Der Mann im Schatten

© Willi Schnitzler    

Der Mann im SchattenZum Mittagessen hielt der Bus in Flat Hills, wo alle Hunde der Welt begraben zu liegen schienen. Vom ständigen Sitzen müde verließ ich den Bus, begleitet nur von meinem eigenen kleinen Schatten. Ohne Schatten, ohne Seele, sagte man früher und spann damit den Mythos von Körperschatten und Schattengeist. Wer am Silvesterabend seinen Schatten ohne Kopf sieht, stirbt im nächsten Jahr, behauptete man in Norddeutschland. Und die Lanze, die bei Homer die »Weithinschattende« hieß, war bei den arabischen Wüstenstämmen noch das Werkzeug, aus dessen Schatten man sich die Tageszeit bestimmte.

Wie dem auch sei, das Singen des Wassers lockte mich an einen Fluss, der mir als Kompass dienen sollte. Bäume berührten mit ihren Ästen das still fließende Element und gegenüber, in Blickweite, regte sich nichts. Ich wanderte ohne große Eile in nördlicher Richtung an den kräuter- und schilfbewachsenen, steinigen Ufern des tanzenden Wildwasserflusses Rangitikei entlang, der einen toten Ast flussabwärts trieb. Das plätschernde Wasser hatte mich längst in den Mantel Ruhe eingelullt, den ich mochte, als durch ein Wolkenloch ein rabenähnlicher Vogel verschwand. Unbeholfen stolperte ich, mir einen Weg durch das Gestrüpp bahnend, über Pflanzen und Steine, die sich mir unerwartet in den Weg gestellt hatten und mein Herz in Aufruhr versetzten; es schlug im Rhythmus von Psycho Killer. Ein Gewitter blau schimmernder Insekten flatterte auf, die ich mit meinen pendelnden Armen aufgescheucht hatte, und als salziger Schweiß mir in die Augen rann und heftig brannte, rastete ich unter dem Zelt eines uralten Baumes, der wie eine Ulme aussah und von dem das Leben nur so herunterblätterte. Unweit von ihm standen Büsche, tief über grünes Land gebeugt, und sich zum Wasser neigende Bäume, vielleicht Manuka, Tutu, Koromiko. Ich gewöhnte mich daran, an Tagen, an denen ich alleine war, Brot zu essen mit Käse und Obst, gelegentlich Schokolade. An einem Brot kauend, die Wasserflasche in der Hand, prostete ich meinem Spiegelbild zu, bis ein Windstoß heulend Laub von den Bäumen fegte und raue Wellen im Wasser entfachte und ich eine Bewegung einen Steinwurf von mir entfernt in dem scheinbar undurchdringlichen Buschwerk bemerkte. Neugierig schob ich Sträucher und widerspenstige Zweige beiseite, die kräftig nach mir schlugen, bis ich unvermittelt auf einen leicht sumpfigen Platz blickte, der mich an einen Ort meiner Jugendtage erinnerte. Die Hütte, die ich als Erstes sah, war ein Skelett, weder Fleisch noch Blut – ein Unterschlupf für Gesetzlose, Diebe, Ausreißer. Der traurige Rest des Daches und die blinde Augenklappe der Tür, die noch unbeholfen in den Scharnieren hing, glotzten mich an, während eine dreckverschmierte Wolldecke durch ein Loch von Fenster lugte. Staub lag wie Mehl auf den Simsen. So sah also ein Haus aus, das man nach langer Krankheit in Frieden ließ. Die Zeit hatte eine Fülle von Narben hinterlassen und mit unendlicher Geduld mithilfe von Wind und Regen und Sonne an der Substanz genagt. Die Farbe der Bretterkreatur war ein vom Wetter misshandeltes Weiß.

Als der Wind im Dreck, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, sich mehrmals um die eigene Achse drehte, bemerkte ich endgültig, wie verwahrlost alles aussah. Da lagen verstreut rostige Radkappen, topflose Messingdeckel, eine stiellose Bratpfanne, ein unentwirrbares Knäuel Kordel, Fetzen von Regenschirmen und ein gutes halbes Dutzend, halbwegs mit Regenwasser gefüllter, kaputter Zinkeimer herum. Da hatte die fahle Sonne damit begonnen, aufgeweichte Taschenbücher und Zeitschriften, einen braunen Filzhut und zwei dreckige Baumwollhemden zu trocknen. Schwärme von Mücken tanzten mit anderen Insekten um die Wette; graue Schatten von Krähen überflogen den Platz, beklagten sich über die Angriffslust eines Raubvogels.

An diesem hoffnungslosen Ort hauste Keith. Ein Mann wie ein Gespenst: weiß, Fusel triefend, verlottert, ausgestoßen; ein Mensch, der den Großteil seines Leben im Schatten zugebracht hatte. Klein, dürr und schmächtig wie eine Papierserviette lag er vor seinem baufälligen Domizil. Der Wind, wenn er das gewollt hätte, konnte spielend durch ihn hindurchpfeifen, und ich dachte: Da liegt einer, der die Zeit verschläft. Während Keith seine Flasche Gin verkrampft festhielt, keineswegs sicher, an welchem Ort er sich gerade befand, winkte er mich linkisch herbei, nachdem ein herumrennender Flohzirkus von Promenadenmischung mehrfach zornig gebellt hatte. Es klang wie kurze heisere Schüsse, ein Geräusch, das ich für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen werde. Ich ängstige mich vor Hunden, obwohl ich sie mag; solange jemand die Kontrolle über sie hat, geht es besser; demzufolge vermeide ich Begegnungen mit ihnen sorgfältig. Dieser schien, genauso wie sein Herrchen, am Hungertuch zu nagen, auch wenn sicher niemand von den beiden je etwas mit dem Altarvelum zu tun gehabt hatte, jenes Tuch, mit dem in der Fastenzeit der Altar verhüllt wird. Heute nahm ich allen Mut zusammen, näherte mich dem Mann vorsichtig und sah nach wenigen Metern seine halb geschlossenen, alkoholtrüben Augen und den dünnen flüssigen Faden, der vom Kautabak stammte, an dem er ewig nuckelte. Sein Blick folgte meinen Bewegungen mit dem Unverständnis eines Tieres. Er sah aus wie der leibhaftige Tod. In seinem Gesicht mit dem kläglichen Haar obendrauf fiel zuerst die Nase auf, ein großer Haken, aus dem silbern schimmerndes Haar quoll. Das Gesicht wie ein Schrank, der Mund eine lädierte Schublade, gekennzeichnet von den unzähligen Bisswunden des Alkohols und den gewaltsamen Rausschmissen aus Kneipen; das Zahnfleisch weit vor den Zähnen zurückgewichen. Ein Stück fahler Haut, Teil der fleckigen Epidermis des Trinkers oder Todkranken, straffte sich über vorstehende Backenknochen, die sich spannten und entspannten wie Expander. Mit der dreckigen rechten Hand, einer Klaue wie eine Spaghettizange, ging er schonungslos gegen ein schorfiges Furunkel vor ,und jedes Mal, wenn ich ihn zornig mit den Armen herumfuchteln sah, erwartete ich, dass die Stelle zu bluten anfangen würde.

»Woher kommst du?«, fragte er undeutlich mit ausgelaugter Stimme, nachdem seine geränderten Augen den Rucksack erblickt hatten.

»Aus Europa. Äh, Deutschland«, präzisierte ich.

»Was?«, fragte Keith beim Aufschauen, während Unverständnis aus seinen lichtscheuen Augen tönte. »Deutschland?«

»Ja. Deutschland!«

»Deutschland, mmh, ist das weit von hier?«

»Ja, weit weg. Am anderen Ende der Welt. Mmh, viel weiter als die Wolken dort!«

»So, so!«

Und da ich nicht wusste, was ich sonst noch sagen sollte, schwieg ich. Die Luft war voll vom Gesang der Insekten. Der Mann hatte hier einen Platz gefunden, an dem er auch am Tag schlafen konnte. Nachdem mich der Hund akzeptiert zu haben schien, humpelte dieser bedächtig zu einem alten Fahrradreifen und begann, wie ein Vogel an einem Wurm an dem geflickten Schlauch zu zerren; die Lust verging, als das Ventil zum unüberbrückbaren Hindernis wurde. Der Mann schaute ihm zu dabei und das kleine Ereignis hinterließ für wenige Augenblicke eine Spur Zärtlichkeit in seinen Augen.

»Alles, was ich auf der beschissenen Welt noch habe!«, murmelte er in sich hinein.

Wie ich verstand, war ihm das Tier, das auf kurzen Beinen da über den Platz humpelte und den Fremden im Auge behielt, vor Jahren zugelaufen und sein Freund geworden. Das von allen guten Geistern verlassene Leben hatte breite Gräben in seine Stirn gefurcht, ein bitterer Zug umschloss seinen Mund, Trauer und Hoffnungslosigkeit hingen in herabhängenden Mundwinkeln. Die zerlumpten Klamotten, die Keith am Leibe trug, waren schäbig und standen vor Dreck und Rotz und Erbrochenem. Es roch süßlich in seinem Bett des Verfalls und der Trostlosigkeit. Der Hund gesellte sich für einen Augenblick zu seinem Herrchen und leckte an dessen Finger. Hunger triefte ihm nur so aus den Lefzen. Mein wortlos hingehaltenes Brot lehnte Keith achselzuckend ab, nahm lieber einen tiefen Schluck aus der Lebenselixierpulle wie ein durstiger Säugling, wobei ihm Silberpunkte von Angst in seinen aufgerissenen Augen wuchsen. Man konnte mühelos seine Bewegungen vorausahnen und sehen, dass es in seinem Geist drunter und drüber ging.

Der Teufel rief ihn beim Namen.

Unter stammelnden ginfeuchten Worten webte der Hund sein hustendes Bellen. Keith sprach mehr zu sich denn zu mir, als er in bruchstückhaften Sätzen sein Leben dahinschüttete, wie man sonst nur das Bettzeug ausschüttelte. Es wurde ein Monolog, wie er ihn schon häufig gehalten hatte, seinen Zechkumpanen, dem durchgedrehten Hund, seinem Spiegelbild, und als seine raue Erzählstimme für kurze Zeit in Fahrt kam, schien er irgendwohin in die Unendlichkeit zu starren. Damals, vor Jahren, lebte er ständig im Krach mit seiner Frau, und nachdem er obendrein, wie viele andere, die Kündigung von einem Tag auf den anderen erhalten hatte, stahl er sich bei Nacht aus dem Haus und verschwand auf Nimmerwiedersehen.

»Sie hat nichts bemerkt«, sagte er, »als ich zum Teufel ging … und mit mir ging’s bergab, steil bergab, verdammt.«

Müde Trauer lastete auf seinen Worten. Von da an hatte er nie wieder richtig Kontakt mit der Umwelt, während die Jahre über ihn hinwegfegten, ohne seine Einsamkeit zu stören. Er konnte die klaffenden Wunden im Herzen nicht verbergen, die das Ganze hinterlassen hatte, goss Flüche in das Selbstgespräch wie ein Blumen gießender Gärtner. Vagabund, rain dog, ohne Hoffnung, ohne Liebe. Und Claire, der Name seiner Frau, fiel immer wieder wie der Tropfen aus einem kaputten Wasserhahn in sein Selbstgespräch, Claire, die so alt war, dass sie sein eigenes Kind hätte sein können. Sie wohnte seit damals in seinem zerfetzten Portemonnaie als tausendfach gefühltes Bild. Immer wieder stieß er auf dieses Foto, das eine schwere Frau zeigte, die einen Hut trug.

Der Mann fand oder stahl die Sachen, die er zum Verkauf in der Stadt feilbot. Der Mann, ein larrikin, bettelte um plonk, booze; übernachtete zitternd in rabenschwarzen Ecken mit elenden Schwermutgedanken, einen Schritt weit entfernt vom Säuferwahnsinn. Einziger Freund war Blacky, der nicht stillhalten konnte und blind war wie ein Maulwurf. Den Namen Blacky hatte er dem Hund gegeben, weil dessen Fell in der Hauptsache schwarz war, neben grau und weiß; seine kurzen Beine ähnelten dem Stamm einer Birke. Er redete gern mit sich selbst, mit dem Hund, zu unsichtbaren Ohren, sodass es ihm erhebliche Schwierigkeiten bereitete, sich auf Menschen zu konzentrieren. Doch im Suff hatte er meine stille Gegenwart vergessen und schien von seiner Umgebung keinerlei Notiz mehr zu nehmen. Die einzige Bewegung auf dem Platz stammte von dem Hund, der immer wieder schwanzwedelnd zu einem halb aufgeschnittenen Ball zurückkehrte, als hätte er einen Narren daran gefressen. Der Hund hatte gelernt, für sich selbst zu sorgen, auf Keith war da wenig Verlass. Ab und zu schleckte er die bräunliche Flüssigkeit aus dem kaputten Regenwasserbecken, auf das sich gelegentlich zirpende Hooligans stürzten, die sich gegenseitig vom Rand rempeln wollten. Irgendwoher hörte man das Bersten dünner Zweige unter dem Tritt heimlicher Tiere. Eine Eule rief und bekam Antwort. Und plötzlich aus einem unerklärlichen Grund fing der sitzende Mann an zu schreien, zwei Wörter nur, die ich nicht verstand, weil sie so überraschend kamen wie ein Telefonanruf, dann warf er die Arme nach oben und fiel zusammen, immer noch zitternd vom Aufschrei seiner Seele, wie die Figur eines Marionettenspielers.

Kurze Zeit später lag Keith gekrümmt und still wie ein Stein in krankem Schlaf, träumte seine Tränen, seine Sorgen, seine Vergangenheit und das beschissene Morgen zum Teufel, während sein Boot, von der Sichel des Totengräbers verfolgt, unweigerlich auf die dunklen Wasser des Styx zutrieb. Ohne Rückfahrkarte. Man wusste nie, ob der nächste Sonnenaufgang ihn noch antreffen würde. Er, gebrochen wie ein dünner Zweig, stand auf der Liste des Schicksals ganz oben. Ein jammervoller schmuckloser Himmel deckte ihn für ein paar Stunden zu, bis er sich wieder aufrappeln musste, um die Ginflasche zu füllen und mit dem Rest seines Lebens weiterzumachen, tief unten aus seinem Loch mit den Gespensterstimmen.

Leise, als hätte Keith aufwachen können, stahl ich mich davon, geräuschlos wie mein eigener Schatten. Als ich ging, bemerkte ich, dass beide sich kaum mehr rührten. Mit gebeugtem Kopf, die rechte Hand auf die Flasche gestützt, lag Keith Seite an Seite mit dem nun ruhig atmenden Hund, dem er aus Gewohnheit den Bauch rieb, der herunterhing wie bei einem alten Ackergaul.

Ich hatte dort nichts mehr verloren und meine Füße trugen mich mit eigenem Willen weg von dem Ort, während ein sonderbarer Vogel, der schreiend in den hohen Wipfeln hockte, durch sein kehliges Stottern das Murmeln des Flusses, der in der Nachmittagssonne wie Gold schimmerte, zu übertönen suchte. Im Nu hatte sich das Buschwerk um den Hals der vergessenen Hütte gelegt, und es dauerte nicht lange, bis ich die Straße erreichte und von einem Paar, das aus England stammte und mit einem Campingbus unterwegs war, aufgelesen wurde. Entlang des Flusses, in dem ich Bilder von Vergänglichkeit sah, schob sich die Straße allmählich hoch nach Waiouru.

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