Wenn der Tod sterben müsste
© Willi Schnitzler
„Alle Menschenkinder wandeln auf demselben traurigen Weg dem Tode zu“, sagte einst Maui zu seinem Vater Makea.
„Alle Menschen müssen sterben“, antwortete Makea, „früher oder später fallen sie wie reife Früchte vom Baum und sie werden von der mächtigen Mutter der Nacht, Hinenuitepo, eingesammelt.“
„Muss das wirklich so sein?“, erwiderte Maui. „Wenn der Tod sterben müsste, könnten denn die Menschen nicht ewig leben?“
Makea antwortete betrübt: „Hör zu, denn ich muss dich warnen. Deine Gedanken sind gefährlich. Kein Mensch kann den Tod bezwingen. Auch du musst eines Tages sterben.“
„Wie ist denn das möglich?“, wollte Maui wissen. „Hat meine Mutter nicht prophezeit, dass ich ewig leben würde? Kein gewöhnlicher Mensch leistet das, was ich zustande brachte. Für mich ist der Tod ein weiterer Feind, den ich besiegen will.“
Makea musste eingestehen: „Es ist wahr, dass deine Mutter dir ein ewiges Leben prophezeite. Aber als ich dich taufte, hatte ich eine Gedächtnislücke und vergaß einen Teil des Gesanges. Durch diese Unterlassung zerstörte ich die Prophezeiung. Deshalb weiß ich, dass du sterben musst.“
Der sprachlose Maui überlegte eine Weile und sagte schließlich: „Das Schicksal lässt mir keine Wahl und ich werde den Tod besiegen müssen. Sage mir, Vater, wie ist denn die Göttin des Todes, Hinenuitepo?“
„Sie ist schrecklicher, als sich ein Mensch nur vorstellen kann“, gab der Vater zur Antwort. „Du siehst ihre Augen am Horizont funkeln, sie sind so dunkel wie Grünstein. Ihre Zähne sind so scharf wie Vulkanglas und sie hat den unheimlichen Ausdruck des Barrakudafisches. Ihre Haare hängen wie Flachs. Sie ist monströs, abgesehen von ihrem Körper, der demjenigen einer alten Frau gleicht.“
Maui schmiedete daraufhin einen Plan, wobei seine dunklen Augen leuchteten. Makea war sehr betrübt, denn er wusste, dass Maui nichts von seinem Vorhaben abbringen konnte. Der Vater trauerte bereits um seinen Sohn.
„Auf Nimmerwiedersehen, mein Jüngster, denn du bist wirklich geboren worden, um zu sterben.“
Voller Zuversicht lachte Maui vor sich hin und wusste nicht, dass sein Gelächter Hinenuitepo aufweckte. Blitze zuckten um ihren Kopf, als sie die Augen voller Schlaf böse rollte.
„Kann das Maui sein?“, brummte sie. „Wie kann er nur lachen, wenn er weiß, dass ich ihn erwarte? Es steht fest, dass er sterben muss, aber er ist ein gescheiter Kopf und ich darf dies nicht allzu leicht nehmen.“
Mit diesen Worten schlief sie wieder ein.
Inzwischen bastelte Maui an seinem Plan. Er wusste, dass seine Unternehmung von der Unterstützung der Kreaturen des Waldes abhängen würden und beschloss, die Kinder Tanes einzuweihen. Alle Vögel des Waldes kamen flugs herbeigeflogen und erhielten ihre Rollen zugesprochen.
Nachdem sie sich Mut zugesprochen hatten, zogen Maui und seine Begleiter siegesbewusst zur mächtigen Mutter der Nacht. Doch je näher sie der schlafenden Göttin kamen, desto kleinlauter wurde das frohe Gezwitscher der Vögel, bis es schließlich ganz verstummte. In der Umgebung der Lichtung, wo die Göttin wohnte, wurde die Luft bitterkalt. Endlich erblickte Maui Hinenuitepo, wie sie schlafend auf der Türschwelle ihre Hauses lag, genau so, wie Makea sie beschrieben hatte. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund mit den furchteinflößenden Obsidianzähnen halb geöffnet.
Maui wisperte den Vögeln zu: „Meine kleinen Freunde, da liegt sie nun und schläft, die mächtige Mutter der Nacht, Hinenuitepo. Ihr müsst meine Befehle befolgen, denn mein Leben ist in euren Händen. Ich werde durch den Körper Hinenuitepos kriechen und ihr dürft nicht lachen, bis ich zum Mund herauskomme. Dann erst dürft ihr lachen, wenn ihr wollt. Tut ihr es vorher, muss ich sterben.“
Die angsterfüllten Vögel baten Maui, von seinem Plan doch abzugehen. Doch dieser verspottete ihre Angst, näherte sich der Göttin und drang entkleidet den Kopf voran in ihren Körper, wobei die Vögel das Lachen heftig unterdrücken mussten. Als Hinenuitepo sich im Schlaf wälzte und drehte und bald Mauis Kopf im Rachen der Göttin erschien, brachen die Kinder Tanes in ein lautes Gelächter aus. Davon aufgeweckt, wusste die Mutter der Nacht, was vorgefallen war und zerriss Maui. Sein Versuch der Überwindung des Todes endete in Gelächter und Unehre und wegen dieses Misserfolgs müssen die Menschenkinder ihren finsteren Weg zu Hinenuitepo weitergehen.
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