Mit dem Hubschrauber zu den Walen vor Kaikoura
Ich hatte am gestrigen Abend einen Helikopterflug zu den Finnwalen gebucht, die draußen vor der Küste schwammen, den Leuten des Ortes etwas Geld einbrachten und dem Jungen einen Herzenswunsch erfüllten. Bis es so weit war, blieb mir noch genügend Zeit, mich umzuschauen.
Kaikoura liegt an einer kleinen Halbinsel und wird fast von zwei hohen Gebirgszügen ins Meer gedrängt. Der Tapuaenuku mit seiner kümmerlichen Grasnarbe hatte sich für diesen Tag mit dem spitzen Rest seiner zweitausendachthundertfünfundachtzig Meter wie ein alter Mann mit einem dichten Haarkranz aus grauen Wolken abgefunden, nur ganz allmählich riss die Wolkendecke auf und trieb Schattenspiele auf dem pechschwarzen Lavastrand, als zöge der Rauch eines vorbeieilenden Zuges dahin.
Der Strand unter dem grauen Himmel war nass und leer, und die kleinen dunklen Küstensteine kämpften gegen die Tollwut des Meeres, das fern am Horizont mit dem Himmel verschmolz. Ablandiger Wind, nahe Weite, fernes Geschrei von Möwen, deren Flügel das bleierne Grau des Tages zerschnitten. Auf Sichtweite treffen sich drei tiefe Gräben: Fern aus der Antarktis gelangt eine kalte Strömung hierher, eine warme aus dem Pazifik, eine dritte aus dem Gebiet der amerikanischen Westküste. Ich konnte das Salzwasser riechen und spürte ein leichtes Beben (vom Meer) in meinem Rückgrat, dort, wo ich an hölzernen Bänken und Tischen saß und wenige Zeilen in mein Reiseheft schrieb. Vorsichtig kam eine knochige Gestalt am Bordstein daher, immer außen um die Bäume gehend, als ob sie Wärme suchte und Sonne, und wünschte, irgendetwas im Mund zermalmend, fröhlich »Guten Morgen«. Der Mann, mager wie ein portugiesischer Hund, tat das viermal: vorbeikommen und »Guten Morgen« sagen. Seine tiefe Stimme, eine in Knochen und Fleisch und Haut gehüllte Basslaute, ließ sich vom kräftigen Kauen nicht beirren, das Gesicht befand sich in rhythmischer Bewegung, während seine Wangen wie die Unterseite von Eukalyptusblättern schimmerten. Er war lediglich mit einem kniehohen Paar olivgrüner Stiefel und einer knappen bunten Badehose bekleidet, an seinen Händen hingen gut und gerne drei Tage Schwerstarbeit. Merkwürdige Dinge gingen auf seinem Kopf vor. Er hatte kaum einen brauchbaren Zahn im Mund, und diejenigen, die noch existierten, waren so postiert, als wollten sie miteinander nichts zu tun haben. Beim Anblick seines haarlosen Hauptes fragte ich mich, was wohl mit seinen Haaren passiert sein könnte. Wahrscheinlich hatte er sie irgendwann irgendwo verloren. Versteckt lagen seine großen Augen in tiefen Höhlen, dass ich nicht zu sagen vermochte, welche Farbe sie hatten; sie kehrten eilig nach dem Gruß aufs offene Meer zurück, als wären sie dort zu Hause. Man konnte deutlich erkennen, dass seine Gedanken eine weite Reise machten.
»Auf Wiedersehen!«, rief ich hinterher, doch der Mann hörte mich nicht mehr, als er endgültig in die Richtung seiner Sehnsucht davonging und wie eine Wasserblase verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Der schwere Geruch von Salzwasser durchdrang die Luft, als ich in das kleine Büro zurückging. Der Hubschrauberflug war zwar für die Mittagszeit angesetzt, doch wenn irgendetwas unverbindlich war, dann dieser Termin. Zunächst wurde er für zwei Stunden verschoben, sodass ich mich entschloss, einen Spaziergang zur Seehundkolonie auf der spitzen Seite der Halbinsel zu machen, Seehunde, die vor ewigen Zeiten als Raubtiere die feste Erde unsicher machten. Erst gemächlichen Schrittes auf einem Weg, der in mutwilligen Windungen scheinbar endlos am Wasser entlangkroch, während mausgraue Wolken nach wie vor drohend über den Bergen hingen, dann schneller, als ich feststellte, dass mir die Zeit davonlief. Ich bewegte mich auf meinem eigenen grauen Schatten, beobachtet von den kalten Augen der Möwen. Ich blickte aufs Meer hinaus, wo ich, wäre ich eine Stunde früher angekommen, die Seehunde gesehen hätte, die mit der langsam einsetzenden Flut in der Ferne untertauchten.
»Na, was soll’s«, sprach ich zu mir selbst, »man kann eben nicht alles haben.«
Doch ich musste mich sputen, um rechtzeitig am kleinen Flughafen zu sein. So hatte ich kaum noch Augen für die wellige Hügellandschaft, die wie wohlgeformte Brüste daherkamen. Zum guten Schluss wurde ich von einem uralten Ford aufgelesen, der keine Probleme mit der Orientierung hatte, denn in diesem Ort führten alle Straßen zum Meer. Der Fahrer, ein müder Deutscher, gähnte mehrmals mit geschlossenem Mund, was ihm Gelatine-Tränen in die Schneckenaugen trieb. Sein orangenfarbenes Hemd loderte wie ein Feuerball. Er hatte die Sorglosigkeit eines Kindes, die Stimme einer Frau, das Haar eines Maisfeldes, die Stirn einer Krabbe und den Geruch eines Hundes. Dankbar für den kurzen Transport und bedenklich schwitzend erreichte ich das Büro zur rechten Zeit. Es war geschlossen.
Die Luft flimmerte in der Mittagsglut, Vögel quietschten vor Vergnügen, Katzen lümmelten sich in schattigen Häuserecken. Um diese Zeit des Tages gähnte der Ort vor Langeweile, und es ließ sich keine lebende Seele auf der Straße blicken. Man ahnte, dass hinter den Fenstern die Leute auch ihre Sorgen hatten, aber man stellte sich vor, wie sie gerade, nach einem guten Essen, die Zeitung oder ein Buch lasen und glücklich waren. Es ist niemand glücklicher als der, der es glaubt.
Zu guter Letzt verschob sich der Abflug noch einmal um eine Stunde, aber die Erfüllung des Jugendtraums rückte näher. Noch blieb ich der einzige Passagier, doch zum Glück gesellte sich im Verlauf des frühen Nachmittags ein blonder, gut gelaunter Amerikaner dazu – Sandy, ein Lulatsch, der sich stark bücken musste wie ein Weidenbaum, um in den Hubschrauber zu gelangen. Schultern wie Pan, vorwärtsorientiertes Kinn, schmales Gesicht, die Augen so blau wie der Raum zwischen den Wolken am Himmel, die Lippen ein dicker Strich, angewachsene Ohrläppchen, gebräunt von all der Sonne in diesem Land. Am Hals lebten zwei Muttermale, die wie kleine Marienkäfer aussahen. Hatte das, was alle Mütter so lieben: Grübchen im Gesicht.
Nach dem schaukelnden Start gewann der Junge in mir den Eindruck, als säße er Luft schnappend in der ersten Reihe eines gewaltigen Fliegenauges. Mittlerweile hatte ein starker Wind die Wolken abgeführt, sodass, ganz anders als noch ein paar Stunden zuvor, sich nun das Land in einem zarten Dunstschimmer rekelte, während wir im Handumdrehen der spazieren gehenden Sonne entgegenflogen. Meine Augen leuchteten vor innerer Erwartung. Man konnte erwarten, dass der Meeresgrund reich an Tieren und Pflanzen war, Algen und Seegras wogten in der feinen Dünung. Nach längerer Suche fischten wir die Umrisse von zwei Walen auf, zunächst nur Schatten, die ihre eigenen Wellen im blauen Meer vor sich herschoben.
»Seht dort!«, schrie der Pilot und nahm seine Nase zu Hilfe, um uns den Weg zu weisen. »Könnten Finn- oder Pottwale sein.«
Diese mehrere Meter langen Tiere bliesen nach Lust und Laune Wasserfahnen in die Luft, die in der Sonne prismatisch schimmerten. Wale, die zum Atmen an die Luft kamen wie der Mensch höchstpersönlich. Wale, die ihre eigenen Namen hatten. Henry oder Hook, Knuckles oder Scar. Vom Krach des lärmenden Hubschraubers ließen sie sich nicht im Geringsten irritieren, wenngleich ich immer noch nicht genau weiß, ob Wale überhaupt hören können. Schwimmen konnten sie jedenfalls wie ein Fisch, obwohl es Walfische eigentlich gar nicht gibt. Sandy deutete auf einen Punkt in der Ferne, der wie ein kleiner umgekippter Lastwagen aussah, und wollte wissen, was das sei, bekam aber keine Antwort, da der Pilot den Hubschrauber kurz auf die Seite legte. Aber was sollte ein Lastwagen auch schon in dieser Gegend machen? Wieder einigermaßen gerade flogen wir weiter, fanden die Tiere aber nicht an ein und demselben Ort, sondern einige Kilometer weit auseinander. Jeder stellte für sich einen schwimmenden Berg dar, der schwerfällig durch das Wasser glitt. Der Lärm in der Kabine war enorm, sodass wir die Worte des Piloten kaum vernahmen.
»Die Pottwale hier in Kaikoura sind allesamt männlich; die brauchen Platz, sonst gibt’s Ärger. Sind ständig auf der Suche nach Beute, wie zum Beispiel nach der giant squid, die hier leben soll und die schon Jules Vernes Schiff in die Tiefe riss. Unser Tintenfisch ist ein Schurke von sehr starkem Tobak, hat Augen so groß wie mein Kopf und mit seinen Fangarmen könntet ihr Bungy Jumping betreiben. Allerdings hat ihn noch niemand zu Gesicht bekommen.«
Während wir in respektvoller Höhe kreisten, ließen sie es sich gut gehen da unten. Nach der etwa halbstündigen Hadsch zu den Walen näherten wir sich langsam dem Festland. Die gleißende Sonne tauchte die Halbinsel in ein diffuses Licht und ein zartes Lied betörte meine Ohren. Wäre ich fähig gewesen, diese kleine Melodie in Worte auszudrücken, hätte ich sie »das Lied der weißen Luftschlieren« genannt. Von oben erinnerte das Land an die Klaue eines riesengroßen Fantasievogels, der mit seinen spitzen, hornigen Zehen im Wasser Abkühlung sucht. Die Legende erzählt, dass ein Lehrling den Schöpfer gebeten habe, an dieser Stelle Unterwasserberge zu erschaffen.
Jeder Zug dieser Landschaft rührte mich.
An dem schmalen Eingang zur Halbinsel hatte sich ein kunterbuntes Örtchen, wie am Reißbrett konzipiert, um zwei Hauptstraßen gesellt.
»Wer das hier geplant hat«, schrie Sandy, »muss saubere, gut gebügelte, weiße Hemden, tadellose Anzüge und gewienerte Schuhe tragen, der muss vor Unordnung fürchterliche Angst haben.«
Wäsche flatterte auf langen Leinen im Nachmittagswind – Hosen, Hemden, Betttücher, Unterwäsche. Doch Ort und Strand wirkten menschenleer. Als wir landeten, ähnelten wir einer riesengroßen Libelle, deren Schattenriss schräg vor uns den Erdboden nach Unebenheiten absuchte. Im Wind badende Kormorane zogen ruhig ihre Bahn.
Wollen Sie wissen, wie es weitergeht – hier geht’s direkt zur E-Book-Bestellung bei Amazon!