Die Geschichte von Rona
© Willi Schnitzler
Ich hatte das sichere Gefühl, als wäre ich allein auf der Welt mit diesem Mond, dem ersten Vollmond des Herbstes, gezeichnet von den trockenen, schwarzen Seen und Kratern, die sich eng aneinander schmiegen, um uns das Gesicht vom Mann im Mond vorzugaukeln. Oder war es Rona.
Kia mahara ki te he o Rona, hieß es – Erinnere dich an die ungerechtfertigte Tat von Rona.
Rona, geliebt von Mann und Söhnen, geriet bedauerlicherweise sehr schnell in Wut. Von Zeit zu Zeit, mit oder ohne Grund, brauste sie auf, schrie und wurde sehr beleidigend. Ihr Ehemann war traurig darüber und obwohl er sie verehrte, wäre er manchmal am liebsten vor ihrer prügelnden Zunge davongerannt.
Eines Nachts, als der Mond voll am Himmel stand, verkündete Ronas Mann, dass er und seine beiden Söhne zu der nahe gelegenen Insel fahren würden, um Fische zu fangen.
„Wenn wir zurückkommen“, so sagte er, „es wird am nächsten Tag vor Einbruch der Nacht sein, möchten wir, dass das Essen fertig ist.“
Rona verabschiedete die drei.
Am folgenden Tag erledigte sie die Vorbereitungen mit rascher Hand. Sie entfachte zeitig das Feuer und legte Steine obenauf. Als die Sonne langsam unterging, war es an der Zeit, Wasser über die heißen Steine zu gießen, das Essen aufzulegen und alles mit Blättern und Erde zu bedecken. In dem Moment hörte sie in der Ferne die singenden heimkehrenden Fischer. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie vergessen hatte, Wasser zu holen und lief mit einer Kürbisflasche in jeder Hand den Weg hinunter zur Quelle. Dunkelheit hatte sich über das Land gelegt, und als sie rannte, schlüpfte der Mond in schwere Wolken. Rona stolperte und fiel hin, rappelte sich sogleich wieder auf und fand schließlich unbeschadet den Weg zur Quelle, wo sie die Gefäße füllte.
Auf dem Rückweg fiel sie abermals hin, schlug sich blutig die Knie auf und das Wasser der Kürbisflaschen ergoss sich in den Kieselsteinweg. Schmerz und Verzweiflung waren plötzlich zuviel. Sie verlor die Beherrschung und schrie Beschimpfungen gegen den Mond.
„Du hast dein Licht zurückgezogen, wie kannst du es wagen! Pokokohua! Pokokohua!“ (Heute hätte sie vielleicht Dreckskerl oder noch Schlimmeres geschrien.)
Der Mond war normalerweise gelassen und unvoreingenommen, aber er konnte eine solche Beleidigung nicht ignorieren. Er wirbelte herum, bekam Rona zu fassen und versuchte, sie zu sich hochzureißen. Aber Rona griff nach dem Ast eines Ngaio-Baums und kämpfte wie wild um ihr Leben. Der Mond war jedoch sehr stark, zog Rona mitsamt Baum und Wurzelwerk in die Höhe und ließ sie auf seinem runden Leib niederfallen.
Als Ehemann und Söhne schließlich nach Hause kamen, fanden sie die glühenden Steine und das unfertige Essen neben dem Feuer liegen, aber kein Lebenszeichen von Rona. Dann blickte er hoch und sah die Gestalt einer Frau, die zwei Flaschenkürbisse in Händen hielt, hoch oben auf dem Mond und er wusste augenblicklich, dass seine Ehefrau einmal zu viel geflucht und geschrien hatte.
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