Die Zähmung der Sonne

© Willi Schnitzler    

Die Zähmung der SonneMaui hatte oft genug die Klagen seiner Brüder mit anhören müssen, dass der Tag nicht genügend Sonnenlicht habe. Nacht für Nacht saßen sie um das Feuer und sprachen über dieses Thema. Wie früh sie auch immer aufstanden, nie reichte die Sonne, um all ihre Pflichten, ihr Jagen und Fischen zu erhellen. 
„Ich denke, ich kann die Sonne zähmen!“, sagte Maui eines Tages. 
„Maui, mach dich nicht lächerlich!“, antworteten sie. „Niemand kann die Sonne bändigen. Du wirst zu Asche verglühen, sie ist viel zu groß und mächtig.“
„Schaut, ich kann die Sonne zähmen!“, sagte er, diesmal mit großer Autorität in der Stimme. „Schickt alle Frauen des Stammes aus, um so viel Flachs wie möglich zu schneiden. Dann zeige ich euch, wie man ein Netz herstellt, das stark genug ist, die Sonne zu fangen. Ich werde dafür sorgen, dass sie in Zukunft nicht mehr so schnell über den Himmel läuft.“

Die Brüder gehorchten und als genug Flachs gesammelt und geschnitten war, zeigte ihnen Maui, wie sie die gewünschten starken Seile flechten sollten. Nachdem sie viele Stunden gearbeitet hatten, machte Maui kleine und große Seile daraus, band sie zusammen, um ein Netz zu fertigen, so gigantisch und stark, dass die Sonne gefangen werden konnte.

Schließlich brachen sie auf – Maui, seine Brüder und die Männer des Stammes – ausgestattet mit seiner Spezialaxt und den guten Wünschen der Frauen. Sie benötigten einige Tage, die Ruhestätte der Sonne in der Erde zu erreichen, wo sie in einer Höhle auf ihren morgendlichen Aufgang wartete. Schnell bedeckten sie den Eingang mit dem Netz aus geflochtenen Seilen, das sie obendrein mit Blättern und Ästen tarnten. Sie bauten eine Schutzwand aus Ton, schmierten sich selbst zum Schutz vor der glühenden Hitze der Sonne Ton auf ihre Körper und versteckten sich.

Es dauerte nicht lange, bis sie die ersten Lichtstrahlen aus der Höhle kommen sahen. Dann fühlten sie auch schon die glühende Hitze. Die Männer zitterten vor Angst, als das Licht mehr und mehr blendete und die Hitze mehr und mehr drückte. Sie waren sich so sicher wie nie zuvor, dass der Plan Mauis zum Scheitern verurteilt war. Plötzlich hörten sie die Rufe Mauis:

„Zieht! Zieht die Seile so stark ihr könnt!“

Das Netz fiel wie eine riesige Schlinge über die Sonne und obwohl die Männer fürchterlich Angst hatten, die Sonne würde sie auf der Stelle töten, zogen und zerrten sie so kräftig wie möglich, sodass die Sonne schließlich nicht mehr entfliehen konnte. Diese, zornig über die Geschehnisse, wand sich und brüllte. Maui, der genau wusste, dass dies nicht ausreichen würde, rief einem seiner Brüder zu, das Ende des Seils zu nehmen. Er sprang hinter seinem Schutz hervor und lief, die Axt über seinem Kopf schwingend, auf die Sonne zu, und obwohl die Hitze ihm Haar und Körper ansengte, fing er an, die Sonne mit der Axt zu attackieren.

„Was machst du!“, schrie die Sonne, jetzt noch lauter. „Versuchst du, mich zu töten?“

„Nein. Ich versuche nicht, dich zu töten“, antwortete Maui, „aber du verstehst nicht. Wir brauchen mehr Stunden an Sonnenlicht für unsere Tage zum Jagen und Fischen, zum Bauen und Instandsetzen unserer Häuser.“
„Gut!“, sagte daraufhin die Sonne. „Du hast mich dermaßen verprügelt, dass ich denke, ich kann nun nicht mehr so über den Himmel eilen, selbst wenn ich es wollte.“
„Wenn wir dich wieder freilassen“, entgegnete Maui, „versprichst du, deine Schritte zu zügeln?“
„Ihr habt mich derart geschwächt, dass ich nur noch langsam gehen kann“, antwortete die Sonne.

Maui ließ sie nun noch einmal feierlich ihr Versprechen bekräftigen und ließ sie frei. Verblüfft sahen die Männer der Sonne nach, wie sie sich langsam in die Luft erhob. Alle lächelten sie und waren stolz auf Maui.
Seit diesem Tag reiste die Sonne auf ihrer langen einsamen Bahn in geruhsamerem Tempo über den Himmel und gab viel mehr Stunden Licht, als sie es bis dahin zu tun pflegte.

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