Die Mythen der Maori

Die Mythen der MaoriNach der jüdisch-christlich-islamischen Überlieferung ent­stand das Universum zu ei­nem bestimmten, nicht allzu fernen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Augustinus ging in seiner Schrift »Der Gottesstaat« von der Genesis aus und kam zu dem schlichten Ergeb­nis, dass Gott die Welt ungefähr 5000 v. Chr. erschaffen habe und die Zeit erst seit der Er­schaf­fung des Universums existiere. Aristoteles und eine Viel­zahl seiner griechischen Philosophiekollegen lehnten diesen Standpunkt ab, weil sie von göttlichem Interventio­nismus nicht viel hielten. Für sie hatten Mensch und Welt schon im­mer existiert. Kant, der Mann, der das Wort »Insel Universum« kreierte, fand in seinem Werk »Kritik der reinen Vernunft« überzeugende Argumente, sowohl für den einen als auch für den ande­ren Erklärungsversuch.

Edwin Hubble brach­te durch seine Entdeckung, dass sich die fer­nen Galaxien rasch von uns fortbewegen, die Denk­richtungen in andere, doch auch schon gedachte Bahnen. Er sah bei seinem Blick ins Universum einzelne Sterne unseres näch­sten Nachbarn, der Andromeda Galaxie, als erster Mensch, mehr als zwei Millionen Lichtjahre entfernt. Er sah, bildlich gesprochen, einen Brotteig, gefüllt mit Rosinen. Jede Rosine war analog eine kleine Galaxie. Auf einer Rosine stehend, hatte man das Gefühl, dass sich die anderen Rosinen aufgrund der Ausdehnung des Teigs fortbewegen, man selbst aber stillstand. Je weiter nun eine Rosine entfernt zu sehen war, je schneller war die Bewegung, einfach dadurch, dass mehr Teig dazwischen lag. So ähnlich war das, was Hubble sah. Seine Beobachtungen legten die Vermutung nahe, dass das Universum zu einem bestimmten Zeitpunkt, Urknall genannt, vor vielleicht zehn bis zwanzig Milliarden Jahren unendlich klein und unendlich dicht gewe­sen sein muss. Die Urknalltheorie schloss einen Schöpfer nicht explizit aus, grenzte aber den Zeitpunkt seiner Ver­richtung gehörig ein. Heute wissen wir, dass unser Heimatplanet lediglich eine kosmische Randerscheinung ist, da er aus einer völlig anderen Materie besteht als neunzig Prozent des restlichen Universums. Die Wissenschaftler waren mehr als erstaunt.

Die Maori-Legende spricht von Te Kore (die Leere), die vor allen Zeiten da gewesen sei. In der Folge kam Te Po (die Dunkelheit). Aber wann konnte Te Ao (die Welt des Lichts) beginnen? Nachdem Papatuanuku, die Mutter Erde, und Ran­ginui, der Himmels­vater, in einer unvergleichlich engen Um­armung gelebt hatten, sodass ihren sechs Kin­dern, die sich an Papa drängten und in ihren Achselhöhlen Schutz suchten, die Möglich­keit genommen wurde zu wachsen, wollte Tane-ma­huta, Vater der Wälder, Bäume und Vögel, Gott der Handwer­ker und Sohn von Papa und Rangi, seine Eltern zur endgülti­gen Trennung zwingen, weil sein Leben unerträglich geworden war. Doch die Kinder waren sich uneinig. Whiro, das Reich des Todes, die Unterwelt, das Böse, wollte den Schutz des Mutterleibes tunlichst nicht verlassen. Und der Gott der Winde und Stürme, Tawhiri-matea, ängstigte sich um sein Königreich der Lüfte, das er nach der gewaltsamen Tren­nung von Himmel und Erde entschwinden sah. Der Kriegsgott Tumat­auenga, der wilde­ste unter den Brüdern, war naturgemäß be­reit und gewillt, seine Eltern zu erschlagen. »Rangi«, sagt Tane-mahuta, »mag uns ein Fremder werden; aber Papa muss als nährende Mutter bei uns bleiben.« Und so fassten Tangaroa, Gott und Vater der Fische und Repti­lien, Rongo-matane, Gott des Friedens und der Feldfrüchte, Haumia-tiketike, Gott der Farnwurzel, und Tane, Herr der Wälder, den Entschluss, eine Weltordnung mit dem Himmel über der Erde zu erschaffen.

Der Versuch Tanes, den Himmel mit seinen Armen anzuheben, scheiterte zunächst. Er nahm die Beine zu Hilfe. Auf dem Rücken liegend stemmte er den Himmel mit aller Gewalt aus­einander, holte die Kinder des Lichts wie Te Ikaroa, die Milchstraße, heraus, setzte sie Rangi in die Brust und schmückte ihn mit der Sonne, dem Mond und den Ster­nen. Papa zierte er mit Pflanzen und Tieren.

Nur der Gott des Windes, Tawhiri, hielt seinem Vater die Treue und nahm bittere Ra­che an Tane für die Freveltat der Trennung, in dem er dessen Wälder mit Wirbelwinden und Wol­ken und Blitz und Donner heimsuchte und verwüstete. Er peitschte den entsetz­ten Tangaroa, den Gott des Meeres, durch sein aufgeregtes Reich, jagte die Fische des süßen Wassers und das kriechende Gewürm aus dem Meer, um Schutz zu suchen am Land und in dessen Wasserbecken. Das Meer for­derte die Flüchtlinge zurück und die Fehde brach aus zwi­schen Meer und Land. Der Gott des Waldes gab den Menschen Kähne und Netze, um das Meer und des Meeres Kinder zu zwin­gen und zu vernichten. Aber das Meer ließ die Kähne ken­tern, verschlang Küsten und Dörfer, entwurzelte Bäume und riss sie mit Vögeln und allem, was auf ihnen lebte, in seine Wellen. Doch die gegenseitige Liebe der Eltern blieb trotz der Trennung ewig. Der Vater schaute mit blau­en Augen herab auf die Mutter und sanfte warme Seufzer ihres Busens stiegen empor zu ihm, die von den waldigen Bergeshöhen und den tie­fen Tälern sich in den Himmel erho­ben; die Menschen nennen dies – Nebel. Und der Himmel, wenn er während der langen Nächte über die Trennung von der Geliebten klagte, vergoss Tausende von glänzenden Tränen, die auf ihren Busen fielen; die Menschen, wenn sie dieselben sehen, nennen sie – Tautropfen. Hinter den Wörtern könnte die Geschichte wahr sein, und ich hatte immer schon geahnt, dass die Welt so ist.

Tane schuf seine Frau selber, Hine-tu-pari-maunga. Mit ihr zeugte er eine Toch­ter, Hine-titama, die Maid der Dämmerung und sorgte damit für Nachwuchs und die Entste­hung des Menschengeschlechts auf dieser Welt.

Die Mythen der Maori sind stark von Göttern und Halbgöt­tern geprägt, sodass den physikalischen Erklärun­gsversuchen wenig Platz eingeräumt wird. Neben den drei gro­ßen Göttern Polynesiens – Tane (Mann), Tu (Kriegsgott), an dessen Stelle später Oro trat, und Rongo – und den alten Aitu, die gleichfalls weiter verehrt wur­den, gab es noch wei­tere Götter, Göttinnen und vergöttlichte Ur­ahnen – die Vorfahren der großen Häuptlinge, deren Bedeu­tung allerdings von Insel zu Insel variierte.

»In diesem Zusammenhang sind zwei ursprünglich nicht zu den großen Göttern zäh­lende Figuren des polynesischen Pantheons interessant, von denen die eine, Tangaroa, zur göttlichen Zentralgestalt Polynesiens werden sollte, an der sich allerdings lange Zeit die Geister schieden, während die andere Maui, zum Mittelpunkt farbiger Mythen wurde, die das Bedürfnis des Volkes nach heroischer Geschichte befriedig­ten.

Tangaroa, der zur Schicht der kleinen Atua, der Nebengöt­ter, gehörte und als Gott der Fischer im Wal verehrt wurde, stieg im Kult von Raiatea zum Gott des Himmels und zum Wel­tenschöpfer auf. Er nimmt die Stelle Tanes als Primus inter Pares ein und bildet mit Tane, Tu und Rongo eine Götter­vierheit, die in die heilige christliche Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist umzuinterpretieren sich so mancher polynesische Christ viel Mühe gegeben hat. Tangaroa ist nach der ihm auf Raiatea gegebenen Gestalt der sich selbst erzeugende Gott, der weder Vater noch Mutter hat, mit dem, aus dem und durch den alles gekommen ist, was wir Welt und Leben nennen. Die Polynesier begreifen ihn als einen Gott aus der Muschel – ein in zweifacher Hinsicht interessanter Aspekt, der den Ursprung, so wie es auch die moderne Naturwissenschaft tut, ins Meer verlegt, wo­bei die Muschel als Urgehäuse, Urvulva und Urmutterleib begriffen werden kann. Aus den Muschelhälften, die Tangaroa, seinen Ursprungsort sprengend, zurücklässt, werden durch seine Schöpfungskraft Himmel und Erde.

Um die Vormachtstellung Tangaroas vor Tane hat es schwere Auseinandersetzungen zwischen den Priestern und blutige Kämpfe gegeben, die sich in den Mythen als Götter­kämpfe spiegeln. Offenbar haben die Ariki (Adelsschicht) Tangaroa als ihren Gott und Schöpfer aufgebaut, um ihre Position zu stärken, begriffen sie sich doch als unmittelbare Nachfah­ren des Gottes, den sie auf Raiatea als ihren Ahnherrn ver­ehrten. Die übrigen Menschen dagegen, so lehrten die Ariki­priester, seien aus einer Made entstanden, die von einem Vogel, den Tangaroa sandte, in zwei Teile – Mann und Frau – zerbissen wurde.

Wie stark diese Mythen in ganz Polynesien wirkten, beweist ein tongaischer Kö­nigsmythos, der das elitäre Schöpfungs­bild der Ariki von Raiatea nicht anzutasten wagt, wohl aber insofern selbst wieder elitär differenziert, als er das tongaische Fürstenge­schlecht als aus dem Kopf der Made hervorgegangen beschreibt.

Natürlich hatten alle diese Theogonien und Kosmogonien nur eine Bedeutung für die Priester und die Herrschenden. Die Volkslegenden rankten sich um die Gestalt Mauis, den seine Mutter als Missgeburt ins Meer warf, aus dem ihn die Götter erretteten, mit Un­sterblichkeit ausstatteten und damit selbst zum Gott machten. Maui ist in der Volkserzäh­lung, besonders der in Neuseeland lebenden Maori, der Schöpfer und Erhalter der Inseln, die er aus dem Meer gefischt haben soll. Noch heute heißt die Nordinsel Neuseelands deshalb in der Sprache der Maori Te Ika a Maui – Mauis Fisch. In einer anderen Überlie­ferung ist er eine Art Riese Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trug und als Herr der Vulkane den Menschen Feuer schenkte. Er ist der volksnahe göttliche He­ros, um dessen Gestalt sich eine Unzahl von Geschichten rankt, die zum Teil noch heute als Erzählungen in Polyne­sien lebendig sind«.

Maui, Ahnherr und Halbgott, fischte während einer Angeltour mit seinen Brüdern die Nordinsel aus dem Meer, die seitdem Te Ika a Maui, der Fisch des Maui, heißt. Er ist nach den Traditionen der Maori ein Held, der große Taten vollbracht hat, gewissermaßen der Herkules ihrer Mythologie. Maui gilt als Lehrer im Kahn- und Häuserbau und als Erfinder der Kunst, aus Flachs Stricke und Schlingen zu drehen; er töte­te das Seeunge­heuer Tunarua; er hat Sonne und Mond die Bah­nen gewiesen.

Jene maorische Legende stellt die Entstehung der hügeligen Nordinsel dar, auf der teils erloschene, teils tätige Vul­kane, heiße Quellen, sprudelnde Geysire und kochende Seen die mystischen Sagen nährten und wird folgendermaßen er­zählt:

Maui hatte fünf Brüder. Während diese fleißig Fischfang be­trieben, saß er stets faul daheim, sodass Weib und Kinder über ihn klagten. Eines Tages erklärte er, nun wolle er ausziehen, und einen Fisch fangen so groß, dass er in der Sonne faulen solle, ehe seine Brüder ihn aufzehren könn­ten. Doch die Brüder wollten ihn wegen seiner Zauberkünste nicht in ihrem Kanu mitnehmen. Aus diesem Grunde verwandel­te sich Maui in einen Vogel, flog in das Boot, und gab sich erst auf offener See seinen erstaunten Brüdern zu erkennen. In seinem Besitz befand sich ein kostbarer Angelhaken, den er aus dem toten Kiefer seines Großvaters angefertigt hatte, und verwahrte ihn sorgfältig unter der Matte, auf der er saß. Nach langer Fahrt holte er die Angel hervor, um sein Vorhaben auszufüh­ren. Doch seine Brüder verweigerten ihm den Köder. Maui wusste sich allerdings zu hel­fen, in dem er sich ins Gesicht schlug und ein Stückchen Flachs, das vor ihm lag, mit dem Blut seiner tropfenden Nase trän­kte. Das sollte der Köder für die Angel sein. Dar­aufhin warf er sie aus und ließ die Schnur abrollen. Nach kurzer Zeit biss irgendetwas an und zog mit solcher Gewalt, dass das Kanu überholte und in großer Gefahr war, umzu­schlagen. Seine Brüder riefen ihm wütend zu: »Maui, lass los!«, doch er entgegnete: »Was Maui hält, lässt er nicht wieder los!« Die Redensart lautet in der Maorisprache: »Ka mauta Maui, ki tona ringa ringa e kore e taia te ruru« und ist zum Sprichwort gewor­den.

Seine Brüder wiederholten: »Maui, lass los, wir werden alle ertrinken!«, aber Maui ließ sich nicht beirren und hielt so lange fest, bis er ein Land aus dem Meer zog. »Ranga whenua«, riefen seine Brüder voll Erstaunen, »der gefan­gene Fisch ist ein Land.« Stolz fragte Maui, ob sie den Namen des Fisches kennen würden, aber sie wussten darauf keine Antwort. Er erklärte den sprachlosen Brüdern, der Fisch heiße »haha whenua«, das Land, das er gesucht habe. Kaum war der Fisch über dem Wasser, fielen auch schon die Brüder über ihn her, um ihn zu zerschneiden. Daher kommen Berg und Tal und alle Unebenhei­ten auf dem Lande. Das Kanu jedoch strandete, als das Land in die Höhe kam, und heute noch, erzählen die Eingeborenen, liegt es auf dem Gipfel des Berges Hikurangi bei Waiapu nahe dem Ostkap der Insel, wo auch Maui begraben liegt.

Sonderbarerweise ähnelt die Nordinsel in ihren äußeren Um­rissen einem Fisch, und die Eingeborenen wussten sogar, wo die einzelnen Gliedmaßen zu finden sind: Der süd­liche Teil der Insel ist der Kopf, die nordwestliche Landzunge der Schwanz; Kap Egmont die Rückenflosse, das Ostkap die Bauch­flosse. Wanganui-a-te-ra (Port Nichol­son an der Cook­straße), sagten sie, sei das Salzwasserauge des Fisches; Wairarapa (ein Süßwassersee bei Wellington) das Süßwasser­auge. Rongorongo (die Nordküste bei Port Nicholson) der Un­terkiefer; der tätige Vulkan Tongariro im Zentrum der Insel und der an seinem Fuß liegende Lake Taupo ist nach ihren Vorstellungen Magen und Bauch des Fi­sches. Heute liefert eine Landkarte den Beweis für die Fischform, aber lange be­vor de­tailgenaue Karten existierten, wussten die Maori von der genauen Gestalt der Nordinsel Neuseelands.

Es war der Ahnherr Kupe, der, um verhängnisvollen Zwistig­keiten mit seinen Feinden zu entrinnen, als Erster aufbrach und sein sagenumwobenes Heimatland, Hawaiki, auf der Suche nach neuem Lebensraum verließ. Seine lange Irrfahrt brachte ihn an die Küste Neuseelands; er taufte es »Tiritiri o Te Moana«, das Geschenk des Meeres. Doch ein Feind hatte Kupe einen satanischen Kraken nachgesandt, der ihn in der Cookstraße stell­te. Es kam zu einem erbitterten Kampf, den der todbringende Verfolger nicht überleben sollte. Von der nachfolgenden Umseglung der Nordinsel zeugen heute noch zahlreiche Ortsnamen an der Küste. Nachdem Kupe die Lage des Landes mit Hilfe von Sternbildern festgemacht hatte, kehrte er im Jahre 950 wieder in seine Heimat zurück.

Nach einer anderen Sage hatte der jüngere Bruder Kupes, Hoturapa, dessen Frau Ku­ra Marotina entführt, woraufhin Kupe in dem Kanu Mataorua in See stach, um die Flüchtigen aufzuspüren. Nach langer Fahrt landete er bei Wanganui-a-tera (Fort Nichol­son an der Cookstraße), fuhr weiter durch die Cookstraße bis Patea, fand aber nirgends einen Men­schen. Kupe kehrte enttäuscht zurück nach Hawaiki, wo nun verschiedene Kanus zur Reise nach dem neuen Land ausge­rüstet wurden.

Wiederum eine andere Legende nennt Ngahue als »Maori-Kolum­bus«. Auch er floh infolge von Streitigkeiten und Krieg von Hawaiki und kam nach langer Seefahrt nach Tuhua, einer In­sel an der Ostküste der Nordinsel. Da er glaubte, die Fein­de immer noch im Nacken zu spüren, flüchtete er weiter nach Aotearoa, der Nordinsel selbst. Aotea ist zunächst der Name eines der Kanus, die der Sage nach von Hawaiki kamen, und heißt so viel wie Lichtglanz, Sonne; roa bedeutet lang, groß. Um ganz sicher zu gehen, zieht Ngahue die Küste ent­lang nach Arahua auf der südlichen Schwesterinsel, wo er den hochgeschätzten Punamu-Stein entdeckt, den neuseeländi­schen Nephrit oder Grünstein. Auf seiner Rückreise berührt er Mairere, Tauranga, Whangaparoa, Plätze an der Ostkü­ste der Nordinsel, und segelt geradewegs in sein Heimatland mit der Kunde des entdeck­ten schönen Landes zurück, das von dem riesigen Vogel Moa bewohnt werde und Grün­stein im Überfluss biete. Leider fand Ngahue in Hawaiki immer noch Krieg vor, und die schwächere Partei entschloss sich zur Auswanderung nach Aotearoa.

Hawaiki oder auch Havaiki, der Ausgangspunkt der Götter- und Wandersagen, bedeu­tet der Etymologie nach das Untenge­legene und ist nach Schirren ursprünglich nicht Name oder Insel, hat also keine geografische, sondern eine mythische Bedeutung. Es bedeutet die Unterwelt, die Totenwelt. In diesem tieferen Sinn ist Hawaiki nach der Anschauung der polynesischen Völker Anfang und Ende, der Ort, von wo die Ahnen ge­kommen und wohin die Seelen der Toten zurückkehren. Reinga am Nordkap der Nord­insel ist nach der Vorstellung der Maori die irdische Schwelle und somit Eingang in die­ses Totenreich. Am Klippenrand befindet sich eine Höhle; durch diese steigen die Geister hinab, dann wieder hinauf und schließlich auf einem Geisterpfad, dem Rerenga wairu, kommen sie an ein Meer, von wo sie mit einem Totenkahn nach Hawaiki gelangen. Un­aufhaltsam ziehen sie ihren Weg, Schat­ten gleich, die man vergeblich zu greifen versucht. In der Finsternis und in der Stille der Nacht, besonders nach gro­ßen Schlachten, hören die Bewohner des Nordkaps den Flug der Geister durch die Luft. Häuptlinge steigen zu­nächst zum Himmel empor, nur um ihr linkes Auge als Stern zurückzulas­sen. Erst dann gehen sie ihren Weg nach Reinga, wobei der Pfad für alle derselbe ist, denn ein uralter Pohutukauabaum schickt seine Äste als Leiter für die Verstorbenen hinab. Die Maori fürchten, wenn ein Weißer jene Äste zerschnei­det, dass der Weg in das Jenseits zerstört sein und die In­sel vernichtet werden müsste.

Die Maori sagen: Wenn man stirbt, muss man reisen. Zunächst nach Norden bis Te Rerenga-wairua, die graue Wurzel des Akakitererenga hinunter bis zum Felsplateau. Dann in die See, in das Seeloch, das nach Te Reinga führt. Diese Reise ist allen gut be­kannt. Für das, was noch dem Tod geschieht, gibt es drei verschiedenartige Überliefe­rungen. Erstens, man geht nach Te Reinga und lebt dort wie gehabt, bis man zuguterletzt wieder stirbt und von der Fäulnis gefressen wird. Falls man an den Geistessern Tuapiko und Tuwhaitiri vorbeikommt, folgen die Unterwelten, von denen jede folgende unange­nehmer ist. In der letzten schließlich kann man wählen, als Falter auf die Erde zurückzu­kehren oder ein Nichts zu werden. Stirbt der Falter, ist man fort für immer. Zweitens, man reist durch die See. Auftauchend sagt man Ohau Lebewohl. In diesem Augenblick sieht man das Land zum letzten Mal und geht nach Westen weiter, bis Te Honoiwairua in Irihia kommt. Dort steht man vor einem Gericht, das darüber entscheidet, ob man in den Himmel oder in die Hölle geschickt wird. Die geklaute Möglichkeit. Drittens, die Seele kann wählen, welche Reise sie unternehmen will, d. h., ob sie bei Papa bleiben oder zu Rangi gehen will. Am Ende des Grabes wurde von einem Grabpfleger der tiri, ein Tutu-Stock, in den Boden gesteckt, der zum Himmel hinauf zeigte. Dadurch konnte die Seele erst den Körper verlassen und eine Weile in der Sonne hängen wie ein müdes Faultier. Nach einiger Zeit konnte sie den Weg einschlagen, den sie wollte, den himmlischen oder den irdischen. Die Seele stieg hinauf ins Firmament, wenn sie sich für Rangi entschieden hatte, vielleicht sogar bis in den zehnten Himmel, dort wo Rehua mit dem langen Haar dem Gast freundlich zulächelte, Rehua, der Stern der Güte, dem zuckende Blitze aus den Achseln fuhren, Rehua, der sowohl den Starken als auch den Schwachen die Traurigkeit nimmt.

Lange Zeit später als Kupe überraschte den jungen Maori Whatonga bei einer Regatta vor Hawaiki ein gewaltiger Or­kan, der sein Kanu auf den offenen Ozean hinausblies. Toi, der Großvater, machte sich vor Sorge auf, seinen Enkel zu suchen. Beide verpassten sich einige Male und fanden erst auf Neuseeland wieder zusammen, wo sie auf eine klei­ne polynesische Bevölkerungsgruppe trafen, die wahrscheinlich schon vor Kupe den Fuß auf neuseeländischen Boden gesetzt hatte. Verirrte Schiffbrüchige vielleicht; Jäger, Fi­scher und Sammler, in ihrer steinzeitlichen Entwicklungsstufe weit hinter den Maori ge­legen. Sie hausten in offenen Dörfern und aufgrund der Tatsache, dass sie keinerlei Waf­fen hinter­ließen, darf man annehmen, dass es sich um ein friedfertiges Volk gehandelt ha­ben muss. Das Fleisch des Riesenvogels Moa diente als Nahrung, der Balg als Kleidung, die Knochen als Werkzeuge für Geräte und Schmuck und die Eier als Wasserbe­hälter. Die Moa-Jäger nahmen auf ihren Jagdzügen Feuer mit, wobei immense Wald- und Buschflächen abgefackelt und zer­stört wurden, um die riesigen Tiere zusammenzutreiben und eine leichte Beute zu haben. Bei Ankunft der Maori waren die Moas fast vollständig ausgerottet. Trotz ihrer recht bescheidenen Mittel und Kenntnisse hinterließen die primi­tiven Vorgänger der Maori einschneidende Veränderungen in Flora und Fauna. Große Gräberfelder mit Moa-Knochen legen heute noch Zeugnis ab von den Unmengen getöte­ter Tiere. Im Laufe der Zeit assimilierten sich die Moa-Jäger mit den hö­her entwickelten Maori, sodass ihre eigene Kultur bald vollständig verschwand.

Die Maori reisten mit der »Großen Flotte« ins Land der großen, weißen Wolke im Herzen des vierzehnten Jahrhun­derts. Sie segelten über mehr als dreitausend Kilometer auf offenem Ozean angeblich mit sieben riesigen Kanus nach bit­teren Kämpfen auf Ha­waiki dem Land entgegen, das Kupe vor vierhundert Jahren entdeckt und beschrieben hatte. Tainui, Te Arawa, Aotea, Takitimu, Tokomaru, Matatua und Kurahaupo navigier­ten sie bereits damals nach den Sternen. Es waren dreißig Meter lange, reich verzierte Auslegerboote oder Doppelkanus, die mit religiösem Ritual gefällt und in Ge­mein­schaftsarbeit ausgehöhlt worden waren und boten Platz für einige Dutzend Menschen. Die Boote, randvoll mit Samen und Setzlingen, landeten an den un­terschiedlichsten Küstenstellen der Nordinsel, von wo aus die systematische Besiedlung vonstattenging. Unglücklicherweise hatte man ungewollt einige blinde Passagiere an Bord, deren in wenigen Jahren geborene Streitmacht eines der Hauptübel des Archipels werden sollte. Ratten.

Die Nachkom­menschaft jeder Kanubesat­zung bildete einen eigenen Stamm, sodass jeder Maori noch heute weiß, von welchem Kanu er ab­stammt.

Die abenteuerliche Geschichte des Takitimu-Kanus berichtet von der Überquerung des Meeres. Von einem Schwarm Fische begleitet trieb das imposante Kanu auf dem mürri­schen Was­ser. Vorne an der Spitze war ein Taniwha, ein Ungeheuer mit dem Namen Ruamano, und hinterher kam ein Artgenosse namens Arai-te-uru. Am hellen Tage wies der Gott Kahukura in Ge­stalt des Regenbogens den Weg, während bei Nacht der Mond die Führung übernahm. Tagein, tagaus. Die Reise war mühsam und hart. Doch als Taki­timu in schlechtes Wetter geraten war und die dornigen Meereswogen an der zierlichen Nussschale zerrten, bahnten die heiligen Äxte, Te Awhi-o-rangi und Whironui, mit denen das Boot einst gebaut worden war, unter heftigen Hieben einen Weg durch die turmho­hen Wellen. Jahrelang trieb das Kanu mit vollen Segeln die Küste ent­lang, legte an, um verschiedene Gebiete zu besiedeln, bis es durch magische Kräfte in einen Gebirgszug verwandelt wurde.

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