und bestimmt wüßte daß er dort, wenn auch nicht gerade sein Glück machen, doch sein Auskommen finden würde? — «

»Nun dann soll er gehn — um Gottes Willen gehn, und am 15ten dieses wird wieder das neue, kupferfeste — ja so, aber er muß bezahlen,« unterbrach er sich rasch als ihm einfiel von was sie vor erst wenigen Secunden gesprochen, »er muß bezahlen, sonst nimmt ihn kein Capitain der Welt mit über See.«

»Und Sie glauben nicht daß da jemals eine Ausnahme stattfinden dürfte?« sagte Herr Eltrich — »es werden doch Leute auf See gebraucht zu den nothwendigsten sowohl, wie den geringeren Arbeiten, und die Capitaine müssen gewiß dafür _bezahlen_. Wenn sich also nun Jemand erböte alle diese Verrichtungen ganz _umsonst_, nur um Passage und die einfachste Matrosenkost zu machen, sollte das nicht möglich sein zu erlangen?«

»Lieber Herr,« sagte der Herr Weigel, dem es jetzt so vorkommen mochte als ob er mit dem Fremden da kein besonders großes Geschäft machen würde, und der anfing ungeduldig zu werden, »zu den Arbeiten an Bord eines Schiffes werden _Matrosen_ gebraucht, und wer kein Matrose ist, kann die auch nicht verrichten. Das ist keine kleine Kunst, lieber Herr Schelbig, in den Tauen den ganzen Tag herumzuklettern und zwischen den Segeln, wenn das Schiff bald so herüberschlenkert und bald so« — und er begleitete dabei seine Erklärung mit einer entsprechenden Bewegung der vor sich gerade aufgehaltenen Hand — »da müssen die Leute fest stehen können wie die Mauern, sonst kann man sie nicht gebrauchen.«

»Aber glauben Sie nicht, wenn man einmal an einen Capitain schriebe, ob er sich doch nicht am Ende bewegen ließ; oder« — setzte er rasch hinzu, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, »wenn man sich nun verbindlich machte die Passage nach einer bestimmten Zeit in Amerika nachzuzahlen — sie dort abzuverdienen?«

»Ja da könnte Jeder kommen,« sagte Herr Weigel kopfschüttelnd, »wenn die Leute erst einmal drüben sind, thun sie was sie wollen. Das ist ein freies Land da drüben, Herr Wellrich, und da könnte man nachher jedem Einzelnen nachlaufen, und sehen daß man sein Geld wieder kriegte. Ne, damit ist’s faul, und ich nun einmal vor allen Dingen, möchte mich nicht auf solch eine Quängelei einlassen; daran hat man keine Freude, und das ist auch kein rundes Geschäft.«

»Es ist nur ein armer Verwandter, der sich auf solche Weise gern forthelfen würde,« sagte Herr Eltrich erröthend — »er ist sehr fleißig und würde arbeiten wie ein Sclave, die Zeit über.«

»Ja das glaub’ ich,« meinte Herr Weigel gleichgültig — »versprechen thun die Art Herren gewöhnlich Alles was man von ihnen haben will.«

»Könnten Sie mir denn vielleicht die Adresse irgend eines Schiffes oder Rheders geben, der bald ein Schiff hinüberschickt,« sagte der junge Fremde, sich schon wieder zum Gehen rüstend — »wenn ich vielleicht selber einmal dorthin schriebe, um Sie nicht weiter mit der Sache zu belästigen.«

»Ja, schreiben können Sie,« sagte Herr Weigel, »hehehe; aber Sie werden keine Antwort bekommen; darauf können Sie sich verlassen. Die Leute da haben mehr zu thun, als sich eines Passagiers wegen, für den sie noch umsonst die Kost hergeben müßten, in eine Correspondenz einzulassen; kann ich ihnen auch gar nicht so sehr verdenken.«

»Und die Adresse?«

»Die Adresse? — da, hier liegt die neueste Auswanderer-Zeitung; wenn Sie wollen, können Sie sich da ein oder zwei Adressen herausschreiben. Da hinten, auf der letzten Seite stehen sie.«

Herr Weigel sah nach der Uhr, drehte sich wieder auf seinem Drehstuhl, der beim Aufschrauben etwas quietschte, herum, schob das Tageblatt zur Seite und rückte sich einen Bogen Papier zurecht, als ob er irgend einen nothwendigen Brief zu schreiben hätte.

Wieder klopfte es da an die Thür, und dießmal, ohne ein ermunterndes »Herein« zu erwarten, öffnete sie sich, und drei Bauern, denen die großen silbernen Knöpfe auf Weste und Rock und das feine Tuch der letzteren, die jedoch ganz nach ihrem alten bäurischen Schnitt gemacht waren, etwas ungemein solides gaben, traten, die Hüte erst unter der Thür und schon im Zimmer abziehend, herein, und grüßten die beiden Leute die sie hier beisammen fanden, mit einem herzlichen »Guten Morgen miteinander.«

Das waren die Leute die Herr Weigel gern kommen sah, die wußten weßhalb sie die eine Hand immer in der Tasche trugen, denn sie hatten dort etwas zu verlieren, und waren nicht selten dabei die Vorboten eines größern Trupps, oft einer ganzen »Schiffsladung voll« die aus ein und derselben Gegend auswandern wollte, und ein paar der Angesehensten indeß vorausgeschickt hatte, Platz für sie zu bestellen. Wie der Blitz war er denn auch von seinem Stuhle herunter, schüttelte ihnen nacheinander die Hand, und frug sie wie es ihnen ginge und was sie hier zu ihm geführt.

»Seid Ihr der Mensch der die Leute nach Amerika schickt?« sagte da der Eine von ihnen, eine breitkräftige, sonngebräunte Gestalt mit vollkommen lichtblonden Haaren und Augenbrauen, aber dabei gutmüthigen vollen und frischen Zügen, dem das Ganze übrigens etwas fremd und unheimlich vorkommen mochte, denn er warf den Blick während er sprach wie scheu von einer der Schiffszeichnungen zur anderen, und schien sich ordentlich dazu zwingen zu müssen das zu sagen, was er eben hier zu sagen hatte.

»Nun nach Amerika _schicken_ thu’ ich sie gerade nicht,« lächelte Herr Weigel, die Anderen dabei ansehend, und etwas verlegen über die vielleicht ein wenig plumpe Anrede.

»Nicht?« sagte der Bauer rasch und erstaunt — »aber hier hängen doch all die vielen Schiffe.«

»Nun ja, ich besorge den Leuten Schiffsgelegenheit die hinüber _wollen_,« sagte Herr Weigel, jetzt geradezu herauslachend, weil er glaubte daß sich der Mann mit ihm einen Scherz gemacht, auf den er natürlich einzugehen wünschte.«

»Ja aber wir _wollen_ eigentlich noch nicht hinüber,« sagte der zweite von den Bauern, seinen Hut auf seinen langen Stock stellend, und sich dabei verlegen hinter den Ohren kratzend — »wir wollten uns nur erst einmal hier erkundigen ob denn das auch wirklich da drüben so ist, wie es jetzt immer in den Auswanderungszeitungen steht, und ob man blos hinüberzugehn und zuzulangen braucht, wenn man eine gut eingerichtete Farm mit ein paar hundert Morgen Land haben will.«

»Ja wenn man Geld hat,« lachte Herr Weigel.

»I nu — Geld hätten wir,« sagte der Bauer, und sah seine Nachbarn an.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar,« unterbrach den Sprecher hier der junge Mann, der indessen die Zeitung nachgesehn, und sich Einzelnes daraus notirt hatte. »Bitte,« sagte Herr Weigel, und nahm ihm das Blatt, ohne sich weiter um ihn zu bekümmern, aus der Hand, und wandte sich wieder zu den Bauern, als der junge Fremde sich mit einem artigen:

»Guten Morgen meine Herren« empfahl.

»Adje Herr — Herr Schnellig,« rief der Agent ziemlich laut hinter ihm her, ohne sich weiter nach ihm umzudrehen, während die Bauern freundlich den Gruß in ihrer Art erwiederten.

»Wer war der junge Herr?« frug der erste Sprecher aber, als er die Thür rasch hinter sich in’s Schloß gedrückt.

»Ach, ein armer Teufel, der gern mit umsonst nach Amerika hinüber möchte,« sagte Herr Weigel — »er thut zwar als wär’ es nur für einen armen Verwandten, aber, hehehe, derlei Ausreden kennen wir schon — kommen alle Wochen vor.«

»Umsonst mit nach Amerika?« sagte der erste Sprecher verwundert, »_der_ sieht doch nicht aus als ob er etwas umsonst haben wollte, der ging ja _so_ fein gekleidet; Donnerwetter — mit Handschuhen und allem — «

»Ja auswendig sind die Leute in der Stadt meist alle schwarz und sauber angestrichen,« lachte Herr Weigel, »aber inwendig, in den Taschen, da hapert’s nachher. Wer aber ein Bischen Uebung darin hat, kann auch schon oben auf erkennen, ob der Lack ächt, oder blos nachgemacht ist, hehehe.«

»Bei dem war er wohl nachgemacht?« sagte der zweite Bauer, dem Anschein nach gerade nicht unzufrieden damit, daß der »glatte Stadtmensch« nicht so viel galt wie sie, und daß der Auswanderungsmann das sogleich durchschaut hatte. Herr Weigel nickte, seine Zeit war ihm aber kostbarer, als sie noch länger an Jemanden zu verschwenden, bei dem er doch voraussah, daß er von ihm keinen Nutzen haben würde, und er suchte das Gespräch wieder dem mehr praktischen Anliegen der drei Bauern zuzulenken.

»Also Sie wollten mitsammen nach Amerika gehn und sich eine ordentliche Farm, gleich mit Land, Vieh, Häusern und was dazu gehört, ankaufen heh? — ’wär keine so schlechte Idee.«

»Ja erst möchten wir aber einmal wissen wie die Sache steht;« sagte der Erste wieder, der Menzel hieß, »wenn man über einen Zaun springen will, ist es viel vernünftiger daß man erst einmal hinüber guckt was drüben ist, und wenn man das nicht kann, daß man Jemanden fragt der es genau weiß. Sind denn die Farmen da drüben wirklich so billig? — ist das wahr, daß man dort noch gutes frisches Land für ein und einen Viertel Thaler kaufen kann?«

»Thaler? — nein,« sagte Herr Weigel, »_Dollar_.« »Ja nun, das ist aber auch nicht viel mehr,« meinte der Zweite, Müller.

»Nun ein Dollar ist ungefähr ein Speciesthaler,« sagte Herr Weigel — »lassen Sie mich einmal sehn — die stehn jetzt — stehn jetzt 1 Thlr. 12½ Silber- oder Neugroschen.«

»Nu ja,« sagte Menzel wieder, »das ist aber immer kein Geld — und für tausend Dollar kauft man da eine fix und fertig eingerichtete Farm, wie sie’s glaub’ ich nennen? mit Allem was dazu gehört?«

»Ich habe hier gerade,« sagte Herr Weigel in seinen Papieren suchend, »ein paar Anerbietungen von höchst achtbaren Leuten — wirklichen Amerikanern — die mir Farmen zu höchst mäßigen Bedingungen offeriren. — Die Leute wissen da drüben daß hier Viele zu mir kommen und sich nach solchen Plätzen erkundigen, und wenn sie dann ’was Gutes haben, schicken sie’s mir. — Wo hab’ ich denn die verwünschten Pläne jetzt hingelegt — ah, hier ist der eine — sehn Sie, Gebäude und Alles sind darauf angegeben — und der andere kann nun auch nicht weit sein; ich habe sie erst vorgestern meinem Bruder gezeigt, der gar nicht übel Lust hatte eine davon für sich zu kaufen — da ist er.«

Die drei Bauern drängten sich um den kleinen Tisch herum auf dem Herr Weigel die Pläne jetzt ausbreitete, und suchten sich in den kreuz und quer laufenden Strichen zu orientiren, wie der Platz eigentlich liege, und was darauf stände.

»Ja aber wo ist denn das nun eigentlich, und wie sieht’s dort aus?« sagte Menzel endlich, nach einigen vergeblichen Versuchen deshalb — »aus der Geschichte hier wird man nicht klug.«

»Ja sehn Sie,« sagte Weigel, mit seinem Finger den Plan erklärend, und den angegebenen Zahlen folgend, »das hier, Nr. 1 ist das Wohnhaus, ein Doppelgebäude, der Zeichnung nach mit einer offenen Veranda dazwischen, des warmen Klima’s wegen, denn drum herum stehen »Baumwollenbäume« angegeben; Nr. 2 da ist ein anderes Gebäude, bis jetzt zu Negerwohnungen benutzt, denn der bisherige Besitzer scheint Sclaven gehalten zu haben; Nr. 3 ist eine Scheune; Nr. 4 ist ein Rauchhaus, die Leute verschicken von dort aus viel getrocknetes Fleisch; Nr. 5 ist, wie es scheint, ein Waschhaus, und Nr. 6 ein anderes Wohnhaus, was dem ersten gegenübersteht, und wahrscheinlich den ganzen Hofraum, da die Front nach dem Flusse zu liegt, abschließt.

»Und welcher Fluß ist das?«

»Der Missouri, einer der größten Ströme Amerika’s, über eine englische Meile breit, und viel hundert Meilen hinauf schiffbar; alle Wetter meine Herren, von den dortigen Strömen können wir uns hier gar keinen Begriff machen.«

»Hm — und wieviel Land gehört dazu?«

»Dazu gehört ein »Died« von 40 Acker, was früher als Congreßland gekauft und schon bezahlt ist, und natürlich mit übernommen wird, und um den Platz herum kann noch so viel Congreßland dazu genommen werden, wie man haben will — nur die vierzig Acker, von denen aber ein Theil schon urbar gemacht ist, müssen natürlich höher bezahlt werden.«

»Und was soll die ganze Geschichte kosten?« frug Müller. — Der dritte, dessen Name Brauhede war, hatte noch kein einziges Wort zu der ganzen Verhandlung gesagt.

»Die ganze Geschichte,« erwiederte Weigel, sich das Kinn streichend, »wie ich sie Ihnen hier gleich an Ort und Stelle überlassen kann, mit Häusern und Grundstück und dazu noch einem kleinen Viehstand von vielleicht einigen achtzig Stück Rindvieh, und fünfundfunfzig oder sechzig Schweinen, würde — etwa — ein tausend und einige sechzig spanische Dollar betragen — «

»Und das wäre nach unserem Geld?« sagte Menzel, Müller dabei heimlich unter dem Tisch anstoßend — «

»Nach unserem Geld?« wiederholte Herr Weigel, mit einem Stück dort liegender Kreide die Summen rasch auf dem Tisch selber aufaddirend — »würde es in einer runden Zahl etwa 1000 — 400 — eine Kleinigkeit über 1400 Thlr. Preuß. Courant betragen.«

»Wieviel Stück Rindvieh?« sagte Müller.

»Einige achtzig Stück sind angegeben,« sagte Weigel, »und müssen auch überliefert werden; aber gewöhnlich sind es noch mehr, denn das Vieh läuft draußen im Freien herum und bekommt Kälber und man weiß es oft nicht einmal — die Kälber werden überhaupt nie mitgezählt.«

»Und die Passage hinüber kostet?« frug Menzel —

»Zwischendeck oder Cajüte?«

»Zwischendeck — immer wo’s am Billigten ist,« lachte Menzel, und strich sich wohlgefällig über die silbernen Knöpfe.

»Ja, kann mir’s denken,« rief Herr Weigel, auf den Scherz eingehend, und ihn leise gegen den Arm von sich stoßend — »Sie sehn mir auch gerade aus, als ob’s Ihnen auf ein paar Thaler ankäme.«

»Ja, wo man’s kann muß man’s zusammennehmen,« betheuerte aber auch Müller — »also wieviel kostet’s im Zwischendeck à Person?«

»Vierundvierzig Thaler für die Person — Kinder zahlen die Hälfte.«

»Aber ganz kleine Kinder?« sagte Müller.

»Nun Säuglinge gehen ein,« lachte Herr Weigel, »das ist die Beilage, die doch auch nur vom Schiff aus indirecte Nahrung bekommen.«

»Leichten Zwieback?« frug Menzel.

»Ja wohl,« sagte Herr Weigel, etwas verlegen lächelnd, da er nicht wußte ob der Bauer das im Spaß oder Ernst gemeint — »wie viel Personen sind Sie denn aber wohl etwa?«

»Nu, so eine sechzig möchten wir immer zusammen herausbekommen,« meinte Müller —

»Aber Alle auf ein Schiff müßtet Ihr uns bringen,« sagte Menzel.

»Nun das versteht sich von selbst,« rief Herr Weigel, und ein famoses Schiff geht gerade den funfzehnten ab — ich glaube das beste, das von Bremen und Hamburg überhaupt läuft — die Diana.«

»Ne das wär’ uns noch zu früh — «

»Am ersten nächsten Monats geht ein noch besseres,« sagte Herr Weigel — »wenigstens geräumiger und ein besserer Segler.«

»Ne das wär’ uns auch noch zu früh,« sagte Menzel.

»Gut, dann träfen Sie es gerade ausgezeichnet mit dem Meteor,« versicherte Herr Weigel, keineswegs außer Fassung gebracht; »ich wollte Ihnen den im Anfang nicht anbieten, weil ich fürchtete daß Sie früher zu reisen wünschten, wenn Sie aber _so_ lange Zeit haben, dann kann ich Ihnen allerdings die vorzüglichste Reisegelegenheit bieten, die sich nur überhaupt denken läßt.«

»So — na das paßte schon besser — « sagte Müller — »wie hieß das Schiff gleich?«

»Meteor.«

»Hm — werd’ es mir merken — aber nicht wahr, beim _Dutzend_ kriegen wir die Passage doch auch was billiger.«

»Ne, das geht nicht,« lachte aber Herr Weigel da gerade heraus; »es ist ja nicht so, daß ein Schiff nur eben so viel Menschen an Bord nehmen kann wie darauf Platz haben, sondern es muß auch genug Raum, und über und über genug Essen und Trinken für sie dabei sein, wenn einmal die Reise, in einem unglücklichen Fall länger dauerte als gewöhnlich. So ein Schiff hat deshalb auch nur eine bestimmte Zahl von Auswanderern, die es an Bord nehmen kann, und nach Amerikanischen Gesetzen nehmen _darf_, und auf die ist Alles mit Kosten und Preis ausgerechnet, auf’s tz. Die kleinen Kinder werden eingegeben, aber die großen müßen bezahlen. Und wie war’s mit der Farm?«

»Wo ist denn der andere Platz — zu dem da der lange Zettel gehört?« sagte Menzel, der sich diesen indessen genau betrachtet, und nach allen Ecken herum und herumgedreht hatte, ohne, wie er meinte, einen Handgriff dran bekommen zu können.

»Der hier? der ist in Wisconsin; auch ein guter Platz, aber kein so großer Strom dabei,« sagte Herr Weigel — »ist aber auch billiger. Dort kann ich Ihnen eine Farm, allerdings nur mit einigen vierzig Kühen, für etwa siebenhundertundfunfzehn Dollar überlassen, und dann habe ich noch fünf andere von sechs, acht, elf, neun und ich glaube zwölfhundert Dollar — die letztere ist aber eine wirkliche Musterwirthschaft mit importirtem Schweizervieh, und Backsteingebäuden, und einer prachtvollen Lage Milch und Butter in die nicht zu entfernte Stadt zu bringen; wird Ihnen aber auch freilich wohl zu theuer sein?«

»Zu theuer? — warum?« sagte Menzel — »wenn man sich einmal etwas kauft, soll man sich auch gleich ’was ordentliches anschaffen. Ich habe mir übrigens die Sache immer viel schwieriger vorgestellt mit dem Ankaufen, und gedacht, daß man da erst lange in der Welt umher fahren und sein Geld verreisen müßte. Wenn man das gleich hier an Ort und Stelle abmachen kann, ist das ja weit bequemer.«

»Auf eins möchte ich Sie übrigens noch aufmerksam machen, meine Herren, was Sie ja nicht versäumen dürfen,« sagte Herr Weigel — »nämlich sich hier gleich Ihre Billets zur Weiterfahrt in’s Innere, wohin Sie auch immer wollen, zu lösen.

»Von Neu-York aus?« sagte Menzel verwundert.

»Ja wohl von Neu-York oder Philadelphia oder wohin Ihr Reiseziel liegt.«

»Ja aber kann man denn die _hier_ bekommen?« frug Müller.

»Gewiß kann man das,« lächelte Herr Weigel, »und das ist gerade der ungeheure Vortheil unserer jetzigen Verbindung, die den Auswanderer von der Thür seiner alten Heimath fort, vor die seiner neuen setzt, ohne daß er ein einziges Mal in die Tasche zu greifen und mehr zu bezahlen braucht, als was er gleich von allem Anfang entrichtet hat. Das eben macht auch das Reisen jetzt so billig, daß man mit _einem_ Blick im Stande ist sämmtliche Kosten zu übersehn; die Extra-Ausgaben fallen ganz weg.«

»Das wäre freilich ein Glück,« sagte Müller, von dem erst vor einigen Monaten ein Bruder »hinüber« gegangen war — »die Extra-Ausgaben fressen sonst das meiste Geld.«

»Ob sie’s fressen, bester Herr, ob sie’s fressen,« sagte Herr Weigel, sich wieder vergnügt die Hände reibend.

»Und wo kann man die Billete also bekommen?« frug Menzel.

»Bei mir hier, versteht sich,« sagte Herr Weigel — »alle bei mir.«

»Und die gelten dann drüben?«

»Nun versteht sich doch von selbst,« lachte der freundliche Agent, »ich würde sie ja Ihnen doch sonst nicht verkaufen. Sehn Sie, wenn die Deutschen hinüber kommen, dann sprechen sie gewöhnlich noch kein Englisch — oder haben Sie das etwa schon gelernt?«

»Ne — «

»Nun sehn Sie, und dann werden sie dort von ihren Landsleuten — denn der Amerikaner ist nicht halb so schlimm — die sich das richtig zu Nutze zu machen wissen, tüchtig über’s Ohr gehauen, und müssen gewöhnlich gerade noch einmal so viel bezahlen, als die Sachen eigentlich kosten.

»Aber es soll doch eine »Deutsche Gesellschaft« drüben in Neu-York sein,« sagte jetzt Brauhede, der zum ersten Mal bei der ganzen Verhandlung den Mund aufthat — »die sich eben der Deutschen annimmt und Nichts dafür verlangt.«

»Leben wollen wir _Alle_,« sagte Herr Weigel achselzuckend — »umsonst ist der Tod, und daß die Leute, wenn sie ihre Zeit darauf verwenden für die Deutschen zu sorgen, auch etwas dafür nehmen werden, läßt sich wohl an den fünf Fingern abzählen. Neu-York ist aber ein theures Pflaster, die Leute _brauchen_ dort mehr wie wir hier, und wer es daher _billiger_ thun kann ist auch wieder leicht einzusehn. Ich will mich auch keineswegs empfehlen; lieber Gott es giebt noch eine Menge Leute in Deutschland, die sich demselben schwierigen und undankbaren Geschäft unterzogen haben wie ich, und die es sich vielleicht eben so sauer werden lassen gerade und ehrlich durch die Welt zu kommen; aber Einen der es besser _meint_ dabei, werden Sie wohl schwerlich finden, und ich überrede gewiß Niemanden nach Amerika auszuwandern. Jeder Mensch muß seinen freien Willen haben, und auch am Besten selber wissen was ihm gut ist.«

»Ne gewiß,« sagte Menzel — »da habt Ihr ganz recht, das ist auch mein Grundsatz; aber das mit dem Amerika leuchtet mir auch ein, und umsonst thut da gewiß Niemand etwas — das sind verflixte Kerle da, hab’ ich mir sagen lassen, besonders die Deutschen, und wo die nicht wollen gucken sie nicht ’raus.«

»Also die Billete kann man hier bei Euch kriegen?« sagte Müller.

»Wohin Sie wollen, und ich stehe Ihnen dafür daß sie nicht allein ächt sind, sondern daß die hier in Deutschland gelösten Plätze auch noch den Vorrang haben vor allen in Amerika genommenen, wenn einmal Eisenbahn oder Dampfboote zu sehr besetzt sein sollten. Es ist ja hier gerade so mit der Post, wo Die, die sich zuerst, und auf der längsten Station haben einschreiben lassen, den Vorrang behalten müssen vor denen die nachher kommen.

»Ahem, das ist klar,« sagte Menzel; »na also da dächt’ ich ließen wir uns gleich einmal Plätze belegen und gäben das D’raufgeld, damit wir die Sache richtig hätten, und nachher können wir ja einmal über die Farmen sprechen; ich habe verwünschte Lust.«

»Du, das hat noch Zeit,« sagte aber jetzt Brauhede wieder, Menzel am Rocke zupfend; »erst müssen wir es uns doch einmal mit den Anderen zu Hause überlegen.«

»Wenn aber nachher die Plätze auf dem ganz guten Schiffe fort sind,« sagte Müller mit einem sehr bedenklichen Gesicht.

»Ja, _stehen_ kann ich Ihnen _nicht_ dafür,« versicherte Herr Weigel die Achseln zuckend, daß sie beinah seine Ohrläppchen berührten.

»Na mein’twegen,« sagte Brauhede, der allerdings auch in der Absicht hierher gekommen war, ihre Passage fest zu accordiren, jetzt aber, da es dazu kam Geld zu zahlen, nur ungern damit herausrückte — »aber von wegen der Farm müssen wir noch erst mit den Anderen sprechen, und eine Farm kriegen wir auch noch immer.«

»Ja aber was für eine,« sagte Herr Weigel.

Brauhede blieb übrigens bei seiner Meinung, und Menzel bestand jetzt nur wenigstens darauf die beiden Pläne einmal mitzunehmen, damit sie sich zu Hause ordentlich hinein denken könnten. Wenn auch Herr Weigel sie im Anfang nicht außer Händen geben mochte, ja sogar versicherte er habe nicht übel Lust die eine Farm für sich selber auf Spekulation zu kaufen, ließ er sich doch zuletzt überreden ihnen, aber allerdings nur auf zwei Tage, die Pläne zu überlassen, und dann das Weitere über den Ankauf mit einer zweiten Deputation der Gesellschaft zu besprechen.

Menzel bezahlte dann das Aufgeld auf ihre Passage im _Meteor_ für siebenundfunfzig Personen und dreizehn Kinder, die sämmtlich aus _einer_ Ortschaft auswandern wollten, und nahm dann auch noch, nach einer kurzen Berathung mit den beiden anderen, die nöthigen Billete auf der Eisenbahn von Neu-York aus, oder machte wenigstens eine Anzahlung darauf, daß sie ihnen der Agent aufbewahrte, da dieser sie versicherte er sei nur noch im Besitz einer sehr kleinen Anzahl, und wisse nicht, wann er gleich wieder andere bekommen würde, während die Anfrage darnach sehr stark wäre.

Außerdem kauften sie sich auch noch ein halbes Dutzend kleine Brochüren, die Herr Weigel, wie er sagte, gerade frisch aus der Druckerei als etwas _ganz Neues_ bekommen hatte — ein Datum stand nicht darauf — und die drei Männer verließen dann wieder, von dem schmunzelnden Agenten bis an die auf den Markt führende Thür begleitet, das Haus.

»Höre Du,« sagte aber Brauhede als sie wieder vor dem Haus und auf der Straße waren, und langsam über den Markt weggingen, »mit dem Landkaufen wollen wir uns doch lieber hier noch nicht einlassen, das ist eine wunderliche Geschichte und will mir nicht recht in den Kopf.«

»Nicht in den Kopf?« rief aber Menzel — »und warum nicht? — der Mann bekommt alle Tage Briefe aus Amerika, warum soll der nicht wissen was dort zu verkaufen ist?«

»Wenn’s aber so gut und billig wäre, brauchten sie’s doch nicht hier herüberzuschicken,« meinte Brauhede kopfschüttelnd.

»Das ist Alles was Du davon verstehst,« sagte Müller, »Amerikaner könnten sie gewiß genug zu Käufern kriegen, aber deutsche Bauern wollen sie, die ihnen zeigen wie man das Land behandeln muß, und darum schicken sie herüber — die sind froh drüben, wenn unsereins hinüber kommt.

»Nun, mag sein,« brummte Brauhede — »aber sicher ist doch sicher, und wenn ich mein Geld hier weggegeben habe, und kann das Land was mein sein soll nachher nicht finden, wie’s dem Niklas seinem Bruder gegangen ist, nachher wäre die Geschichte aber faul.«

»Dem Niklas sein Bruder war aber auch ein Esel,« sagte der Andere, »der sich hier Land von einem herumziehenden Vagabunden gekauft; da sollt’ er nachher wohl suchen. Aber _der_ Mann hier ist in der Stadt ansässig und hat ein Geschäft; was der verkauft das muß gut sein, sonst wär’ er ja gar nicht sicher daß man ihn einmal deshalb beim Kragen kriegte.«

»Ja krieg’ ihn einmal wenn Du drüben in Amerika bist,« sagte Brauhede ruhig — »das ist ein verwünscht weiter und umständlicher Weg und — wenn man sich einmal hat anführen lassen, will man auch nicht gern noch dazu ausgelacht werden.«

»Papperlapapp!« sagte Menzel — »dafür hat Jeder seine Augen daß er sie offen hält, und ehe ich ihm mein gutes Geld gebe, werd’ ich mich schon sicher stellen daß er mir Nichts aufbindet.«

Und die Männer schritten, Jeder von jetzt an mit seinen eigenen Gedanken über die nahe Auswanderung beschäftigt, langsam die Straße hinunter, während in seinem kleinen Bureau, vergnügt die Hände zusammenreibend, Herr Weigel auf und ab spazieren ging, und sich im Geist die nächst zu ziehenden Summen zusammenaddirte, die er in kurzer Zeit, nach eifriger Aussaat, einzuerndten hoffte. Die Geschäfte gingen vortrefflich; Lust zur Auswanderung hatte in der That ein Drittel der sämmtlichen Bevölkerung, und es bedurfte nur manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu etwas zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen gewesen waren.

Herr Weigel war sehr guter Laune; er legte jetzt die Hände auf den Rücken und summte ein leises Lied vor sich hin, seinen Marsch dabei fortsetzend. Aber er sang falsch; er hatte keine Idee von irgend einer Melodie; doch das schadete nichts, er _meinte_ wenigstens eine, und da er selber nicht hörte was er sang, genügte es ihm vollkommen.

Die Thür ging jetzt auf und der Tischler oder Schreiner kam herein, irgend etwas an dem Pult auszubessern — er hatte zweimal angeklopft ohne daß der vergnügte Agent darauf geantwortet hätte.

»Guten Morgen Herr Weigel.«

»Ah guten Morgen Meister — nun kommen Sie endlich? ich hatte schon ein paar Mal nach Ihnen hinübergeschickt — «

»Ja lieber Gott Herr Weigel, ich war gerade drüben beim Herrn Geheimen Rath Bärlich beschäftigt — die Leute sind so eigen wenn man von der Arbeit fort geht — «

»Sehn Sie, hier das Bein möcht’ ich gemacht haben; der Tisch wackelt da immer, und wenn man etwas darunter legt, verschiebt sich das doch jedesmal wieder. Können Sie es mir wohl bis heute Nachmittag in Ordnung bringen?«

»Ja gewiß,« sagte der Mann, »das ist ja nur eine Kleinigkeit.«

»Und wie ist es mit den Auswandererkisten die ich bestellt habe? — werden die bis heute Abend fertig?

»Ja wohl Herr Weigel; sechs habe ich schon in das Gasthaus »Stadt Breslau,« wie Sie mir sagten, abgeliefert.«

»Nun das ist gut, denn der ganze Zug wird noch heute Vormittag ankommen, und will morgen früh wieder fort — es sind doch noch keine Auswanderer heute Morgen hier eingetroffen? — «

»Nicht daß ich gesehen hätte — aber gestern Abend zogen Viele durch.«

»Ja ich weiß — von Hessen herüber — die armen Teufel; denen wird’s einmal wohl drüben werden. Nun wie gehn denn bei Ihnen die Geschäfte jetzt?«

»Ih nu gut, Herr Weigel, ich kann gerade nicht klagen; das Brod wird freilich immer theuerer, aber man schlägt sich so durch — Kinder haben wir nicht, und was verdient wird reicht eben ordentlich aus.«

»Ich begreife nicht,« sagte Herr Weigel da kopfschüttelnd vor dem Mann, der seine Mütze eben wieder aufgegriffen hatte und sich zum Fortgehen anschickte, stehen bleibend — »wie Ihr Leute Euch hier vom Morgen bis Abend plagt und schindet, eben nur das liebe Brod zu verdienen, wo Ihr in ein paar Wochen drüben sein könntet und so viel Dollare für Euere Arbeit bekämt, wie hier Groschen.

»Drüben, wo?«

»Nun in Amerika — «

»Hm, ja,« sagte der Mann, sich nachdenkend das Kinn streichend, und einen leichten Seufzer unterdrückend — »gedacht hab’ ich auch schon ein paar Mal daran, aber — das geht nicht gut und — es ist auch so eine unsichere Sache mit da drüben. Hier weiß ich einmal was ich habe und daß ich auskomme, und wie mir’s da drüben geht weiß ich _nicht_.«

»Aber Freund,« rief Herr Weigel verwundert — »ein Mann der fleißig arbeitet bringt es dort immer zu was. Wetter noch einmal, Meister, Amerika ist gerade der Platz für Euch, wo Ihr Euch rühren und ausbreiten könntet — wenn Ihr dort wäret, ein geschickter Arbeiter wie Ihr! in fünf Jahren hättet Ihr zwanzig Gesellen.«

»Meister Leupold nickte langsam mit dem Kopf, und sah ein paar Secunden still vor sich nieder, als ob das Bild mit der großen Werkstätte und dem regen Treiben sich vor seinem inneren Geist eben auszubreiten beginne, dann aber sagte er, jetzt herzhaft aufseufzend — «

»Und es geht doch nicht, Herr Weigel — ich habe die alte Mutter zu Hause, die ich unmöglich hier allein zurück lassen könnte — «

»Hierlassen? das fehlte auch noch,« rief der Agent — »die nehmt Ihr mit, Mann — könnt Ihr der denn eine größere Freude machen, als wenn sie noch vor ihrem Ende sähe wie wohl es Euch geht auf der Welt, und wie sich Euer Zustand mit jeder Woche, mit jedem Tage fast bessert? — Muß sie hier nicht in Sorge und Kummer leben daß Ihr einmal krank werdet und Nichts verdienen könnt, und wie sieht’s dann aus?«

»Wenn ich aber nun dort drüben krank werde?« sagte der Meister leise.

»Wenn das nur nicht gleich die ersten Monate geschieht und für ein Unglück kann Niemand« — warf dagegen Herr Weigel ein, »so könnt Ihr Euch auch schon so viel gespart haben, das eine Weile mit ruhig anzusehn; und wenn Ihr nicht krank werdet, seid Ihr in ein paar Jahren ein wohlhabender Mann.«

»Es ist eine verwünschte Geschichte mit dem Amerika,« seufzte der Mann wieder, sich hinter dem Ohr kratzend — »man hört so viel davon, und sieht eine solche Masse Menschen hinüberziehen, die alle voller Hoffnung sind daß es ihnen gut geht — und möchte am Ende ebenfalls gern mit — wenn man nur erst so einmal hinübergucken könnte wie es eigentlich aussieht.«

»Dazu ist es ein Bischen zu weit,« meinte Herr Weigel.

»Ja nun eben,« sagte der Tischler — »und so auf’s gerathewohl — «

»Das könnt Ihr aber nicht auf’s gerathewohl nennen, wo wir alle Tage Briefe von drüben herüber bekommen, von denen einer immer besser lautet als der andere. Da — hier liegt gleich einer, der letzte den ich bekommen habe, wo ein Deutscher, den ich selber hinüberbefördert, und dem es jetzt ausgezeichnet gut geht, an mich schreibt, und ein oder zwei gute gelernte Schaafknechte haben will; lesen Sie einmal den Brief.«

Leupold legte seine Mütze wieder hin, nahm den Brief und las ihn aufmerksam durch; er nickte dabei mehrmals mit dem Kopf, und sah dann wieder zu dem Agenten auf, der ihn indessen mit einem triumphirenden Lächeln betrachtet hatte.

»Nun?« frug der Letztere, als Jener das Schreiben beendet und wieder zusammenfaltete — »wie klingt das?«

»_Sehr_ gut« sagte Leupold leise, »aber — es hilft mir doch Nichts. Wenn ich jetzt mein kleines Häuschen, das ich mir mit Mühe und Noth zusammengespart und aufgebaut, auch verkaufen wollte; fände ich erstlich keinen Käufer, und dann bekäm ich auch das nicht dafür wieder, was es mich selber gekostet; wie gesagt, der Sperling in der Hand ist doch wohl besser wie die Taube auf dem Dache.«

»Bah, Taube,« sagte Herr Weigel mürrisch — »wenn die Taube auf dem Dach eben so fest und sicher sitzen bleibt bis man sie holen kann, wie Amerika ruhig liegt, und auf die wartet die hinüber kommen, so ist sie mir lieber wie ein erbärmlicher Sperling, zum Sterben zu viel, und zum Leben zu wenig; aber — überlegt’s Euch — ah da kommt der Briefträger — ’was für mich?«

»Nun guten Morgen Herr Weigel,« sagte der Tischler und wollte sich eben entfernen, während der Briefträger dem Agenten mehrere für ihn gekommene Briefe überreichte.

»Siebzehn Silbergroschen drei Pfennige« sagte er dabei.

»_Siebzehn_ Silbergroschen?« rief Herr Weigel verwundert — »aha da ist ein Amerikaner dabei — halt, wartet noch einmal einen Augenblick Leupold« — da ist vielleicht gleich noch was für uns, und was ganz Neues — wollen gleich einmal sehn was die Leute schreiben. Wahrscheinlich wieder von Jemand den ich hinüber befördert habe, und der sich jetzt bedankt — das kostet aber viel Geld — «

»Apropos Neues,« sagte Leupold, während der Agent den Briefträger bezahlt hatte und seine Papierscheere vom Tisch nahm, den Amerikanischen Brief aufzuschneiden — »haben Sie schon gehört daß gestern Nachmittag bei Herrn Dollinger eingebrochen und für sieben tausend Thaler Gold und Juwelen gestohlen sind?«

»Alle Wetter,« rief Herr Weigel, mit der zum Schnitt ausgehaltenen Scheere in der Hand — »gestern Nachmittag?«

»Am hellen Tage,« bestätigte Leupold.

»Und weiß man nicht wer der Thäter ist?«

»Sie haben den einen Comptoirdiener in Verdacht und auch schon eingezogen,« sagte der Tischler.

»Gewiß den Loßenwerder,« rief Weigel.

»Ich glaube so heißt er — er ist ein wenig verwachsen — «

»Und schielt — derselbe, ich habe den Burschen von jeher nicht leiden können; hat mir auch schon ein paar Mal Kunden abspenstig gemacht, aus reinem Brodneid; ich wüßte wenigstens sonst nicht weshalb, und habe ihn dabei stark in Verdacht, daß er selber damit umgeht eine Agentur für Auswanderer zu errichten. Da könnte Jeder hergelaufen kommen, ohne Briefe, ohne Connexionen und ohne Kenntniß vom Land — schickte nachher die Leute in’s Blaue hinein, daß sie dort säßen und nicht wüßten wo aus noch ein. Na nun, wird ihm das Handwerk wohl gelegt werden; ich gönne nicht gern einem Menschen etwas Uebles, aber bei dem freut mich’s daß sie’s wenigstens herausbekommen haben, und er seine Schurkerei nicht mehr heimlich forttreiben darf. Ist denn das Geld schon wieder gefunden?«

»So viel ich weiß nicht, einige hundert Thaler ausgenommen, von denen aber der Mann betheuert daß er sie sich gespart hätte; es ist übrigens Manches dabei zusammengekommen was ihn verdächtig macht; das Nähere weiß ich freilich nicht.«

»Hm, hm, hm,« sagte Herr Weigel, kopfschüttelnd den Brief, den er noch immer in der Hand hielt, anschneidend — »böse Geschichten — böse Geschichten, was man nicht Alles hört auf der Welt. — Nun wollen wir also einmal sehen was der Herr da aus Amerika schreibt — hm — Washington County, Tennessee den siebenten Januar 18 — alle Wetter der Brief ist lange unterwegs gewesen — Herrn F. G. Weigel in Heilingen, Hauptagent der Central-Auswanderungs- und Colonisations-Gesellschaft in Deutschland — ahem — Sie nichtsw — hm — Sie haben — hm — vor allen Dingen — hm — hm — hm — hm« — Herrn Weigels Gesicht verlängerte sich immer mehr, je weiter er in seiner, wie es schien nicht eben angenehmen Lectüre vorrückte, aber er brach mit dem Lautlesen des Inhalts, dessen Einleitung unerwarteter Weise höchst derber Art war, schon gleich nach den ersten Sylben ab, und murmelte, das Ganze nur flüchtig überfliegend, blos einzelne unzusammenhängende Worte, aus denen Leupold Nichts herausfinden konnte, vor sich hin.

»Nun, was schreiben sie?« sagte dieser endlich lächelnd; er wäre schon lange gegangen, wenn ihn Weigel nicht eben zurückgehalten hätte — »gute Neuigkeiten?«

»Bah!« sagte Herr Weigel, den Brief zurück auf seinen Schreibtisch werfend — »Jemand der seine Geschwister will hinübergeschickt haben und mich ersucht das Geld für ihn auszulegen. Da müßt’ ich schöne Capitale herumstehn haben, wenn ich allen Leuten umsonst wollte die Familie nachschicken. Nachher sitzt der mitten im Land drin, und ich kann ihn dann suchen.«

»Ne, das ist ein Bischen viel verlangt,« sagte der Meister, wieder nach der Klinke greifend — und dießmal hielt ihn Herr Weigel nicht zurück — »aber nun leben Sie auch recht wohl, und verlaßen Sie sich darauf ich besorge Ihnen das heute noch.«

»Sein Sie so gut,« sagte der Agent — er war auf einmal ganz einsylbig geworden, und Meister Leupold verließ mit nochmaligem Gruß das Zimmer, in dem jetzt Herr Weigel mit in die Tasche geschobenen Händen, aber keineswegs mehr so guter Laune als vorher, raschen, heftigen Schrittes auf und ab ging.

»Und vierzehn Groschen bezahlt für den Wisch — es ist eine Frechheit wahrhaftig, die in’s Bodenlose geht. Lumpengesindel! glaubt die gebratenen Tauben sollen ihm da in’s Maul fliegen, so bald sie’s nur aufsperren.« Und wieder riß er den Brief vom Pult, rückte sich die Brille zurecht, und las mit halblauter, aber heftiger Stimme den Inhalt noch einmal, und zwar aufmerksamer durch als vorher.

»Sie nichtswürdiger Hallunke« — wenn ich Dich nur hier hätte mein Bursche, dafür solltest Du mir brummen — »schändlich betrogen und angeführt« — wozu hat Dir denn der liebe Gott die großen Glotzaugen gegeben, wenn Du sie nicht aufsperren willst — »Land eine Wüste« — na versteht sich, ein Gewächshaus hab’ ich ihm nicht verkauft — »Hälfte gar nicht zu bekommen« — Holzkopf — »kein Mensch wollte die Billete nehmen« — bah, geschieht Dir recht — »Wohngebäude zu schlecht für einen Hund« — für Dich noch immer viel zu gut, mein Schatz — »wenn Sie nur einmal herüber kämen, Sie miserabeler« — bah« — unterbrach sich Herr Weigel in dieser nichts weniger als schmeichelhaften Lectüre, indem er den Brief in zwei Hälften riß, und sich dann ein Streichhölzchen mit einem Gewaltstrich an der Thür entzündete »so viel für den Wisch!« und das Papier anbrennend, warf er das auflodernde in den Ofen, und schloß die Klappe so heftig er konnte.

Allerdings wollte er sich nun über den Brief hinwegsetzen, aber geärgert hatte er sich doch, und Rock und Stiefeln anziehend drückte er sich seinen Hut in die Stirn, griff seinen Stock aus der Ecke, und verließ sein Bureau, das er sorgfältig hinter sich abschloß, und eine kleine Pappe mitten an die Thür hing, auf der die Worte standen.

»Kommt um elf Uhr wieder.«

 

 


Capitel 6.

DIE WEBERFAMILIE.

Nicht weit von Heilingen, und in Hörweite der Domglocke selbst, in ziemlich bergigem, aber unendlich malerischem Land, lag ein kleines armes Dorf, dessen Bewohner, da ihre Felder gerade nicht zu den besten gehörten, sich kümmerlich, aber meist ehrlich, mit verschiedenen Handwerken und Gewerben, mit Holzschnitzen wie auch hie und da mit dem Webstuhl, ernährten. Das Dorf hieß eigentlich »Zur Stelle«, welchen Namen aber die Bewohner im Laufe der Zeit, und mit Hülfe ihres Dialekts, zu dem von _Zurschtel_ umgearbeitet hatten, und mochte etwa dreißig Häuser und Hütten, mit der doppelten Anzahl von Familien, wie der sechsfachen von Kindern zählen. Es ist eine wunderliche Thatsache, daß man in den ärmlichsten Distrikten stets die meisten Kinder findet.

Mitten im Dorf lag eins der besseren Häuser; es war weiß getüncht, und hinter den sauber gehaltenen Fenstern hingen weiße, reinliche Gardinen. Vor dem Hause, über dessen Thüre ein frommer Spruch mit rothen und grünen Buchstaben angeschrieben war, stand ein Brunnen- und Röhrtrog, und ein kleiner Koven an der Seite desselben, zeigte in der nach außen befestigten Klappe des Futterkastens dann und wann den schmuzigen Rüssel eines seine Kartoffelschalen kauenden Schweines. Auch ein ordentlich gehaltenes Staket umgab das Haus wie den kleinen Hofraum, und die Wohnung stach sehr zu ihrem Vortheil gegen manche der Nachbarhäuser ab.

Im Inneren selber sah es ebenfalls sehr reinlich, aber nichtsdestoweniger sehr ärmlich aus. In der einen Ecke stand ein großer, viereckiger, sauber gescheuerter Tisch aus Tannenholz, an zweien der Wände waren Bänke aus dem nämlichen Material befestigt, und um den großen viereckigen Kachelofen, der fast den achten Theil der Stube einnahm, hingen verschiedene Kochgeräthschaften, während auf darüber angebrachten Regalen die braunen Kaffeekannen und geblümten Tassen gewissermaßen mit als Zierrath zur Schau ausstanden. Die dritte Ecke füllte der Webstuhl des Mannes aus, und dem gegenüber stand eine riesengroße, braunangestrichene Kommode, mit Messinghenkeln und Griffen und fünf Schiebladen, die, mit wirklich rührender Eitelkeit als eine Art von Nipptisch benutzt, zwei mit bunten Blumen bemalte Henkelgläser, eine vergoldete Tasse mit der Aufschrift »der guten Mutter« — ein Geschenk aus früherer Zeit — und ein gelb irdenes aber allerdings sehr wenig benutztes Dintenfaß trug, während dahinter, in zwei ordinairen Stangengläsern, in dem einen Schilfblüthenbüschel, und in dem anderen große stattliche Aehren von Roggen, Waizen, Gerste und Hafer standen, zur Erinnerung an eine frühere segensreiche Erndte.

Die Bewohner der kleinen Stube paßten genau in ihre Umgebung; es war eine, nicht mehr ganz junge aber doch rüstige Frau, in die nicht unschöne Bauertracht der dortigen Gegend gekleidet, die an ihrem Spinnrad saß und eifrig das Rädchen schnurren ließ, während die rechte Hand manchmal eine neben ihr stehende Wiege berührte, den darin ruhenden kleinen Säugling, der immer wieder die großen dunklen Augen zu ihr aufschlug, endlich in Schlaf zu bringen. Sie war reinlich, aber in die gröbsten Stoffe gekleidet, ebenso der Bube von etwa vier Jahren, der ihr zu Füßen mit einer kleinen Mulde auf dem über die Diele gestreuten Sand »Schiff« spielte.

Außerdem war noch eine vierte Person im Zimmer, die alte Mutter der Frau, eine Greisin von nahe an siebzig Jahren, die auch noch ihr Spinnrad drehte, sich aber mit dem hinter den noch warmen Ofen gesetzt hatte, weil ihr das heutige naßkalte, unfreundliche Wetter fröstelnd durch die alten Glieder zog. Es war eine gutmüthige, aber mürrische alte Frau, selten zufrieden mit dem was sich ihr gerade bot, und unermüdlich darin, sich und ihren Kindern die Last vorzuwerfen die sie ihnen mache, und den lieben Gott täglich zu bitten daß er sie doch bald zu sich nähme. Nur eine kleine, ganz kurze Frist erbat sie sich immer noch — dann wollte sie gerne sterben. Erst; wie das Aelteste geboren war, wollte sie das noch gerne laufen sehn; dann hätte sie gern erlebt wie es zum ersten Mal in die Schule ging; dann war es Frühjahr geworden und sie hoffte nur noch einmal neue Kartoffeln zu essen, zu Jacobi aber wollte sie noch einmal von dem Pflaumenbaum die Früchte kosten, den ihr »Seliger« noch gepflanzt. Wie der Herbst kam wünschte sie im Frühjahr begraben zu werden, und die knospenden Maiblumen weckten den Wunsch nach den Astern, ihrer Lieblingsblume, von denen sie sich eigenhändig ein schmales Beet in den kleinen Garten dicht am Hause gepflanzt. So lebt und webt die Hoffnung in unseren Herzen mit immer neuer, nie sterbender Kraft, und je älter wir werden, desto mehr lernen wir die schöne Erde lieb gewinnen, desto mehr klammern wir uns an sie, und wollen uns gar nicht mehr von ihr trennen.

Der Tag neigte sich dem Abend zu; der Mann war in die Stadt gegangen seine Steuern zu zahlen, und Manches einzukaufen was sie nothwendig im Hause brauchten — zum Ersatz dafür hatte er das zweite Schwein, das sie bis dahin gehalten, hineingetrieben, und der Erlös sollte seine Ausgaben bestreiten.

Der Regen wurde jetzt wieder heftiger, die großen schweren Tropfen schlugen gegen das Fenster, und das Kind wurde vollständig munter und fing an zu schreien. Die Mutter schob ihr Spinnrad zurück, nahm das Kleine aus der Wiege, und ging damit trällernd im Zimmer auf und ab. Die Alte spann indeß ruhig weiter, und suchte mit zitternder leiser Stimme ein geistliches Lied zu singen, und mit dem Rad trat sie den Takt dazu. Sonst sprach keine ein Wort.

Endlich wurde die Hausthür geöffnet, Jemand kam von draußen herein, und strich sich die Füße auf den Steinen und der Strohdecke ab, und sie hörten gleich darauf wie der zurückkehrende Vater und Gatte seinen großen rothblauwollenen Schirm auf die Steine stieß, das Wasser so viel wie möglich davon abzuschütteln, und den Mantel auszog und über den großen Schleifstein hing der draußen im Flur stand, wie er das gewöhnlich that. Die Frau öffnete rasch die Thür den Mann zu begrüßen, der den Hut abnahm, sich die nassen Haare aus der Stirn strich, und das Kind küßte, das sie ihm entgegenhielt.

»Jesus ist das ein Wetter, Gottlieb,« sagte sie dabei, als sie ihm den Hut aus der Hand nahm und neben den Ofen an den Nagel hing, »komm nur herein, daß Du ’was Trockenes auf den Leib bekommst; wo hast Du denn den Jungen? — ist er nicht bei Dir?« setzte sie, fast ängstlich, hinzu.

»Er ist draußen bei Lehmann’s hineingegangen, denen wir ein paar Sachen aus der Stadt mitgebracht,« sagte der Mann — »wird wohl gleich kommen — wie geht’s Frau? — wie geht’s Mutter? — ha, das regnet einmal heute was vom Himmel herunter will; was nur d’raus werden soll wenn das Wetter so fort bleibt. Ein paar gute trockene Tage haben wir gehabt, und jetzt wieder Guß auf Guß — Guß auf Guß, als ob sie uns unsere paar Stücken Feld noch hinunter in die Wiesen waschen wollten. Von dem einen Acker ist die Saat schon halb fortgespült — wenn dasmal das Korn misräth, weiß ich nicht wo der arme Mann das Brod hernehmen soll.«

»Klag nicht, Gottlieb,« sagte aber die Frau freundlich — »es geht noch Vielen schlechter wie uns, und was sollen da die _ganz_ armen Leute sagen. Lieber Gott, es ist viel Noth in der Welt, und wer heut zu Tage eben sein Auskommen und ein Dach über dem Kopf hat und gesund ist, sollte sich nicht versündigen.«

Sie hatte dabei das Kind auf die Erde gesetzt, holte den Topf aus der Röhre, in der, trotz der vorgerückten Jahreszeit, noch ein Feuer brannte, der alten, fröstelnden Mutter wegen, und goß den darin heiß gehaltenen Kaffee — sie nannten das braune Getränk von gebrannten gelben Rüben und Gerste wenigstens so — in die eine braune Kanne, damit sich der Mann, der den ganzen Tag draußen im Regen herumgezogen war, daran erquicken könne. Zugleich auch deckte sie ein weißes Tuch über den Tisch, auf den sie noch Butter und Brod stellte, die versäumte Mittagsmahlzeit wenigstens in etwas nachzuholen. Der Mann setzte sich an den Tisch, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, in den ihm die Frau die Milch goß, und schnitt sich ein großes Stück Brod ab, das er mit Butter bestrich und verzehrte. Er sprach kein Wort dabei, und beendete still seine Mahlzeit, schob dann die Tasse und den Butterteller zurück, nahm das Kleinste, das die Mutter zu ihm auf die Erde gesetzt hatte, herauf auf sein linkes Knie, blieb, den rechten Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf gegen die Wand gelehnt, regungslos sitzen, und schaute still und schweigend nach dem Fenster hinüber, an das die Regentropfen immer noch, vom Wind draußen gepeitscht, hohl und heftig anschlugen.

Die Frau hatte ihn eine ganze Zeit lang mit scheuem Blick betrachtet; es war irgend etwas vorgefallen, aber sie wagte nicht zu fragen, denn Gottlieb, so seelensgut er auch sonst sein mochte, hatte doch auch seine »verdrießlichen Stunden« und war dann, wenn gestört, oft rauh und unfreundlich; aber eine eigene Angst überkam sie plötzlich. Ihr ältester Sohn — der Hans — war nicht mit zu Hause gekommen — konnte dem — heiliger Gott, wie ein Stich traf es sie in’s Herz und sie sprang erschreckt von ihrem Stuhl auf und auf den Mann zu.

»Gottlieb — um aller Heiligen Willen wo ist der Hans? — es ist — es ist ihm doch nicht etwa ein Unglück geschehn?«

»Der Hans?« sagte der Mann aber ruhig und sah erstaunt zu ihr auf, »was fällt Dir denn ein? was soll denn dem Hans zugestoßen sein? ich habe Dir ja gesagt daß er bei Lehmann’s etwas abgegeben hat, und dort wahrscheinlich das Wetter abwarten wird.«

»Ich weiß nicht,« sagte die Frau, der dadurch allerdings eine Centnerlast von der Seele gewälzt wurde — »aber Du bist so sonderbar heut Abend, so still und ernst, und da schlugs mir wie ein Schreck in die Glieder, über den Hans. Ist etwas vorgefallen Gottlieb? — «

Gottlieb schüttelte den Kopf langsam und sagte. — »Nicht daß ich wüßte — nichts Besonderes wenigstens, oder nichts Anderes, als was jetzt alle Tage vorfällt — Geld zahlen.«

»War es denn so viel?« sagte die Frau leise und schüchtern.

Der Mann schwieg einen Augenblick und sah still vor sich nieder; endlich erwiederte er seufzend:

»Das Schwein ist d’rauf gegangen, und vier Thaler Siebzehn Groschen sind immer noch mit Gerichtskosten und der alten Proceßgeschichte mit der Brückenplanke, mit der ich eigentlich gar Nichts mehr zu thun hatte, stehen geblieben, und ich muß sie bis zum ersten Juli nachzahlen, unter Androhung von Pfändung.«

»Nun lieber Gott,« sagte die Frau tröstend — »wenn das das Schlimmste ist, läßt sich’s noch ertragen; da verkaufen wir eben das andere Schwein und behelfen uns so. Wie wenig Leute im Dorf haben überhaupt eins zu schlachten, und leben doch; warum sollen wir nicht eben so gut ohne eins leben können als die.«

»Ja,« sagte der Mann leise und still vor sich hin brütend — »verkaufen und immer nur verkaufen, ein Stück nach dem anderen, und während wo anders die Leute mit jedem Jahr ihr kleines Besitzthum vergrößern, und für ihre Kinder etwas zurücklegen können, sieht man es hier mehr und mehr zusammenschmelzen, unter Müh und Plack das ganze Jahr lang.«

»Aber kannst Du’s ändern?« sagte die Frau leise und fuhr, wie der Mann schwieg und mit der Faust die Stirn stützend vor sich nieder starrte, schüchtern fort — »arbeitest Du nicht von früh bis spät fleißig und unverdrossen? gönnst Du Dir eine Zeit der Ruhe, wo Dich irgend eine nöthige Beschäftigung ruft, und haben wir uns etwa das Geringste vorzuwerfen?«

»Nein,« sagte der Mann, während er die Hand auf den Tisch sinken ließ und die Frau voll und fest ansah — »nein, aber das ist es ja eben, was mir am Leben frißt. Wir können nicht mehr arbeiten, nicht mehr verdienen wie wir jetzt thun, und jetzt sind wir noch jung und kräftig, unsere Kinder noch klein und gesund, und dennoch geht es mit jedem Jahr zurück, wird es mit jedem Jahr schlechter und schlimmer. Wie nun soll das werden, wenn uns erst einmal Krankheit heimsuchte, wenn die Kinder heranwachsen und mehr brauchen, wenn wir selber älter werden und nicht mehr so zugreifen können wie jetzt? — Schon jetzt können wir uns nicht mehr in der theueren Zeit oben halten — das eine Schwein ist verkauft, das andere wird noch fort müssen; unser Acker ist kleiner geworden in den letzten zehn Jahren, unsere Bedürfnisse aber sind gewachsen — wie soll das enden?«

»Aber Gottlieb,« sagte die Frau freundlich — »wie kommen Dir jetzt doch nur solche Grillen? haben Dir die paar Thaler Steuern den Kopf verdreht? Mann, Mann, Du bist doch sonst so ruhig, und hast immer vertrauungsvoll in die Zukunft gesehn, wie sind Dir auf einmal solche schwarze Gedanken durch den Sinn gefahren?«

Die alte Mutter hatte, schon so lange wie die Beiden mit einander gesprochen, ihr Spinnrad ruhen lassen, und dem Gespräch aufmerksam zugehört; dabei schüttelte sie fortwährend mit dem Kopf, und sagte endlich mit ihrer schrillen, scharf klingenden Stimme:

»Ja wohl, ja wohl — das Geld wird rar und das Brod theuer, und mehr Mäuler kommen — mehr Mäuler sind da zum Verzehren, wie zum Verdienen. Schlagt mich todt; schlagt mich todt daß ich weg komme aus dem Weg und Euch Platz mache — schlagt mich todt.«

»Mutter,« bat die Frau, in Todesangst daß sie dem Manne mit solcher Rede wehe thun würde, denn _er_ gerade hatte sie immer auf das Freundlichste behandelt, und Alles gethan was in seinen Kräften stand, ihr jede Erleichterung, die ihr Alter bedurfte, zu verschaffen — »wie dürft Ihr nur so etwas reden; versündigt Ihr Euch denn nicht?«

»Wir haben noch genug für uns Alle Mutter,« sagte aber der Mann freundlich, der ihre Launen kannte und der alten Frau nicht wehe thun mochte — »nur für spätere Zeit ist mir bange; Sie aber wären die Letzte die darunter leiden sollte. Wir werden Alle alt, und wenn wir unsere Schuldigkeit in unserer Jugend gethan, wie Sie, dann ist es nicht mehr wie Pflicht und Schuldigkeit der Jüngeren für ihre Eltern zu sorgen — wenn sie nicht auch einmal wieder von ihren Kindern wollen verlassen werden.«

Die Alte war wieder still geworden, sah noch eine Zeit lang vor sich nieder, und begann dann auf’s Neue ihre Arbeit, aber die Frau fuhr fort und sagte, fast mit einem leisen Vorwurf im Ton zu ihrem Mann.

»Siehst Du Gottlieb, das hast Du nun davon mit Deinen trüben und traurigen Ideen; Du machst Dir und mir und der Mutter nur das Herz schwer, und nützest und hilfst doch Nichts. Der liebe Herr Gott da oben wird’s schon machen und lenken; Er hat die Welt so viele Jahrhunderte hindurch in ihrer Bahn gehalten, und die Menschen darauf geschirmt und gepflegt, wie unser Herr Pastor sagt, Er wird’s auch schon weiter thun, und wir dürfen uns eigentlich gar nicht sorgen und kümmern um den »nächsten Tag.«

»Doch, doch Frau,« sagte aber der Mann, aufstehend und jetzt, die Hände in den Hosentaschen, in der Stube auf und ab gehend — »doch Frau, der Mann _muß_, denn wenn er’s _nicht_ thäte, wär er ein schlechter Hausvater, und ihm allein fielen dann all die schweren Folgen zur Last, die daraus entständen. Ich kann Dir das nicht so mit Worten deutlich machen, wie mir’s neulich der Schulmeister, mit dem ich darüber sprach, erklärte, aber der meinte es wäre etwa so wie wenn Einer im Wasser wäre. Da sei es auch nicht genug daß man sich oben hielte an der Luft, und im Kreis herum schwämme eben nur nicht zu ertrinken, das thäte nicht einmal ein unvernünftiges Stück Vieh; nein des Menschen, des verständigen Menschen Pflicht sei es sich schon im Wasser nach dem festen Lande umzusehn, ob man das nirgends erreichen könne, denn zuletzt würde man da im Wasser, man möchte noch so tapfer schwimmen, doch müde, und ließen erst einmal die Kräfte nach, dann hülfe auch zuletzt das Schwimmen Nichts mehr, und man sänke eben langsam zu Boden.«

»Ich verstehe nicht recht was Du damit meinst,« sagte die Frau, »aber Du siehst mich so sonderbar dabei an — hast Du noch ’was anderes dahinter?«

»Nein und Ja,« sagte der Mann nach kleiner Pause, indem er sich mit dem Rücken an den Ofen lehnte, und langsam dazu mit dem Kopfe nickte, »eigentlich nicht, denn Gott da oben weiß daß es wahr ist, und weiß wie, und ob’s einmal enden kann; aber dann — dann hab’ ich allerdings noch was dahinter, denn ich meine — ich meine — « er schwieg und es war augenscheinlich, er hatte etwas auf dem Herzen, das er sich scheue so mit blanken klaren Worten heraus zu sagen, die Frau aber, die eben damit beschäftigt war das Geschirr hinaus zu räumen, setzte die Kanne wieder auf den Tisch, sah den Mann erstaunt an, ging dann langsam zu ihm an den Ofen und sagte leise, vor ihm stehen bleibend:

»Geh her, Gottlieb — Du hast ’was, was Dich drückt und willst nicht mit der Sprache heraus — es ist irgend noch etwas vorgefallen in der Stadt, was Du nicht sagen magst. Du darfst doch nicht _sitzen_?«

»_Sitzen_? — weshalb?« lächelte der Mann kopfschüttelnd — »ich habe nie etwas Böses gethan.«

»Nun was ist’s denn, so sprich doch nur, denn Du ängstigst mich ja mehr mit Deinem Schweigen, als wenn Du mir das Schlimmste gleich vornheraus erzählst — dem Hans fehlt doch Nichts?«

»Was soll dem Hans fehlen, närrische Frau — wenn’s aufhört zu gießen wird er schon kommen.«

»Und was ist’s denn? — gelt, Du sagst mir’s?«

»Ich muß Dir’s wohl sagen;« seufzte der Mann, »nun sieh Hanne, ich meine — ich habe so darüber nachgedacht, daß es jetzt hier in Deutschland immer schlechter wird mit uns — und daß wir’s zu Nichts mehr bringen können, trotz aller Arbeit, trotz allem Fleiß, und daß jetzt — daß jetzt doch so viele Menschen hinüber ziehen — «

»Hinüber ziehen?« frug die Frau erstaunt, fast erschreckt, und legte die Hand fest auf’s Herz, als ob sie die aufsteigende Angst und Ahnung über etwas Großes, Schreckliches da hinunter und zurückdrücken wolle, eh sie zu Tage käme — »wo hinüber Gottlieb?«

»Nach Amerika;« sagte der Mann leise — so leise daß sie das Wort wohl nicht einmal verstand, und nur an der Bewegung der Lippen es sah und errieth. Wie ein Schlag aber traf sie die Wirklichkeit ihres Verdachts, und ohne ein Wort zu erwiedern, ohne eine Sylbe weiter zu sagen, setzte sie sich auf den, dicht am Ofen stehenden Stuhl, deckte ihr Gesicht mit der Schürze zu und saß eine lange, lange Weile still und regungslos. Auch der Mann wagte nicht zu sprechen — er hatte den Gedanken wohl schon eine Zeit lang mit sich herumgetragen, aber sich immer davor gefürchtet ihm Worte zu geben, sogar gegen sich selbst, wie viel weniger denn gegen die Frau. Jetzt war es heraus, und er betrachtete nur scheu die Wirkung die er hervorgebracht.

Auch die alte Mutter saß, mit der Hand auf dem Rad das sie im Drehen aufgehalten, und horchte nach den Beiden hinüber, was sie mitsammen hatten, und wie die so still waren und kein Wort mehr sprachen, mochte es ihr auch unheimlich vorkommen und sie sagte laut und mürrisch:

»Nun Gottlieb was giebt’s — was hast wieder Du mit der Hanne — was habt Ihr denn daß Ihr so still und heimlich thut — macht Einem nicht auch noch Angst unnützer Weise — was ist nun wieder los?«

»Ja Mutter,« sagte der Mann jetzt, der sich gewaltsam Muth faßte über das, was nun doch nicht länger mehr verschwiegen bleiben konnte und besprochen werden _mußte_, auch laut zu reden, daß er’s vom Herzen herunter bekam — »es geht mit uns hier den Krebsgang, und ich habe eben zu Hannen gesagt daß uns zuletzt nichts anderes übrig bleiben würde als — als es eben auch wie andere zu machen, und — «

»Und? — und was zu machen?« frug die alte Frau gespannt —

»Als _auszuwandern_,« sagte der Mann mit einem plötzlichen Ruck und seufzte dann tief auf, als ob er selber froh wäre es los zu sein.

»Herr Du meine Güte!« rief die alte Frau, ließ die Hände erschreckt in den Schooß sinken und lehnte sich in ihren Stuhl zurück, während ihr alle Glieder am Leibe flogen — »Herr Du meine Güte!« wiederholte sie noch einmal, und die Finger falteten sich unwillkürlich zusammen, so hatte sie der Schreck getroffen.

»Auswandern,« sagte aber auch jetzt Gottliebs Frau mit tonloser Stimme, und ließ die Schürze vom Gesicht herunterfallen — »auswandern, das ist ein schweres — schweres Wort Gottlieb — hast Du Dir das auch recht — recht reiflich überlegt?«

»Tag und Nacht die ganze letzte Woche hindurch,« rief aber der Mann, der jetzt, da das Eis einmal gebrochen war, wieder Leben und Wärme gewann. »Wie ein Mühlstein hat’s mir auf der Seele gelegen, und ich habe lange und tapfer dagegen angekämpft, aber es wäre das Beste für uns, was wir auf der weiten Gotteswelt thun könnten; und wenn auch nicht einmal für uns, wenn wir selber auch schwere und bittere Zeiten durchzumachen hätten, doch für die Kinder, die einmal den Segen erndten, den wir mit unserem Schweiß, unseren Thränen gesäet.«

»Auswandern? ja,« sagte aber jetzt die Großmutter, mit dem Kopfe nickend und schüttelnd, als ob sie den schrecklichen Gedanken wieder von sich abwerfen wollte — »ja wohin es euch lüstet, aber erst wenn ich todt bin. Die paar Tage müßt Ihr noch hier bleiben die ich noch zu leben habe, oder sonst schlagt mich todt, werft mich in’s Wasser, oder schlagt mich mit dem Beil auf den Kopf daß ich fortkomme, und hier auf dem Kirchhof unter der alten Linde liegen kann, wo der Leberecht liegt. In der Welt könnt Ihr mich doch nicht mehr umherschleppen, und nutz bin ich auch Nichts mehr, wie das mit zu verzehren was andere verdienen. Wenn Ihr jetzt fort wollt schlagt mich vorher todt.«

»Ach Mutter wenn Sie nur nicht gar so häßlich reden wollten,« sagte die Frau traurig, während der Mann wieder zum Tisch ging, sich dort auf den Stuhl setzte, und den Kopf in die Hand stützte — »Sie sind noch wohl und rüstig und werden, will’s Gott, noch manches Jahr leben und sich Ihrer Kinder freuen. Wo die dann hin ziehen und sich ihr Brod suchen müssen, da gehören Sie auch hin, und was die verdienen, das haben Sie auch verdient mit Mühe und Noth und banger Sorge schon vor langen Jahren, wie wir noch klein und unbehülflich waren, wie unsere Kinder jetzt.«

»Wozu mich mitnehmen,« sagte aber die Frau, störrisch dabei mit dem Oberkörper herüber und hinüber schwankend, »unterwegs müßtet Ihr mich doch aus dem großen Schiff hinaus in’s Wasser werfen, die Fische zu füttern. Bleibe im Lande und nähre Dich redlich, das ist _mein_ Spruch und meines Leberecht Spruch von alter Zeit her gewesen, und wir haben uns wohl dabei befunden, aber das junge Volk jetzt will immer alles anders haben, will oben zur Decke ’naus und fliegen und schwimmen, anstatt hübsch auf der Erde und im alten Gleis zu bleiben. Warum ist’s denn früher gegangen? — nein Gott bewahre, jetzt soll Alles mit Eisenbahnen und Dampf gehen und keine Geduld, keine Ausdauer mehr; nur fort, immer gleich fort, in die Welt hinein und mit dem Kopf gegen die Wand — schlagt mich todt, dann seid Ihr mich los und könnt hingehn wohin Ihr wollt.«

Und die alte Mutter stand auf, rückte ihr Spinnrad bei Seite, und humpelte, noch immer vor sich hin murmelnd und grollend, aus der Stube hinaus.

»Sie meint es nicht so bös, Gottlieb,« sagte die Frau zu dem Mann tretend und ihre Hand auf seine Schulter legend, »es ist eine alte Frau die an ihrer Heimath mit ganzem Herzen hängt und sich vor der Reise fürchtet.«

»Und Du nicht, Hanne?« rief der Mann sich rasch nach ihr umdrehend, und ihre Hand ergreifend — »Du nicht? Du würdest Dich dazu entschließen können unsere Heimath hier, unser Häuschen, unser Feld zu verlassen, und mit mir und den Kindern über das weite Meer zu fahren, in eine fremde Welt?«

Die Frau schwieg und ihre Hand zitterte in der des Mannes — endlich sagte sie leise — »So weit fort? — und muß es denn sein, ist es denn gar nicht möglich mehr, daß wir hier gut und ehrlich durchkommen durch die Welt, wenn wir uns auch ein Bischen knapper einrichten wie bisher? Ach Gottlieb, es ist gar hart so von zu Hause fortzugehn, die Thür zuzuschließen und zu denken daß man nun nie und nimmer wieder dahin zurückkommt — «

Der Mann nickte traurig mit dem Kopf und sagte endlich:

»Du hast recht Hanne; es ist ein schwerer, recht schwerer Schritt, und man sollte ihn sich wohl vorher überlegen ehe man ihn thut, denn zurück kann man nicht wieder, wenn man nicht wenigstens Alles opfern will, was Einem bis dahin noch zu eigen gehört hat. Thun wir aber recht nur allein an uns zu denken? — Sieh, wir schleppen uns vielleicht noch wenn auch kümmerlich, doch ehrlich, durch, bis wir einmal sterben, und wenn es auch hart ist, daß es Einem nachher im Alter schlechter gehn soll wie in der Jugend, brauchten wir doch gerade keine Furcht zu haben daß wir verhungerten; aber die Kinder — die Kinder — was wird aus denen? Unser kleines Grundstück ist die Jahre über kleiner und kleiner geworden; mit dem Geschäft geht’s auch kümmerlicher wie bisher — neue, geschicktere Arbeiter, junge Burschen die noch keine Familie haben und weniger brauchen, sitzen in den Dörfern herum, und die Fabriken und Maschinen geben uns ohnedies den Todesstoß. Stahl und Holz braucht Nichts zu essen und arbeitet unermüdet Tag und Nacht durch, und die Räder und Walzen und Hämmer klopfen und drehen und schwingen ununterbrochen fort gegen den Schweiß des armen Arbeiters der darüber zu Grunde geht. Ich murre auch nicht darüber, es muß wohl schon so recht sein, denn Gott hat’s den Menschen selber gelehrt und die Welt muß vorwärts gehn — wir älteren Leute können uns aber eben nicht mehr darein schicken, können nichts Anderes mehr ergreifen, und wieder von vorne anfangen, wenigstens hier im Lande nicht wo Einem die Hände nach allen Seiten hin gebunden sind, und darum ist mir der Gedanke gekommen auszuwandern. Da drüben über dem Weltmeere hat der liebe Herr Gott noch einen großen gewaltigen Fleck Erde liegen, für uns arme Leute bestimmt, den Maschinen und Räderwerken zu entgehn; dort haben wir Platz uns zu bewegen, und wer nur da ordentlich arbeiten will hat nicht allein zu leben, sondern kann auch vielleicht für sich und die Kinder was vorwärts bringen und braucht sich nicht mehr vor der Zukunft zu fürchten und vor Hunger und Noth. Wenn wir nicht auswandern, was bleibt unsern Kindern da einmal anders übrig, als in Dienst zu gehn und sich bei fremden Leuten doch herumzuschlagen ihr Lebelang.«

»Und die Mutter?« sagte die Frau, sich ängstlich nach der Thüre umsehend — »was würde aus der alten Frau auf dem Meere?«

»Was aus so vielen alten Frauen da wird, liebes Herz,« sagte aber der Mann, augenscheinlich mit froherem, freudigeren Herzen, als er bei dem eigenen Weib nicht den Widerstand fand, den er vielleicht gefürchtet — »sie gewöhnen sich an das neue Leben, sobald sie das alte nicht mehr um sich sehen, und die Seeluft soll kräftigen und stärken.«

»Aber sie wird nicht mit uns wollen.«

»Sie wird ihre Kinder nicht verlassen,« tröstete sie der Mann, »und ohne sie dürften wir ja auch gar nicht fort.«

Die Frau reichte ihm schweigend die Hand, die er herzlich drückte, und wandte sich dann, und wollte eben das Zimmer verlassen, als draußen Jemand die Thür aufriß und in das Haus trat. Das Unwetter hatte jetzt seinen höchsten Grad erreicht, und der Regen schlug in ordentlichen Güssen gegen die Fenster an, während der Wind die Wipfel der Bäume herüber und hinüber schüttelte und die Blüthen von den Zweigen riß mit rauher Hand.

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»Schönen Gruß mit einander,« sagte dabei eine rauhe Stimme, während die Stubenthür halb geöffnet wurde — »darf man hinein kommen?«

»Gott grüß Euch,« sagte die Frau — »kommt nur herein, bei dem Wetter ist’s bös draußen sein — es tobt ja, als ob der letzte Tag hereinbrechen sollte.«

Der Fremde hing seinen Hut und Mantel draußen ab und trat mit nochmaligem Gruß in die Stube.

»Gott grüß Euch,« sagte auch Gottlieb — »da, nehmt Euch einen Stuhl und setzt Euch zum Ofen; es ist heut unfreundlich draußen, und man kann ein Bischen Feuer brauchen.«

»Sauwetter verdammtes,« fluchte der Mann, als er der Einladung Folge geleitet und sich die nassen Haare aus der Stirne strich — »ich wollte erst sehen daß ich die Schenke erreichte; hier um die Ecke herum kam der Wind aber so gepfiffen daß er mich bald von den Füßen hob, und es war gerade als ob sie Einem von da oben einen Eimer voll Wasser nach dem andern entgegen gossen. Schönes Wetter für Enten, aber für keine Menschen.«

Es war eine rauhe, kräftige Gestalt, der Mann, mit krausem dicken schwarzen Bart und ein paar tiefliegenden unstäten Augen, in einen groben braunen Tuchrock gekleidet, wie ihn die Fleischer nicht selten auf dem Lande tragen. Die ebenfalls braunen Hosen hatte er dabei heraufgekrempelt, bis fast unter das Knie, mit seinen derben Wasserstiefeln besser durch alle Pfützen und Schlammwege hindurch zu können; die aus ungeborenem Kalbfell gemachte Weste war ihm bis an den Hals hinauf zugeknöpft, und eine lange silberne Kette, an der die in der Westentasche steckende Uhr befindlich war, hing ihm darüber hin.

»Ihr seid wohl weit von hier zu Haus?« frug Gottlieb nach einer längeren Pause, in der er den Mann und dessen Aeußeres flüchtig nur betrachtet hatte — »hab’ Euch wenigstens noch nicht hier bei uns gesehen.«

»Zehn Stunden etwa,« sagte der Fremde, seine Pfeife jetzt aus der Brusttasche seines Rockes nehmend und mit Stahl und Schwamm, den er bei sich führte, entzündend — »wie weit ist’s noch bis Heilingen.«

»Eine tüchtige Stunde — wenn der Weg jetzt nicht so schrecklich wäre, könnte man’s recht bequem in kürzerer Zeit gehn.«

»Hm — ist noch verdammt weit, puh wie das draußen stürmt; und die Pflaumenblüthen pflückt’s beim Armvoll herunter — Pflaumenmuß wird theuer werden nächsten Herbst.«

»Das weiß Gott,« sagte Gottlieb — »es wird Alles theuer, immer mehr jedes Jahr, langsam aber Sicher.«

»Bah, es geschieht denen recht die hier bleiben, wenn sie nicht hier bleiben müssen; ’s giebt Plätze die besser sind.«

»Wollt Ihr auch auswandern?« sagte Gottlieb rasch.

»Auswandern? — nach Amerika? — hm — ich weiß noch nicht,« brummte der Fremde, sich den Bart streichend — »es wäre aber möglich daß sie Einen noch dazu trieben. Sind das Euere Kinder?«

»Ja. — «

»Habt Ihr noch mehr?«

»Noch einen Jungen von elf und ein halb Jahr.«

»Und Ihr seid ein Weber?« sagte der Fremde mit einem Blick auf den Webstuhl — »auch schwere Zeiten für derlei Arbeit, mit einer Familie durchzukommen.«

»Ja wohl, schwere Zeiten,« seufzte Gottlieb, als in diesem Augenblick die Thür draußen wieder aufging und die Mutter laut ausrief: —

»Der Hans, lieber Himmel kommt der in dem Wetter.«

Es war Hans, der älteste Sohn des Webers, durch und durch naß, aber mit frischem gesunden Gesicht und rothen Backen, auf denen das Regenwasser in großen Perlen stand.

»Guten Tag mit einander,« sagte er, als er in’s Zimmer trat und die triefende Mütze vom Kopf riß — »guten Tag Mutter.«

»Guten Tag Hans, aber wo um Gottes Willen kommst Du in dem Regen her; warum hast Du das Wetter nicht bei Lehmann’s abgewartet?«

»Es wurde mir zu spät Mutter und ich war hungrig geworden; habe auch noch heute Abend dem Vater etwas zu helfen.«

»Ein derber Junge,« sagte der Fremde, der sich den Knaben indeß mit finsterem Blick betrachtet hatte — »kann wohl schon ordentlich mit arbeiten.«

»Ach ja, er packt tüchtig mit zu,« sagte der Vater — »lieber Gott in jetziger Zeit muß Alles mit Brod verdienen helfen.«

»Die Kinder fressen Einen arm,« sagte der Fremde.

»Habt Ihr Kinder?« frug Gottlieb.

»Ich? — hm, ja,« sagte der Fremde nach einer Pause — »könnte noch Jemandem abgeben davon.«

»Ich möchte keins hergeben,« sagte die Frau rasch, und küßte das Jüngste, das sie eben wieder aufgenommen hatte um es zu füttern, »Kinder sind ein Segen Gottes.«

»Ja — so sprechen die Leute wenigstens,« sagte der Fremde trocken, »aber ich glaube es läßt nach mit Regnen; ich werde die Schenke wohl jetzt erreichen können.«

»Wollt Ihr nicht vielleicht erst eine heiße Tasse Kaffee trinken?« frug die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum Ofen gehend, die dort warmgestellte Kanne wieder vorzuholen.

»Danke, danke,« sagte aber der Fremde abwehrend — »kann das warme Zeug nicht vertragen; ein Glas Branntwein ist mir lieber.«

»Das thut mir leid,« sagte der Mann, »den kann ich Euch nicht anbieten; ich habe keinen im Hause.«

»Thut auch Nichts,« lachte der Fremde; »so lange halt ich’s schon noch aus. Sind doch hülflose Dinger so junge Menschen, ehe sie die Kinderschuh ausgetreten haben,« setzte er dann hinzu, als das Jüngste das Mäulchen nach dem schon einmal gereichten Löffel vorstreckte — »was machte nun so ein jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber überließe.«

»Ach Du lieber Gott,« sagte die Frau bedauernd — »so ein armer Wurm müßte ja elendiglich umkommen.«

»Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg würde und sie kämen und es fütterten,« lachte der Andere.

»Dafür haben die Kinder Eltern,« sagte die Frau, das kleine, die Aermchen zu ihr ausstreckende Mädchen liebkosend und küssend, »die sorgen schon dafür daß kein Nachbar danach zu sehen braucht.«

»Wenn die aber einmal plötzlich stürben, wie dann?« frug der Fremde, mit einem Seitenblick auf die Frau, indem er seinen Rock wieder zuknöpfte und sich zum Gehen rüstete.

»Dann ist Gott im Himmel,« sagte Hanne, mit einem frommen vertrauungsvollen Blick nach oben.

»Ja, das ist wahr;« sagte der Fremde mit einem leichtfertigen Lächeln, »der hat allerdings die große Kinderbewahranstalt. Aber es hat wirklich aufgehört mit Gießen,« unterbrach er sich rasch, »den Augenblick will ich doch lieber benutzen. So schön Dank für gegebenes Quartier Ihr Leute, und gut Glück.«

»Bitte, Ihr habt für Nichts zu danken, behüt’ Euch Gott,« sagte Gottlieb freundlich.

»Behüt’ Euch Gott;« sagte auch die Frau, und der Mann, ihnen noch einmal zunickend, nahm draußen wieder den nassen Mantel um, drückte sich den breiträndigen Hut in die Stirn, griff einen derben Knotenstock, der daneben in der Ecke lehnte, auf, und verließ rasch das Haus, die Richtung nach der Schenke einschlagend.

»Mich freut’s daß er fort ist,« sagte die Frau, die dem Knaben gerade das Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee einschenkte — »bewahr uns Gott, was hatte der Mann für ein finstres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht schlafen könnt’ ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir wüßte. In dem Gesicht liegt auch nichts Gutes — und wie er fluchte und über die Kinder sprach — ob er nur wirklich selber welche hat.«

»Er sagt’s ja,« bestätigte Gottlieb — »aber mir schien’s ein Fleischer zu sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer rauh und derb, meinen’s aber nicht immer so bös.«

»So bess’re ihn Gott,« sagte die Frau mit einem Seufzer, »und je seltener er unseren Weg kreuzt, desto besser.«

 

 


 

Capitel 7.

NACH AMERIKA.

»Nach Amerika!« — Leser, erinnerst Du Dich noch der Märchen in »Tausend und eine Nacht«, wo das kleine Wörtchen »Sesam« dem, der es weiß, die Thore zu ungezählten Schätzen öffnet? hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt, Geister heraufzurufen aus ihrem Grab, und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu machen? — Mit dem ersten Klang der einfachen Sylbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volkes erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde bebte, und das kecke, tollkühne Menschenkind das sie gesprochen, bebte zurück vor der furchtbaren Gewalt die es heraufbeschworen.

Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen sie zu rufen — aber ein anderes dafür gefunden, das kaum minder stark mit _einem_ Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimath Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten.

»Nach Amerika,« leicht und keck ruft es der Tollkopf trotzig der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen sollte, seinen Muth stählen — »nach Amerika,« flüstert der Verzweifelte der hier am Rand des Verderbens dem Abgrund langsam aber sicher entgegen gerissen wurde — »nach Amerika,« sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft und doch immer und immer wieder vergebens, gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein »tägliches Brod« mit blutigem Schweiß gebeten — und es nicht erhalten, der keine Hülfe für sich und die Seinen hier im Vaterlande sieht, und doch nicht betteln _will_, nicht stehlen _kann_ — »nach Amerika« lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegen jubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts — »nach Amerika,« jubelt der Idealist, der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über den Ocean drüben ein Bild erhoffend, das dem, in seinem eigenen tollen Hirn erzeugten, gleicht — »nach Amerika« und mit dem einen Wort liegt hinter ihnen, abgeschlossen, ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen — liegen die Bande die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen die sie für hier gehegt, die Sorgen die sie gedrückt — _»nach Amerika!«_

So gährt und keimt der Saame um uns her — hier noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain der ihn zu wenden und immer wieder zu wenden zwingt noch nie so schwer geärgert, und der im Geist schon die langen geraden Furchen zieht, weit über dem Meer drüben, in dem fetten, herrlichen Land; — der Handwerker in seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister in die Nachbarschaft setzt mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen, die wenigen Kunden die ihm bis dahin noch geblieben in _seine_ Thür zu locken; der Künstler in seinem Atelier, oder seiner Studirstube, der über einer freieren Entwickelung brütet, und von einem Lande schwärmt wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden; — der Kaufmann hinter seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, andern Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reich gefüllten Waarenhäusern träumt; in Tausenden von ihnen drängt’s und treibt’s und quält’s, und wenn sie auch noch vielleicht Jahre lang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke schon — ein stiller aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arzenei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht errathen soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding — nach Leuten die vordem »hinüber« gezogen und denen es gut gegangen — nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk — für Andere natürlich, nicht für sich etwa — sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf.

So ringt und drängt und wühlt das um uns her; keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den _salto mortale_ gethan, und Alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und theuer war — aus dem, aus jenem Grund — und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen wir im Leben nie geglaubt daß _sie_ je an Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind, mit Hab’ und Gut hinüberziehn. Und _dort_? — noch liegt ein dichter Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne scheint ja überall — Dir aber lieber Leser, greif ich aus dem Leben noch hie und da ein paar Freunde heraus, die wir begleiten wollen auf dem weiten Weg.

* * * * *

Oben in der Brandstraße — nicht weit vom Brandthor entfernt, und dem Gasthaus zum Löwen schräg gegenüber, wohnte Professor Lobenstein mit seiner Familie, in der ersten Etage eines, zwar sehr alten, aber auch sehr wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm eigen gehörte.

Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der »besseren Jahre«, etwa einundfünfzig alt, aber rüstig und gesund, nur erst mit einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm über die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte er _jura_ und _cameralia_ studirt, und einen großen Schatz von Kenntnissen aufgehäuft; auch in manchem, mit schweren mühsamen Nachtwachen erkauften Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg, und der kalten Aufnahme die es gefunden, wandte er sich später wieder von den bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein seinem Lieblingsstudium den Cameralien zu, in denen er besonders der Gewerbskunde seine Thätigkeit widmete, auch mit einem Buchhändler in Heilingen eine Gewerbszeitung gründete und herausgab.

Hierin hatte er Unglück; der Buchhändler machte bankerott und er übernahm die Zeitung, mit ziemlich großen Verlusten schon, allein.

So vortrefflich aber Professor Lobenstein in der Theorie seiner Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit fabelhaftem Fleiß suchte er dem zu begegnen, umsonst — umsonst auch daß er Capital nach Capital in das, zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek und mit einer höchst ungünstigen politischen Periode, in der ihm eine große Anzahl Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pecuniäre Verluste, daß er sich endlich genöthigt sah sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war das das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht.

Professor Lobenstein hatte eine ziemlich starke Familie, eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von achtzehn, und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichthum doch in einem gewissen Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort »_Nahrungssorgen_« fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so nennt, ein Haus gemacht, und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte Manches mitzumachen, was seinen, sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfniß schien. Das Alles sollte, ja _mußte_ sich jetzt ändern, denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens, nach allen erlittenen Verlusten, einen kleinen Theil zu retten vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen, und sich und den Seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn Alles und Jedes an frühere und bessere Zeiten erinnerte oder — es war eine schwere Stunde in der ihm das Bild zum ersten Mal vor die Seele stieg — in einem anderen Welttheil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues _Leben_ zu beginnen.

Aber die Frauen? — würden sie den Mühseligkeiten einer so langen Reise, einer Ansiedlung drüben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? — Daß er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika gelesen, sich mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften so vertraut gemacht, daß er Alles kannte was ihn dort erwartete, und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen entgegenging; aber durfte er seine Frau all den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapatzen aussetzen? durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen glücklichen Leben reißen, und ihnen mit einem Schlage alle jene Vergnügungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, die ihnen fast Bedürfniß geworden?

Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich selber, Monate lang, und er wurde alt in der Zeit; die Augen lagen tief in ihren Höhlen und seine Züge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder dabei sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren _müssen_, vertraute er ihr an und wenn es die arme Frau auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger auf als er erwartet, gefürchtet, und damit eine schwere Last von _seinem_ Herzen — auf das ihre. Aber leichter trägt sich die getheilte, und bereden konnten sie jetzt zusammen was zu thun, welchen Weg zu gehen, die Möglichkeit besprechen die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit errwägen, die ihnen dort eine andere freiere Zukunft öffnete. Und die Kinder? wohin Mütter und Vater gingen folgten die ja gern; nur die Scene wechselte für sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht.

An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz vorschützend, und die Sorge um das jüngste Kind, das mit einem leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß die Mutter und weinte — weinte als ob sie mit dieser Thränenfluth all den Gram und Kummer fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizonte ihres Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg.

Lachend und plaudernd kehrten die Töchter, mit dem Vater spät in der Nacht zurück; den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch, ein weiter Garten offen da, und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, mischte noch sein fastgrünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit Blum’ und Blüthenpracht.

Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten Jahreszeit all’ die nöthigen und mannichfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, zu einer gänzlichen Umgestaltung aller ihrer Verhältnisse, getroffen werden _mußten_; auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturienten-Examen glücklich bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings daß er hier erst studiren, und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges gelernt, vielleicht folgen sollte, dachte ihm aber doch die freie Wahl zu lassen, und seinem Herzen keinen Zwang aufzuerlegen.

Am nächsten Morgen nach dem Balle nun — es war spät mit Aufstehn geworden nach der durchschwärmten Nacht und die zweite Tochter Marie eben erst zum Kaffee herübergekommen, während der Sohn das Haus schon, irgend eines notwendigen Ganges wegen verlassen hatte — saß der Vater, ungewohnter Weise nicht in seiner Studirstube an der Arbeit, sondern im Sopha, aus der langen Pfeife den Dampf in weißen Kräußelwolken von sich blasend, und die Mutter am Nähtisch, Kleider ausbessernd für das Jüngste, das in seinem herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe schaukelte.

»Schon ausgeschlafen, Väterchen?« sagte Marie als sie, etwas beschämt, die Letzte am Kaffeetische Platz genommen, »ich habe wohl recht lange heut geschlafen, aber — was ist Dir denn? — und der Mutter auch?« — rief sie vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der Eltern gewahrte — »bist Du böse auf mich, Mütterchen?«

»Nein mein Kind,« sagte diese und zwang ein Lächeln auf die Lippen, »aber der Vater hat Euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, etwas von dem wir noch nicht wissen, ob es Euch betrüben wird oder nicht.«

»Der Vater?« rief Marie erschreckt, und auch Anna, die älteste Tochter, sah ängstlich zu ihm auf; Professor Lobenstein aber, so in die Enge und zum Aeußersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paar Mal scharf vor sich hin, die Pfeife ordentlich in Gluth zu bringen, und sagte:

»Ja Kinder, Ihr wißt — wir — wir haben doch in den letzten Tagen viel über Nord-Amerika gesprochen, und auch Manches gelesen — «

»Ja, die herrlichen Romane von Cooper,« rief Marie rasch.

»Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt,« lächelte Anna.

»Der Doctor Haide ist ein Esel,« sagte der Professor, den Rauch wieder ein paar Mal rasch ausstoßend — »wenn der hätte in Amerika ordentlich arbeiten wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvocatur und vom Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernähren; über dessen Berichte wollen wir uns keine Sorgen machen, aber — « er schwieg wieder einen Augenblick und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinüber. Die jedoch arbeitete um so emsiger weiter, und selber mit dem Bedürfniß dem, was ihn schon so lange gedrückt, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort — »ich habe eine Frage an Euch zu thun, Kinder — Hättet Ihr — hättet Ihr wohl selber Lust hinüber nach — nach Amerika zu gehn?«

»Nach Amerika?« rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. Marie aber sprang auf, schlug in die Hände und rief jubelnd:

»Nach Amerika? oh das wäre ja prächtig — das wäre herrlich — nicht wahr da sind auch Bälle, Väterchen?«

Die Mutter seufzte tief auf und der Vater zog wieder, etwas verlegen an der Bernsteinspitze.

»Hm — ich weiß nicht,« sagte er langsam mit dem Kopf schüttelnd — »wo wir im Anfang hinwollten, werden wohl keine sein. Hängst Du so an Bällen, Marie?«

»Ich tanze gern,« lächelte das junge fröhliche Mädchen etwas verlegen und schüchtern.

»Nun tanzen wirst Du dort hoffentlich auch können, mein Kind,« sagte der Vater freundlich — »wenn auch nicht gerade gleich auf solchen Bällen wie wir sie hier gewohnt sind — das Leben ist dort einfacher.«

»Oh, und bis zum nächsten Fasching sind wir gewiß auch wieder zurück,« rief Marie.

Der Vater schwieg erst eine kleine Weile, und sagte dann leise aber entschlossen.

»Wir wollen _ganz_ hinüberziehn, mein Kind.«

»Auswandern?« rief die ältere Schwester fast erschreckt — das Wort, dessen Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen verstand, traf sie mit einem unbekannten ahnenden Gefühl von Schmerz und Leid — »und die Mutter?«

»Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zurücklassen?« lächelte die Frau, sich gewaltsam zwingend über den Schmerz dieser Stunde.

»Mutter!« sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken und küßte sie.

»Und Eduard?« frug Marie.

»Bleibt, wenn er meinem Rathe folgt, noch hier bis er ausstudirt und etwas ordentliches gelernt hat,« sagte der Vater — »wo nicht, hat er seinen freien Willen und mag uns begleiten; sowie er zu Hause kommt werde ich mit ihm sprechen.«

»Aber — « rief Marie — »wer verwaltet unterdessen unser Haus?«

»Wenn wir einmal fort sind von hier,« sagte der Professor ausweichend, »kann uns auch das Haus nichts mehr nützen, und ich werde es verkaufen.«

»_Verkaufen_? — unser Haus und den Garten?« riefen Maria und Anna fast wie aus einem Munde erschreckt und rasch —

»Unser freundliches Stübchen, wo wir als Kinder gespielt,« setzte Marie traurig hinzu.

»Und die Bäume die Vater alle gepflanzt — die Laube, die wir uns selbst gebaut, und die so schön geworden ist in diesem Jahr,« sagte Anna leise — »verlassen wollt’ ich es ja gern, wenn wir Alle gehn, aber daß fremde Menschen jetzt darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen wie wir das Alles gehegt und gepflegt und — « ihr Blick fiel in diesem Augenblick auf der Mutter, halb von ihr abgewandte bleiche Züge, und faßte das Blitzen einer heimlich fallenden Thräne. Anna erschrak und wurde todtenbleich — hier lag mehr verborgen als man ihnen gesagt, und heimlicher Gram, heimliche Sorge nagte an der Eltern Herzen, durfte sie die vermehren? Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich nieder, dann aber Mariens Hand ergreifend sagte sie mit leichterem vielleicht gezwungen fröhlicherem Ton:

»Aber wir wollen nicht klagen; Vater und Mutter wissen am Besten was sie zu thun haben, und was uns gut ist, und dort baut uns Vater dann ein anderes Haus, und wir selber pflanzen uns ein neues Gärtchen, schöner als das unsere hier.«

»Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle wäre,« schmollte Marie, »und was wird Herr Kellmann dazu sagen, wenn er es erfährt? der ist so immer gegen Amerika, und hat sich schon oft mit Vater darüber gezankt.«

»Ach der macht mir die geringste Sorge,« sagte Anna in ihrem Schmerz lächelnd — »wenn man _für_ Amerika spricht, schimpft er aus Leibeskräften, und citirt Gott weiß was für Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles Günstige zu widerlegen, oder wenigstens stark zu bezweifeln, und kommt Jemand der das Land ordentlich angreift, dann hab’ ich auch schon gesehn, daß er den Handschuh wacker dafür aufnimmt, und man wirklich glauben sollte er bekäme so und so viel für den Kopf, Leute zu bereden hinüberzuziehn. Das ist ein wunderlicher Kauz, der die meiste Zeit selber nicht weiß was er will, und ich glaube, wenn es Jemand recht ordentlich bei ihm darauf anlegte, könnte man ihn selber, nur durch Widersprechen, dahin bringen, daß er in eigener Person hinüberginge.«

»Herr Kellmann?« lachte Marie — »nun _den_ möcht’ ich in Amerika sehn.«

»Und wer weiß, ob Dir das nicht noch passirt,« bestätigte der Vater, mit dem Kopfe nickend.

»Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, Mama?« frug das junge lebenslustige Mädchen jetzt die Mutter — »hier lassen möcht’ ich es doch nicht gern, und drüben im Wald — «

»Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald gehn,« sagte die Mutter, die indessen heimlich die verrätherische Thräne aus dem Auge geschüttelt, freundlich dabei der zu ihr getretenen Tochter die Stirn streichend und küssend, »denkt es Euch nicht so schlimm. Der Vater wird uns schon einen Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der Cultur nicht ganz verschlossen sind — er hielte es ja dort sonst selber nicht aus.«

»Aber warum gehst Du nur, Väterchen?« bat Marie — »es ist doch hier so wunderhübsch in Heilingen, und was wir da drüben haben, wissen wir noch nicht.«

Der Professor, zu dem Anna ängstlich aufsah, hatte seinen Sitz verlassen und ging, langsam dabei mit dem Kopf nickend, im Zimmer auf und ab; er fühlte daß er, auch den Töchtern gegenüber, diesen eine Erklärung seines Handelns schuldig sei, denn er riß sie aus einem liebgewonnenen Leben heraus, und führte sie vielen, vielen Entbehrungen — er durfte sich das nicht leugnen — entgegen. Von ihrer späteren Haltung dabei hing auch viel ihrer Aller Glück, ihrer Aller Zufriedenheit ab, und sie waren alt genug ihrem Urtheil zu vertrauen. Aber es kostete ihm der Entschluß einen schweren Kampf, und wo ihm die Frau war auf halbem Weg entgegen gekommen, fürchtete er hier gerade, nicht Widerstand zu finden, denn dafür hatten sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge zu wecken in den jungen Herzen, denen er die ungebetenen Gäste gern noch fern gehalten hätte so lang als möglich. Sie standen jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt ihres Lebens, und mußten _sehen_, wohin der Weg sie führte.

In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg, und zu den Herzen sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte er ihnen jetzt die veränderte Lage in die er, durch das gezwungene Aufgeben seiner Zeitschrift sowohl, wie durch manche schwere, ihn betroffene Verluste gekommen. Er verheimlichte ihnen nicht länger daß er einen Theil — einen großen Theil seines Vermögens eingebüßt, und das ihm selber liebe Haus nicht verkaufen würde, wenn ihn eben nicht — die Verhältnisse dazu _zwängen_. Aber noch blieb ihnen genug nach einem fernen Welttheil überzusiedeln und dort, mit bescheideneren Bedürfnissen, von Neuem zu beginnen; Amerika mit seiner ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen Seiten hin die Möglichkeit der Existenz, und das gut und zweckmäßig angelegte kleine Capital konnte dort gute Zinsen tragen für spätere Zeit. Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoffnungen, mit denen sie hinüber gingen, Wahrheit geworden, und sehnte sich ihr Herz noch nach dem Vaterland, wer hinderte sie dann zurückzukehren zu den theueren Plätzen, die ihnen ewig lieb bleiben würden in der Erinnerung?

Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, wie er das Eis nur erst gebrochen. Selbst überzeugt von dem was er sprach, wurde er warm, indem er den Gedanken weiter dachte, und seine Phantasie verlor sich zuletzt sogar, Luftschlösser aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der Professor ging mit dem Menschen durch, und die leicht gerötheten Wangen belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter saß dabei, still und schweigend, und ängstlich bemüht, in der wiederaufgenommenen Arbeit die eigene Bewegung zu verbergen. Marie und Anna aber, die des Vaters Hände erfaßt und in den ihren hielten, schmiegten ihre Häupter an seine Schultern und flüsterten; die großen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll von Thränen.

»Genug, genug, Väterchen; mal’ uns das Alles nicht so prächtig aus — wohin Du und Mutter gehn, gehn auch wir, und wär’ es mitten hinein in den wildesten Wald. Kein unzufriedenes Wort sollst Du dabei von uns hören, keine Klage, kein böses Gesicht weiter — keine Thräne — nur die hier sind uns so ganz von selber über die Backen gelaufen, weil wir die Mutter weinen sahen. Mit Lieb und Lust wollen wir das Leben dort beginnen — «

»Und Kühe und Hühner schaffen wir uns an!« rief Marie, »und die Kühe melken wir selber und machen Butter und Käse.«

»Wie gut,« sagte Anna, daß wir im vorigen Jahr auf dem Land bei der Tante waren, und dort das Alles zum Spaß gelernt haben; jetzt wird es uns nützen.«

»Aber nicht wahr, Mütterchen, nun weinst Du auch nicht mehr,« rief Marie, zur Mutter hinübergleitend, ihren Arm um deren Nacken legend und sie küssend — »drüben wird schon Alles hübsch werden. Und ein paar von den großen Holzschuhen nehm’ ich mir mit, wie sie die Bauern tragen, für draußen bei nassem Wetter; hei wie wir da herumpatschen wollen und schaffen und arbeiten; und plätten thun wir auch selbst, dafür nimmst Du kein Mädchen mehr.«

Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigen Umrisse ihrer ganzen fernen, so ungewissen Zukunft, in den einzelnen bunten Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, von dem Reiz der Neuheit mit frischem Duft überhaucht, entstiegen. Nur die Lichtpunkte erspähte der, in die Ferne arglos hinausschauende Blick, und die goß er sich lustig zusammen zu einem Ganzen: was dahinter lag, der düstere Hintergrund, den das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen nur dazu die einzelnen Lichter stärker hervorzuheben, deutlicher erkennen zu können, und der Himmel spannte sich blau und rein über ihren glücklichen Häuptern.

 

 


Capitel 8.

DER TANZ IM ROTHEN DRACHEN.

Drei volle Monat waren nach den, in den vorigen Capiteln betriebenen Scenen verflossen, und der Diebstahl im Dollingerschen Hause zu Heilingen, der eine ganze Woche lang fast das alleinige Stadtgespräch gebildet, wurde kaum noch erwähnt. Der vermuthete Dieb (gegen den aber allerdings nachträglich keine weiteren Beweise aufgefunden worden), war zwei Tage nach dem Sturz von der Brücke an seiner Kopfwunde gestorben; er hatte die beiden Tage vollkommen bewußtlos gelegen, und kein Wort mehr gesprochen. Das übrige Geld aber — außer den zweihundert und einigen Thalern — wie die vermißten Pretiosen, konnten, trotz den genausten Nachforschungen nirgends aufgefunden werden, und hatte er es wirklich gestohlen, so ließ sich jetzt gar nichts Anderes vermuthen, als daß er es irgendwo an einer heimlichen Stelle vergraben, und außer Sicht gebracht habe.

Actuar Ledermann hatte dabei ganze Actenstöße über den Fall geschrieben — man wußte wirklich nicht wo er nur den Stoff dazu herbekommen; aber mit dem üblichen Canzleistyl wurde die Sache, der jede gründliche Vorlage mangelte, nach Möglichkeit gereckt und ausgedehnt und dann, als sich Nichts weiter darüber ergab, mit starkem Bindfaden umschnürt und etiquettirt, um später vielleicht, mit Jahreszahl und Nummer versehn, in irgend ein staubiges Gefach geschoben zu werden, dort ein Jahrhundert fortzuträumen, — wie der Verstorbene unter dem Rasen, dicht an der Kirchhofsmauer, an die er, ohne Sang und Klang damals, noch vor Tag, still und heimlich hinausgeschafft worden.

Die Geistlichkeit von Heilingen hatte dem Unglücklichen allerdings sogar dies »ehrliche Begräbniß« versagen und den Körper der Anatomie überantworten wollen, da er unter dem Verdacht eines schweren Diebstahls und gewissermaßen als Selbstmörder seinen Tod gefunden — was kümmerte die stolzen Geistlichen die duldende Liebe die Christus gelehrt, wo _ihre_ Autorität Gefahr leiden konnte gekränkt zu werden, und sie hatten einmal verordnet, daß solchen Sündern ein »christliches Begräbniß« versagt werden solle; aber die Polizei war milder und verständiger als die »Diener des Höchsten« und erklärte den Tod des Armen für keinen Selbstmord, indem er nur »auf der Flucht« umgekommen, während wahrscheinlich der ihm beigegebene Wächter die allerdings unschuldige, und nicht zur Verantwortung zu ziehende direkte Ursache, seines Todes gewesen sei.

Aber fort — fort mit den traurigen Bildern; das menschliche Leben hat der dunklen Seiten so viele, und sie drängen sich uns doch auf, wohin wir gehen — nur der Augenblick gehöret uns, und nicht muthwillig wollen wir den Schmerz suchen. So mag mir der Leser denn noch einmal zum rothen Drachen hinaus folgen — es dauert vielleicht lange, ehe wir den Platz wieder zu sehn bekommen — und dort tönt heut fröhliche Musik aus dem hellerleuchteten Saal des großen Hauses, der mit Guirlanden und Blumen und jungen Birkenreisern festlich geschmückt ist, indeß ihn eine muntere, laut und lustig durcheinander wogende Schaar belebt.

Kaum eine Viertelstunde — oder eine »halbe Pfeife Tabak«, wie die Bauern sagten — vom rothen Drachen entfernt, lag Schloß Hohleck an der anderen Seite des nämlichen Hügelrückens, das gegenüber liegende Thal überschauend, und der Besitzer desselben, Graf von Hohleck, feierte heute die Vermählung seines ältesten Sohnes, der dabei das Gut selber übernahm, und nun seinen Leuten dem Tag zu Ehren ein Fest »in der Schenke« gab. Bier und Branntwein waren dabei zu freier Verfügung gestellt, und ein starkes Musikchor aus der Stadt engagirt worden, den Leuten die ganze Nacht hindurch zum Tanze aufzuspielen — und sie machten Gebrauch davon.

Aber auch aus Heilingen selber hatten sich eine Menge Gäste eingefunden, dem muntern Leben und Treiben der fröhlichen Menschen zuzuschauen, und während der untere Gartensaal einzig und allein den Dienstleuten des Rittergutes eingeräumt war, zu dem den Stadtleuten jedoch gastlich der Zutritt gestattet wurde, hatten sich die letzteren noch besonders in einem paar der kleineren Stuben festgesetzt, wo sie ihren Wein oder ihr Bier tranken oder auch eine Parthie spielten, die Zeit auszufüllen.

Zu den Gästen aus der Stadt gehörten auch mehre unserer alten Bekannten, unter ihnen Kellmann und Schollfeld, zwei Stammgäste des rothen Drachen. Ledermann war ebenfalls, wenn auch später, herausgekommen und ihnen hatte sich noch der Auswanderungsagent Weigel — sehr zum Aerger Schollfeld’s, der ihn nicht ausstehen konnte — zugesellt. Weigel blieb aber nicht ruhig an ihrem Tisch sitzen, sondern ging ab und zu, und hatte sein Glas nur mit bei ihnen stehn, gewissermaßen seinen Platz zu belegen.

Ledermann war übrigens heute sehr still und niedergeschlagen, er hatte sein einziges Kind vor etwa vierzehn Tagen verloren, und schien sich das sehr zu Herzen zu nehmen, erklärte auch nur herausgekommen zu sein, sich ein wenig zu zerstreuen und die Gedanken los zu werden, die ihn in der Stadt drin peinigten.

Uebrigens war ihm in den letzten Tagen höchst unerwarteter Weise eine kleine Erbschaft von 600 Thalern zugefallen und Schollfeld, der heute Abend außergewöhnlich gut aufgeräumt schien, versuchte jetzt sein Bestes des Freundes Grillen oder trübe Gedanken ebenfalls zu verscheuchen.

»Hören Sie einmal Ledermann,« begann er, mit dem Deckel seines Kruges klappend und mehr Bier verlangend — »wie ist denn die Geschichte nun mit den 600 Thalern? — beiläufig gesagt schneiden Sie ein Gesicht dabei, als ob Sie Schwefelsäure verschluckt hätten.«

»Er hört nicht einmal,« sagte Kellmann, als der Actuar kein Wort darauf erwiederte, und die Anrede in der That gar nicht verstanden zu haben schien — »Ledermann, Mensch, wo sind Sie jetzt mit Ihren Gedanken, im rothen Drachen bei Heilingen, im Monde, oder in Amerika?«

»Wo?« sagte der Actuar, rasch und fast verstört aufschauend, als aber die Anderen laut lachten, schüttelte er mit dem Kopf und seinen Krug nehmend und trinkend sagte er ruhig und ernst:

»Ach laßt mich zufrieden Kinder — ich habe den Kopf voll, und bin wahrhaftig heute Abend nicht zum Spaßen aufgelegt.«

»Nicht zum Spaßen aufgelegt?« rief aber Schollfeld, Kellmann unter dem Tisch anstoßend — »ist auch gar nicht nöthig mein lieber Actuar — wir spaßen auch hier gar nicht; Jemand aber, der eine Erbschaft macht und irgendwo Stammgast ist, überkommt dabei die moralische Verpflichtung irgend etwas zum Besten zu geben, und es bleibt ein Skandal, daß man einen solchen Glückspilz auch nur noch daran erinnern muß. Hat der Henker da wieder den Schleicher, den Weigel,« unterbrach er sich aber plötzlich mit etwas leiserer Stimme, als er sah wie dieser das Zimmer wieder betrat, und sich ihrem Tische zuwandte — »ich hatte schon gehofft wir würden ihn heute Abend los sein; jetzt ist _mein_ Vergnügen beim Teufel.«

»Nun meine Herren, noch so fröhlich beisammen?« sagte Weigel jetzt, indem er zum Tisch trat — »ah, da sind ja der Herr Actuar auch noch dazu gekommen — bitte behalten Sie ja Platz, ich rücke ein klein wenig hier herüber — so — das geht vortrefflich. Nun, der Herr Actuar haben in diesen Tagen ein großes Glück gehabt — da darf man ja wohl gratuliren.«

»Danke herzlich,« sagte Ledermann ruhig; »es wird übrigens so viel von den paar hundert Thalern gesprochen, als ob’s eben so viel Tausende wären.«

»Ih nun, das lassen Sie gut sein,« sagte aber Weigel, mit dem Kopf schüttelnd — »sechshundert Thaler richtig angewandt könnten in der That in kurzer Zeit zu so viel Tausenden werden.«

»Wenn man sich Sächsische Löbau-Zittauer Eisenbahnactien dafür kaufte, nicht wahr?« sagte Schollfeld, das Gesicht halb in den ebengebrachten Krug versteckt, und einen grimmigen Blick über den Rand desselben hin, nach dem Auswanderungsagenten schießend.

»Nun das gerade nicht,« schmunzelte Herr Weigel, sein Glas ein wenig weiter auf den Tisch schiebend, und sich die Hände reibend, »da wüßte ich doch noch eine bessere Speculation.«

»Und die wäre,« sagte der Actuar, seitwärts zu ihm aufschauend.

»Wenn Sie sich eine kleine Farm in Amerika kauften.«

»Puh!« rief Schollfeld, verächtlich den Kopf abwendend, »jetzt sein Sie so gut, kommen Sie uns hier nicht mit Ihrer alten Leier von dem verdammten Amerika, und verderben Sie uns das Bier nicht — hier ist auch Nichts zu verdienen, denn von uns geht doch keiner hinüber.«

»Lieber Herr Schollfeld,« sagte aber Weigel mit großer Ruhe, »von _uns_ weiß noch Niemand was er nächstes Jahr thun wird, und verschwören läßt sich so eine Sache nun einmal gar nicht — Amerika ist immer noch ein Zufluchtsort.«

»Ja für die Spitzbuben und Hallunken, _da_ haben Sie recht!« rief der Apotheker.

»Ne lieber Herr Weigel!« rief aber auch Kellmann jetzt — »mit sechshundert Thalern kann ich da drüben auch Nichts anfangen, und bin dann noch obendrein bei jedem Schritt und Tritt der Gefahr ausgesetzt, daß ich betrogen und hintergangen werde. Man kann dort ja nicht einmal seinem eigenen Bruder trauen.«

»Aber mein bester Herr Kellmann, das sind die unglückseligen Ideen, die von — na, ich will keinen Namen nennen — ausgesprengt werden, um die Leute blind zu machen, rein blind. Sie sollen eben nicht sehen was für Vortheile, für fabelhafte Vortheile dort gerade für sie zu Tage liegen, und die Gerüchte von dort verübten Betrügereien hängen eben als Vogelscheuche über den Erbsen. Wir haben _hier_ eben so viele schlechte Charaktere wie in Amerika.«

»Ob eben so _viel_, will ich dahingestellt sein lassen,« sagte Schollfeld mit einem nichts weniger als freundlichen Seitenblick auf den Agenten — »aber eben so schlechte gewiß.«

»Nun also,« erwiederte Weigel freundlich, ohne auf den Hieb einzugehn, ja im Gegentheil die Waffe lächelnd umdrehend — »sehn Sie, selber Herr Schollfeld stimmt mir darin bei.«

»Ja aber nicht wie _Sie_ es meinen!« rief da Schollfeld entrüstet, keineswegs gesonnen sich die Worte so im Munde verdrehen zu lassen.

»Von den Betrügereien will ich noch gar Nichts sagen,« unterbrach ihn aber Kellmann, ziemlich in Eifer — »was ich dagegen sehr guten Grund habe zu bezweifeln, sind die billigen Landkäufe, sind dabei die Erleichterungen, welche diese republikanische Regierung allen möglichen Gewerken und Unternehmungen bietet, die geringen Taxen, der freie Verkehr und Umsatz im Innern. Das wird Alles ausgemalt mit Gold und Silber und Himmelblau, und kommt man am Ende hinüber, so hat man die ganze nämliche Geschichte wie bei uns. Daß all das nichtsnutzige Gesindel dort ohne _Paß_ herumlaufen darf, mag wahr sein, das halte _ich_ aber eben für keinen Fortschritt.«

»Verehrtester Herr Kellmann!« rief aber Weigel in Eifer — »gegen _Thatsachen_ können wir doch nicht anstreiten; wir wollen doch nicht blind und taub mit dem Kopf gegen die nächste, und womöglich härteste Wand rennen? wir sind doch vernünftige Menschen, aber haben Sie nicht alle die neueren Schriften jetzt gelesen, die — «

»Ach gehn Sie mit Ihren Schmierereien,« rief aber Schollfeld, dem das Gespräch jetzt zur Last wurde, »für einen Thaler den Bogen malen ihnen die lumpigen Literaten selbst die Hölle himmelblau an, und kleben von oben bis unten Sterne drüber. Laßt mir jetzt Euer Geschwätz von Amerika hier, oder ich stehe, Gott straf mich, auf, und setze mich wo anders hin.«

»Nun, jeder darf sich hinsetzen wo es ihn gerade freut,« sagte Weigel, wirklich etwas beleidigt, obgleich er sonst einen ziemlichen Theil vertragen konnte.

»Ja leider,« sagte aber Schollfeld, mit wieder einem Seitenblick auf den Agenten, der diesen doch jetzt vermochte aufzustehn und sein Bier auszutrinken.

»Herr Schollfeld,« sagte er dabei, »Sie sind in der Stadt als ein Antiamerikaner bekannt, und ich glaube Sie würden den Leuten eher zu einer Auswanderung nach Sibirien wie nach Nordamerika rathen.«

»Würde ich auch,« sagte Herr Schollfeld trotzig, sich den Hut noch fester in die Stirn drückend.

»Nun ja, der Geschmack ist verschieden — Jeder weiß am Besten wohin er gehört, und dahin treibt ihn der Instinkt,« sagte Herr Weigel achselzuckend, indem er den Tisch verließ, und Kellmann erwischte eben noch zur rechten Zeit Schollfeld hinten am Frackzipfel, der aufspringen und dem sich rasch entfernenden Weigel nach wollte.

»Aber so fangen Sie hier doch um Gottes Willen keinen Skandal mit dem Menschen an!« rief Kellmann leise und bittend.

»Instinkt treibt?« rief aber Schollfeld jetzt, da er sich hinten, vielleicht gern, gehalten fühlte — laut hinter dem Davoneilenden her — »Sie wird bald ’was anders treiben Sie — Sie _Seelenverkäufer_ Sie!«

»Pst!« rief aber auch der Actuar jetzt, ihn rasch zu sich niederziehend — »Sind Sie denn ganz vom Bösen besessen Apotheker? auf das Wort könnte er Ihnen, wenn er’s noch gehört hätte, die schönste Injurienklage an den Hals hängen.«

»S’ist aber wahr — der Lump!« rief Schollfeld ärgerlich, den leeren Krug zum hastigen Trunk aufhebend, und denselben dann laut auf den Tisch aufstoßend — »es ist ein Seelenverkäufer, der Kerl, und um einen Thaler beschwatzt er das Kind, daß es die Eltern, den Mann, daß er die Frau verläßt — hier Kellner, noch ein Glas Bier. — Sprecht mir von Raubmördern und Straßenräubern, gegen die das Gericht einschreitet und ihnen das Handwerk legt — allen Respect vor einem Mann, der es den Leuten geradezu in’s Gesicht wirft, »ich _bin_ ein schlechter Kerl — ich stehle wo ich’s bekommen kann, und wo ich’s nicht gutwillig kriege mord’ ich auch; aber solche heimliche Hallunken sind die Upasbäume der menschlichen Gesellschaft — sie vergiften was sie erreichen können, und von außen geben sie sich das Ansehen eines ehrlichen Baumes und haben grüne Blätter und glatte Rinde. Gegen _die_ Schufte sollte eingeschritten werden, nicht mit Geldstrafen oder Gefängniß, nein mit Knute und Strang — Himmeldonnerwetter, wenn ich da ’was in der Regierung zu befehlen hätte.«

»Sie würden schöne Geschichten anrichten, kann ich mir etwa denken,« sagte der Actuar trocken, »s’ist so schon manchmal wie’s ist. Lassen Sie doch jeden seinen Weg gehn in der Welt; der liebe Gott weiß wohl wozu’s gut ist. Blutigel sind auch unangenehme Geschöpfe in der Naturgeschichte, und doch verwendet sie die Natur wieder zu höchst nützlichen und nothwendigen Zwecken; denken Sie sich so ein Individuum wäre ein menschlicher Blutigel.«

»Dann trink’ ich aber nicht mein Bier an einem Tisch mit ihm,« rief der Apotheker.

»Bah, das ist wieder zu weit gegangen,« sagte Kellmann, »viel zu weit gegangen. ’Was Schlechtes können Sie dem Mann überhaupt nicht nachsagen, denn daß er für Amerika wirbt, ist einesteils sein Geschäft, anderntheils seine Ansicht, und er könnte Ihnen von _seinem_ Standpunkt aus dann ebensogut wieder vorwerfen, daß Sie eine Menge Menschen absichtlich unglücklich machten, die sie von einer Auswanderung nach jenem Lande abhielten.«

»Unsinn — baarer Unsinn!« rief aber Schollfeld, unwillig den Kopf herüber und hinüber werfend — »Jemand unglücklich machen, daß man ihm von einer Auswanderung nach Amerika abräth, wäre gerade so, als ob ich als eines Menschen Mörder betrachtet würde, den ich abhalte aus dem dritten Stock auf die Straße zu springen. Aber hol den Lump der Henker,« brach er kurz und ärgerlich ab, »ich war so guter Laune und jetzt hat er mir den ganzen Abend verdorben. — Nach Sibirien auswandern — « brummte er dabei, während er eine neue Cigarre aus der Tasche nahm und sie an dem, auf dem Tisch stehenden Licht entzündete — »Holzkopf der — nach Sibirien auswandern — ich will nur einmal in den Saal gehn und sehn wie sie’s da treiben, daß man auf andere Gedanken kömmt — ich bin bald wieder da.« Und von seinem Stuhl aufstehend verließ er langsam, und immer noch vor sich hin murmelnd, das Zimmer.

Der Actuar stand ebenfalls auf und nahm seinen Hut.

»Na nu?« sagte aber Kellmann erstaunt — »was ist das für eine Wirthschaft heut Abend? Schollfeld läuft fort, Lobsich hat sich gar nicht sehen lassen, und Sie wollen jetzt auch Fersengeld geben? wo bleibt denn da heute Abend unser Solo? — wir können doch nicht wie die Pferde zu Bette gehn, ohne unsere Parthie gespielt zu haben?«

»Mir ist heute nicht wie spielen,« sagte der Actuar, langsam mit dem Kopfe schüttelnd, »ich habe auch Kopfschmerzen, und an der frischen Luft wird mir wohl besser werden.«

»Fort dürfen Sie aber noch nicht,« sagte Kellmann, indem er sein Bier austrank, und ebenfalls aufstand, »da wollen wir lieber einmal unten im Garten auf und ab gehn.«

Der Actuar zögerte einen Augenblick, dann aber legte er schweigend seinen Arm in den Kellmann’s und beide Freunde gingen mitsammen die Treppe hinunter.

Es war indessen vollkommen dunkel geworden, und die Leute hatten sich, des feuchten Abends, wie des im Saal wogenden Tanzes wegen, meist alle aus dem Garten hinaus, und in die mehr geschützten Räume der Gebäude gezogen. Nur hie und da saß noch irgend ein kosendes Pärchen in einer Laube, oder schwärmte auch wohl auf dem Vorbau des Gartens nach dem, gerade über dem nebelgefüllten Thal jetzt aufzeigenden Vollmond hinüber, dessen große rothe Scheibe sich glühend aus den Bergen hob, und das weite, thaublitzende Thal überschaute.

Kellmann ging ruhig neben dem still vor sich nieder schauenden Freund her, bis sie den breiten Fußweg der schönen ebenen Chaussee erreichten, und eine kleine Strecke derselben hinauf gewandert waren; dann aber blieb er, diesen zurück haltend, plötzlich stehen, und sagte mit freundlichem, herzlichen Ton:

»Aber lieber Ledermann, Sie dürfen sich Ihrem Schmerz um das Kind nicht so ganz und rücksichtslos hingeben; lieber Gott ich begreife daß es ein schwerer, recht schwerer Verlust ist, aber Gott hat’s gegeben und Gott hat’s genommen, und wer weiß ob dem kleinen lieben Wesen dadurch nicht vielleicht ein recht trübes und schmerzliches Dasein erspart wurde.«

»Es ist nicht das Kind, Kellmann,« sagte aber der Actuar, leise mit dem Kopf schüttelnd, »nicht der Tod meiner kleinen Adele nagt mir jetzt am Herzen, obgleich der da oben weiß wie weh er mir gethan — nein, ich halte ihn sogar unter den jetzigen Verhältnissen, in denen ich lebe, für ein _Glück_, und es ist _furchtbar_, daß ich gezwungen bin so etwas von dem Tod meines eigenen, einzigen Kindes zu sagen.«

»Aber was, um Gottes Willen, haben Sie _denn_?« rief Kellmann, verwundert vor ihm stehen bleibend und ihn anschauend. »Irgend etwas _ist_ vorgefallen, aber was? — etwa wieder zu Hause der alte wunde Fleck?«

Ledermann nickte finster und schweigend mit dem Kopf.

»Aber was _will_ sie denn eigentlich,« rief Kellmann finster die Brauen zusammen und seinen Arm aus dem des Freundes ziehend, um besser gesticuliren zu können — »Wetter noch einmal, Ledermann, Sie hätten da schon lange ernst und entschieden auftreten sollen, die Sache ist jetzt schon viel zu weit eingerissen, und die Frau bringt sie, wenn das so fort geht, wahrhaftig noch unter die Erde.«

»Ernst und entschieden auftreten? — lieber Gott,« stöhnte der Actuar kopfschüttelnd — »soll ich mir denn die letzte leiseste Hoffnung auf einen, nur möglichen Hausfrieden selber muthwillig vernichten? — _Sie_ haben gut reden; _Ihr_ Geschäft ist in Ihrer eignen Wohnung, und Ihre Erholung gestattet Ihnen, _die_ außerhalb desselben zu suchen, ich aber sitze und schwitze den ganzen lieben ausgeschlagenen Tag auf dem verwünschten Bureau, und komme ich dann Abends zu Hause, und sehne mich nach einer halbstündigen gemüthlichen Ruhe, so beginnt die Frau, und wenn sie eine Ursache aus der Luft greifen sollte, mir das Leben zu einer Hölle zu machen. Lieber Gott, es fiele mir ja gar nicht ein Abends in ein Wirthshaus zu gehn, wenn ich Frieden daheim hätte; es giebt vielleicht wenig Menschen in der Welt, die sich so nach einem stillen, häuslichen Leben sehnen, wie gerade ich, und keinen, Kellmann, keinen weiter, dem es _so_ verbittert, so gänzlich aus dem Fenster geworfen wird, jeden Abend wieder von Frischem, wie gerade mir.«

»Aber was ist denn nur vorgefallen?«

»Das Ganze ist mit wenig Worten erzählt,« sagte der Actuar nach kurzer Ueberlegung entschlossen, »und Sie sollen mir rathen, wie ich im Stande bin mich einem Zustand zu entziehn, der mir unerträglich wird. Sie haben gehört daß ich von einem entfernten Verwandten sechshundert Thaler geerbt, die ich in den nächsten Wochen ausgezahlt bekomme. Das Vernünftigste nun wäre das Geld in irgend einem _sichern_ Staatspapier, oder in guten Actien anzulegen, und mit den wenigen, aber gewissen Zinsen meinen, überdies ärmlichen Gehalt zu erhöhen — ich habe fünfhundert Thaler jährlich und weiß bei Gott oft nicht wie ich auskommen soll.«

»Nun gut, das ist ja Alles so schön und glatt wie es nur sein kann.«

»Jawohl, aber meine Frau besteht darauf das Capital ihrem Bruder geben zu wollen, der ein Geschäft hat und mir _fünf_ Procent verspricht.«

»Ih nun, wenn es da sicher angelegt ist — fünf Procent wäre aller Ehren werth.«

»Aber es _ist_ nicht sicher angelegt; der Bursche ist ein liederlicher leichtsinniger Mensch, der schon einmal Bankerott gemacht hat und — wie ich ziemlich guten Grund habe zu vermuthen — an der Grenze eines zweiten steht.«

»Ahem,« sagte Kellmann nachdenkend.

»Geb ich _ihm_ das Geld,« fuhr der Actuar fort, »so ist es über Jahr und Tag, so sicher wie dort drüben der Mond aufgeht, verloren, und geb’ ich es ihm _nicht_, so weiß ich daß mir die Frau zu Hause den eignen Heerd zur Hölle macht.«

»Aber Donnerwetter, Ledermann, nehmen Sie mir das nicht übel,« sagte Kellmann stehen bleibend, »da würde ich denn doch einmal einen Trumpf darauf setzen und mein Recht als Mann und Herr im Hause wahren; nur durch Ihr ewiges Nachgeben haben Sie die Geschichte schon so, in Grund hinein verdorben.«

»Aber was _soll_ ich thun?« rief der Actuar verzweifelnd — »mit Worten _kann_ ich nicht gegen sie anstreiten, nicht sechs Männer könnten das; in Ruhe und Güte ist Nichts anzufangen mit ihr, und schlagen darf und will ich sie ebenfalls nicht.«

»So lassen Sie sich scheiden, zum Wetter noch einmal;« rief Kellmann, »lieber doch eine trockne Brodrinde kauen, als mit solchem Drachen das ganze Leben, eine ganze Existenz, mühselig und qualvoll hinzuschleppen.«

»Heute Abend zum ersten Mal,« sagte der Actuar seufzend, »habe ich ihr selber damit gedroht; ich habe ihr vorgehalten, daß sie sich mit mir nicht glücklich fühlen _könne_, weil sie fortwährend, und ohne auch nur einen einzigen Tag Frieden zu gestatten, zanke, und das Beste sein würde, wir ließen uns, einem Leben zu entgehen das auf die Länge der Zeit doch nicht durchgeführt werden könne, gerichtlich scheiden.«

»Nun? — und was hat sie darauf erwiedert?«

»Ich bin fortgelaufen,« sagte der Actuar, seufzend den Kopf von dem Freund abwendend, »denn sie wurde — sie wurde so heftig, und betrug sich — betrug sich so unvernünftig, daß ich mich vor den Nachbarn schämte, und lieber Hut und Stock nahm, den Frieden wieder, wie schon so oft, auswärts zu suchen.«

»Also sie weigert eine Scheidung?«

»Sie schwur sie wolle mir die Augen auskratzen, wenn ich noch einmal ein derartiges Wort erwähne, zerbrach dann in ihrer Wuth Gott weiß was Alles, und — ich glaube sie bekam nachher Krämpfe — ihr altes Leiden. Erst hatte ich gehofft der Tod des Kindes würde sie milder stimmen, aber nein, und wenn mich etwas über den Verlust des kleinen lieben Wesens trösten könnte, so ist es gerade der Gedanke, es dem bösen Beispiel, das ihm die eigene Mutter täglich gab, entrissen zu sehn — was hätte zuletzt aus ihr werden sollen, als eben eine solche Frau.«

»Und so ist gar keine Hoffnung, mit Güte durchzukommen? — «

Der Actuar schüttelte schweigend mit dem Kopf.

»Hm, das ist eine verfluchte Geschichte,« sagte Kellmann, »da — da weiß ich wahrhaftig auch nicht was ich rathen soll. Das Geld vertraute ich aber — wenn die Sache _so_ steht — meinem Schwager auch nicht an, soviel ist sicher — Sie sind das sich selber und Ihrer eigenen Existenz schuldig.«

Der Actuar seufzte tief auf und die beiden Männer gingen wieder eine Zeitlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nebeneinander hin. Sie waren indeß die Straße ein Stück hinauf- und wieder zurückgegangen, und blieben jetzt mehre Minuten nicht weit von dem Eingang des Gartens stehn, den Rücken diesem, und ihr Gesicht dem sich gerade über die Berge hebenden Monde zugewandt, als ein junges Mädchen, noch ein Kind fast und augenscheinlich auf der Wanderung, ganz allein mit einem kleinen Bündel in der linken Hand, und einem großen dunklen Tuch über dem rechten Arm, die Straße herunter kam und ziemlich dicht an ihnen vorüberging. So viel sie im Mondenlicht erkennen konnten, war sie nur ärmlich gekleidet, und auch wohl ermüdet von einem vielleicht langen Marsch, denn sie blieb zweimal stehen und trocknete sich dabei den Schweiß von der Stirn.

Das zweite Mal als sie Halt machte geschah das fast dicht vor den beiden, hier im Schatten eines Hollunderbusches stehenden Männern, die sie im Anfang gar nicht bemerkte, und sie schien den Tönen zu lauschen die aus dem etwa zweihundert Schritt davon gelegenen hellerleuchteten Gartenhaus wild und lustig heraustönten.

»Fröhliche Menschen,« flüsterte sie dabei — »_Glückliche_;« wie sie aber den Kopf dem Lichte zuwandte, fiel ihr Blick auch auf die beiden dunklen Schatten unter der Mauer, und wie unwillkürlich fuhr sie zurück; dabei glitt ihr das Bündel aus der Hand und fiel zu Boden.

»Wir thun Dir Nichts, Kind,« sagte Kellmann, der die Bewegung gesehen hatte, gutmüthig; »wo willst Du denn noch so spät hin?«

»Nach Heilingen,« antwortete das fremde Mädchen, ihr Bündel wieder aufnehmend — »ist es noch weit bis dorthin?«

»Eine halbe Stunde etwa, wenn Du rüstig zugingst; aber Du scheinst müde zu sein und wirst wohl länger brauchen.«

»Ich komme weit her,« sagte die Fremde, aber sie zögerte dabei und es war als ob sie noch nach irgend etwas fragen oder um etwas bitten wolle, und sich auch wieder scheue es zu thun.

»Du bist wohl hungrig, Kind?« frug sie da Kellmann, dessen gutes Herz ihn zu helfen drängte, wo das in seinen Kräften stand — »sag’s gerad’ heraus; und wenn Du kein Geld hast macht das nichts, ich schaffe Dir was.«

Das Mädchen schwieg und drehte seufzend den Kopf ab und Kellmann, dem richtigen Princip der Gastlichkeit und Menschenliebe treu, nicht viel zu fragen erst, wo man gern giebt, sagte ihr sich einen Augenblick auf die kleine Bank am Thor zu setzen, und er werde ihr einen Imbiß holen — sie könne dann Heilingen bald erreichen. Ohne erst eine Antwort abzuwarten ging er darauf rasch in’s Haus, und das Mädchen zögerte noch einen Augenblick und folgte dann, augenscheinlich zum Tod ermüdet, der freundlichen Einladung.

»Du kommst weit her?« sagte der Actuar endlich, der neben ihr stehn geblieben, im Anfang aber noch zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, viel auf die Fremde zu achten.

»Von Erfurt.«

»Von Erfurt? hm — das ist eine lange Strecke; zu Fuß den ganzen Weg?«

»Ja.«

»Und willst in Heilingen bleiben?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Hast Du Verwandte dort?«

»Einen Bruder.«

»Hast Du denn einen Paß bei Dir?«

»Ja,« sagte das Mädchen und holte, mit einem scheuen Blick auf den Frager, ihr kleines Bündel vor, das sie Miene machte aufzuknüpfen, der Actuar aber, der die Bewegung verstehen mochte, sagte rasch:

»Nein nein — laß nur sein — ich will ihn nicht sehen — ich frug nur Deinethalben, damit Du hier in der Stadt in keine Verlegenheit kämest. Da ist auch Freund Kellmann schon mit dem Essen — nun laß Dir’s schmecken.«

»Da,« sagte der kleine Kürschner, der schnellen Schrittes mit einem großen gestrichenen Weißbrod und einem hohen Glas Milch herankam und es der Fremden reichte — »das wird Dir gut thun.«

Das junge Mädchen nahm das Glas mit schüchternem Danke an und trank — erst ein wenig, dann aber herzhafter — sie mochte wohl recht durstig gewesen sein. Wie sie fertig war setzte sie das Glas auf die Bank zurück und nahm ihr Bündel wieder auf.

»Ich danke Ihnen auch noch viel tausend Mal,« sagte sie dabei mit weicher, ergriffener Stimme — »ich hatte seit heute Morgen Nichts gegessen und war recht matt geworden.«

»Armes Kind,« sagte Kellmann mitleidig — »aber hast Du denn schon einen Platz in der Stadt wo Du übernachtest?«

»Ja,« sagte die Kleine — »ich denke so — können Sie mir aber wohl noch sagen ob das Haus des reichen Herrn Dollinger nahe am Thore ist, oder weit in der Stadt drin?«

»Dollinger’s Haus? oh nicht so weit in der Stadt drin — aber was willst Du dort?«

»Mein Bruder ist in Herrn Dollinger’s Geschäft — wohnen auch die Leute bei ihm im Hause?«

»Nicht daß ich wüßte,« sagte Kellmann.

»Aber man kann es doch dort erfahren wo sie wohnen?«

»Gewiß — gleich unten im Haus bei dem Hausmann; frage nur nach der Poststraße, wenn Du in’s Thor kommst.«

»Gute Nacht Ihr Herren, und nochmals schönsten Dank — Gott mag es Ihnen vergelten.«

»Gute Nacht Kind, guten Weg,« sagte Kellmann, »aber — wie heißt denn Dein Bruder?«

»Franz Loßenwerder,« sagte das Mädchen und ging langsam die Straße hinab.

»Oh Du mein Gott,« rief der Actuar leise und erschreckt vor sich hin, wie er den Namen hörte — »das ist ja schrecklich.«

»Du lieber Gott, das arme Ding muß von dem Schicksal des Bruders gar Nichts wissen,« seufzte auch Kellmann — »und wenn sie das jetzt heute Abend erfährt — o wo wird sie nur die Nacht bleiben?«

»Armes, armes Kind,« sagte der Actuar, »und selbst ohne Geld in der fremden Stadt.«

»Ich geb’ ihr etwas,« rief Kellmann, rasch entschlossen, und eilte »heh! — pst!« rufend die Straße hinab dem Mädchen nach, das stehen blieb und nach Bündel und Tuch fühlte als sie den Ruf hörte, weil sie glaubte daß sie vielleicht etwas vergessen hätte.

»Liebes Kind,« stotterte aber Kellmann verlegen, als er sie eingeholt, denn er konnte es nicht über’s Herz bringen ihr die Wahrheit zu sagen — »ich — ich kenne Deinen Bruder, aber — er ist jetzt nicht in Heilingen — Du — Du wirst es morgen schon hören, und im Dollingerschen Hause können sie Dir auch heute nichts weiter sagen, es ist sogar sehr die Frage ob der Mann unten im Haus noch auf ist. Gleich wenn Du in’s Thor hineinkommst, das dritte Haus an der rechten Seite, vor dem die beiden Laternen stecken, ist ein Gasthaus — ein gutes anständiges Haus, wo sie Dir Quartier geben werden — da gieb ihnen diese Karte, der Wirth kennt mich, und sage ihm nur ich hätte Dich hingeschickt.«

»Aber bester Herr,« sagte das Mädchen bestürzt, als ihr der gutmüthige Kürschnermeister mit der Karte zwei große Stücken Geld — es waren zwei Thaler — in die Hand drückte — »ich weiß gar nicht — «

Kellmann ließ sie aber gar nicht zu Worte kommen.

»Schon gut — schon gut,« rief er, drehte sich um, und kehrte, das Mädchen allein auf der Straße zurücklassend, eben so rasch nach dem Platz zurück, wo der Actuar noch seiner harrend stand.

»Haben Sie es ihr gesagt?« frug dieser ihn.

»Nein — um Gottes Willen nein; das mögen Andere thun, _ich_ könnte es nicht.«

»Aber was soll jetzt aus ihr werden?«

»Ich werde mich im Löwen schon nach ihr erkundigen,« sagte Kellmann nach kurzer Ueberlegung — »und wenn es ein ordentliches Mädchen ist, hab ich Bekannte genug hier in der Stadt, ihr einen Dienst zu verschaffen. Aber wie ist es denn mit der Loßenwerderschen oder Dollingerschen Geschichte geworden? ist denn noch etwas von dem gestohlenen Gut zu Tage gekommen? — man hört ja keine Sterbenssylbe mehr darüber.«

»Nichts — gar nichts weiter,« sagte der Actuar; »im Gegentheil hat der arme Teufel von Loßenwerder ein kleines Tagebuch geführt gehabt, was sich unter den confiscirten oder mit Beschlag belegten Sachen fand, und worin er jeden bis dahin eingenommenen Groschen sorgfältig und ordentlich, mit seinen höchst bescheidenen Ausgaben, aufnotirt. Das aber als gültig angenommen — und wir haben nicht die mindeste Ursache es zu bezweifeln da es fast zwölf Jahre zurückführt — wäre im Gegentheil der Beweis geliefert daß die aufgefundenen zweihundert Thaler mühsam und redlich gespartes Geld gewesen wären.«

»Und _kein_ anderer Beweis hat sich gegen ihn herausgestellt?«

»Keiner, als daß er im Hause war und sich auffällig heimlich daraus entfernt hat; aber auch selbst das findet nach den Acten eine wahrscheinliche, wenn auch etwas wunderliche Erklärung. Nach einer Zahl vieler höchst mittelmäßiger, oft aber auch ziemlich guter Gedichte, in denen sich besonders viel Gemüth ausspricht, scheint der arme verwachsene und hülflose Mensch eine Art von — Liebe — ich kann es nicht anders nennen, gegen Dollinger’s jüngste Tochter und Henkel’s Braut in seinem unschönen Körper mit herumgetragen, und nur, seinen Standpunkt gar wohl erkennend, den einzelnen, in seinem Pult verschlossenen Blättern anvertraut zu haben — doch das unter uns. Diese unglückselige und hoffnungslose Neigung _kann_ ihn möglicher Weise dazu getrieben haben, dem jungen Mädchen zu ihrem Geburtstag einen Blumenstock zu schenken — er hat sogar ein Gedicht geschrieben was den Punkt berührt, und worin er sich glücklich fühlt daß sie eine Blume pflegen könnte die er gezogen, wenn sie auch nicht wüßte von wem sie käme. Daß er unter solchen Umständen nicht wollte im Hause gesehen sein läßt sich denken, und ein Diebstahl in ihrem eigenen Zimmer verliert, diesen Thatsachen gegenüber, an Wahrscheinlichkeit, wenn er auch nicht eben zu einer Unmöglichkeit gehörte. Das Menschenherz ist schwach, und Mancher schon ist geringerer Verführung erlegen.«

»Hm, hm, hm,« sagte Kellmann vor sich hin — »das ist ja eine rechte, rechte böse Geschichte, und der arme Teufel da am Ende ganz und gar unschuldig in sein Verderben gesprungen.«

»Ja, und eine Sache die mir selber schon manche schlaflose Nacht gemacht hat,« sagte der Actuar, »denn ich _kann_ den Gedanken nicht los werden, welchen Antheil ich selber daran gehabt, den Unglücklichen dahin zu treiben — obgleich ich eben nicht mehr als meine Pflicht gethan, und an einen solchen verzweifelten Schritt nicht denken konnte; war er unschuldig, hätte sich das ja bald in der Untersuchung herausgestellt.«

»Ja, und die Untersuchung rechnet Ihr Herrn vom Gericht eben für Nichts,« sagte Kellmann finster — »aber wenn das sein erspartes, und Gott weiß dann _wie_ mühsam erspartes Geld war, wird es doch auch seinen Erben nicht können vorenthalten werden.«

»Die Untersuchung ist noch nicht ganz geschlossen,« sagte der Actuar, »aber ich glaube auch nicht daß irgend Jemand anders einen Anspruch darauf wird geltend machen können. Diese Schwester erwähnte er überhaupt mehrmals in seinen Notizen, und hat sie auch dann und wann unterstützt, das Geld wird ihr später allerdings zugesprochen werden.«

»Und keine Spur ist sonst aufgefunden von dem möglichen, von dem wirklichen Dieb?«

»Keine — die Dienstboten sind Alle mehrmals scharf inquirirt und auf das Genauste die ganze Zeit beobachtet, zu sehen ob eins von ihnen vielleicht größere Ausgaben als gewöhnlich mache, oder sich durch irgend etwas anderes verrathen würde; ja die Leute haben untereinander fast eben so scharfe Wacht gehalten, den Verdacht von sich abzuwälzen und den Schuldigen aufzufinden, aber es hat sich bis jetzt nicht das Mindeste herausstellen wollen. Mit Geld ist das eine böse Sache, und wenn der Dieb die Juwelen nur vorsichtig ein paar Jahr an sich hält, und dann vielleicht noch gar außer Landes schafft, wer soll ihn da aufspüren? allwissend sind wir auch nicht.«

»Das weiß Gott,« sagte Kellmann — »wie damals mit der Pelzdecke, die mir Jemand von der Ladenthür weggestohlen, und die ich zwei Jahr später ganz gemüthlich im Polizeibureau, beim Polizeidirector selber in der Stube wiederfand; da hört denn doch Alles auf. Aber mir ist wahrhaftig jetzt nicht wie spaßen zu Muth; der Anblick des armen Mädchens hat einen wehmüthigen Eindruck auf mich gemacht; lieber Himmel, was es doch für Elend auf der Welt giebt, und still und bewußtlos gehen wir meist daran vorüber.«

»Und die Musik da drinnen, während das arme Kind dort allein und freundlos seine Straße geht, und trotzdem jetzt noch glücklich ist gegen den Augenblick, wo es das Furchtbare doch erfahren _muß_. Mich leidet’s heute nicht länger hier draußen, Kellmann,« brach er kurz ab — »ich mag die Tanzmusik nicht hören — wollen wir zurück in die Stadt gehn? es ist überdies schon spät.«

»Ich habe Nichts dagegen,« sagte Kellmann, tief aufseufzend — »mir ist der Abend heute auch verdorben, aber wir wollen Schollfeld erst abrufen.«

»Da drin ist wohl Prügelei?« sagte da Ledermann, als aus dem Hause wilder Lärm zu ihnen heraus tönte.

»Das wäre früh,« meinte Kellmann — »die kommt gewöhnlich sonst erst später, oder ganz zum Schluß. Es ist doch sonderbar, daß ein deutscher »Tanz« nie ohne eine Schlägerei enden kann; es scheint auch ungefähr dasselbe, wie der Cotillon bei einem Ball, nur daß sich die jungen Mädchen nicht dabei betheiligen — höchstens verheirathete Frauen, ihre Eheherren zu schützen, und die Verwirrung womöglich noch größer zu machen — hallo aber das kommt hier heraus.«

»Sie werden Jemanden hinauswerfen,« sagte der Actuar ruhig — »lassen Sie uns an die Seite treten daß wir nicht in das Gewirr gerathen.«

Der Actuar hatte allerdings recht, denn unter dem Lachen, Schreien und Jubeln der Menge, durch das einzelne wilde Flüche einer, ihnen keineswegs unbekannten Stimme tönten, wälzte sich ein Haufen Menschen aus dem Saal heraus, in der Mitte einen Mann schleppend, der sich mit Händen und Füßen, wenn auch umsonst, gegen solche unwürdige Behandlung sträubte, und in dem die beiden Freunde sehr zu ihrem Erstaunen den Auswanderungsagenten Weigel erkannten.

»Laßt mich los!« schrie dieser dabei, mit den wildesten, ungemessensten Flüchen und Schimpfreden — »laßt mich los oder ich rufe die Polizei — Hülfe! — Mörder! Feuer!«

»Brüll nur mein Herzchen!« sagte aber der Verwalter von Hohleck, eine riesige breitschultrige Gestalt, der den machtlos dagegen Ankämpfenden wie in einer eisernen Klammer am Kragen gepackt hielt — »Dich könnten wir hier brauchen, die Leute heimlich beschwatzen daß sie Hof und Dienst verlassen und nach Amerika liefen — ei Du Hallunke, Du kommst mir einmal wieder vor die Fäuste.«

»Halt da — Hohmeier! laßt ihn los!« rief aber in diesem Augenblick eine andere, etwas schwer klingende Stimme, die dem also Gefährdeten zu Hülfe zu eilen schien — »der hier — Homeier — der hier ist mein Freund — mein ganz intimer Freund und den laß ich mir — Homeier, den laß ich mir nicht aus dem Hause werfen.«

Es war Niemand anderes als der Wirth, Lobsich, selber, aber, wie es die Seeleute nennen, »halb im Wind«, mit schwerer Zunge und schon etwas taumelndem Gang, daß sich der Zustand in dem er sich befand, nicht gut verkennen ließ. Er versuchte dabei den Agenten zu halten und aus den Händen derer die ihn gefaßt hatten fortzuziehn; Hohmeier, der Verwalter schob ihn aber mit seinem linken Arm bei Seite, als ob es ein Kind gewesen wäre, und sagte ruhig:

»Geht zu Bett Lobsich, das wär’ Euch viel besser heut Abend, aber mischt Euch nicht in Sachen die Euch Nichts kümmern.«

»Nichts kümmern?« rief aber der Wirth gereizt, indem er den Verwalter mit großen stieren Augen ansah — »nichts kümmern _Hoh_meier? — oh _Hoh_meier wem gehört denn dies Haus, heh? — nichts _kümmern_? wem gehört denn der rothe Drache, heh, _Hoh_meier.«

Die Schaar war indessen bis grade dorthin gekommen, wo Kellmann und der Actuar standen, und wo sie den Agenten zwischen zwei ziemlich nah zusammen wachsenden Akazienbäumen durchtragen wollten als dieser, solche letzte Gelegenheit vielleicht, benutzend, Arm und Beine auseinanderspreitzte, daß sie ihn nicht hindurchbringen konnten, während er von Neuem sein »Hülfe! Mörder! Feuer!« aus voller Kehle schrie.

»Wenn ihm nur Jemand die Beine ausheben wollte!« sagte Herr Schollfeld, der ein höchst vergnügter Zeuge der Scene war, ohne jedoch seines schwächlichen Körpers wegen selber Theil daran zu nehmen, jetzt wohlmeinend. Ein paar Knechte vom Hof, die ihren Verwalter in seinem Richteramt unterstützten, ließen sich das auch nicht zweimal sagen, und der wüthend, aber vergebens dagegen Antretende fand sich bald in der vollkommnen Gewalt der Leute, ohne im Stande zu sein auch nur den geringsten erfolgreichen Widerstand zu leisten.

»Heh _Hoh_meier!« schrie aber Lobsich, der sich indeß durch die im Garten stehenden Stühle und Tische wieder nach vorn gedrängt hatte den Mann frei zu machen, von dem er sich plötzlich einbildete daß er sein Freund sei, »laßt mir den Menschen los, sag ich Euch _Hoh_meier — Donnerwetter ich will doch einmal sehn wer hier in meinem eigenen Hause zu befehlen hat. Ihr oder ich — _Hoh_meier. Es ist mir doch was Unbedeutendes!« Er schien sich auch in der That den Leuten entgegenwerfen zu wollen; im Vorspringen, und das viele Getränk im Kopf, blieb er aber mit dem einen Fuß in einer dort stehenden Fußbank hängen, und schlug der Länge lang in den Garten, während die Knechte den jetzt wüthend um sich schlagenden Agenten rasch aufgriffen und, lachend über des Wirthes Unfall, aus der Gartenthür auf die Straße warfen.

Ein furchtbarer Lärm entstand jetzt, die Leute jubelten und lachten, und erzählten sich untereinander wie der »Auswanderungsmann« einen Schaafknecht vom Gut hätte bereden wollen als »Schaafmeister« nach Amerika auszuwandern, und vom Verwalter dabei erwischt wäre, und der »Auswanderungsmann« stand vor dem Gartenthor und schimpfte und wüthete, bis einer der Knechte das Schloß wieder aufdrückte und hinaus und ihm nach wollte, und dann auf der Chaussee stehen blieb und hinter dem davon Laufenden herfluchte, und Steine hinter ihm drein warf.

Drinnen im Saal tönte die Musik aber wieder rauschender als vorher, und die jungen Burschen durften die Zeit hier nicht länger im Garten versäumen. Während die aber wieder in den Saal drängten, Tänzerinnen zu bekommen, und Schollfeld von Kellmann angerufen war, mit ihnen zurück nach der Stadt zu gehn, blieb Lobsich noch im Garten, an dessen Thüre er trat, und nach der Straße hinaus mit lauter und immer ärgerlicher werdender Stimme Weigel’s Namen schrie. Lobsich war jedenfalls stark angetrunken und wollte sehr wahrscheinlich den Mann zurück holen, um ihm jetzt ernstlich beizustehn und den Skandal noch einmal von Neuem zu beginnen.

Die drei Freunde hielten sich dabei im Schatten eines dichten Fliederbusches, von dem aufgeregten und jetzt doch nicht zurechnungsfähigen Menschen nicht bemerkt zu werden, und dann unbelästigt den Garten zu verlassen, als Lobsich’s Frau, die das Toben ihres Mannes wohl im Haus gehört, von dort her und den Mittelweg herunter eilte. Ohne daß er sie bemerkte kam sie auch bis dicht an ihn hinan, und hier seinen Arm ergreifend sagte sie mit leiser, bittender Stimme.

»Lobsich — Vater — komm sei vernünftig, laß das Schreien und Toben hier auf der Landstraße und geh zu Bette — thu _mir’s_ zu Liebe Lobsich, wenn ich Dich darum bitte.«

»Laßmchfrieden,« stammelte aber der Betrunkene mit schwerer Zunge und suchte sie von sich abzuschütteln — »laß mchfrieden sag ich — Dnrrwttrrr — ich weiß — ich weiß was ich ss — se thun habe — «

»Aber Lobsich, ich bitte Dich um Gottes Willen,« flüsterte die Frau in Todesangst — »Du machst Dich und mich unglücklich wenn Du Dich nicht änderst — was soll daraus werden?« —

»Laßmch — frieden,« stammelte aber der Mann, sie unwillig von sich abschüttelnd, aber er verließ den Thorweg wenigstens und taumelte durch den Garten fort, seitwärts vom Hause ab — »Weibervolk,« murmelte und fluchte er dabei — Himmelsakkrments Weibervolk — Unsinn — violettblaues — ist mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes — « und er verschwand damit hinter den Büschen. Die Frau aber blieb, den Ellbogen auf das Thürschloß gestützt und das Gesicht in den Händen bergend, allein zurück, richtete sich aber rasch wieder auf, als sie Schritte auf sich zukommen hörte, und wollte nach dem Haus zurück.

»Frau Lobsich,« sagte Kellmann, der es war, gutmüthig, ja fast herzlich — »macht denn das Lobsich jetzt öfter daß er so über die Schnur haut?«

»Ach Sie sind es Herr Kellmann,« sagte die arme Frau beruhigt. »Lieber Gott, ich weiß meinem Herzen keinen Rath mehr, wenn er’s so fort treibt; wie soll das enden?«

»Aber ich habe Ihren Mann so doch noch in meinem Leben nicht gesehn,« sagte Kellmann verwundert.

»Ach ja,« seufzte die Frau — »es ist nicht das erste Mal, aber ich habe immer gesucht es so viel als möglich zu verheimlichen, es giebt gar solch ein böses Beispiel für die Leute. Es sind auch eigentlich nur einige Wochen erst daß er so scharf zu trinken anfängt. Lieber Gott, im Kopf hat er früher schon manchmal eins gehabt, aber er artete doch nie aus, jetzt jedoch geht der Spiritus mit ihm durch, und er wird zum Thier. Ach guter Herr Kellmann, wenn Sie einmal ein recht ernstes aber doch freundliches Wort mit ihm sprechen wollten; auf Sie hält er etwas. Mir verspricht er’s wohl auch,« setzte sie leiser hinzu, »aber — er vergißt es immer nur zu rasch wieder.«

»Ich will mein Möglichstes mit ihm versuchen, Frau Lobsich,« sagte Kellmann freundlich — »aber,« setzte er rascher und leiser hinzu — »dort glaub’ ich kommt er schon wieder zurück, es wird besser sein wenn Sie versuchen ihn heute Abend zu Bett zu bringen; mit einem betrunkenen Menschen läßt sich Nichts anfangen.«

»Na? — Donnrrwttrrr,« stammelte aber in diesem Augenblick der Wirth, der auf seinem Zickzack Cours wieder nach der Thür zurückkam, und die Arme einstemmend einen, wenn auch vergebenen Versuch machte, mit gespreitzten Beinen vor seiner Frau stehen zu bleiben — »Dnnrrrwttrrr,« wiederholte er, herüber und hinüber schwankend — »was’s das vor Wirthschaft heh? wo gehört die — gehört die Frau hin, heh? — in die Hofthür mit fremden Kerlen schwatzen heh? — ist mir doch — ist mir doch was Unbe — Unbedeutendes.«

»Aber lieber Lobsich,« nahm hier der jetzt auch hinzugetretene Schollfeld das Wort, »sein Sie doch vernünftig und gehn Sie — «

»Hallo?« rief aber der Wirth, sich halb nach dem Redner herumdrehend, in dessen hell vom Mond beschienenen Zügen er den Apotheker erkannte — »sin’ wir auch hier? heh? — haben auch mit g’holfen mein’ besten Freund — mein’ besten Freund mit hinaus zu werfen — heh? Sie — Sie Giftmischer Sie — Sie — «

»Herr Lobsich!« rief Schollfeld ärgerlich, »Sie sind heute nicht zurechnungsfähig, sonst — «

»Was? — Pillendreher will noch — will noch raiss — raiss’niren — heh?« rief aber der gereizte Wirth und that einen Schritt gegen den Mann an.

»Aber Lobsich so bedenke doch um Gottes Willen was Du sprichst,« bat ihn die Frau, seinen Arm ergreifend — »komm mit mir in’s Haus — wir haben noch so viel zu thun.«

»Viel zu thun? — heh? — habe keine Zeit mehr heut Abend — hickup« — stammelte aber der Mann gegen den Schlucken ankämpfend — »muß noch — muß noch — hickup — muß noch Wein abziehn und — und Bier trinken — hickup — und — und hahahahaha — da ist — da ist ja die ganze Gesellschaft — ja wohl — hickup — ja wohl, komme schon — komme schon meine Herrn — Lobsich ist immer da — ein verfluchter Kerl, der — der — hickup — der Lobsich — ist mir doch — ist mir doch was Unbedeutendes;« — und in einer unbestimmten Idee daß ihn vom Haus aus Jemand gerufen hätte, wobei er seine Umgebung ganz vergaß, taumelte er dem Saal wieder zu, wohin ihm die Frau ängstlich folgte. Sie mußte ihn ja zurückhalten, daß er so seinen Gästen und Leuten nicht wieder unter die Augen kam.

 

 


 

Capitel 9.

RÜSTUNGEN.

»Nach New-Orleans!«

»Das ausgezeichnet schöne, 360 Last große, schnellsegelnde, kupferfeste und gekupferte dreimastige Bremer Schiff erster Klasse:

_Die Haidschnucke_, Capitain _E. Siebelt_, mit vorzüglicher Gelegenheit für Cajüts- und Zwischendecks-Passagiere — wird am 30. August expedirt.

Agent dafür, I. G. Weigel,

Hauptagent des Central-Bureau’s für Norddeutsche Auswanderung in Heilingen, am Markt Nr. 17.«

Diese Anzeige stand am Morgen nach den, im letzten Capitel beschriebenen Vorfällen im Heilinger Tageblatt, und Dr. Haide, der Redacteur desselben, hatte die Gelegenheit nicht unbenutzt wollen vorübergehen lassen, einige entsetzliche Mordgeschichten und falsche Bankerotte aus den Vereinigten Staaten, wie zur Entmuthigung aller Auswanderungslustigen, in der nämlichen Nummer seines Blattes abzudrucken.

Weigel war wüthend darüber, und schrieb augenblicklich einen anderen Artikel dagegen; den nahm Doctor Haide aber nicht auf, weil er, wie er ganz naiv erklärte, »sich dadurch selber blamiren würde.« Uebrigens sei die Sache auch schon erledigt, indem die Schiffsanzeige _für_, sein Artikel aber _gegen_ Amerika und die Auswanderung wäre, und er es sich zum Grundsatz gemacht hätte, jeden Artikel nach beiden Seiten hin zu beleuchten — wenn Herr Weigel etwas gegen ihn wolle einrücken lassen, sei er keineswegs verpflichtet es aufzunehmen, und er möge ihn deshalb, wenn er damit durchzukommen glaube, nur ganz einfach darauf verklagen.

Die Abfahrt dieses Schiffes war aber für Heilingen in so fern von nicht unbedeutender Wichtigkeit, als sich mehre Familien dieser Stadt ernstlich dahin entschlossen hatten, mit demselben nach Amerika auszuwandern. So unter Anderen Professor Lobenstein, der sein Haus jetzt verkauft, und der Stadt überhaupt durch seine beabsichtigte Auswanderung höchst willkommenen Stoff zu den mannichfaltigsten Vermuthungen und Erörterungen geliefert hatte. Ja mehrere Kaffeegesellschaften der näheren Bekannten Lobenstein’s waren wirklich nur einzig und allein zu dem Zweck gegeben worden, sich einmal ordentlich über die Sache »aussprechen« zu können.

Auch in dem Dollinger’schen Haus hatten die letzten Wochen bedeutende Veränderungen hervorgebracht, indem der junge Henkel Briefe von Amerika erhielt, nach denen seine Anwesenheit dort, dringend nothwendig geworden. Zwei Wechsel trafen zugleich für ihn ein, wie ziemlich starke Aufträge zu Ankäufen in Tuchen und Seidenwaaren von seinem Haus, welches Geschäft er mit Herrn Dollinger in Gemeinschaft auszuführen gedachte.

Der alte Herr Dollinger, so schwer es ihm auch wurde, und so lange er sich dagegen gesträubt, mußte da wohl endlich seine Einwilligung zu der Verbindung Clara’s mit dem jungen Amerikanischen Kaufmann, über dessen Familie und Geschäft in New-Orleans er von einem dortigen Geschäftsfreund das Beste erfahren hatte, geben. Nur wunderte man sich dort, daß der junge Henkel in Nord-Deutschland sei, während man ihn auf einer größern Tour durch Italien und Griechenland vermuthet. Die Leute dort konnten nicht wissen daß der junge Mann auf dem Rhein andere Pläne für seine Zukunft geschaffen, als er sie früher vielleicht ausgesonnen.

Am letzten Sonntag war also, ganz in der Stille, die Trauung vollzogen und Clara, das liebe holde Mädchen, die Frau des jungen reichen Amerikaners — wie man ihn überall in der Stadt nannte, geworden. Jetzt galt es nun freilich noch, in der kurzen Zeit all die nöthigen und so mannichfachen Vorbereitungen zu einer Reise nach Amerika für die junge Frau zu treffen. Es sollte aber wirklich auch nicht viel mehr als eine Reise werden, denn Henkel hatte sich schon selber fest erklärt, seinen künftigen Wohnsitz keineswegs in Amerika, sondern in Havre nehmen zu wollen, wo überdies, der bedeutenden Geschäftsverbindung wegen mit diesem Hafen, ein Associé des Hauses sich aufhalten mußte. Ein oder zwei Monate gedachten die jungen Eheleute dann jedes Jahr in dem reizend gelegenen Heilingen zuzubringen, was ihnen, wie den Eltern, die jetzige Trennung sehr erleichterte, und spätestens im März oder April schon wieder nach Europa zurückkehren zu können. Die ganze Reise war dadurch wirklich fast nur zu einer etwas längeren Vergnügungsfahrt geworden.

Auch für Clara’s Mutter war das Bewußtsein, ihr Kind nicht für immer zu verlieren und bald wieder in die Arme schließen zu können, eine unendliche Beruhigung, und selbst hierzu hatte es ihr einen großen Kampf gekostet, ihre Einwilligung zu geben. Clara selbst aber hing mit ganzem Herzen an dem theuren Mann, und fühlte sich vollkommen glücklich in einer Verbindung, die seit sie den Fremden kennen und lieben gelernt, ihr das Ziel ihrer irdischen Wünsche geschienen.

Was war ihr die Reise, was die Gefahr und Mühseligkeit derselben? sie wäre ihm in eine Wildniß gefolgt, und hätte sich doch glücklich an seiner Seite gefühlt.

Der junge Henkel wünschte nun die Ueberfahrt in einem Englischen Dampfer nach New-York, und von da mit einem Amerikanischen Dampfschiff nach New-Orleans zu bewerkstelligen, Clara fürchtete sich aber an Bord eines Dampfers zu gehn, theils der doppelten Gefahr, theils der unangenehmen Bewegung derselben in schwerem Wetter wegen, von der sie viel gehört, und da es sich jetzt gerade so traf daß eine ihr befreundete Familie, Professor Lobenstein’s, ebenfalls nach New-Orleans, und in einem Segelschiff von Bremen ab auswanderte, bat sie mit diesen reisen zu dürfen. Henkel selber schien nicht recht damit einverstanden, fügte sich aber doch endlich den Bitten seiner jungen Frau.

Wenn aber bei Dollinger’s im Haus wenig mehr als Wäsche und Kleider herzurichten waren, nur zu einer Reise nicht zu einer Uebersiedlung nach Amerika, und man diese schon großenteils gepackt und vorausgeschickt hatte, die letzten Stunden in der Heimath durch kein Aussuchen und Packen gestört zu haben, so schien dagegen bei Professor Lobenstein das ganze Haus von innen nach außen gekehrt zu sein.

Der Professor nämlich hatte auf keinerlei Weise bewogen werden können mit seinen Sachen eine Auction anzustellen, und nur das Nothwendigste mitzunehmen, da Fracht und Spesen unterwegs ein wirkliches Capital auffressen würden, für das er sich Alles was er dort brauchte auch an Ort und Stelle neu anschaffen könnte. Allen die ihm dies riethen zeigte er aus verschiedenen Schriften die statistisch aufgestellten Arbeitslöhne der verschiedenen Handwerker, wie die Preise der Provisionen, und bewieß ihnen auf das Klarste und Unumstößlichste was jedes einzelne Stück Meublen und Hausgeräth in notwendiger Folgerung in Amerika kosten müsse. Eben so hatte er sich mit unendlicher Ausdauer einen Ueberschlag der verschiedenen Frachtpreise nach New-Orleans, und von da in’s Innere gemacht, bis er endlich zu dem obigen Resultat gekommen, und nun auch augenblicklich eine Anzahl Tischler in Arbeit setzte, lauter neue Kisten für seine Sachen anzufertigen.

Eine große Anzahl von diesen war nun schon, gepackt und mit eisernen Reifen beschlagen, als Fracht vorausgeschickt, eine andere Sendung sollte heute abgehn, und die letzten dann in den nächsten Tagen befördert werden, noch zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein. Kellmann selbst, dem Hause eng befreundet, hatte dahin mehrere Aufträge übernommen, und kam heute Morgen, Bericht über die Ausführung derselben abzustatten.

Er selber war natürlich mit der ganzen Uebersiedlung gar nicht einverstanden, hatte aber doch, als er alle Gründe des Professors dafür gehört, weit weniger dagegen gesagt, als die Familie im Anfang vermuthet und auch wohl gefürchtet haben mochte. Der Professor sei eben ein Professor, meinte er nur, und wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt habe, ließ sich auch Nichts mehr abstreiten oder gar dagegen beweisen, man müsse ihn eben sich selber überlassen, und — es thue ihm nur um die Familie leid. Nichtsdestoweniger gab er sich jede erdenkliche Mühe ihnen, wo er es nur irgend vermochte, beizustehn, wobei er den Professor doch von manchem unüberlegten oder unpraktischen Schritt zurückhielt. So kämpfte er, und zwar glücklicher Weise mit Erfolg, gegen die unglückselige Idee des Professors an, sich hier, trotz Allem was er darüber schon gelesen, von dem Auswanderungsagenten Land und eine Farm zu kaufen. Er wollte drüben nicht »in Gefahr kommen« von Amerikanischen und betrügerischen Landspeculanten hintergangen zu werden, und seine Berechnung sämmtlicher Kosten gleich hier an Ort und Stelle machen können, was ihm nicht möglich sei, wenn er die Contracte nicht in der Tasche habe.

Kellmann, auf dessen praktisches und gesundes Urtheil er sonst überhaupt viel gab, machte ihn mit seinen ernstlichen Vorstellungen aber doch stutzig, und noch eine authentische Person über die dortigen Verhältnis zu hören, wandte er sich zuletzt an den jungen Henkel, und bat diesen um Meinung und Rath über die, ihm allerdings sehr am Herzen liegende Sache. Dieser rieth ihm aber ebenfalls auf das Entschiedenste ab, sein Geld hier an eine solche Speculation wegzuwerfen, denn dieser Weigel scheine ihm, was er bis jetzt von ihm gesehn, eine keineswegs volles Vertrauen verdienende Persönlichkeit. Er solle warten bis sie drüben wären, dort habe er Zeit genug (Kellmann hatte ihm dasselbe gesagt), und finde er in New-Orleans oder Missouri nichts Besseres, so sei er selber vielleicht im Stande ihm ein kleines reizendes Gut abzutreten, das er einmal auf einem Jagdzug in’s innere Land gekauft, und jetzt noch verpachtet hätte.

»Und der Preis?«

»Er würde zufrieden sein.« Damit war die Sache für jetzt abgemacht; freilich zu Weigels Verdruß, der die Farm, wie er sich ausdrückte, nun noch »zur Verfügung« behielt.

Es mochte etwa Morgens um elf sein, als Kellmann Professor Lobensteins besuchte. Das Haus war am vorigen Tag öffentlich verauctionirt und von einem reichen Weinhändler in Heilingen erstanden worden, die Familie aber jetzt in angestrengter Arbeit eifrig bemüht das unangenehme Gefühl nicht allein zu verscheuchen, sondern auch eines vor dem anderen zu verbergen, »zum _ersten_ Male in der _eigenen_ Heimath _fremd_ zu sein;« zum ersten Mal fremd in den Räumen, die ihrer Kindheit Spiele gesehn, und Zeuge gewesen waren ihrer keimenden Hoffnungen und Träume.

Der erste schwere Schritt zu einem neuen Leben und Wirken war aber damit geschehn; freilich auch zu gleicher Zeit die Brücke abgebrochen, die noch zurück hätte führen können in das Vaterland. Das Band war damit zerrissen, das sie noch an dieses knüpfte, und wunderbarer Weise hatte sich jetzt, wie sie sich gestern noch fast Alle gefürchtet vor dem Gedanken die lieben theueren Räume zu verlassen, ein fremdes unheimliches Gefühl zwischen sie und das Haus geworfen, und sie _ersehnten_ den Augenblick wo sie hinaus konnten, fort, nur fort von hier — aus den Erinnerungen fort. Und doch sprachen sie das nicht aus gegen einander; Jedes hielt sich nur allein für so thöricht und kindisch, mit den quälenden Gedanken; keines wußte daß das Gefühl in ihrer Aller inneres Leben verwoben sei, und in des Herzens feinsten Fasern Wurzel schlug.

Die Stimmung Aller, so sehr sie sich auch hüteten dem was sie dachten Worte zu geben, war denn auch an dem ganzen Morgen schon eine stille, gedrückte gewesen, und Kellmann’s Erscheinen befreite Alle wie von einer Last. Unten auf der Treppe wurde der aber schon laut.

»Na, ist das ein Vergnügen zu so einer Auswanderungsfamilie in’s Haus zu kommen,« rief er, als er sich mit zusammengehaltenen Schößen zwischen einer Reihe Kistendeckel hindurchdrückte, die, mit den Nägeln nach außen, an der Wand lehnten, und dabei noch über eine Unzahl Körbe und Schachteln wegsteigen mußte, nur in die Stube zu kommen.

»Nehmen Sie sich in Acht, lieber Kellmann,« rief ihm der Professor, der seine Stimme gehört hatte, aus der halbgeöffneten Thüre entgegen (er konnte diese nicht ganz aufmachen da ebenfalls eine Kiste dahinter stand). »Sie möchten sich da draußen die Kleider zerreißen.«

»Ist schon bereits geschehen,« brummte Kellmann, indem er versuchte einen Blick nach seinem, allerdings beschädigten Rücktheil zu gewinnen, »meine Güte, wie sieht das bei Ihnen aus — ah guten Morgen meine Damen — und schon so fleißig? — was um Gottes Willen nähen Sie denn da? — Getraidesäcke für die nächste Erndte?«

»Fehlgeschossen Herr Kellmann,« rief ihm aber Marie, die sich gern mit dem freundlichen Mann neckte, entgegen — »Jacken sind das für uns, in den Busch, zwischen den Dornen und Schlingpflanzen, die uns sonst das leichte Zeug von den Schultern rissen. Warten Sie einen Augenblick, da können Sie uns gleich Ihre Meinung sagen; die meinige ist gerade fertig, und ich will sie eben anprobiren. Lassen Sie nur, ich werde schon allein fertig, dort drüben müssen wir überdies Alles allein machen — So — nun, wie gefalle ich Ihnen darin?«

»Gar nicht,« sagte Kellmann mürrisch, »ich sähe Sie weit lieber in einem leichten Ballkleid und mit Ihrem gewöhnlichen heiteren Gesicht, als in der Sackleinwand und — hm — das verdammte Amerika. Geht denn Eduard jetzt noch mit, oder bleibt er da? wo steckt er denn wieder? — der ist immer fort wenn ich komme.«

»Der geht mit, lieber Kellmann,« rief der Professor, »er konnte sich nicht dazu entschließen, seine Eltern und Geschwister allein in die Welt ziehn zu lassen, wo er ihnen vielleicht, zum ersten Mal in seinem Leben, nützlich sein würde, und ist jetzt noch in der Geschwindigkeit zu einem Tischler gegangen, die paar Wochen wenigstens zu benutzen, und doch eine Idee von dem Handwerk zu gewinnen; wer weiß was wir da Alles zu thun bekommen.«

»Wird auch was recht’s davon in den paar Tagen profitiren,« brummte Kellmann — »bei wem ist er denn, bei Leupold?«

»Leupold?« rief der Professor, »der geht ja mit unserem Schiff nach New-Orleans.«

»Der Tischlermeister Leupold wandert auch aus?« rief Kellmann laut und verwundert.

»Hat sein Häuschen und seine Werkstätte verkauft, und ist jetzt wahrscheinlich schon unterwegs nach Bremen,« betätigte ihm der Professor.

»Na nu ist mir’s aber doch über den Spaß,« rief Kellmann — »da läuft ja halb Heilingen fort; jetzt freut mich mein Leben; nächstens werden wir uns unsere Schränke und Schuhe und Röcke selber machen können wenn wir ’was haben wollen; ich darf nur gleich den meinigen zum Schneider schicken daß er ihn mir noch ausbessert, ehe er auch durchbrennt. S’ist wirklich zum Verzweifeln.«

»Lieber Gott,« sagte der Professor — »die Leute verlangen nur Ellbogenraum sich zu rühren; sie wollen einen Platz haben, der ihren Bedürfnissen Befriedigung verspricht.«

»Da haben Sie gleich den faulen Fleck,« rief Kellmann, »_Bedürfnisse befriedigen_, wenn die Leute lebten wie ihre Voreltern gelebt haben, und nicht mit jedem Jahre auch neue Bedürfnisse kennen lernten und befriedigt haben wollten, so hätten wir alle Platz, und das verwünschte Amerika könnte sehen wo es Hände und Fäuste bekäm zuzupacken und ihm den Boden zu bestellen. Aber ich will mich nicht länger ärgern — laßt sie laufen, nachher wird’s hier erst recht gemüthlich — apropos — Ihren Freund Weigel haben sie gestern Abend im rothen Drachen hinausgeworfen — er wollte Dienstleute, ich glaube einen Schäfer, verlocken nach seinem gerühmten Amerika auszuwandern.«

»Meinen _Freund_?« sagte der Professor achselzuckend, »ich habe mit Herrn Weigel nie in einer solchen Beziehung gestanden, aber ich achte ihn als einen Mann der ein gutes Herz mit einer tüchtigen Portion gesundem Menschenverstand verbindet, und besonders schätzenswerthe statistische Kenntnisse Amerika’s besitzt.«

»Bah!« sagte Kellmann, den Kopf auf die Seite werfend, und mit den Fingern schnalzend, »so viel für seine statistischen Kenntnisse; _unverschämt_ ist er, das halt’ ich für seine Hauptforce, und er wirft Ihnen da mit der größten Kaltblütigkeit eine Masse Zahlen in den Bart, denen man nicht gleich widersprechen kann, weil sich der Gegenbeweis eben nicht führen läßt. Wenn das Alles wahr ist was er über Amerika sagt, wäre _er_ der größte Esel wenn er nicht selber hinüberginge.«

»Seine Verhältnisse gestatten es ihm nicht, wie er mich oft versichert hat,« vertheidigte ihn aber der Professor.

»Ja, das kennen wir schon,« sagte Kellmann, »und wenn mich irgend etwas glauben machen könnte daß _er_ wirklich Amerika kennt, so wäre es der Umstand daß er selber nicht hinübergeht.«

»Im rothen Drachen war ja wohl gestern ein kleines Fest?« frug die Frau Professorin dazwischen, die das unerquickliche Gespräch abzubrechen wünschte.

»Ja, für die Dienstleute von Hohleck,« sagte Kellmann, »und Schollfeld und ich waren ebenfalls hinausgegangen um den Spaß mit anzusehn.«

»Und ihr Freund, der lange Actuar war nicht dabei?« lachte Marie.

»Er kam später nach,« sagte Kellmann — »der arme Teufel ist jetzt auch immer verdrießlich und niederschlagen.«

»Er hat sein Kind verloren,« sagte Anna mitleidig.

»Ja, und zu Hause fühlt er sich auch wohl nicht so recht wohl und behaglich.«

»Wir haben davon gehört,« sagte die Professorin — »seine Frau soll eigenwillig und heftig sein, und ihm oft gar unangenehme Scenen bereiten.«

»Seine Frau ist — « fuhr Kellmann auf, aber er unterbrach sich selber wieder, und trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem vor ihm stehenden Tisch.

»Was ist Ihnen denn nur heute, Herr Kellmann?« sagte aber Marie, jetzt zu ihm tretend und seinen Arm berührend — »Sie schneiden ja heut Morgen ein so bitterböses Gesicht, wie ich noch fast in meinem Leben nicht an Ihnen gesehn. Ist Ihnen irgend etwas Aergerliches begegnet? — oder — Sie sind doch nicht böse mit uns?«

»Böse mit Ihnen? lieber Gott Mariechen,« sagte Kellmann herzlich ihre Hand ergreifend — »ich müßte böse mit Ihnen sein daß Sie fortgehn und mich hier allein zurücklassen; sonst wüßt’ ich wahrhaftig nicht weshalb.«

»So kommen Sie mit,« lachte Marie, indem sie neckisch zu ihm aufsah.

Kellmann seufzte tief auf, sagte dann aber kopfschüttelnd, und mit der Hand über seine Stirn streichend, als ob er sich daraus all’ die trüben Gedanken verscheuchen wollte —

»Nach Amerika? — ja, weiter fehlte mir gar Nichts; aber heute sind es wirklich andere Sachen die mir im Kopf herumgehn.«

»Ist etwas vorgefallen, und können wir Ihnen helfen, lieber Herr Kellmann?« sagte Anna freundlich.

»Ach Gott nein,« sagte der kleine Mann seufzend — »es ist ein Stück von dem allgemeinen Elend, das über den ganzen Erdball hinspielt, und das uns gewöhnlich mit einem unheimlichen Gefühl, auch nicht außer dem Bereich desselben zu liegen, durchschauert, wenn wir ihm einmal auf unserem Lebenspfad begegnen. Sie sahen mich als ich vor dritthalb Stunden etwa drüben aus dem Löwen kam?«

»Ja, Sie grüßten ja herauf,« sagte die Professorin —

»Nun gut; ich war dort, einem armen Mädchen nachzufragen, das wir gestern Abend spät auf der Straße trafen, und das ich dorthin schickte Nachtquartier zu suchen« — Und nun erzählte ihnen Kellmann mit kurzen Worten das gestrige Zusammentreffen mit des unglücklichen Loßenwerder Schwester, und ebenfalls daß sich schon jetzt herauszustellen scheine, wie der arme Teufel von Loßenwerder unschuldig in Verdacht gerathen sei. Nur in reiner Verzweiflung mochte er sich den Tod gegeben haben, als man ihm das letzte, einzige das er auf der Welt hatte — seinen ehrlichen Namen — nehmen wollte — oder eigentlich schon von Gerichts wegen genommen hatte. Unsere wackeren Polizeigesetze halten ja nun einmal jeden Menschen für einen Spitzbuben, bis er nicht durch Atteste genügend dargethan hat daß — »gegen ihn noch nichts Gravirendes bekannt geworden.«

»Und was geschieht jetzt mit dem armen, armen Mädchen?« frugen fast gleichzeitig Marie und Anna — »lieber Gott, hier in der fremden Stadt, allein, ohne Mittel, ohne Freunde, wie entsetzlich müßte es da sein, wenn sie vielleicht aus rohem Munde zuerst die furchtbare Nachricht vernähme.«

»Gestern Abend,« sagte Herr Kellmann etwas verlegen, »kam uns das Ganze wirklich so schnell und überraschend, daß wir nicht die geringste Zeit zum Ueberlegen behielten; wir — wir gaben ihr nur ein paar Groschen und schickten sie in den Löwen, hier gegenüber, um da zu übernachten, damit sie nicht in der Stadt nach ihrem Bruder früge, und die entsetzliche Geschichte gleich in der ersten Viertelstunde erführe; heute Morgen wollte ich dann selber herkommen und sehn was sich thun ließ — «

»Und jetzt? — weiß sie was geschehen ist? frug die Professorin mitleidig die Hände faltend — Herr Kellmann zuckte mit den Achseln und sagte:

»Sie ist fort — «

»Fort? — wohin?« riefen die Frauen.

»Kein Mensch konnte mir darüber Auskunft geben, gestern Abend war sie richtig dort angekommen, und ihres dürftigen Aussehns wegen in die Gesindestube gewiesen, und dort muß sie unglückseliger Weise ihren Namen genannt, vielleicht nach ihrem Bruder gefragt und das Schrecklichste gleich erfahren haben, denn sie war, selbst ihr Bündel im Stich lassend, hinausgelaufen in Nacht und Nebel und — und nicht wieder zurückgekehrt.«

»Du lieber Gott,« sagte Anna, »wenn sie sich nur kein Leides gethan.«

»Ich bin gleich zu Ledermann und dann auf die Polizei gegangen, diese aufmerksam zu machen,« sagte Kellmann etwas kleinlaut, »werde auch selber noch mein möglichstes thun das arme Ding wieder aufzufinden, aber — ich weiß wahrhaftig nicht wo man die eigentlich suchen soll, denn sie kennt ja keinen einzigen Menschen in der Stadt.«

»Und in ihres Bruders früherem Logis? — «

»Hat sie Niemand gesehn — ich war dort.«

»Waren Sie auch schon — auf dem Kirchhof?« frug ihn Marie jetzt leise und schüchtern.«

»Wahrhaftig, daran hatte ich gar nicht gedacht,« sagte Kellmann rasch seinen Stuhl zurückschiebend, »die Möglichkeit ist da, und ich will keinen Augenblick mehr versäumen — vielleicht ist es jetzt noch nicht zu spät.«

»Und Sie sagen uns Antwort?«

»Sowie ich etwas Bestimmtes über sie weiß — aber — aber was dann mit ihr anfangen? — hier in der Stadt _kann_ sie nicht bleiben,« sagte Kellmann, die Thürklinke schon in der Hand, »und überhaupt scheint mir ihr schwächlicher Körper zu grober Handarbeit gar nicht geeignet.«

»Vielleicht bietet sich da für die Schwester in demselben Haus ein Ausweg,« rief Anna plötzlich, »das für den Bruder ja so viel gut zu machen, wenn er wirklich unschuldig gelitten. Gestern Nachmittag noch klagte mir Clara ihr Leid, daß ihre Kammerjungfer, mit der sie sehr zufrieden ist, und die ihr bis dahin fest versprochen mitzugehn, plötzlich anderes Sinnes geworden wäre, und sich jetzt weigerte Heilingen zu verlassen. Clara ist so seelensgut, sie würde gewiß Alles thun was nur in ihren Kräften steht, das arme Kind den herben Verlust vergessen zu machen.

»Aber wird sich das Mädchen selber dazu eignen?« sagte Kellmann.

»Weshalb nicht,« rief aber auch jetzt Marie — »bringen Sie die Arme nur hierher, sobald Sie sie finden, und nehmen sie Henkel’s nicht mit, findet Papa gewiß einen Ausweg.«

»Ja, Papa einen Ausweg,« sagte aber der Professor — »ich kann _Niemanden_ mehr mitnehmen Kinder, so viel solltet Ihr eigentlich jetzt schon wissen, denn wir sind Leute genug.«

»Ach wenn sie überhaupt gehen will,« rief Kellmann, »die Passage bringen wir hier schon zusammen, und wenn sich Fräulein Anna bei Frau Henkel für sie verwenden will, wär’ es ein Glück für das arme Mädchen, den hiesigen für sie so trüben Verhältnissen so rasch wieder entrissen zu werden. Doch jetzt leben Sie wohl — ich habe da nicht lange Zeit mehr zu verlieren, und hoffe Ihnen bald günstige Nachrichten bringen zu können.«

* * * * *

Actuar Ledermann hatte die Nacht einen heftigen Fieberanfall bekommen, und sich am anderen Morgen auf seinem Bureau entschuldigen lassen. Erst um zehn Uhr etwa fühlte er sich etwas besser, und beschloß ein wenig an die frische Luft zu gehn, in dem sonnigen Morgen draußen die trüben quälenden Gedanken zu verscheuchen.

Er ging auf den Kirchhof, das Grab seines kleinen Lieblings zu besuchen, und nahm einen Monatsrosenstock mit hinaus, ihn darauf zu pflanzen.

Der Weg der zu dem Grab, zwischen den andern Hügeln hin, führte, lief eine kurze Strecke die Mauer entlang, die bis jetzt leer gelassen und von Unkraut überwuchert lag. Nur ein einziger, unter Gras und Unkraut fast versteckter flacher Hügel war dort aufgeworfen, über dem kein Kreuz den Namen des Hingeschiedenen kündete, keine Blume ein sorgendes Herz verrieth, das dem Entschlafenen die stille Thräne nachgeweint. Und dort? — in das hohe, feuchte Gras geschmiegt, lag eine schlanke Mädchengestalt, Stirn und Antlitz in dem wuchernden Unkraut verborgen, auf dem die vollen aufgelösten Locken ruhten.

»Lieber Gott,« sagte der Actuar, mit dem Blumenstock im Arm neben ihr stehen bleibend, leise vor sich hin — »es ist doch noch viel, viel Elend in der Welt, und wenn Einem recht traurig und weh um’s Herz ist, sollte man eigentlich immer hinaus auf den Kirchhof gehn. Da haben die Leute nicht ihre glatten unbewegten Alltagsgesichter vor, sondern geben sich wie sie sind, und wenn es auch eben kein Trost sein sollte andere Menschen unglücklich zu sehn, ist es doch jedenfalls einer, zu wissen daß man es nicht allein ist.« Und sich langsam abwendend schritt er dem Grabe seines Kindes zu, setzte den Blumentopf auf den kleinen Hügel, und sich selber dann auf eine dicht daneben liegende Marmorplatte, die das Grab eines anderen Menschen deckte.

Dort blieb er lange, das Gesicht mit den Händen bedeckt, und regungslos in seiner Stellung verharrend, seinen schmerzlichen Gedanken überlassen, bis die Sonne höher und höher stieg, und ein stechender Kopfschmerz ihn mahnte den, den heißen Strahlen vollkommen ausgesetzten Platz zu verlassen, wenn er sich nicht noch kränker machen wollte als er schon war. Er stand auf, und sah sich nach dem Todtengräber um, diesen zu bitten den Blumenstock für ihn einzusetzen, und fand ihn auch, nicht weit von dort entfernt, mit einem neuen Grabe beschäftigt. Langsam seinen Spaten schulternd ging er mit ihm zu dem verlangten Platz, und dort sein Handwerksgeräth neben sich in den Boden stoßend und sich den Schweiß von der glühenden Stirne trocknend, sagte er freundlich:

»Warmer Tag heute, Herr Actuar — sehn Sie einmal was für ein schönes Stöckchen; das müssen wir aber ordentlich angießen, sonst vertrocknet es gleich in der lockeren Erde — werde Ihnen das schon besorgen.«

»Bitte sein Sie so gut,« sagte Ledermann, und der Mann nahm den Stock auf, drehte ihn um und schlug mit der flachen Hand unter den Topf, diesen locker und los zu bekommen.

»Kennen Sie das junge Mädchen was da auf dem Grabe an der Mauer liegt?« frug der Actuar jetzt, als sein Blick wieder zufällig dort hinüber streifte — »dort drüben meine ich.«

»Ja ich weiß schon,« sagte der Mann, ohne den Kopf zu wenden und mit seiner Arbeit beschäftigt — »nein — sie saß vor dem Kirchhofsgitter schon heut’ Morgen wie ich öffnete, um drei Uhr früh, und muß die ganze Nacht da zugebracht haben. Wie ich das Thor aufmachte frug sie mich nur nach dem Grabe eines armen Teufels, den wir hier vor kurzer Zeit zu Ruh gebracht, und ist seit der Zeit nicht von dort weggegangen. Das kommt manchmal vor.«

»Und wer liegt da begraben?« frug Ledermann schnell, dem ein plötzlicher Gedanke an das Mädchen von gestern Abend aufstieg.

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»Dort an der Mauer?« sagte der Todtengräber, »ih Sie wissen ja, der kleine bucklige Bursche, der von der Brücke gesprungen war, und sich den Kopf aufgeschlagen hatte.«

Dem Actuar fuhr es mit einem eisigen Stich durchs Herz, aber er erwiederte Nichts, gab dem Mann eine Kleinigkeit für seine Dienstleistung, und ging dann langsam, als ihn dieser wieder verlassen und seine frühere Arbeit aufgenommen hatte, zu Loßenwerder’s Grab, wo die Trauernde noch still und regungslos in ihrem Jammer lag. Nur das krampfhafte Zittern des Körpers verrieth das darin wohnende Leben.

»Liebes Kind,« sagte Ledermann leise — das Mädchen bewegte sich nicht — »mein liebes Kind,« sagte er lauter, und berührte ihre Schulter mit seinem Finger. Langsam hob sie das bleiche, Thränen überströmte Gesicht zu ihm empor, und als sie den fremden Mann neben sich sah, richtete sie sich verwirrt, beschämt aus ihrer Stellung auf.

»Aber wie können Sie sich hier so Stunden lang in das feuchte Gras werfen,« sagte der Actuar mit freundlichem Vorwurf — »Sie _müssen_ ja krank werden — nicht wahr, Sie kennen mich nicht mehr?«

Das Mädchen sah ihn groß und verwundert an, und schüttelte dann langsam mit dem Kopf.

»Ich sprach gestern Abend mit Ihnen, draußen vor dem Thor, wo die Musik in dem Hause war,« sagte Ledermann — »hatten Sie gar keine Ahnung von dem Schicksal des Bruders?«

»Keine,« sagte die Arme leise, das Köpfchen wieder senkend.

»Und wo erfuhren Sie seinen Tod?«

Das Mädchen schauderte zusammen als sie des Augenblicks gedachte, und sagte endlich, wie mit angstgepreßter Stimme:

»Gestern Abend in dem Haus — die Leute in der Gesindestube frugen mich wo ich herkäme und um meinen Namen, und dann —

»Und dann?« frug der Actuar mitleidig, als das Mädchen schwieg und ihr Antlitz wieder zitternd in den Händen barg —

»Dann sagten sie« — setzte das Mädchen, am ganzen Körper bebend hinzu — »daß Einer der so hieß — und sie spotteten dabei über sein Gebrechen — daß Einer — hier — « sie vermochte nicht auszureden und warf sich, rücksichtslos um den neben ihr stehenden Fremden, und in krampfhafter Verzweiflung, wieder auf das Grab nieder, das sie laut schluchzend mit ihren Armen umschlang, und den Bruder rief, sie zu sich zu nehmen in sein stilles, kühles Bett.

Nur mit Mühe, und herzlichen tröstenden Worten die er zu ihr sprach, brachte sie Ledermann, als sich ihr Schmerz in etwas ausgetobt, endlich dahin sich etwas zu fassen und zu beruhigen, und ihm mehr über ihr Schicksal und sich selber zu sagen. Sie hieß Hedwig, war funfzehn Jahr alt und hatte bis zu ihrem elften Jahr bei einer entfernten armen Verwandten zugebracht, nach deren Tode sie, ein Kind noch, bei fremden Leuten in Dienst gehen mußte. Ihre Elteren schienen in besseren Verhältnissen gelebt zu haben, waren aber früh gestorben, und die Waisen sich selber überlassen gewesen. Ihr um zehn Jahr älterer Bruder Franz hatte sie dabei noch immer dann und wann von dem Wenigen was er selber verdiente, unterstützt, auch ihr vor einigen Monaten — und das mußte etwa grade vor seinem Tode gewesen sein, geschrieben, daß er recht sparsam lebe, und bald so viel zusammen zu haben hoffe mit ihr, der Schwester, nach Amerika auszuwandern, dort vielleicht ein kleines Geschäft oder irgend etwas Anderes anzufangen, ehrlich durch die Welt zu kommen. Hedwigs Aussage nach mußte er ihr auch die genaue Summe geschrieben haben, die er besaß, und als sie der Actuar dringend bat ihm den Brief zu verschaffen, wenn es irgend möglich sei, da der vielleicht vollständig des Bruders Unschuld beweisen konnte, zog sie aus ihrer Brust das zusammengefaltete und dort bis jetzt sorgfältig bewahrte Papier. Es war das letzte was sie von ihm bekommen, und als Monat nach Monat verstrich und keine neue Nachricht kam, wurde sie zuletzt unruhig und schrieb nach Heilingen. Aber auch hierauf erhielt sie keine Antwort und nicht mehr im Stande die Ungewißheit zu ertragen, verließ sie ihren Dienst und machte sich, mit wenigen Groschen in der Tasche auf, den weiten Weg zu Fuß zurückzulegen. Und ihr Empfang? großer Gott mit Spott und Hohn wurde ihr Bruder — das einzige noch auf der Welt ihr gehörende Wesen, das sie mehr als sich selber liebte — eines furchtbaren Verbrechens beschuldigt, in Folge dessen er sich selber das Leben genommen, und schlimmer, gewaltiger noch als die Nachricht seines Todes, erschütterte das reine, vertrauensvolle Herz des armen Kindes der erste _Zweifel_ an den Hingeschiedenen, der doch heimlich und quälend in ihr aufsteigen wollte, wie sie sich auch dagegen sträubte; und doch _wußte_ sie daß er keiner schlechten Handlung fähig gewesen sei.

Während dieser Erzählung flossen ihre Thränen stärker; wenn aber der Schmerz auch nur mehr aufgerüttelt wurde durch das Wiederdurchleben vergangener Scenen, fand sie doch auch einen Trost in dem Aussprechen über ihren Verlust. Der Actuar überlas indeß flüchtig den Brief, und den Datum mit dem verübten Raub vergleichend sah er, ob Loßenwerder nun schuldig oder unschuldig sei, daß jenes, bei ihm gefundene Geld sein Eigenthum gewesen sein müsse, schon vor dem Tag, und nicht mehr als Beweis gegen ihn gelten konnte.

So traf sie Kellmann, der von Lobensteins direct auf den Gottesacker gegangen war, das arme Mädchen aufzusuchen. Mit wenigen Worten sagte ihm der Actuar was er von ihr erfahren, und der gutmüthige kleine Kürschner setzte sich neben sie auf das Grab des Bruders, nahm ihre Hand in die seine, und diese streichelnd sprach er ihr Muth und Hoffnung in das arme gequälte Herz. Sie sollte nicht mehr allein stehn auf der Welt; er wollte Freunde für sie finden, die sich ihrer annähmen, und sie Beide, Ledermann und er, wollten nicht ruhen noch rasten bis ihres Bruders Name wieder ehrlich gemacht sei vor der ganzen Stadt; lieber Gott, sie konnten ja nichts mehr für den Armen thun.

Hedwig weinte, während er sprach; aber die Thränen lösten ihren Schmerz — die freundlichen Worte; oh die ersten wieder seit so langer, langer Zeit die sie gehört, thaten ihr wohl und bannten die Verzweiflung aus ihrem Herzen, der sie ja sonst wohl rettungslos verfallen wäre. Wieviel Segen hat schon ein herzliches Wort gebracht, dem Unglücklichen gespendet — wie viele Thränen getrocknet, wie manches Weh, wenn es nicht heilen konnte, doch gelindert.

Kellmann erbot sich dann auch, sie zu seiner Mutter zu führen, wo sie wenigstens bleiben konnte bis sich etwas Weiteres entschieden. Von Amerika sagte er ihr noch Nichts, die nächsten Tage mochten sie erst mit dem Gedanken vertrauter machen, wenn sie hörte wie viel Leute die auch ihren Bruder gekannt und liebe Freunde von ihm selber seien, gerade jetzt nach dort hinübergingen.

Hedwig zögerte noch schüchtern das gütige Erbieten anzunehmen, aber die Worte klangen so herzlich, so gut gemeint, sie stand so hülflos, so allein in der weiten Welt, der fremde Mann erschien ihr wie ein Engel des Himmels in ihrem Schmerz, und unter Thränen nahm sie seine Hand und dankte ihm, und sagte daß sie ihm folgen würde, wohin er sie führe.

 

 


Capitel 10.

DIE BEIDEN FAMILIEN.

Der Leser muß mir noch, ehe wir unsere weitere Wanderung zusammen antreten, zu zwei Stellen folgen, in Lage und Art freilich gar sehr verschieden. Den Characteren, die wir dort finden, begegnen wir später wieder, theils auf der Reise, theils in ihrem neugewählten Vaterland.

An der Hannöverschen Grenze lag ein kleines Dorf, Waldenhayn mit Namen, und fast versteckt zwischen mächtigen Linden und Fruchtbäumen, die es von allen Seiten dicht umgaben.

Mitten im Dorf auf einem flachen, aber die ganze Ortschaft überschauenden Hügel stand die Kirche, und daneben das kleine freundliche Pfarrhaus, das sein Dach über gute und glückliche Menschen gespannt hatte, Jahrzehnte lang — und heute? — Guter Gott welche Veränderung in dem Haus — der Vater, Pastor Donner, still und ernst in seinem Sorgenstuhl, und, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, ordentlich eingehüllt in eine dichte Tabakswolke, die Mutter mit verweinten Augen, und doch immer geschäftig herüber- und hinübergehend, bald aus der in jene Stube, Kleinigkeiten zu besorgen die sie immer wieder vergaß, ehe sie nur das andere Zimmer betreten.

Der älteste Sohn Georg ging zu Schiff — ging nach Amerika über das weite, wilde Weltmeer nach einem anderen Vaterland, dort für den unruhigen Geist das Glück zu suchen, das er hier nicht fand, und »wann würden sie ihn — ja würden sie ihn je wieder sehen?« Oh es ist ein großer Schmerz für ein Elternherz ein Kind in der Blüthe der Jahre zu verlieren — wie viel Sorge, wie viel schlaflose Nächte hat es gemacht, bis es wuchs und gedieh; welche Hoffnungen knüpften sich an das junge Wesen, und blühten und reisten mit ihm; wie treulich wurde da nicht jeder Schritt bewacht, den noch unsicheren Fuß vor Stoß und Fall zu schützen, wie ängstlich jedem bösen Eindruck gewehrt, der Herz oder Geist hätte vergiften können. Und nun das Alles preiszugeben der Welt, ihren Verführungen, ihren Gefahren für Geist und Körper, das Alles preiszugeben und hinausgeworfen zu sehn auf die stürmischen Wogen des Lebens — sich selbst überlassen, und der eigenen, vielleicht doch noch zu schwachen Kraft. Wie viele heimliche Thränen werden da geweint, wie trüb und traurig liegt da oft des Kindes Zukunft vor dem ahnenden Blick des Vaters und der Mutter — Krankheit wird es erfassen und halten, und keine liebende Hand in der Nähe sein, es zu pflegen und ihm den Schweiß von der heißen, glühenden Stirn zu trocknen, die Verführung ihre falschen, goldblinkenden Netze nach ihm auswerfen, und keine treu warnende Stimme ihm zur Seite stehn — Noth und Mangel vielleicht in bitterem Weh auf ihm lasten, und Niemand da sein, der ihm Hülfe bringt, und den Unglücklichen tröstet und unterstützt — Mutter und Vater sind fern, fern von dem Geliebten, seine Klage dringt nicht herüber zu ihnen — ihr Trost und Hülfswort nicht zurück zu ihm.

Und ein solcher Abschied dann — der Tod pocht nicht viel härter an des Glückes Thor, und das Bewußtsein den Geschiedenen still und geschützt in kühler Erde zu wissen, auf der die treu gepflegten Blumen keimen, ist oft noch weniger bitter als dieser _freiwillige_ Tod — der Fortgang über’s Meer, in eine fremde, ungekannte Welt — vielleicht so ohne Wiederkehr wie jener, und ohne jedes beruhigende Gefühl der Sicherheit. Der Scheidende ist da noch immer besser, weit besser daran als die Zurückbleibenden; ihm liegt die Welt jetzt frei und offen da, jede Stunde draußen, jede Meile Wegs bringt ihm Neues, Unbekanntes, und wehrt dem Blick nur an dem einen Schmerz zu haften. Er hat auch zu sorgen, für sich und sein Gepäck, seine ganze Zukunft ist ihm in der einen Stunde in die eigene Hand gegeben — ein ungewohnt Geschäft bis jetzt — und fremde Landschaft, fremde Scenen wechseln so rasch an ihm vorüber, daß jedes Bild einen Theil des alten Schmerzes fortführt mit sich. Selbst der Gedanke an die Verlassenen hat nicht das Herbe, Bittere für ihn, als es für diese hat, wenn sie sein gedenken, und sich mit Vermuthungen quälen müssen wie es jetzt ihm geht, was er thut, was er treibt, wo er jetzt gerade weilt. _Er weiß_ in welchem Kreis die Seinen sich bewegen, kennt in jeder Tageszeit ihre kleinen, häuslichen Beschäftigungen, ihr gleichmäßiges Wirken und Schaffen, und sein Herz, das immer noch daheim bei ihnen weilt, wahrt seinen festen Anhaltspunkt an sie sich unverkümmert fort, bis das Bild, von anderen dicht umdrängt in weiter immer weiterer Ferne langsam erbleicht, und nur noch auf dem Hintergrund des Herzens wie schlummernd liegt, in seinen Träumen ihn zu segnen, oder dereinst, wenn die Welt ihn kalt und rauh von sich stößt, und er allein und freundlos sich da fühlt, wieder aufzuglühen in aller Frische und Wärme, ein Trost und Hoffnungsziel, dem armen, einsamen Wanderer.

Georg war ein junger lebenskräftiger Mann von dreiundzwanzig Jahren, mit dunkelbraunen, vollen, ihm frei und ungescheitelt über die offene sonngebräunte Stirn fallenden Locken, schwarzen klaren Augen und freien, gutmüthigen Zügen, die selbst eine breite dunkle Narbe über den rechten Backen, der Autograph eines Commilitonen, nicht entstellen konnte. Er hatte Medicin studirt, und sich das Doctordiplom mit eifrigem Fleiß verdient, aber die Aussichten für einen jungen Arzt waren trüb und unversprechend in seiner Heimath, und jene fremde Welt, von der er schon so viel gelesen und gehört, zog ihn mächtig an. Sein Vater konnte und wollte dieses Streben nicht bei ihm unterdrücken; auch er erkannte die Banden, die hier einen kräftigen Geist so leicht in Fesseln legen, und ehrte den Wunsch und Drang der jungen, nach Thaten dürstenden Brust, einen Schauplatz zu finden für ihr Sehnen und Wirken, wenn er sich auch wohl selber dann wieder mit einem schweren Seufzer gestehen mußte, wie manche Hoffnung der Sohn zertrümmert, wie manche Erwartung er getäuscht sehn würde in dem neuen Leben, das jetzt ihm freilich im vollen Glanz einer aufsteigenden Sonne, von warmem Lichte übergossen winkte. Und wie würde sich sein Herz dann bewähren, das jetzt jubelnd zu den blinkenden, Flaggen- und Blumengeschmückten Wällen seiner eigenen Luftschlösser aufschaute, wenn es an deren Trümmern stand? oh daß er dann hätte an seiner Seite stehen und ihn leiten dürfen den dunklen, schmalen Pfad zum wahren Glück — retten ihn dann vor sich selbst und seinem bittern Weh.

Aber die Zeit lag noch fern, und weshalb sich selbst den Augenblick vergiften, wo sich der Himmel noch blau und rein über seiner Zukunft spannte. Georg selbst sah auch Nichts von solchen trüben Bildern, die das Herz des Vaters oft mit banger Trauer füllten; ihm war das Thor jetzt weit und frei geöffnet, das hinaus in’s Leben führte und an dessen Schwelle er stand, und nur die Trennung noch vom Vaterhaus lag schwer auf seiner Seele.

Am schwersten freilich trug gerade diese Stunde, weil ganz und ungetheilt, das Mutterherz. Nicht dachte _sie_ in diesem Augenblick an die Hoffnungen die dem Sohne in der Welt draußen blühen, an die Gefahren die ihm drohen könnten; sie sah und fühlte Nichts, als die Trennung von dem _Kind_, den Abschied von dem Heißgeliebten, und wie im Traum hatte sie schon den ganzen Tag ihren gewöhnlichen Beschäftigungen obgelegen, wie im Traum noch einmal seine Lieblingsgerichte bereitet für den Abend, den letzten Abend, den er im Vaterhause zubringen würde.

Lieber Gott, die Speisen kamen Abends auf den Tisch und wurden gegessen, aber Keiner von allen, die jüngsten Geschwister ausgenommen, schmeckten was sie aßen; man sprach dabei über das an dem Nachmittag fortgesandte Gepäck, über das Wetter, über die Uhr die zehn Minuten vorging — Georg trug Grüße auf an alle seine Bekannte, die sich noch seiner erinnerten. Er hatte an dem Tag noch selber ein paar Briefe schreiben wollen, war aber nicht dazu gekommen — Vieles Andere war ihm ebenfalls entfallen; so wollte er einen Absenker von dem Rosenstock mitnehmen der vor der Mutter Fenster blühte, und jetzt blieb ihm doch keine Zeit mehr; aber während dem Essen stand die Schwester — unvermißt — vom Tische auf, ging hinaus, grub einen Absenker aus, und brachte ihn in einem kleinen Topf dem Bruder, dem sich die Thränen in die Augen zwangen — er mochte kämpfen dagegen wie er wollte als er die Gabe sah. Die Mutter stand vom Tisch auf und ging hinaus — nicht ein Wort wurde gesprochen so lange sie fort war. Die Speisen verschwanden dabei von den Tellern und der Wein wurde getrunken, und die Mutter kam zurück und nahm ihren Platz wieder ein, lautlos wie vorher; man konnte den langsamen Gang der Uhr hören, an der Wand.

Da endlich füllte der Vater sein Glas bis zum Rand, hob es mit der Linken und ergriff mit der anderen Georgs Hand. Er hatte etwas zum Herzen des Sohnes, zum Trost vielleicht der Mutter sprechen wollen, aber die Worte schwollen ihm im Mund — er brachte eine volle Minute keine Sylbe über die Lippen, und sich gewaltsam fassend und zusammennehmend sagte er endlich.

»Auf ein frohes Wiedersehn Georg!«

Georg preßte des Vaters Hand und trank ihm und der Mutter und den Geschwistern zu — und die Mutter hob ihr Glas und stieß mit dem Sohne an, aber mehr vermochte das Mutterherz nicht — zu lange hatte sie jetzt gewaltsam gegen ihr eigenes Gefühl an- und den Schmerz niedergekämpft, den Anderen zu Liebe; länger war sie es nicht im Stande, und das Glas mit zitternder Hand niedersetzend, daß der Wein über und auf das Tischtuch floß, stand sie auf, warf die Arme krampfhaft um den Hals des Sohnes und schluchzte laut.

»Mutter, liebe — liebe Mutter — «

»Mein Kind — mein Kind,« jammerte die Frau und der Schmerz wuchs an Heftigkeit, wie der mächtig aber still dahinwälzende Strom schäumend hinausdonnert in’s Freie, wo er sich erst einmal Bahn gebrochen aus seinem Bett — »mein liebes — liebes Kind.«

»Aber Mutter,« bat der Pastor, »fasse Dich; es ist ja doch nur vielleicht auf kurze Zeit, bis sich der Junge draußen die Hörner abgelaufen, und ihm die Heimath anders aussieht wie jetzt; dann kommt er wieder.«

»Liebe — liebe Mutter,« flüsterte Georg, sie innig an sich schließend, und auch ihm erstickten unaufhaltsam fließende Thränen die Stimme.

Die Geschwister weinten auch, und der Vater war aufgestanden und ein paar Mal mit raschen Schritten, wie um den Anderen Zeit zu geben, eigentlich aber nur seine eigene Fassung wiederzugewinnen, im Zimmer auf- und abgegangen. Jetzt blieb er neben der Gattin und dem Sohne stehn, und sie langsam trennend sagte er mit sanfter, bittender Stimme:

»Kommt Kinder, kommt — macht Euch selber nicht das Herz zum Brechen schwer; das ist unrecht. Ueberdies quält Ihr Euch zweimal, und habt morgen früh noch dasselbe Leid. Es ist eine lange Trennung, aber keine Trennung für’s Leben — wir sind Alle noch rüstig und gesund, und werden uns, will es Gott, hoffentlich Alle einmal froh und freudig in die Arme schließen können.«

»Aber Du schreibst bald, Georg,« flüsterte die Mutter sich mit aller Kraft zusammennehmend — »Du läßt uns nie lange ohne Nachricht, nicht wahr Du versprichst mir das?«

»Gewiß Mutter, gewiß — so oft ich kann — aber ängstigt Euch nur auch nicht, wenn einmal ein Brief länger ausbleibt als gewöhnlich; der Weg ist weit, und ein Brief kann leicht verloren gehn.«

»So, und jetzt zu Bett Kinder,« mahnte der Vater — »es ist spät geworden, sehr spät, und Du mußt früh wieder heraus Georg, die Post nicht zu versäumen; sind Deine Koffer hinübergeschafft?«

»Es ist Alles drüben,« sagte die Mutter, sich aus den Armen des Sohnes windend und ihre Thränen trocknend, »nur sein Ueberrock ist noch hier, den er anzieht, und die kleine Tasche in die er morgen früh sein Nacht- und Waschzeug steckt — doch das besorg’ ich schon selber und werd’ es nicht vergessen. Ich bin früh auf, Georg, Du mußt ja doch auch noch Deinen Kaffee haben bevor Du gehst.«

»Gute Nacht Mutter!« rief Georg, umschlang sie noch einmal und küßte ihr Lippen, Augen und Stirn, »gute Nacht meine gute, gute Mutter — gute Nacht!«

»Gute Nacht mein Georg, mein Kind,« sagte die arme Frau unter Thränen — »schlaf nur jetzt recht aus — zum letzten Mal unter unserem Dach — für die nächste Zeit wenigstens,« setzte sie rasch hinzu — »denn mit Gottes Beistand hoff’ ich soll es nicht das letzte Mal gewesen sein — und — und meinen Segen nimm mit Dir, wohin Du gehst — wo Du weilst — was Du thust — — er ruhe auf Dir, mein gutes, gutes Kind!«

Georg beugte sich unwillkürlich dem ernsten heiligen Wort — seine ganze Gestalt zitterte dabei, und die Mutter mußte sich endlich mit freundlicher Gewalt aus seinen Armen winden; dann aber floh sie auch hastigen Schrittes aus dem Zimmer, sich in dem eigenen Kämmerlein recht, recht herzlich auszuweinen.

Die Geschwister sagten dem Bruder jetzt gute Nacht — die älteste Schwester Louise hing lange an seinem Hals, aber riß sich los, den Schmerz der Eltern nicht zu vermehren. Die Jüngeren küßten ihn auf die Wangen und sagten. »Gute Nacht Georg — weck’ uns nicht zu spät morgen früh, daß wir Dir auch noch können glückliche Reise wünschen.«

Georg küßte sie herzlich und bat sie brav und gut zu sein, und Vater und Mutter Freude — viel Freude zu machen, denn er selber ginge nun fort, und die Eltern würden deshalb recht traurig sein.

»Gute Nacht Georg,« sagte der Vater, als die Kinder zu Bett gegangen waren, und Alle, außer ihm, das Zimmer verlassen hatten, »habe keine Angst daß Du die Post morgen verschläfst, ich wache schon auf zur rechten Zeit — gute Nacht mein Sohn. Komm komm, fange nicht selber wieder an, und mach’ mir das Herz nicht schwer vor der Zeit — aber Georg, um Gottes Willen was ist Dir? — sei ein Mann — Nun ja — so lange die Frauen da waren hat es mir auch das Herz fast abgedrückt — man darf es sie ja nicht so merken lassen, sonst zerfließen sie ganz — «

»Mein lieber — lieber Vater,« schluchzte Georg an seinem Halse.«

»Mein guter, guter Sohn!« flüsterte der Pastor, des Kindes Stirne küssend, und jetzt selber im Innersten ergriffen und bewegt — »bleibe brav — bleibe so brav wie Du bist — ich kann Dir nichts Besseres wünschen — trage Gott im Herzen und Dich selbst, und — Deiner alten Eltern Bild, deren Segen Dir folgt auf allen Deinen Wegen.«

»Mein Vater!«

»So mein Sohn — jetzt gute Nacht und bete zu Deinem Schöpfer daß er uns morgen in der schweren Abschiedsstunde stärkt — gute Nacht mein Georg — gute Nacht.«

Leise machte er sich los aus des Sohnes Arm, küßte ihn noch einmal, und verließ dann rasch das Zimmer. Georg aber blieb lange, lange Minuten auf dem Stuhle sitzen wo ihn der Vater verlassen, das Gesicht in seinen Händen bergend.

»Gute Nacht,« flüsterte er endlich leise und kaum hörbar, als Alles schon im Hause still war, und zu Ruhe gegangen — »gute Nacht Ihr Lieben und Gott schütze Euch und mich; aber nicht möglich wäre es mir, die furchtbare Trennungsstunde noch einmal durchzuleben, nicht möcht’ ich Dir Vater, Dir Mutter den Schmerz, das bittere Weh zum zweiten Mal bereiten. Es ist vorbei — Alles vorbei, und wenig Stunden noch und die Heimath selber liegt, ein schöner Traum nur, in der Erinnerung Tiefe. So denn an’s Werk« setzte er fest und entschlossen hinzu, »und ob das Herz darüber brechen will, »durch« ist mein Wahlspruch jetzt, durch Nacht zum Licht — _durch_.«

Und mit den, fest zwischen den zusammengebissenen Zähnen gemurmelten Worten stand er auf, und sein Schlafzimmer öffnend warf er den Rock ab, und badete Gesicht und Nacken in kühlem Wasser. Dann, als er die Glut die ihn durchtobte, in etwas gelöscht, packte er den kleinen Nachtsack mit den, sorglich für ihn auf dem Waschtisch ausgebreiteten Gegenständen, zog sich wieder an, knöpfte den Ueberrock bis an den Hals zu, denn die Nacht war kalt, und nach der gehabten Aufregung fröstelten ihn die Glieder, und im Zimmer umherschauend fiel sein Blick auf den, unter dem Spiegel stehenden, für ihn eingeschlagenen Rosenstock. Rasch barg er ihn in der weiten Tasche seines Ueberrocks, öffnete dann das Fenster, das in den Garten hinaus und von da über den Kirchhof führte, der Landstraße zu, und schwang sich auf das Fensterbret.

»Ade!« flüsterte er, »ade Du trautes, liebes Haus, ade — Gott halte seine Hand über Dir, und schütze die lieben Menschen — ade, ade.« Und von dem Bret hinunterspringend in den Garten, durcheilte er diesen, schwang sich leicht über die Kirchhofmauer, die er als Kind unzählige Male überklettert, und schritt dann langsam und traurig seinen einsam dunklen Weg entlang.

* * * * *

Noch hob sich die Sonne nicht über den östlichen Fichtenhang, und der dämmernde Tag grüßte eben die schlummernde Erde, als sich die Mutter von ihrem Lager hob, das Mädchen weckte daß es Feuer in der Küche mache, den Kaffee bereit zu halten, und dann den Mann rief, dem Sohn ade zu sagen. Pastor Donner hatte aber auch nur in unruhigem Schlaf gelegen — die Gedanken und Sorgen ließen ihn nicht ruhen, und wie aus bösem Traum fuhr er oft empor, mit einem wehen Stich durch’s Herz zurückzusinken, _daß_ es eben kein Traum sei, der ihn bedrücke und quäle.

Er stand auf, zog sich an, und während die Mutter draußen in der Küche sorgte, dem Sohn ein rasches Frühstück zu bereiten, ging der Vater hin ihn zu wecken.

»Georg!« sagte er, als er die Thür öffnete, die in des Sohnes Kammer führte — »Georg — es wird Zeit — heiliger Gott!« unterbrach er sich aber rasch und erschreckt als er das Gemach leer, das Bett unberührt und keine Spur mehr von dem Kinde fand — »heiliger, erbarmender Gott — er ist fort.« Und wie er sich auch vorgenommen sich zu fassen, und der Frau, dem Kind, die letzten Augenblicke nicht mehr zu erschweren, durch seine eigene Schwäche, traf ihn _der_ Schlag doch zu hart — zu unerwartet. In diesem Augenblick betrat die Mutter das Zimmer, und sah wie der Vater sich erschüttert von der Thür abwandte und das Antlitz in den Händen barg.

»Mein Sohn — mein Kind!« stammelte sie, in der sie durchzuckenden Ahnung des Geschehenen, der sie wie ein jäher Schlag in’s Herz traf — »wo ist — wo ist Georg?« Aber der Vater zog sie an die Brust, und ihre Stirn, auf die seine heißen Thränen fielen, küssend, flüsterte er leise:

»Er hat uns den Schmerz des Abschiedes sparen wollen, Louise — er ist fort.«

»_Fort!_« hauchte die Frau — kaum noch den Sinn der Worte fassend, und brach bewußtlos in den Armen des Gatten zusammen.

* * * * *

Außerhalb Waldenhayn, wenn auch noch zu demselben Kirchspiel gehörend, und dicht an der Grenze des bis hier herniederlaufenden Holzes, stand ein kleines, schon halb verfallenes Haus, das früher einmal von einem Forstgehülfen des herrschaftlichen Waldes bewohnt, dann aber nicht mehr benutzt, und um ein Billiges, eigentlich auf Abbruch, verkauft worden war. Der Mann der es kaufte aber, hatte früher ebenfalls in herrschaftlichen Diensten gestanden, und dann das Metzger-Handwerk getrieben; sein wildes, liederliches Leben jedoch ließ sein Geschäft nicht fördern, noch vorwärts gehn. Er schien auch keine rechte Lust an einer regelmäßigen Arbeit zu haben, heirathete dann, als er Alles was er sein nannte, durchgebracht, ein Mädchen vom herrschaftlichen Gut, das den Dienst dort verlassen mußte und von dem Herrn selber eine Abstandssumme bekam, und kaufte mit dem Gelde eben das kleine unwohnliche Gebäude, das er nichtsdestoweniger bezog, und sich jetzt angeblich vom Viehhandel ernährte. Er zog im Lande herüber und hinüber, und kaufte und verkaufte Vieh, mehr aber noch trieb er sich in den Wirthshäusern herum, wo er trank und spielte, und den schlimmsten Ruf im Lande hatte, den ein Mensch haben kann, ohne daß jedoch die Polizei den mindesten Halt an ihn bekommen konnte. Aber die ordentlichen Leute zogen sich von ihm zurück; Niemand mochte Umgang mit ihm oder seinem Weibe haben, und auf dem Weg zu seinem Hause wuchs Gras; wen dort nicht ein besonderes Geschäft hinführte, betrat ihn nimmer.

So hatte der »schwarze Steffen,« wie er im Lande seines dunklen Haares und Aussehns wegen hieß, sechs Jahre in dem kleinen Haus gewohnt, und sein Weib ihm, außer dem Kind das sie in die Ehe gebracht, noch drei andere geboren. In der letzten Zeit tauchte dabei ein anderer Verdacht gegen ihn auf, daß er sich nämlich unter der Hand mit Wilddieben einlasse, und — wenn auch vielleicht nicht selber wildere, doch das Gestohlene kaufe und unterbringe.

Sicher ist, daß nicht alles Fleisch was er zu Markte führte, im Stall gemästet worden, und als nun auch gar einmal, und vor nicht so sehr langer Zeit, ein Forstgehülfe, in Ausübung seiner Pflicht, erschossen worden, wurde die Aufsicht über den schwarzen Steffen, dem man aber doch nicht zu Kragen konnte, so scharf geführt, und diesem zuletzt so unerträglich, daß er schon ein paar Mal mit den Forstbeamten im Wirthshaus Streit gesucht und gefunden, und ihm zuletzt von der Herrschaft, nach lange geübter Nachsicht, der Befehl zugestellt wurde, das auf den Abbruch damals erstandene Haus, von dem übrigens kein Ziegel mehr sein gehörte, zu räumen und abzutragen oder stehen zu lassen, wie es ihm gefalle, seinen Wohnsitz aber, wider ihn eingelaufener Klagen wegen, wo anders zu nehmen, vom ersten des nächsten Monats an.

Steffen war heute einmal ausnahmsweise den ganzen Tag zu Haus geblieben, und hatte manche von seinen Sachen, wobei ihm die Frau half, zusammengetragen und in einen Ranzen gepackt. Die Kinder aber achteten wenig darauf; sie waren gewohnt daß der Vater oft fortging, und dann immer mehre, manchmal sogar acht Tage fortblieb, ehe sie ihn wieder zu sehen bekamen, oder auch nur von ihm hörten. Fragen, wohin er ging, durften sie nie.

Der Vater war übrigens mürrischer heute als je — er sprach fast kein Wort, trank aber oft aus der Flasche, die zum ersten Mal offen in der Stube stand, und woraus sich auch die Mutter zweimal einschenkte, und sich dann zu dem jüngsten Kinde setzte, und es auf den Schoos nahm und küßte.

»Weshalb weinst Du, Mama?« sagte das zweite Kind, ein Junge von etwas über fünf Jahren — »hat Dir Jemand ’was zu Leid gethan?«

»Weil sie eine Närrin ist,« brummte der Vater, der die Frage gehört hatte, und jetzt einen ärgerlichen Blick nach der Frau schoß — »ich dächte wir hätten nun genug darüber geschwatzt und die Sache wär’ abgemacht.«

»Nun ja — ich sage ja auch kein Wort mehr dagegen,« erwiederte die Frau — »es — es überkommt Einen nur noch manchmal so — nachher wird’s besser und — es geht ja doch nun einmal nicht anders,« setzte sie still und schwer vor sich hinseufzend, hinzu.

Steffen entgegnete nichts weiter darauf, schickte aber bald darauf, unter irgend einem Vorwand, die Kinder mitsammen hinaus in den Garten, und sagte dann, als er sich mit der Frau allein sah, mürrisch und finster.

»Du flennst und flennst, und wirst die Bälge noch zuletzt aufmerksam und ängstlich machen mit Deiner Heulerei — kannst Du sie hier ernähren, so bleib da, ich habe Nichts dagegen; kannst Du’s aber nicht, dann sei auch vernünftig und mach’ jetzt keine dummen Streiche — es wär’ ein Spaß, wenn sie uns abfaßten, und Du weißt am Besten was uns nachher bevorstünde.«

Die Frau war schlank und voll gewachsen, mit besonders kleinen Händen und Füßen, mußte auch einmal in früheren Jahren wirklich schön gewesen sein, und mehr noch als nur die Spuren war ihr davon geblieben, hätte sie eben etwas gethan sich das zu erhalten. Aber in ihrem ganzen Aeußeren ging sie, wenn nicht geradezu unreinlich, doch vernachlässigt; die ungeordneten Haare wurden durch einen zerbrochenen, ächten Schildpatkamm, und durch ein schwarzes abgescheuertes Sammetband, in dem vorn eine große bronzene Broche mit einem unächten Turquis saß, gehalten; in den Ohren hingen ihr ebenfalls lange emaillirte unächte Ohrringe, die mit dazu beigetragen hatten ihr bei ihren bescheidenen und einfachen Nachbarn den Namen der »stolzen Jule« zu geben, und das Kleid von gutem Stoff und nach neuem Schnitt gemacht, zeigte unausgebesserte Risse, und Spuren von Fett, in Streifen und Flecken, die schlecht zu dem blitzenden falschen Schmucke paßten.

Auch in den Augen selber lag etwas Keckes, Unweibliches, das aber doch jetzt einem mächtigeren Gefühl gewichen war, denn nur manchmal, bei den rauhen Worten, blitzte es an gegen den Mann, und um die Lippen zog sich dann ein eigener fester Zug von Trotz und Zorn.

»Ich hab’ Dir genug zu Willen gethan, daß ich mit Dir gehe und die Kinder zurücklasse,« sagte sie dann nach kleiner Weile — »wenn’s mir das Herz dabei zusammenzieht, wärst Du schlimmer wie ein Thier, wolltest Du’s mir wehren. Der Wolf läßt seine Brut nicht im Stich, und wir wollen fort — «

»Der Wolf hat auch draußen zu leben, und für die Jungen Milch — wer giebt’s uns?« zischte der Mann zwischen den zusammgebissenen Zähnen durch — »wir könnten krepiren hier im Nest, keine Katze miaute deshalb im ganzen Kreis.«

»Ich weiß es, ich weiß es,« sagte die Frau, »und das ist das Einzige was mich freut, daß wir ihnen jetzt einen Streich spielen — den Lumpen. Und wie sie schreien und schimpfen werden — aber ernähren müßen sie sie doch, davon hilft ihnen kein Gott. Leid thut’s Einem freilich immer, die armen Dinger, die noch Nichts von der Welt wissen und begreifen, so allein zurückzulassen — wenn ich das Jüngste nur mitnehmen dürfte — « setzte sie leise hinzu.

»Komm mir nur jetzt nicht wieder mit dem alten Gewäsch,« rief aber der Mann finster und ärgerlich — »ich dächte das hätten wir über und genug besprochen und überlegt, und wären einig darüber.«

»Ueberlegt gar nicht,« sagte aber die Frau, die Brauen fest zusammenziehend — »wenn ich davon anfing hast Du mich immer grob angefahren und ausgezankt, und Deinen Willen gehabt dabei, wie bei allem Anderen. Ich weiß daß ich nicht zu den Weichen gehöre, aber — Mutter bleibt doch Mutter, und — ’s ist immer ein häßlich unnatürlich Ding.«

»Papperlapapp!« sagte der Mann den Kopf herüber und hinüber werfend — »unnatürlich — natürlich ist’s allerdings nicht daß die Scheunen ringsherum voll liegen, und das reiche Lumpenpack das Geld mit vollen Fausten zum Fenster hinauswirft, während wir hier trocken Brod nagen sollen, und das nicht einmal immer kriegen — schöne Natürlichkeit das.«

»Wenn Du nur nicht den dummen Streich mit dem — «

»Halt’s Maul!« brummte aber der Mann mürrisch — »ich sollte mich wohl erwischen und anzeigen lassen, daß ich jetzt im Zuchthaus säß und spänn — Gott verdamm mich, ich schösse eher die ganze Bande über den Haufen, einen nach dem anderen — bist Du nun fertig mit Deinen Sachen?«

»Ja!« sagte die Frau leise und unwillkürlich zusammenschaudernd — »es kann fort gehn.«

»Wir wollen aber doch warten bis es dunkel ist,« sagte Steffen nach kleiner Pause; »besser ist besser, und der Märtens unten an der Straße braucht nicht gleich zu wissen daß wir fortgefahren sind, beide zusammen, seine Nase hineinzustecken vor der Zeit; er ist mir so schon ein paar Mal hier oben herumgekrochen, wo er Nichts zu suchen hatte.«

»Aber wenn sie uns nun doch vor der Zeit vermissen?« sagte die Frau, »und unserer Spur nachgehn; wenn’s jetzt schlimm ist, nachher wird’s erst bös, und wir dürften dann nur gleich mit Sack und Pack abziehn.«

»In’s Arbeitshaus, eh? — nein, eine Weile halt’ ich sie uns schon von den Hacken, und Gefahr daß sie uns finden, hat es auch nicht. Wo wir zur Eisenbahn kommen bin ich bekannt, und habe schon manchmal Vieh da gekauft, wenn sie auch eben meinen Namen nicht wissen, und wenn wir fortgehn, lasse ich einen alten Hut von mir und das gelbe Tuch von Dir unten an dem tiefen Wasserloch unter den Erlen. Sobald Jemand hier in der Gegend vermißt wird, suchen sie dort immer zuerst, und der Schulze im Dorf hat das Pulver nicht erfunden, dem ist leicht was aufgehängt. Bis sie eine Weile stromab geangelt haben, sind wir hoffentlich unterwegs, und wenn nicht unter, doch über dem Wasser. Aber ich will jetzt noch einmal hinunter zum Märtens gehn und Mehl holen; es ist auch heute der gewöhnliche Tag, und hierher kommt nachher keiner so leicht, nimm Du indeß die Kinder vor, und instruire sie wie sie sich zu verhalten haben.«

Und seine Mütze aufgreifend steckte Steffen die Hände in die Taschen, und schlenderte langsam den Hang hinunter dem nächsten, eine gute Viertelstunde entfernten Hause zu, während die Frau die Kinder zu sich hereinrief, das Jüngste, ein kleines liebes Mädchen von anderthalb Jahren, auf den Schoos nahm, und sich damit still und lautlos in die Ecke setzte.

Die Sonne neigte sich indessen ihrem Untergang, und der Vater kam nach etwa einer Stunde, als es schon völlig dunkel geworden war zurück — die Mutter saß noch immer mit dem Kind auf dem Schoos, das bei ihr eingeschlafen war, und hielt es fest an sich gedrückt.

»So Jule, es ist Zeit,« sagte der Mann, seine Arbeitsjacke abwerfend und den Rock anziehend, »weiß die Albertine was sie zu thun hat?«

Die Frau zitterte am ganzen Leib, aber sie erwiederte kein Wort, stand auf, küßte das Kind das sie auf dem Arm trug, und legte es in sein Bettchen — einen Kasten, der in der Ecke der Stube stand.

»Albertine,« sagte sie dann zu der Aeltesten, und wandte sich von der düster brennenden Oellampe, die Steffen auf den Ofen gestellt hatte, ab, daß die Tochter ihr nicht in die jetzt wirklich todtenbleichen Züge schauen sollte — »ich gehe mit dem Vater heute Abend eine Weile fort — den Karl bring ich erst noch zu Bett — sollten wir morgen früh nicht bei Zeiten da sein, so — so zieh die Kinder an und gieb ihnen zu essen — der Brodschrank ist offen, und Milch steht unter der Diele in der Schüssel — Du paßt mir auf daß den Kleinen Nichts passirt — Du — Du bist ja schon ein großes Mädchen.«

»Und geht mir nicht vor die Thür morgen, bis wir nicht wieder da sind,« sagte Steffen, »wie ich heut Abend drunten gehört habe, ist hier ein toller Hund herumgelaufen. Das Beste wird sein Ihr haltet die Hausthür zu, daß er nicht etwa gar herein kommt.«

Die Frau hatte dabei das etwa dreijährige Mädchen das indeß gar schläfrig geworden war, ausgezogen und in sein Bettchen gelegt — und der Junge, Carl, saß auf der Bank am Fenster, noch auf sein Abendbrod wartend. Aber er sah auch erstaunt dabei die Eltern an, die noch nie so spät Abends fortgegangen waren, und auch wohl noch nie, oder doch nur selten gar so freundlich mit ihnen gesprochen hatten.

»Was für ein Hund ist es, Vater?« frug er jetzt, da der Gedanke an den tollgewordenen Hund ihn besonders interessiren mochte — »Märtens’ Bello? der kennt mich, und beißt mich nicht.«

»Nein, der große Türk aus dem Dorfe unten,« sagte Steffen — »der den Müller auch schon einmal gebissen hat.«

»Oh der ist schlimm!« rief der Knabe erschreckt — »da geh’ ich gewiß nicht hinaus.«

»Geh’ nun zu Bett Carl, es ist spät,« sagte der Vater.

»Ich habe mein Abendbrod noch nicht,« brummte der arme kleine Bursch.

»So? — dann wird Dir’s Albertine geben — und — seid brav und folgt ihr — «

Er gab dem Knaben und ältesten Mädchen die Hand, und ging zu den Bettchen der Kleinen die er küßte; dann aber als ob er sich einer solchen Regung schäme, richtete er sich rasch wieder auf, drückte den Hut in die Stirn, und sagte, das Zimmer verlassend, und noch in der Thür sich umdrehend:

»Ich warte auf Dich unten am Wasser — mach schnell!«

»Sei ein gut Kind Albertine, und hab mir gut auf die Kleinen Acht,« flüsterte die Frau jetzt dem Mädchen zu, das eben dem Bruder ein Stück Brod und Salz gegeben hatte, an dem der aß und verwundert dabei hinter den Vater her aus der Thür, und nach der Mutter schaute, die lange — o lange Zeit nicht so freundlich mit ihnen gesprochen hatte.

»Aber Mutter wo geht Ihr nur hin?« — frug das Mädchen, der das Benehmen der Eltern ebenfalls auffiel, verwundert.

»Auf’s Amt,« sagte die Frau, auf die Frage schon vorbereitet — »wir müssen morgen früh mit Tagesanbruch in der Stadt sein, und wollen gehn so lang’s kühl ist.«

»Und wann kommst Du wieder?«

»Hoffentlich morgen gegen Abend — wenn wir fertig werden; auf dem Amt sind sie aber gar weitläufig — manchmal dauert’s länger als man denkt. Geht mir aber nicht vor die Thür, Ihr habt zu essen genug — jedenfalls sind wir morgen Abend um die Zeit wieder da — und acht’ mir auf die Kleinen, Tine — sei ein vernünftig gutes Mädchen — Du bist groß genug. Und — wenn Jemand nach uns fragen sollte, so sag nur wir wären in den Wald gegangen, und kämen gleich wieder — es wird aber wohl Niemand fragen,« — setzte sie leise, und wie zu ihrer eigenen Beruhigung hinzu.

Sie sah sich im Zimmer um, ob sie Nichts vergessen habe — ihr Bündel lag aber versteckt draußen vor der Thür, wie der Mann seine gepackte Jagdtasche ebenfalls draußen verborgen gehabt und jetzt mitgenommen hatte. Ihr Blick überflog auch nur flüchtig den kleinen Raum, und haftete dann auf dem Bettchen des jüngsten Kindes — sie konnte nicht widerstehn, und trat noch einmal zu dem schlummernden Kind.

»Geh doch hinaus Tine, und hole ein paar Stücken Holz herein, so lang ich noch hier bin, daß Du morgen früh Kaffee kochen kannst — ich bleibe so lang bei den Kindern,« setzte sie langsam und ohne das älteste Mädchen dabei anzusehn, hinzu. Dieses ging, und in wilder, fast ängstlicher Hast küßte die Frau jetzt die kleine, schon sanft schlummernde Line, und hob dann das Jüngste aus seinem Kasten, auf dessen rosige Lippen sie den eigenen Mund in wilder Heftigkeit preßte, bis es schrie. Die Thränen — die Mutter _konnte_ sich nicht ganz verleugnen in dem Augenblick — liefen ihr dabei voll und schwer die Wangen hinunter, und erst als sie das Aelteste mit dem Holz zurückkehren hörte, legte sie das leicht beruhigte Kind wieder auf sein Lager, und küßte den Jungen, dem die Thränen auch anfingen in die Augen zu steigen. Er wußte freilich nicht recht weshalb, und nur vielleicht weil er die Mutter weinen sah, wurd’ es ihm auch so weh und weich um’s Herz.

»Aber Mutter, was ist Dir nur heute Abend?« sagte das Mädchen, dem die außergewöhnliche Bewegung derselben unmöglich entgehen konnte — »was habt Ihr nur, Du und der Vater?«

»Bah — der Vater war garstig mit mir, und wir haben uns gezankt,« sagte die Mutter, das Gesicht abwendend von dem Kind.

Ein scharfer Pfiff von draußen her schlug an ihr Ohr, und sie fuhr erschreckt in die Höhe.

»Ja — ich komme schon!« murmelte sie, kaum hörbar, vor sich hin, »so adieu Albertine — hab auf die Kinder Acht, und — _behüt Euch Gott_!« und mit dem, wie scheu geflüsterten und vielleicht seit langer, langer Zeit nicht ausgesprochenen Segen, verließ sie rasch das Zimmer und das Haus.

»Was zum Teufel trödelst Du denn da drin, und läßt mich eine Stunde hier warten?« rief der Mann mürrisch, als sie ihn endlich an der verabredeten Stelle traf — aber die Frau erwiederte kein Wort, und die fieberheiße Stirn in die Hand pressend, folgte sie dem, jetzt ebenfalls finster und schweigend Voranschreitenden, durch die Nacht.

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