Sizilienreise

© Willi Schnitzler     

SizilienreiseDienstag, 20. Dezember 2005

Ankunft um 13.45 Uhr in Palermo, nachdem der Großteil der Passagiere dem Piloten mit einer einminütigen Ovation seine Huldigung ausgesprochen hat. Im Gegensatz zu Deutschland scheint, als wir uns endlich aus dem Gewusel des Flughafens befreit haben, hier die Sonne. Es ist angenehm warm. Nicht dass wir uns die Hemden vom Leid gerissen hätten, aber immerhin ... 

Wir nehmen sofort den nächsten Bus, der nach Palermo fährt. Es wird eine lange Busfahrt, denn die Stadt liegt einige Kilometer vom Aeroporto entfernt. Auf dieser Fahrt kriegen wir auch erste Anhaltspunkte, wie dass mit dem Verkehr so läuft. Kurz: Die Straßen sind alle verstopft, zumindest als wir in die Stadtbezirke Palermos einfahren. Auf der Busspur kommen uns Mopeds und Motorräder entgegen und nicht selten auch ein Auto. Dennoch geht alles gut - es gibt keine Verletzte, und ich denke, außer uns, auch keine Leute, die sich wundern. Am Bahnhof in Palermo angekommen, fahren wir gleich mit der erstbesten Bahn nach Santa Flavia weiter, neunzehn Kilometer östlich gelegen, wo wir für eine Woche eine Unterkunft gemietet haben. Sowohl der Ort, früher einmal die Sommerresidenz des Adels von Palermo, als auch die Wohnung machen einen netten Eindruck. Letztere hat zwei Zimmer und ein Bad, das über eine mehrstufige kleine Treppe zu erreichen ist. Um uns die Beine zu vertreten und einen ersten Überblick zu verschaffen, stiefeln wir planlos durch die Straßen und gelangen schließlich zum Hafen. Es beginnt bereits dunkel zu werden, sodass sich hier im Grunde nur noch die Boote und ein paar Männer aufhalten, die an einigen Rümpfen Ausbesserungsarbeiten vornehmen. Ansonsten ist es in dem hübschen Hafen ruhig und beschaulich.

Wir gehen wieder zurück und werden von einer Bahnschranke aufgehalten, vor der bereits eine Menge Fahrzeuge warten. Es heißt nun nicht: Warten auf Godot, sondern Warten auf den Zug, oder besser gesagt auf die Züge. Denn nach und nach rauscht der ein oder andere Zug vorbei und würde uns, wenn wir noch welche hätten, die Haare um die Ohren wehen. Inzwischen zieht sich die Autoschlange sicher bis zum Hafen, denken wir, während vorn an der Schranke die vielen Mopedfahrer ihre Gashebel ausprobieren und das Farmacia-Schild von jenseits der Bahngleise grün leuchtet. Zwanzig Minuten später hat der Eisenbahngott ein Einsehen mit den unruhig Wartenden, die offenbar die Gepflogenheiten an diesem Bahnübergang bestens kennen, da wie auf ein Kommando der Lärm plötzlich zunimmt. Wenig später knackt die rot-weiß gestrichene Bahnschranke und bemüht sich allmählich nach oben. Kopf eingezogen und der erste Mopedfahrer löst sich vom Pulk. Die anderen folgen und in null Komma nichts hat sich der Spuk aufgelöst. Etwa hundert Meter sind wir noch ein wenig verwundert, doch dann nehmen wir das Erlebte als sizilianisches Spektakel hin.

Am Abend verschlägt uns der Hunger in ein Restaurant, das wirklich "Gast Haus" heißt und vielleicht irgendwann bei Gründung einem Deutschen gehört haben mag. Heute schwirren hier nur Sizilianer rum und auch der Chef hat herzlich wenig von einem Teutonen an sich. Die Temperatur liegt nicht über siebzehn Grad. Im ganzen großen Raum gibt es keine Heizung. Daher hat man flugs zwei oder drei Gasheizkörper aufgestellt, die nun ein Pärchen und eine komplette Familie wärmen. Wir sitzen etwas abseits, abseits von diesen kleinen Inseln der Wärme und essen eine Pizza, ehe wir uns in Morpheus Arme begeben.

Mittwoch, 21. Dezember 2006

Zum Brötchenholen gehe ich mal eben über die Straße und warte etwa eine gute Viertelstunde in der Hoffnung, dass der versprochene Brötchenbringer auch wirklich jede Minute eintreffen wird. Obschon die Bedienung sehr herzlich ist, frage ich mich mit jeder weiteren Minute, ob ich hier am rechten Platz bin. Wenn ich einen starken Kaffee gewollt hätte oder eine Ecke Pizza mit Schinken drauf, so wäre ich sicher am richtigen Ort gewesen. Die Bedienung, eine ältere Frau, lächelt mir zu, und ich glaube, ihr ist die Warterei genauso unangenehm wie mir. Sie schickt ihren Adlatus nach draußen, um die Lage zu peilen. Kopfschüttelnd kehrt er nach einer Weile, die man braucht, um eine Zigarette zu rauchen, zurück. An dieser Stelle muss ich gleich sagen, dass das Rauchen fast überall in öffentlichen sizilianischen Räumen verboten ist. Deshalb liegen auch so viele Kippen auf den Straßen und Bürgersteigen. Als er ohne positive Nachricht zu geben hinter seiner Pizzeriabrüstung verschwindet, kramt seine Chefin an der Espressomaschine herum. Dann wird es mir zu bunt und ich verlasse bedauernd, aber sehr streng dreinschauend den Laden. Hätte gleich in die Paneria, drei Häuser davor, gehen sollen.

Um zehn Uhr nehmen wir den Zug nach Palermo. Nicht nur im, auch um den Hauptbahnhof herum ist die Hölle los. Nachdem wir uns da rausgewunden haben, schlendern wir die via Roma hinunter runter zum Markt. Wir kommen an den normannischen Kirchen im Zentrum Palermos vorbei: La Martorana und San Cataldo. Letztere trägt drei rote Kuppeln auf ihrem Haupt. La Martorana schaut etwas beleidigt nach links, denn dort herrscht im Gegensatz zu ihr Hochbetrieb, obwohl ihr Inneres mit dem leuchtenden Gold doch genug Anziehungskraft verströmen müsste. Eine Hochzeitsgesellschaft hat sich stattdessen nebenan eingefunden und palavert lauthals zwischen zwei Palmen, in Erwartung, dass Braut und Bräutigam endlich aus dem Dunkel der Kirche treten. Wenig später haben wir den Hafen erreicht, ein Boot heißt Giusi, ein anderes Filipe. Blau-weiß-rot gestrichen. Sie schauen sich in aller Seelenruhe die Verladekräne an, die wie eiserne Galgen in den Himmel ragen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Auf dem Markt liegen die Fische, die ich so ohne weiteres nicht benennen könnte, auf dem Präsentierteller. Auf jeden Fall sind Tintenfische darunter, Schwertfische und Heringe. Der Verkäufer, ein Mann mit Pudelmütze und roter Plastikschürze, stopft gerade eine Hand voll hell- bis dunkelroter Garnelen in eine Tüte und fragt nach mehr. Ein nicht eben kleines Stück tonno folgt. Nebenan wäscht ein Mann eine Schüssel mit cozze, Miesmuschel - damit niemand auf falsche Gedanken kommt -, während er gierig an seinem Glimmstängel saugt und ein anderer den Bauch eines silbernen Musterexemplars aufschlitzt.

Wir gehen weiter ins Quattro Canti, offiziell Piazza Vigliena genannt, das viele kleine Läden beherbergt und wo das Chaos seinen Namen herhat. Hier im Schnittpunkt von vier traditionellen Vierteln treiben sich viele Straßenverkäufer herum, es wird afrikanischer, asiatischer. Ein weiterer Markt taucht auf, allerdings nicht so schön wie der Fischmarkt von eben. Kleidungsstücke dominieren und falsche billige Luxusuhren. Man fragt sich unweigerlich, wer so einen Tand überhaupt kauft. Kirchen gibt es in Palermo wie Sand am Meer. Die Krönung dürfte die Kathedrale am Rande des Cassaro sein, wo gerade jetzt ein Konzert stattfindet. Der Dirigent hat alle Hände voll zu tun, die Bande vor ihm zu bändigen. Das Ave Maria wird gesungen, scheint die Generalprobe für die Weihnachtsmette zu sein, während eine Schulklasse in den Bänken ihre Späße treibt. Auch hier sollte man ohne Mobiltelefon nicht unter die Leute gehen. Niemand hat ein Auge für die Herrschergräber, in denen die Creme de la Creme normannischer und staufischer Kaiser und Könige liegt. Behutsam verlassen wir die Kathedrale. Wir wollen ja keinen stören.

Ein Wort zu wir. Wenn ich so allein auf Reisen bin, nehme ich immer einen imaginären Partner mit ins Boot, der mich begleitet und sich mit allen möglichen Sachen auskennt. Dieses Mal soll er Horst heißen, reiseerprobt sein und meine Wäsche waschen. Über den letzten Punkt muss ich allerdings noch mit ihm sprechen.

Wie dem auch sei. Der Hunger treibt uns weg von dem großen Vorplatz der Kathedrale, auf dem vier Schüler ihre Späße mit zwei Touristinnen treiben, die sommermäßig angezogen mit kurzen Hosen und kurzärmligen T-Shirts wie zwei Dressurpferde die Traversale wagen. Ein Bengel kokettiert vor einem vollbusigen Mädchen mit seinem Mut, indem er mit dem Fotohandy die beiden ein Stück Wegs begleitet.

Uns treibt der Hunger fort von diesem Ort, geradewegs in die Arme eines wirklich hübschen Restaurants: Antica Focacceria San Francesco. Wenn wir nicht schon vorher von dem traditionellen Imbiss erfahren hätten, hätte uns ganz gewiss allein der Name dort eintreten lassen. Es herrscht Hochbetrieb. Zuerst schauen, dann wählen, anschließend bezahlen, ehe man von einer freundlichen Frau das Essen auf den Teller geschaufelt bekommt. Die attraktive Besitzerin, nehmen wir an, hilft uns ob unseres unschlüssigen Gesichtsausdrucks und reicht uns sogar zwei Focacce, die wir recht bald als pikant gefüllt Teigtaschen entlarven. Horst, der Glückspilz, wird von ihr quasi an die Hand genommen und erfährt, was sich so alles hinter den Vitrinen verbirgt. Mit unserem Essen klettern wir die Treppe hinauf in den ersten Stock. Das Stimmengewirr ist immens, man versteht sein eigenes Wort nicht. Außerdem wissen wir gar nicht, wohin wir schauen sollen, denn es gibt so einiges an schönen Frauen zu bewundern. Horst wird keck und flirtet, was das Zeug hält, während ich mir das Ganze aus der Distanz betrachte, wie es so meine Art ist. Außerdem liegt mir noch eine Frau aus Erfurt sehr schwer auf dem Herzen. Da tut der Weißwein gute Dienste. Aufmunternd sieht Horst mich an und zeigt mit dem Kopf auf eine attraktive Frau, die gerade hereinkommt.

"Ich neige im Moment dazu, die Damenwelt etwas kritischer als sonst zu betrachten. Also hab ein wenig Verständnis für mich", meine ich und nippe an meinem Weinglas.

Mit vollen Bäuchen klettern wir etwas beschwippst eine halbe Stunde später wieder nach unten, sagen Arrivederci oder so und verschwinden bald darauf im Straßengewirr Palermos. Die Sonne grüßt vom blauen Himmel, während wir die ein oder andere Kirche passieren. Plötzlich sind wir in einem der armen Viertel der Stadt gelandet, und dennoch ist die Chiesa da vor uns, deren Namen wir einfach nicht herausbekommen, eine stattliche. Vor ihren Stufen rasten wir auf einer Bank, ehe wir uns erneut treiben lassen. Am Nachmittag wollen wir - das heißt, Horst hat Kaffeedurst - ein weiteres traditionelles Etablissement kennen lernen. Das Antico Caffé Spinnato. Wir gehen hinein, da es uns draußen zu ungemütlich ist. Nach einer Viertelstunde stellen wir fest, dass sich keiner um uns so recht kümmern mag. Auffordernde Blicke helfen auch nicht weiter. Irgendwie blickt man hier nicht durch, ob Selbstbedienung ist oder nicht. Na, warten wir's ab. Horst hat eh die Ruhe weg und ich will mich noch ein wenig an Jana erinnern. Nach einer halben Stunde und der dritten Aufforderung erscheint ein Kellner, nicht übermäßig unfreundlich, aber auch nicht gerade erpicht darauf, uns zu bedienen. Wir haben ihn offensichtlich beim Flirten mit seiner Kollegin, oder ist es ein Kollege mit langen schwarzen Haaren, gestört, da um diese Zeit, es ist so gegen halb fünf, wenig los ist. Gleichwohl - das Gebäck mit den Pistazien ist das Warten wert. Während wir den starken Kaffee schlürfen, der mein Herz nicht übermäßig mehr als in diesen Tagen üblich in Aufruhr zu versetzen weiß, entscheiden wir, dass die ersten guten Eindrücke von Palermo reichen sollen.

In den kommenden Tagen wollen wir mit der Eisenbahn einige Orte an der Nordküste Siziliens besuchen. Am Abend knipst Horst den Fernseher an und schaut MTV, während ich den überfälligen Brief an Jana schreibe und hoffe, dass er irgendwann einmal bei ihr in Erfurt eintreffen wird. "Trink deinen Wein aus", sagt Horst, "der stärkt ein wenig." Ich bin froh, dass mir in der Nacht meine Träume keine Scherereien machen.

Donnerstag, 22. Dezember 2005

Das kleine Kirchlein bimmelt mich aus dem Schlaf, wobei die Glockenschläge es mit der Genauigkeit nicht so genau nehmen. Ich komme mühsam auf die Füße, dusche und frühstücke, ehe es mich - und Horst natürlich - zum Bahnhof treibt, wo man schon den Zug nach Cefalù erwartet. Das Gebimmel der Stationsglocke ist von weither zu hören. Es beginnt etwa zehn Minuten vor Einfahrt des Zuges und endet dann in zeitweiliger Erschöpfung. Ob es nur ermahnen will, die Gleise nicht zu überschreiten, was hier streng verboten ist und nicht nur ein unfreundliches Kopfschütteln der Bahnangestellten zur Folge hat? Nachdem wir die Fahrkarte mit der freundlichen Hilfe eines dort kehrenden Mannes gezogen haben, weil wir eine Zeit lang wie die Ölgötzen vor dem Schalter gestanden haben müssen, ohne den rechten Knopf zu finden, hören wir noch etwa fünf Minuten dem Bimmeln zu, bevor der Zug ratternd einfährt. Zwei oder drei andere - außer Horst und mir - steigen zu.

Im Zug herrscht kein Gedränge und draußen Linksverkehr auf den Schienen. Wir folgen ihnen schnurstracks am Meer entlang. Welch ein herrlicher Tag, welch ein herrliches Meer! Säßen wir auf der rechten Seite, könnten wir bis in die Höhen der Berge hinaufblicken, die den Weg ins Landesinnere zu versperren scheinen. So sehen wir das glitzernde Meer und davor die sich abwechselnden Feriensiedlungen. Dann erscheint eine Raffinerie oder ein Stromerzeuger, Industrieanlagen eben. Hin und wieder tauchen Artischockenfelder auf, die offenkundig in diesen Tagen abgeerntet werden. Dass diese Distelart unsere Gaumen erfreuen konnte, verdanken wir den Römern. Carciofo, wie die Italiener es nennen, gehört zur Familie der Korbblütler, aber das ist auch schon alles, was ich darüber zu sagen weiß. Horst meint, dieses Luxusgemüse könnten wir uns am Abend vornehmen, eine passende Soße ließe sich schon herstellen.

Dann legt er mir dringend ans Herz, die Zugtoilette zu besuchen. Ich müsse sie mir unbedingt ansehen, sagt er. Wenig später stehe ich staunend in einem Hightech-Abort, der sich laut Horst drehen soll, bei mir aber keinen Mucks macht. Nachdem ich nahezu alle Knöpfe und Dinge, die irgendwie nach Knöpfen aussehen, gedrückt habe, kehre ich ins Abteil zurück. Bei meinem Bericht schüttelt mein Begleiter nur den Kopf.

Nach einer Stunde Fahrt etwa taucht Cefalù auf, einst phönizisch und griechisch, heute ein Touristenort, wie er im Buche steht. Von Weitem mag es so aussehen, als hätten die Leute so kurz vor Weihnachten ihre Fahnen rausgehängt, aber kommt man näher, wird aus der vermuteten Fahne definitiv eine Unterhose oder ein Nachthemd oder das Familienhandtuch. Die kleinen, teilweise brüchig wirkenden Balkone sind voll davon. Eingeklemmt zwischen Meer und Fels liegt die Altstadt. Enge gepflasterte Gassen, deren Idylle lediglich von Automobilen gestört wird, die partout überall fahren wollen, als hätten sie ein Eigenleben. Doch beim Anblick der darin sitzenden Fahrer kommt einem der vorhin ersonnene Gedanke reichlich dämlich vor. Wir springen zur Seite, wann immer es unser Leben retten kann, und stehen mit einem Mal vor einem Dom, der aus bröckeligem Sandstein einst von den Normannen erbaut wurde. Er wirkt gewaltig, doch sieht man an ihm vorbei, so wird er beim Anblick des wuchtigen Rocca di Cefalù irgendwie auf Normalmaß gestutzt. Roger II. verdankt es der Ort, den Dom vorzeigen zu können, da der König schwer in Seenot treibend ein Gelübde abgelegt hatte, aus dessen Fängen er dann nicht mehr herauskam. Wir scheren uns wenig um den Dom und suchen lieber ein Plätzchen, an dem man zu einer Flasche guten Wein etwas Fisch essen kann.

Danach zieht es uns - wie immer eigentlich in einem Küstenort - zum Hafen hin. Von der Mole, auf der gerade ein Vater mit seinem kleinen Sohn das Mittagessen zusammenangelt, schweift der Blick über die teilweise ausgebesserten Häuserfronten, den bischofshutförmigen Eingang zum Aufgang zur Altstadt, dem viaduktähnlichen Gebilde rechts, hinauf zu dem Burgberg von Cefalù mit zinnengekrönten Mauern. Da uns aber weder danach ist, dort hinaufzukraxeln oder durch das Straßengewirr zu stromern, bleiben wir auf der Mole sitzen und beobachten die Angler, deren mitgebrachte Plastiktüte nach wie vor auf Fische wartet. Am liebsten wäre Horst in die Tiefe der See gestiegen, um von dort die Angelhaken reichlich zu bestücken. Doch das geht nicht, da er sich seinen feinen Anzug, den er immer auf Zugfahrten trägt, nicht nass machen möchte. Das kann ich verstehen.

Bei der Überlegung, warum ich das verstehen kann, werde ich von einer Sizilianerin gestört, die mich als Fotografen für ein Erinnerungsbild auserkoren hat. Während sich Horst mucksmäuschenstill neben die Frau stellt, schieße ich ein Foto von den beiden mit der Altstadt im Hintergrund. Sie sieht sich mit mir daraufhin das digitale Bild an und nickt wohlwollend, während ich mich frage, wo Horst nur geblieben ist. Während sie langsam die Mole verlässt, blicke ich ihr verträumt nach. Sie war hübsch, so hübsch, dass sie selbst einen Heiligen in Versuchung führen könnte, wenn sie wollte. Ach Jana, denke ich, lass es dann aber bei einem Stoßseufzer. Wie hießen noch gleich die beiden Platten, die du mir vorgespielt hast und die mir so sehr gefallen haben - und, so glaube ich mich erinnern zu können, von einer Gruppe aus Polen oder der Ukraine stammen. Die unzugänglichen Winkel meines Gedächtnissen haben mir glatt den Zugang zu den Namen versperrt.

Dass man sich auch in einem kleinen Ort wie Cefalù fast verlaufen kann, diese Erfahrung mache ich nicht zum ersten Mal. Aber irgendwie finde ich auf Umwegen doch wieder zurück zum Bahnhof. Auf der Rückfahrt sitze ich auf der dem Land zugewandten Seite und stelle voller Erstaunen fest, dass die Berge im Inselinneren mit Schnee bedeckt sind. Nanu, geht mir durch den Kopf, mehr nicht, denn ich beginne allmählich einzudösen.

"Du hörst nicht mehr gut, oder? Das ist in Ordnung. Soll ich etwas lauter reden", höre ich Horst sagen. 
"Das habe ich selbst auch schon bemerkt. Es wäre nett, wenn du etwas lauter reden könntest."

Am Abend spazieren wir durch Santa Flavia, weil wir die Gegend um die Kirche noch nicht kennen. Da treffen wir überraschenderweise auf einen seltsamen Laden, in dem im Stile einer Modelleisenbahn die Weihnachtsgeschichte nachgestellt wird. Häuser, Berge, animierte Figuren sieht man, während Sturm, Blitz und Donner, ja sogar Regen, dessen Wasser über eine schwarze Plastikfolie ablaufen kann, den kleinen Raum zu einem Märchen werden lassen. Voller Andacht verbringen wir hier eine gute Viertelstunde, ehe wir müde in unsere Unterkunft zurückkehren und zeitig ins Bett gehen.

Freitag, 23. Dezember 2005

Heute werden wir Agrigento besuchen. Das klingt, als wollten wir eine längst fällige Stippvisite bei alten Freunden unternehmen. Ja, alt sind die Dinge, die uns dort zweihundert Kilometer entfernt auf der südlichen Seite erwarten dürften. Zunächst heißt es aber wieder, das Klingeln des Bahnhofsglöckchens zu überstehen, ehe es in einem schmucken Zug quasi querfeldein über die Insel geht. Eine Weile führt unser Weg am Meer entlang, bis es dann hinter Termini Imerese ins Landesinnere geht.

Dunkle Regenwolken begleiten uns. Auf den Feldern, die vorbeiziehen, erstaunt uns die Farbe des Blumenkohls: gelb. Na, irgendwie auch nicht überraschender als der violette. Es folgen Artischocken- und Fenchelfelder. Das Land beginnt, bergiger zu werden. Verstreute Dörfer, einzelne Gehöfte, Schafe scheinen an einem Berg zu kleben, kurz bevor eine steinalte Brücke über einen Fluss führt. Die höheren Berge tragen Kappen aus Schnee. Horst döst und bemerkt nichts von der zerklüfteten Gegend da draußen, es ist braun, grün und wolkig, einzelne Felsbrocken liegen wahllos herum. Dann Orangenhaine, die für ein wenig Farbkontrast sorgen, Olivenbäumchen, Ziegen, ziemlich dünn. Als mir die verfallenen Häuser immer noch im Kopf herumspuken, die ich vorhin gesehen habe, machen wir in Montemaggiore-Belsito unseren ersten Halt.

Ich glaube, nach etwa zwei Stunden sind wir in Agrigento angekommen. Muss ebenfalls ein wenig geschlafen haben. Dermaßen desorientiert finden wir erst nach langem Suchen das kleine Büdchen, an dem man Bustickets ins Valle dei Templi, dem berühmten Tal der Tempel, Reste des mächtigen griechischen Akragas, kaufen kann und wo uns eine deutsche Frau alles Nötige erklärt. Sie ist ärmlich gekleidet und trägt die Einkäufe vom Markt bei sich. Das Auge eines toten Fisches schaut aus einer Zeitung hervor, die in großen Lettern vom Sieg Juventus Turins kündet. Ob sie rein zufällt nachher auch in dem Bus stadtauswärts sitzt, weiß ich nicht, jedenfalls steht sie mit einem Mal neben mir und erklärt mir genau, wann wir aussteigen müssen. Schlechte Zähne schauen aus ihrem Mund, dem es offensichtlich gut tut, wieder einmal deutsch parlieren zu können. Obwohl es mir gar nicht gefällt, derart in Beschlag genommen zu werden, halte ich mich tapfer an der Stange fest und höre ihre kleine Lebensgeschichte, während Horst sich grinsend ins Hintere des Busses verzogen hat. Als die Frau bei ihren sizilianischen Verwandten angekommen ist, müssen wir aussteigen, und ich bedauere es fast, nicht mehr erfahren zu haben, warum Giacomo seiner Schwester das Kleid zerschnitten hat.

Während nun der Bus mit lautem Ächzen die Frau zu ihrem Mann bringt, stehen wir auf einem zum Meer hin abfallenden Plateau und sehen auf einen Parkplatz mit Buden, die den üblichen von Touristen so geschätzten Kram verkaufen. Eine japanische Reisegesellschaft hat eine davon in Beschlag genommen, sodass wir nur erahnen können, was da geboten wird. An einem anderen Holzhäuschen erstehen wir die Tickets, um überhaupt in diese archäologische Stätte Einlass zu finden. Was uns schließlich erwartet, reißt uns beide nicht gerade vom Hocker. Massige Felsbrocken liegen verstreut herum oder sind mitsamt eines Kapitellstücks und zerbrochenen Säulenschafts auf einem Haufen zusammengekehrt worden. Dazwischen haben schon Pflanzen die Zeit gefunden, sich breitzumachen. Unweit davon liegt die Kopie eines Telamons auf dem Rücken und blinzelt in die verdeckte Sonne oder zu einer bombastischen Tempelruine, die hinter Mandelbäumchen steht. Er scheint es sich gemütlich gemacht zu haben, denn er hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Beim Bestaunen seiner Beine weiß ich plötzlich, dass er gar nicht anders kann, als sich hinzulegen, da das rechte ein gutes Stück kürzer ist als das linke. Obendrein scheint auch mit den Knien etwas nicht zu stimmen.

Etwas missmutig stolpern wir von einer Ruine zur anderen, ehe wir uns aufmachen, die großen Tempel jenseits der Straße zu besichtigen. Auf dem Weg dorthin sammeln wir heruntergefallene Mandeln auf, die Horst mit der freundlichen Hilfe eines Steins knackt. Die Tätigkeit scheint ihn erschöpft zu haben, denn er weigert sich, mich bis zum Concordiatempel und schon gar nicht weiter zum Herkulestempel zu folgen. Den Weg geh ich dann allein, hebe hin und wieder eine Mandel auf, lass sie aber in der Tasche verschwinden, um sie bei passender Gelegenheit zu knacken, und komme an bröckeligen Sandsteingebilden vorbei, die irgendwelche Krieger wohl zum Schutz und Trutz errichtet haben. Wie leere Augenhöhlen schauen sie aus.

Dass mich am Ende des Wegs nur eine fotografierende hübsche Japanerin und ein Gerüst am wohl baufälligen Herkulestempel erwarten, lässt mein fröhliches Pfeifen verstummen, zumal die Hübsche gleich wieder verschwindet. Ich lasse ebenfalls die letzten der sich noch aus eigener Kraft aufrechthaltenden Säulen zurück und spaziere - nun wieder mit Horst - am Concordiatempel vorbei, dessen Stirnseite man komplett mit einem Foto, wie er einmal aussehen soll, zutapeziert hat. Nun haben wir endgültig die Nase voll von Triglyphen, Kymas, Simas und Regulas, auch wenn wir gar nicht sicher sein können, ob all diese Dinger an dorischen Säulen hier an diesem Ort überhaupt vorkommen. (Sind das überhaupt dorische Säulen gewesen?) Das soll's aber nun wirklich an archäologischem Klamauk gewesen sein, bedeutet mir Horst, und wenig später finden wir uns vor dem Eingang wieder, wo wir den nächsten Bus in die Stadt erwarten wollen.

Da früher Freitagnachmittag ist, kriechen wir eine halbe Stunde später mit schätzungsweise der gesamten autofahrenden Bevölkerung Agrigentos und Umgebung mit dem Bus nicht schneller als eine Schnecke zum Bahnhof. Man muss entweder verrückt oder permanent verzweifelt sein, sich in dieses Verkehrsgewühl zu stürzen, nur als furchtloser Mopedfahrer kommt man vorwärts. Horst scheint sich mit den Verkehrsbedingungen besser arrangieren zu können, keine Wunder, schließlich muss …

Am Bahnhof angekommen setzen wir uns noch eine Weile auf eine Bank in der Sonne und beobachten das Schauspiel der Parkplatzsuche, ehe wir ziemlich geschafft den Zug nach Santa Flavia nehmen.

Samstag, 24. Dezember 2005

Irgendwann am frühen Morgen sind laute Stimmen auf der Straße zu vernehmen. Ein neugieriger Blick und ich beobachte, wie ein Mercedes umherfährt, der auf Kühlerhaube und Dach Schuhe mitführt. Auch in anderen Häusern ist sein Auftauchen bemerkt worden, denn einige Türen öffnen sich, und es wird nachgeschaut. Eine junge Frau geht zu dem Schuhverkäufer hinüber und lässt sich ein rotes Paar zeigen, das aber offenbar zu klein ist. Also wird im Kofferraum gesucht. Unschlüssig kehrt die Frau jedoch wieder ins Haus zurück. Wir müssen für den Weihnachtsabend noch allerlei Sachen einkaufen. Und Fisch natürlich direkt am Hafen. Also stiefeln wir nach dem Frühstück los.

Der Hafen ist das reinste Durcheinander. Während die Fischer ihre Ware - die letzten Reste natürlich, denn wir sind reichlich spät - anbieten, dümpeln die Boote, blau-weiß gestrichen, auf dem glitzernden Wasser. Die meisten glänzen sauber, tragen nicht mehr die Spuren vom Fang. Rasch werden die Netze fein säuberlich aufeinander gelegt oder mithilfe des Sohnes ausgebessert. Auf der kleinen Sandocan macht sich der Besitzer an der Winsch zu schaffen, während aufmüpfige Wellen gegen die Bordwand schlagen, von einem justament auslaufenden Fischerboot verursacht, auf dem gerade mal ein Mann Platz findet und das offensichtlich noch auf einen guten Fang aus ist. Komisch, aber ein paar andere verlassen den Hafen ebenfalls. Draußen vor der Mole haben sich mittlerweile so um die sieben, acht Boote eingefunden, die vom Meer hin und her geschüttelt werden. Möwen umschwärmen die Fischer, in der Hoffnung, etwas abzubekommen.

Am Himmel ziehen derweil grauweiße Wolken dahin, ruhen sich gelegentlich einen Augenblick aus. Einige von ihnen hüllen die Häupter der gegenüber von Santa Flavia auf der anderen Seite der Bucht liegenden Berge ein. Dann und wann schaut ein Brocken Schnee hervor. Eines der ganz kleinen Boote, die Maria, hat wohl genug vom offenen Meer und kehrt mit leidlich gefüllten Netzen in den Hafen zurück, während der Fischer schon dabei ist, die kleinen Meerestiere aus dem Netz zu pulen. Außerhalb der Boote fachsimpeln die Fischer untereinander, palavern und scherzen, freuen sich bestimmt schon auf das abendliche Festessen zu Hause. Es herrscht eine ziemlich ausgelassene Stimmung. Das Meer scheint sich dem anschließen zu wollen und foppt einen einsamen Angler, der zwischen zwei größeren Pötten neben einem Poller hockt, auf dem ein Stück Käse und ein Kanten Brot auf den Verzehr warten. Doch in seinen dicken Anorak eingewickelt mit derber Pudelmütze kann ihn niemand, nicht einmal das Wasser so leicht etwas anhaben.

Horst und ich schlendern zurück zum Café, das den Mittelpunkt des Hafens bildet und vor dem das letzte Meeresgetier an den Mann gebracht wird. Ein Mann mit einem schlabberigen Krake in der Hand zeigt Horst das Tier, während sein dickerer Bruder seine Faxen macht. Er geht aber schleunigst zurück zu seinem Stand, als er sieht, wie sich Kundschaft nähert. Wortgewandt bietet er den Inhalt seiner Kisten feil: Garnelen, Heringe, Calamari, Sardinen und ein nicht zu verachtendes Prachtstück von Schwertfisch. Nach einem Kaffee, der mein Herz zum Trommeln bringt, begeben wir uns zu einem Ort innerhalb des Hafens, an dem ein blumengeschmücktes Kreuz steht und die Statue Marias über die Seeleute wacht.

Die Sonne lacht jetzt wieder gnädig auf die Welt, wärmt die Angler ein wenig, die für den Festschmaus zu Weihnachten Sorge tragen sollen und zwischen den riesigen Steinquadern der Kaimauer sitzen. Am frühen Nachmittag gehen wir heim, lassen den nun nahezu menschenleeren Hafen zurück. In unserer Tasche befinden sich vier dicke rotschuppige Fische, deren Namen ich aber wieder vergessen habe und die den Weg in unsere Pfanne finden werden. Die Kirche des Ortes hat ihre Pforten noch geschlossen, was uns ein wenig traurig stimmt. Stattdessen lockt uns das Miauen eines Kätzchens zu einem abbruchreifen Haus. Da maunzt sie nun die Kleine, will aber von Streicheleinheiten überhaupt nichts wissen und nimmt rasch Reißaus.

Nach der Siesta führen unsere Füße uns ein weiteres Mal zur Hafengegend, aber hier schafft nur noch ein Mann in seiner Werkstatt an seinem reparaturbedürftigen Boot. All die vielen Werkzeuge können eine Beziehung nicht ausbessern, die … In diesem Moment fühle ich mich einsam, weit weg von der Frau, die ich zwar liebe und mir herbeisehne, aber … Ich konnte noch niemals gut die Liebe zum Bleiben überreden. Zumeist beginnt das Drama recht früh, was von Vorteil ist, wenn man nicht bis zu den Hüften im Schlammassel versinken will. Doch da ich wenig über solche Dinge rede, war die Chance ohnehin recht gering, dass sie von allein drauf kommt.

Am Abend brutzeln leckere Fische in der Pfanne. Kartoffeln und Salat gibt es dazu. Brot und Weißwein. Apfelsinen zum Nachtisch. Zwei Kerzen brennen. Horst und ich lesen, er einen Schinken von Buchheim, ich einen Krimi von Vargas. Spät schalten wir den Fernseher an, zappen durch die Kanäle, bis wir an Rai Tre hängen bleiben, wo ein Zeichentrickfilm gezeigt wird. Pédalos heißt dieses Kleinod der Fernsehkunst, in dem zwei Radrennfahrer am helllichten Tag von der Tour de France in eine Stadt namens Metropolis entführt werden, wo sie mit ihrer Beinkraft den Dynamo eines Heimkinos betreiben sollen, damit der reiche Mann seine Filme sehen kann.

Ganz begeistert trinken wir unsere Gläser aus und gehen schlafen.

Sonntag, 25. Dezember 2005

Am frühen Morgen überlege ich mir, zum Solunto hochzukraxeln, eine antike Siedlung, die oben auf einem Berg liegt. Soluntum wurde im vierten Jahrhundert v. Chr. gegründet. 250 v. Chr. eroberten die Römer die Stadt. Danach begann ihr Niedergang. Da Horst keine große Lust verspürt, mitzugehen, muss ich den Aufstieg, schätzungsweise eine gute halbe Stunde, wohl allein bewältigen. Während ich den ganzen Weg per pedes apostolorum zurücklege, fahren die Sizilianer den Großteil der Strecke mit dem Auto. Niemand geht hier gerne zu Fuß, das war mir schon vorher aufgefallen.

Sei's drum: Ich kaufe mir eine Eintrittskarte und gehe hinein. Ich klettere eine Treppe hoch und sehe links und rechts die Reste griechischer Architektur. Von den ehemaligen Tempeln stehen gerade mal ein, zwei Säulen verträumt in der Landschaft, und es würde mich nicht wundern, wenn diese mit etwas Hochmut auf die umliegenden Mäuerchen und Steinbrocken blickten, wo sie doch wenigsten noch etwas Weitblick genießen können. Doch im nächsten Moment wird ihre Arroganz jäh bestraft, denn zwei Straßenköter, oder sollte ich besser Teatro- oder Zisternenköter sagen, heben unisono ihre Beine, um sich einer unerträglichen Last zu entledigen. Ich steige die bröckelige Treppe weiter empor und höre auch schon das Hecheln der beiden Köter, die es sich in den Kopf gesetzt haben, mir zu folgen. Der eine ist hellbraun wie eine verwaschene Decke, dem anderen hat eine Laune der Natur die Farbe von Zigarettenasche mitgegeben. Glücklich, von Zeit zu Zeit hochblickend, strolchen sie neben mir her.

Oben angekommen bietet sich meinem Auge ein grandioser Blick. Die Morgensonne spiegelt sich im zum Greifen nahen Meer. Am Horizont ragen die zum Teil schneebedeckten Gipfel der Berge in die Höhe. Rechts erstreckt sich Santa Flavia und vor mir liegt der Hafen: Porto Bagueria. Wie eine Hummerschere legt sich die Mole um den Hafen, der heute am ersten Weihnachtstag voll mit Booten zu sein scheint, aber leer von Menschen. Die bunten Fischerboote kauern sich aneinander und träumen vor sich her, während draußen auf dem Meer gähnende Leere herrscht. Nur sehr weit entfernt entdecke ich zwei schwarze Tupfer, die von Fischfang künden, aber wahrscheinlich keinem Sizilianer gehören. Vielleicht haben ja die Japaner die Gunst der Stunde genutzt, wer weiß?

Am alten Hafen stehen zwei Männer und unterhalten sich, mag sein, dass sie schon aus der Kirche gekommen sind und jetzt die Lage der Nation bereden. Mein Teleobjektiv schreibt dem einen schwarze, dem anderen graue Haare zu. Sie sind beide alt, gehen an Stöcken und suchen nach kurzem Spaziergang eine Sitzgelegenheit in Gestalt eines umgedrehten Bootes. Jetzt ist eindeutig eine Zigarettenpause angesagt, ehe man sich wieder ein paar Meter weiter bewegt, um dieses Ritual schier endlos weiterzuführen. Ich nehme an, sie treffen am neuen Hafen viele Bekannte, die es ihnen gleichtun. Ich setze mich hier oben vor einem Gebäude, das Schatten bietet, auf eine Bank und beobachte, wie sich die beiden Hunde nach Flöhen absuchen. Aus gegebenem Anlass überlege ich, warum Hunde, ja Tiere generell, kein Klopapier brauchen. Meine Gedanken schwirren umher wie Kugeln in einem Flipperautomaten.

Eine kurze Reise nach Erfurt bringt aber auch nichts, sodass ich schnell wieder auf die gelb blühenden Blumen und die Opuntien achte, die frech in diesem Haufen Steine ihr Revier gefunden haben. Eine Horde Schwalben fliegt vorbei und lärmt. Die beiden Hunde blicken gelangweilt auf. Dann kommt ein dritter daher, der einem italienischen Paar gehört und nach dem Befinden fragt. Nachdem offensichtlich die Chemie stimmt, trollen sich alle drei von dannen.

Auch ich stehe auf und will noch schnell den Weg zum Gipfelkreuz suchen, der sich eigentlich mit einem Durchgangsschild verbietet. Doch da zwei Männer sich keinen Deut darum scheren, sehe ich auch nicht ein, warum gerade ich mich daran halten soll. Am simplen Holzkreuz angekommen nehme ich auf der antiken Steinbank Platz und setze meine Gedankenreise nach Erfurt fort. Nach einer halben Stunde bin ich auch nicht schlauer als vorher. Ich denke, die Schafe, die da drüben an einem Berghang herumlaufen, haben in puncto Partnerschaft mehr Glück als ich. Womöglich auch die Möwen, die am Hafen vergeblich auf Beute warten, sich aber wenigstens miteinander unterhalten können. Wie dem auch sei.

Der Ausblick lässt mein Herz hüpfen. In der Ferne sind drei oder vier der Lipparischen Inseln im Dunstschleier auszumachen. Auch die Küstenlinie, da wo Santa Flavia, das Meer erblickt, liegt im Dunst. Genug. Ich besuche noch rasch das kleine Museum mit der Statua di Agrippina, ehe ich von sizilianischen Autos überholt den Rückweg antrete. Da am Hafen nicht wirklich etwas los ist, gehe ich zur Wohnung zurück.

Dort sitzt Horst und raucht eine Zigarette. Wir essen ein wenig Käse, Schinken, Oliven und Brot und ziehen uns zur Siesta zurück. Doch heute wird ein müßiger Tag bleiben, auch wenn wir am späten Nachmittag noch einmal zum Hafen schlendern, wo allmählich eine Art Kirmes aufgebaut wird. Ein paar Buden und ein Karussell stehen schon.

Montag, 26. Dezember 2005

Eigentlich hatten wir heute vor, nach Enna zu fahren, der Wiege der sizilianischen Mafia, wie man sagt, aber da kein Zug am zweiten Weihnachtstag fährt, bleiben wir in Santa Flavia. Nun denn. Gemächlichen Schrittes schlendern wir unseren bekannten Weg zum Hafen. Obwohl wenig Verkehr herrscht, muss man pausenlos aufpassen, dass einem niemand in die Hacken fährt. Hin und wieder sehen wir Autos am Straßenrand stehen, die mit ganzen Familien gefüllt sind. Ob das darin liegt, dass die Sizilianer in ihren Häusern kaum Heizungen haben. Jedenfalls laufen die Motoren, während man sich angeregt unterhält.

Der Fischmarkt am Hafen liegt beinahe verlassen da. Nur wenige scheinen heute nach Fischen für ihr Essen Ausschau zu halten. Daher werden wir von den Verkäufern häufiger angesprochen als sonst. Horst wird sogar in den Arm genommen, einen halben Meter entfernt von einem schlabbrigen Krake, der von der rechten, hochgehobenen Hand eines Mannes baumelt, den Horst um einen Kopf überragt und der Biker 01 auf seinem Sweatshirt stehen hat. Wir lassen uns nicht lange bitten und kaufen ihm ein paar fette Doraden ab, damit zu Mittag etwas auf den Tisch kommt. Seine Holzkisten mit den verschiedenen Fischsorten sind alles andere als leer, während zwei oder drei junge Burschen dahinter stehen und ihre Hände in den Hosentaschen wärmen. Ein kapitaler Schwertfisch, der gegen Mittag immer noch nicht weiß, in welcher Pfanne er landen wird, schaut ihnen zu dabei, ein Dutzend roter Garnelen kauern in einer Ecke zusammen, als suchten sie Trost beieinander. In einer blauen Plastikschüssel schwimmt der Rest der Krakenfamilie.

Auf dem Rückweg pflücke ich von einem Orchideenbaum ein paar Früchte für meinen Bruder ab, der gerne mit solchen Dingen im Wintergarten experimentiert. Dann sind wir auch schon wieder zu Hause. Hungrig stürzen wir uns auf die Doraden, den Salat, die Kartoffeln, das Brot. Horst legt sich zum Schlafen hin, während ich Kommissar Adamsberg und den sonderbaren Vorkommnissen in Paris verfallen bin - eine herrliche Idee das mit dem Ausrufer. "Fliehe weit und schnell" lautet der Titel des Buches, und er erinnert mich daran, weswegen ich auf Sizilien gelandet bin. Nun gut, aber das gehört nicht hierher. In Ermangelung großartiger anderer Alternativen gehen wir gegen Abend zum letzten Mal zum Hafen, denn morgen wollen wir unsere Reise fortsetzen.

Dort angekommen überrascht uns die Menschenmenge, die sich im Rücken von Porto Bagueria versammelt hat, um sich hemmungslos Kirmesgelüsten hinzugeben. Inzwischen hat man einen Autoscooter und eine Achterbahn aufgebaut, die mir beide nicht gerade stabil aussehen. Ein kleiner Junge sitzt allein in einer Kabine und sieht ängstlich nach draußen. Zu weinen traut er sich offensichtlich nicht, da Mutter, Vater und Oma und Opa ihn von draußen anfeuern. Im Gegensatz zu den anderen Tagen sehe ich viele Frauen und Mädchen zwischen den Ständen mit Lederwaren, CDs und Süßigkeiten herumschlendern.

Die Männer stehen derweil zusammen und scheinen andere Dinge im Kopf zu haben, als unnütz Geld auszugeben für Sachen, die eh keiner braucht - den italienischen Meister im Fußball zum Beispiel und ob Palermo wohl den nächsten Gegner schlagen wird. Dabei werden bei der Argumentation Körperteile eingesetzt, die bei anderer Nationalität als der sizilianischen sicherlich weniger beansprucht werden. Es sind Männer mit wettergegerbten Ledergesichtern, fadenscheinigen Pullovern und ausgebeulten Hosen. Manche tragen Krawatten. Jenseits der Uferpromenade verschwinden sie gelegentlich händeschwenkend in Trattoriaeingängen, um sich Pulver für ihr Mundwerk zu holen.

Da ich noch nie sonderlich viele Sympathien für Kirmesveranstaltungen gehegt habe, dränge ich darauf, hier nicht lange zu verweilen, sondern den nahezu stillen Hafen zu durchqueren und auf direktem Wege wieder in unser Quartier zu gehen. Es dauert nun nicht lange, da haben wir die letzten Reste verkocht, die große Weinflasche mit dem guten Weißen geleert und den Fernseher angestellt. Eigentlich kann man sich im italienischen Fernsehen nur einen Musikkanal anschauen, auch wenn der in Endlosschleife offenbar immer dieselben Musiktitel ausspuckt. Nach nur wenigen Tagen sind wir Meister im Erkennen des jeweiligen Liedes, auch wenn wir den Kopf ganz woanders haben.

Horst findet, der Song von Madonna sei unser Lied der Reise, und fügt augenzwinkernd hinzu: "Nicht zuletzt, was die Ärsche angeht." Ich pflichte ihm bei, strecke mich und schaue dann und wann einmal in meinen Krimi, der nun in seine entscheidende Phase geht. Adamsberg hat den Bogen raus.

Dienstag, 27. Dezember 2005

Es war eine schöne Woche in einem Ort, den kaum jemand zu kennen scheint. Wir verlassen Santa Flavia heute und nehmen den Zug nach Trapani. Zehn Uhr vierzig von Palermo Centrale. Nicht nur ich wundere mich, dass in Zügen und Bussen Rauchverbot herrscht, da doch alle zu rauchen scheinen. So auch die beiden Schaffner vom binario gegenüber, die wie zwei Süchtige an ihren Glimmstängeln saugen. Die Gleise liegen voller Kippen.

Segelohr, ein kleiner Mann, der uns schon vor Tagen aufgefallen ist, sitzt ebenfalls im Zug. Er trägt denselben Hut und denselben weißen Schal, kommt zurück aus Cefalù, wo er vermutlich seine Familie über die Weihnachtstage besucht hat. Zwei Polizisten tauchen auf. Nein, nicht um diesen harmlosen Mann zu überprüfen, sondern eine Frau in weißen Stiefeln und halboffenem Rock, Jeansjacke, die raucht, und ihren Freund, der in buntem Fleece herumstolziert. Es gibt schon schräge Typen. Zunächst fahren wir ein kleines Stück zurück, vorbei an Schrotthöfen, Industrie, Hochhaussilos. Die obligatorische Wäsche hängt quasi auf jedem Balkon und trocknet im winterlich lauen Wind. Über uns hängen gezupfte Wattebauschwolken, aber grauer als sonst. Als der Zug einen Felsen umkurvt hat, taucht unvermittelt das Meer auf, das unter dem finsteren Himmel träge daliegt.

Mit einem Mal wird es laut. Eine Pfadfindertruppe entert den Zug und macht sich breit. Ausnahmslos tragen sie kurze Kordhosen, Turnschuhe sowie Rucksäcke mit Klamotten für mindestens sechs Wochen. Doch niemand erbarmt sich, das Gepäck eines Mädchens in die Gepäckablage zu hieven, es muss selbst sehen, wie es seinen gigantischen Rucksack nach oben wuchtet. Das andere Mädchen, wesentlich hübscher, aber mit heranwachsenden Pickeln geplagt, braucht das nicht. Die meisten von ihnen haben tragbare music player dabei, mit denen sie per Knopfohrhörer verbunden sind. Sie spielen sich gegenseitig Lieder vor, verzichten gar auf einen Kopfhörer, bis der Primus der Truppe seine Gitarre entkleidet und ein Liedchen trällert. Während nun auf der rechten Seite in Fahrtrichtung Lagerhallen auftauchen und dahinter das Meer nach wie vor reichlich kraftlos erscheint, erklingen einige italienische Weisen, die weder Horst noch ich kennen.

Wir befinden uns kurz vor Carini, sind also immer noch in der Provinz Palermo. Wir durchfahren ein Gebiet mit Pferdezucht und Trabrennbahnen. Fleißige Hände bringen einen Sulky auf Vordermann, andere Hände gehen der Hübschen kurz, aber bündig an die Wäsche. Der Bursche, dem sie gehören, lächelt debil, als das Mädchen ihn streng, aber durchaus nachsichtig anschaut. Er scheint in solch einer heiklen Angelegenheit ein Fall für sich zu sein. Dienstbeflissen erscheint der Schaffner und knippst die Fahrkarten exakt an der richtigen Stelle ab.

Zitronenplantagen, links Berge. In Alcamo steigt die Pfadfindergruppe aus. Erneut muss sich das zweite Mädchen abmühen mit ihrem Rucksack. Die anderen stehen längst draußen vor dem Zug, als sie die Stufen hinunterplumpst.

Horst meint: "Hast du gesehen, die hatten alle viele lange schwarze Haare auf den Beinen?"
"Das hat mich auch schon beschäftigt", erwidere ich. "Das eine Mädchen scheint da mehr Glück zu haben, auch wenn der Pickel auf der rechten Wange ihr diesen Triumph zumindest kurzfristig nimmt."

Wir kurven in Richtung Landesinnere. Einundvierzig Kilometer liegen bis Trapani noch vor uns. Ich entschließe mich, ein wenig zu dösen und auf das Beobachten der Landschaft draußen keinen Wert zu legen. Trapani, Drepanon, wie die Stadt in der Antike hieß, ist erreicht. "Sichel", der Name, bezieht sich auf die entsprechende Form der schmalen, weit ins Meer reichenden Landform. Karthago unterhielt hier einst einen Kriegshafen. Dann schauten die Römer vorbei, ehe die Araber bleibenden Eindruck hinterließen. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Stadt schwere Stunden zu überstehen. Der Bahnhof Trapanis ist sehr hübsch. Jede Menge Palmen, Kakteen, anderes Baumzeug und sogar ein Springbrunnen stehen da herum. Nur das erste A auf dem Bahnhofsschild hängt verrostet in den Seilen. Wir überqueren den Bahnhofsvorplatz Richtung Altstadt, die sogleich einen guten Eindruck auf mich macht. Die Gassen sind teilweise so eng, dass kaum Autos darin fahren können. Die Häuser zum größten Teil im Barockstil erbaut, wirken ein wenig heruntergekommen. Jetzt um die Mittagszeit treffen wir nur wenige Menschen an.

Ohne lange zu fackeln, nehmen wir im Bed & Breakfast Messina ein Zimmer, ein Dreibettzimmer für dreißig Euro, um genau zu sein. Unten im Patio steht vor einem Bogengang eine Armee von bepflanzten Blumentöpfen. Eine Steintreppe führt nach oben zum Hotel. Muss einmal ein Palazzo gewesen sein mit all diesen hübschen Arkaden und Bogenfenstern. Es wirkt billig, einfach, kalt, liegt aber günstig mitten in der Altstadt. Wir verzichten auf unsere Siesta. Nachdem wir den bereitgestellten Heizlüfter angestellt haben, führt uns der Hunger in eine Trattoria, wo wir über eine Lasagne herfallen. Wir lassen uns auch nicht von der missmutigen Bedienung stören, die offenbar mit dem falschen Bein aufgestanden ist, ein hübsches immerhin. Nebenbei orientieren wir uns mithilfe des Stadtplans, was mir persönlich immer wieder Schwierigkeiten bereitet, weil, wie Horst meint, ich die Karte nicht einnorde, und gehen anschließend zum Hafen. Doch der Regen überrascht uns, sodass wir am Fähranleger eine Unterstellung suchen. Während ich ein paar Ansichtskarten schreibe und mir einige Notizen mache, wird der Regen stärker. Trommelnd schlägt er auf das Dach ein, während zwei wartende Kapitäne stoisch den langen Beinen einer Frau folgen, die die Treppe in ihr Büro hochsteigt. Diese kleine Begebenheit scheint dem Rucksackreisenden auf der Bank mit Blick nach draußen, der seinen Regenschirm teilnahmslos in den Händen dreht, entgangen zu sein. Sicherlich ein Brite, denke ich. Weiß nicht warum, aber trotz des schlechten Wetters kommt bei mir ein Hauch von Fernweh auf. Vielleicht liegt es an dem Schiff, das kurz davorsteht, nach Tunesien zu fahren, jenem Land, das gerade einmal hundertfünfundzwanzig Kilometer weit entfernt liegt und zu dem die hiesigen Einwohner seit jeher starke Bindungen haben. Man sieht es in so manchem Gesicht.

So geht es den ganzen Tag. Regen. Kein Regen. In den Pausen durchwandern wir die Altstadt, finden uns an bekannten und unbekannten Punkten wieder und ziehen weiter. Einer großen Straße mit unzähligen Geschäften folgen wir blindlings und erkennen spät, dass sie nicht wie erwartet zum Meer führt, sondern anderswo hin. Also machen wir kehrt. Da die Pizzeria am Hafen noch geschlossen ist - wir haben offenbar früher Hunger als die Sizilianer -, trinken wir in irgendeiner namenlosen Kneipe ein Bier. Der Mann an der Bar ist sehr alt und droht jederzeit umzukippen. Mühevoll reicht er uns die beiden Bierflaschen, die wir umgehend zum Mund führen. Ein anderer Gast beschäftigt sich unterdessen mit den Mysterien des Glücksspiels, während zwei oder drei Männer immer mal wieder reinschauen. Dann kommt ein kleines Mädchen herein. Forsch bestellt es irgendetwas, was ich nicht verstehe, und bleibt wie eine kleine Statue vor der Theke stehen, die ihm geradezu gigantisch vorkommen muss. Nach längerem Suchen hat der alte Mann das Gewünschte gefunden. Ein Lutscher oder eine andere süße Kostbarkeit, so scheint es, wechselt daraufhin den Besitzer. Ich überlege noch, ob ich die Bezahlung übernehmen soll, aber da ist es auch schon nach draußen verschwunden, nachdem seine kleinen Finger das abgezählte Geld mithilfe der Zehenspitzen auf den Tresen gelegt hat.

Wir verzichten auf ein weiteres Bier und bummeln zur Pizzeria, in der bereits eine Familie Platz genommen hat. Der Entschluss, eine Pizza zu nehmen und dann welche, fällt mir nicht leicht, denn ich sehe am Nachbartisch einen Teller mit einem Kartoffelgericht, das mich anzulächeln scheint. Meine Freunde wissen, wie sehr ich Kartoffeln liebe. Dennoch entscheide ich mich im Land der Pizzas für eine solche und bereue den Entschluss nicht. Nach dem guten Essen stellen wir fest, dass der Laden ein echter Geheimtipp ist. Etliche Leute warten noch auf Einlass. Im Hotel hat sich der Raum dank Heizlüfter ein wenig erwärmt, sodass Horst seine nassen Socken und Sohlen wärmen und trocknen kann. Er braucht ein Paar neue Schuhe. Sie haben die besten Jahre schon lange hinter sich.

Mittwoch, 28. Dezember 2005

Am Morgen sind sowohl Socken als auch Sohlen trocken. Wir schälen uns aus den dicken Decken, gehen in einer kleinen Bar nahe dem Bahnhof frühstücken. Es mag der Lehrer der Schule von nebenan sein, der gerade seinen Cappuccino trinkt. Und es mögen der Architekt und der Bauunternehmer mit ihren Lakaien sein, die ihren caffè solo mit einem Glas Wasser hinunterspülen. Noch hat der Tag nicht richtig begonnen. Aber bald. Denn die Zeitungen liegen zerlesen herum, der Toilettengang hinter ihnen und die Autos vor der Tür warten. Vielleicht müssen sie sich heute etwas mehr im Haus aufhalten als sonst, denn vom Himmel fallen die nächsten dicken Tropfen. Sie nicken dem Besitzer kurz zu und gehen.

Wenig später schlurft ein kleines Männlein herein, wobei seine großen Ohren beinahe im Türrahmen hängen bleiben. Er trägt ein viel zu großes Jackett und eine graue Stoffhose, die ihm einmal gepasst haben mag. Heute würde der Stoff für zwei seiner Sorte reichen. Ich versuche den zähen Kakao, den ich vom Sohn des Besitzers gereicht bekommen habe, umzurühren, während er nun auch den kleinen Kaffee des Alten zu machen beginnt. Er scheint nicht gerade der Hellste zu sein, denn sein Vater muss einige Male helfend eingreifen. Die Prozedur dauert seine Zeit. Horst, der inzwischen die Zeitungsüberschriften überflogen hat, sieht unruhig auf. Nicht zuletzt, weil ihm der Kaffee gar nicht geschmeckt hat. Er will weiter zum Bahnhof, wo allem Anschein nach das schwarze Gebräu besser ist.

Nachdem wir bezahlt haben, gehen wir die paar Schritte zum Bahnhof und erkundigen uns, wann die Züge nach Mazara del Vallo, unsere nächste Station, fahren. Sieben Uhr siebenundfünfzig, bekommen wir zur Antwort. Da die Bar um diese frühe Uhrzeit noch geschlossen hat, muss Horst sich noch gedulden - was ihm reichlich schwer fällt. Wir verlassen wieder das im Schachbrettstil angelegte Viertel rund um den Bahnhof und tauchen ein in die engen verwinkelten Gassen der Altstadt, im Mittelalter das Quartier der Araber und Juden, jenseits der Via XXX Gennajo. Das Labyrinth des antiken Quartiers Casalicchio, das noch heute Spuren des mittelalterlichen "Castello di terra" zeigt. Hier scheint noch jedermann zu schlafen. Wir schlendern - man merkt wenig von dem leichten Regen - weiter und bemerken, dass westlich der Via Torrearsa die Straßen wieder geradliniger gebaut worden sind. Dort stehen auch die mächtige im Barockstil errichtete Kathedrale und manch anderer Palazzo, die von ehemaliger Opulenz und Reichtum zeugen. Die Straße, in der viele dieser heute zerfallenen Gebäude stehen, nennt man gar - wahrscheinlich inoffiziell - die Palaststraße, obwohl wir ziemlich lange brauchen, um sie zu finden. Letztendlich war es die Mühe nicht wert.

Wenig später überrascht uns ein beachtliches Gewitter, als wir gerade die Uferpromenade entlanggehen. Kurz suchen wir Zuflucht im nahe gelegenen Mercato d'Pesce, wo zu dieser Zeit wenig Betrieb herrscht. Das Meer ist aufgewühlt und haut wütend seine schäumende Gicht gegen die als Wellenbrecher aufgehäuften Steinquader, die einen winzigen Fischerhafen vor der Wucht der Gewalten schützen sollen. Die Luft ist trüb vor Feuchtigkeit und gaukelt einem so manch Trugbild vor. Die kleinen Boote schlingern wild umher, andere liegen einfach so auf dem Trockenen und sehen sich das Spektakel aus sicherer Entfernung an. Die Spitze der Landzunge, der Torre di Ligny, ist kaum noch auszumachen, während eine Welle nach der anderen anrollt. Dann plötzlich holt der Wettergott Luft und gönnt uns einige Minuten Ruhe, sodass wir aus der schützenden Umarmung des mächtigen Steintores an der Plaza Osuna heraustreten können. Steht da wirklich Plaza Osuna oder sind wir nur kurz durch eine Zeitspalte nach Spanien gelangt? Links hängen ein Handwaschbecken und ein Bilderrahmen, während rechts eine kleine Heiligenstatue hinter der Glasscheibe einer in den Fels getriebenen Nische mit elektrisch betriebener Kerze Zuflucht gefunden hat. Mag sein, dass sie die Fischer beschützen soll, die an dieser einsamen Stelle ihre Boote liegen haben, die nun im kurzzeitig ein wenig geglätteten Meer vor sich hin dümpeln. Darunter machen die beiden Keramikvasen mit hübschen Blumen die Idylle eines Freiluftwohnzimmers fast perfekt. Wenn da nur nicht der Regen gewesen wäre. Nicht weit entfernt hat ein Künstler namens Giuseppe I. zwei Gesichtsskulpturen an den Fels gemörtelt, die Horst und mich ziemlich skeptisch betrachten. Das eine Gesicht ist schwarz und trägt einen Kinnbart, das andere weiße könnte eine junge Frau darstellen - ein Zeichen der Verständigung? Nun, Giuseppe wird sich dabei bestimmt etwas gedacht haben. Eine fleißige Hausfrau scheint in der guten Stube vor nicht allzu langer Zeit aufgeräumt zu haben, denn hier ist alles blitzblank sauber, bis auf das angeschlemmte Treibgut, das der Sturm mitgebracht hat.

Als der Sturm sein Wirken wieder aufnimmt und die Regentropfen uns ins Gesicht klatschen, nehmen wir die Beine in die Hand und stiefeln nass wie die Hunde zur Herberge zurück, wo wir uns unter dicke Decken verkriechen und Siesta halten.

Am Abend bummeln wir durch die Stadt, dieses Mal in die andere Richtung, und gelangen an eine Hauptstraße, an der viele Geschäfte liegen. Es herrscht mächtig viel Betrieb links und rechts der Prachtstraße, die sich unendlich lang in den Abendhimmel zu erstrecken scheint. Diese Tatsache hat wohl die kommunistische Partei Siziliens zum Anlass genommen, einen Demonstrationszug zu organisieren. Wogegen man demonstriert, bleibt allerdings im Unklaren. Selbst die der italienischen Sprache mächtigen Passanten blicken verblüfft in kaum verwundertere Gesichter ihrer Gegenüber. Zumindest führt die ganze Chose zum Verkehrschaos. Manche nehmen es in ihren Autos gelassen hin, rauchen oder hören laut Musik, andere, schon mit puterroten Visagen, quittieren den unerfreulichen Stillstand mit erbostem Hupen. Doch das dürfte die Demonstranten wenig berühren. Mir kommt in den Sinn, dass sie jedes Mal, wenn die Läden ihre Lager räumen, einen ähnlichen Zug auf ihrem regimefeindlichen Schachtbrett tun, nur um die Leute ein wenig zu ärgern. Das scheint aber immer weniger zu gelingen. Was soll's, denkt man sich da und fährt fort, heftig ins Megafon zu schreien, vorne ein Mann, hinten eine bereits heisere Frau, während eine nicht geringe Anzahl an Polizisten den Zug begleitet. Manch einer von ihnen verschwindet kurz einmal, um sich eine Tasse Kaffee einzuverleiben oder sich mit den Kollegen über den sonderbaren Zug zu amüsieren. Alles bleibt friedlich. Das ist die Hauptsache.

Noch nicht einmal auf halber Strecke der langen Straße machen wir kehrt und gehen ins Labyrinth des arabisch-jüdischen Viertels zurück. Mit einem Mal bleibt Horsts Blick auf einem Paar brauner Schule in einem Schaufenster kleben, und da er alles andere als entschlussfreudig ist, überrede ich ihn, das Paar zu kaufen. Nachdem er seine alten, von innen nassen Latschen dem Verkäufer zur Entsorgung überlassen hat, gehen wir unverrichteter Dinge zum Hotel zurück.

In der Nacht regnet es in Strömen, und auch für den nächsten Tag dürfte nicht mit besserem Wetter zu rechnen sein.

Donnerstag, 29. Dezember 2005

Der Himmel ist tief bewölkt und die Nachrichten sagen Gewitter und Regen voraus. Wir sitzen schon früh im Zug nach Mazara del Vallo. Die Bahnhofsuhr zeigt drei Minuten vor acht, als er sich mit einem Ruck in Bewegung setzt. Zunächst fahren wir durch ein verzweigtes Netz von Salztümpeln, die im Mittelalter den damaligen Reichtum Trapanis begründeten. Heute kann niemand mehr ohne staatliche Unterstützung davon leben. Trotz alledem ernten die zwanzig übrig gebliebenen Familien, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen, in den Salinen das sogenannte "weiße Gold"; zweimal im Jahr, nämlich im Juli und September.

Die Silhouetten von Windmühlen schälen sich aus dem trüben Morgen heraus. Es geht an der Küste entlang Richtung Marsala. Ein junger Student spielt unbekümmert mit einem Gameboy, ehe er sich auf ein Blatt Papier stürzt, das von Buchstaben überquillt, die so klein sind, dass man sie unmöglich ohne Lupe lesen kann. Doch seinem wachsamen Blick entgeht offenbar nichts. Sein Gegenüber, eine hübsche junge Frau mit tiefbraunen Augen, beobachtet ihn verstohlen. Und irgendwie schafft sie es, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Bei dem beißt du auf Granit, geht mir durch den Kopf, der hat andere Vorlieben - Computerspiele zum Beispiel oder das Herumwerkeln an irgendwelchen ölverschmierten Geräten. Mit müden Augen sehen wir auf die vorbeihuschende Landschaft.

Wenig später erreichen wir Mazara del Vallo. An der Westküste Siziliens, wo der Mazaro ins Meer mündet, liegt diese Stadt - und sie soll den bedeutendsten Fischereihafen Italiens beherbergen. Die ursprünglich phönizische Siedlung entwickelte sich vor allem unter den Arabern, die genau an dieser Stelle mit der Eroberung der Insel begannen und ihr orientalisches Flair zurückließen, was im Viertel auf der linken Seite des Flusses, Kasba genannt, mit seinen engen, verwinkelten Gassen und Höfen noch ein wenig zu spüren sein soll. Kein anderer Ort Siziliens hat derart intensive Bindungen an Afrika. Die Menschen, die uns auf dem Weg vom Bahnhof in die Altstadt begegnen, legen Zeugnis davon ab.

Der Ort gefällt mir auf Anhieb. Sogar die Sonne lässt sich einmal kurz blicken, ehe sie erneut von Wolken eingehüllt wird. Da wir noch keinen Stadtplan besitzen, gehen wir aufs Geratewohl zunächst auf einer breiten Straße, dann durch kleine Gassen, wo wir hoffen, auf einen Flussarm, der dem Meer gehört, oder - besser - auf das Meer selbst zu treffen. Auf einem dieser schmalen Wege fragen wir einen vor seinem Geschäft stehenden Mann, ob er uns die Richtung weisen kann. Das tut er, belässt es aber nicht dabei, sondern heftet sich an unsere Fersen, während sein Laden sperrangelweit offen steht, und erklärt uns die Geschichte der Stadt und vieles mehr. Ich verstehe zwar nicht viel, doch seine Aufdringlichkeit geht mir allmählich ein wenig auf die Nerven. Er trägt einen Anzug aus einer Zeit, als man noch mit dem Säbel munter aufeinander losgegangen ist. Pippo, so nenne ich ihn einfach mal, ist von kleiner Gestalt und schmal. Sein Hals dürfte es schwer haben, sich noch an die letzte Seifenwäsche zu erinnern.

Horst beschleunigt seine Schritte, während Pippo scheinbar mühelos mithält, offenbar die Phönizier verlassen hat und in die Zeit der Karthager abschweift. Wenig später hat er das Thema erreicht, wovon er offenbar genügend Ahnung besitzt: Fischfang. Der in einer von zwei Flüssen bewässerten Küstenebene gelegene Hafen sei seit der Antike ein Zufluchtsort für Schiffe aller Art gewesen, meint er, auch wenn der eigentliche Aufschwung der Fischerei 1920 mit der Einführung des Motorantriebs stattgefunden habe. Der vormals traditionelle Sardinen- und Sardellenfang sei abgelöst worden von … Wovon werde ich wohl nie erfahren, da just in diesem Moment ein Moped vorbeiknattert und die Stimme unseres Führers übertönt.

"… Schleppnetzflotte stellt heute den größten Teil der Fahrzeuge des Hafens …" - erneut eine Störung, diesmal von einem Auto, das sich durch die engen Gassen windet.

Später lese ich, dass zur Verringerung des Fischereiaufwands 1982 ein Gesetz über die Schaffung von biologischen Ruhezonen zum Zweck der Bestandserneuerung verabschiedet worden ist. Mittlerweile sind Schließungen von Zonen angeordnet worden, was mit Entschädigungen seitens der Regionalverwaltung für die betroffenen Fischer erkauft wird. Da die Beihilferegelung von der Europäischen Kommission gegenwärtig dahingehend untersucht wird, ob sie den Regeln des Wettbewerbsrechts entspricht, sehen die Berufsfischer Mazaras erwartungsvoll besorgt der Entscheidung entgegen.

"… der in Süditalien weit verbreitete Schwertfischfang ist Vergangenheit und nimmt heute nur mehr einen marginalen Rang ein", fährt er fort. "Die Garnelen, zusammen mit dem Seehecht und den Meerbarben- und Seezungenarten, bilden nun die Hauptarten, die vor der Stadt gefangen werden. Der Markt für die sizilianischen Garnelen unterliegt aber den negativen Auswirkungen der massiv steigenden Importe ausländischer Produkte."

Als er Thailand, Argentinien oder Bangladesh erwähnt, oder alle drei, die mit niedrigen Preisen den Fischern schwer zu schaffen machen, gerät er nun doch ins Japsen. Aber er meint es nur gut mit den orientierungslosen und unwissenden Fremden. Schließlich lässt er, mit den Armen rudernd, uns auf der Piazza Santa Veneranda zurück, wo sich das Ufficio turistico befindet und man uns einen Stadtplan aushändigt, mit dem wir schon deutlich mehr anfangen können als mit unserer krüppelhaften Vorstellung von den räumlichen Gegebenheiten der Stadt. Der Plan ähnelt einem dieser Strickmustervorlagen allseits bekannter Illustrierten, nur hin und wieder unterbrochen von roten Flecken, auf denen so geheimnisvolle Namen wie Billardello Gioielleria, Libreria Il Colombre oder Amal Laboratorio Tappeti tunisini stehen. Hier werden vermutlich irgendwelche Muster auf einem Ärmel appliziert. Wer weiß! Wenn da nur nicht der blaue Arm des Meeres gewesen wäre.

Auf unserem Weg begegnen uns viele Kirchen, schmucke Dinger in einem hübschen Ockerton oder so. Bei Farben scheint manchmal die Verbindung von der Netzhaut zu meinem Gehirn unterbrochen, was mir gelegentlich andere Töne beschert, als andere Menschen sie wahrnehmen. Die Straßen hat der kürzlich niedergegangene heftige Regen reingewaschen. Nach einigem Suchen finden wir eine Unterkunft direkt am Hafen. Es sei noch etwas frei, teilt uns der alte Mann hinter dem Tresen mit, der ganz alleine in einer Art Großraumbüro sitzt und augenscheinlich auf seinen Sohn oder Neffen wartet. Sie dürften ihr Geld mit Frachtgeschäften verdienen. Viele Zettel und Abrechnungen liegen herum, die Wände zieren alte und neue Seefahrtskarten; zwei Computer gibt es auch. Der Alte ruft seinen Was-auch-Immer per Telefon herbei, und schon nach kurzem Warten erscheint einer von jener Sorte, die alles checken und arrangieren können.

"Er hat alles im Griff", verrät uns der Alte augenzwinkernd.

Na, sieh einer an. Dreißig Euro koste der Spaß pro Person, verrät uns der Beau mit den langen Haaren, den wir vermutlich aus seiner Frühstücksbar geholt haben, als wir ihn nach oben in eine hübsche Wohnung mit Blick auf die Schiffe begleiten. Wir werden uns einig und richten uns häuslich ein.

Dann verlassen wir das Haus, gehen nach rechts am Hafen vorbei und kommen in die Gegend, die unser Stadtplan nicht mehr zeigt. Ein Fischmarkt taucht auf, wo man sich gerade über eine triefende Kiste mit lachsroten Fischen handelseinig geworden ist. Rauchend und schwatzend steht man sich gegenüber, ehe die starken Hände eines mit einer Pudelmütze behüteten Bärtigen die Ware in einen blauen Wagen wuchten. Wenig später überqueren wir eine Brücke, auf der sich die Autos in beide Richtungen stauen. Dahinter liegt ein wenig schöner Stadtteil Mazara del Vallos, der mit der Altstadt wenig gemein zu haben scheint. Wir kaufen rasch Obst, Gemüse und Fisch bei einem kleinen Markt, Kaffee, Olivenöl und anderes in einem Supermercato und laufen dann direkt in ein Hagelgewitter hinein. Eine Weile suchen wir Unterschlupf vor einem Ledergeschäft, bis mir einfällt, dass ich Zwiebeln vergessen habe. Daher spurte ich rüber auf die andere Straßenseite, wo man zwar cipolla hat, jedoch meinen Schein nicht wechseln kann. So dauert es lange, bis jemand sich bereit erklärt, durch den Regen nach irgendwo nebenan zu laufen. Horst trieft inzwischen schon vor Nässe, während sich die Plastiktüten vom Einkauf in seine Hände schneiden und ich im Trockenen stehe. Vielleicht nach zwanzig Minuten, wahrscheinlich aber länger erlöse ich ihn und wir kehren in unsere Unterkunft zurück.

Horst fackelt nicht lange und brät den Fisch in einer Pfanne, die eigentlich zu klein für die beiden Prachtstücke ist. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um die Kartoffeln und den Salat. Nach dem Essen wird gelesen und ein wenig geruht, ehe wir unsere Erkundung der Stadt fortsetzen. Angesichts der über uns aufgetürmten Wolken ist es schon recht dämmrig.

Die Stadt lebt und trägt mehr als nur zwei Gesichter. Zum einen ist da die Hafengegend mit den hemdsärmligen Malochern, die ihre wettergegerbten Gesichter unter dicken Mützen verstecken, und Fisch- und Öl- und Meergeruch. Lärmend werden Boote auf Vordermann gebracht, man hämmert und schweißt. Die Funken zerstäuben in der feuchten Luft. Zum anderen ist da das arabische Viertel, die Kasbah, hauptsächlich von Nordafrikanern bewohnt, um die Via Bagno. Und zu guter Letzt die lebendige Hauptstraße, der Corso Umberto, mit attraktiven Geschäften und noch mehr Käufern am östlichen Rand der Altstadt. Auf dem Weg dorthin an der Uferpromenade hat sich eine Kirmes breit gemacht. Schmuck und Uhren zählen zu ihrem qualitativ minderwertigen Angebot. Sie führt direkt auf das Normannentor, Arco Normanno, zu, das bereits von Lichtstrahlern beleuchtet wird. Ziellos streifen wir umher, ehe wir ermattet zurückkehren.

Freitag, 30. Dezember 2005

Unerwartet bringt uns der Wettergott gutes sonniges Wetter, zunächst zumindest. Vom Balkon aus sehen wir, wie sich der Hafen für die Feiertage fein macht. Hier und da stehen Gruppen von Männern herum, die ein Pläuschchen halten. Die Boote drängeln sich aneinander, alle Fischer scheinen bereits von ihrem Fang zurückgekehrt zu sein. Nein, da knattert doch noch eine kleine Nussschale heran, wobei der Kapitän sein Boot mit den Knien dirigiert. Er sieht müde aus und verbittert, aber man kann es ihm nicht einmal verübeln, denn die wenigen Fische in seinem Boot können seine Familie gewiss nicht ernähren. Während sein Rücken nun hinter krängenden Booten verschwindet, schlüpfen wir in unsere Sachen und gehen nach unten.

Das versprochene Frühstück fällt mäßig aus, nachdem man uns mit einem Zettelchen zu einer kleinen Bar geschickt hat, wo wir unser Frühstücksticket einlösen sollen. Bed & Breakfast ist immer so eine Sache. Der flüchtig hingestellte Kaffee und die widerwillig gereichten Cornettos können mit unseren Erwartungen nicht mithalten, halten den Vergleich mit französischen petit déjeuners aber durchaus stand; wir schauen uns an - haben wir denn wirklich mehr erwartet? Misstrauisch werden wir beäugt, während der Kellner Gläser wienert und die Kellnerin die Auslagen füllt. Hätten wir vielleicht ganz auf unser Recht verzichten sollen?

"Mir ist leicht unwohl, dass ich dem Gevatter da vorne die Tour vermasselt habe", wendet sich Horst mir zu, grinst und leckt sich die Puderzuckerspuren aus den Mundwinkeln. "Und außerdem werde ich jetzt der Toilette einen längeren Besuch abstatten."

"Jetzt schießt du aber weit über das Ziel hinaus!", erwidere ich.

"Du weißt, dass meine Verdauung seit unserer Ankunft zu wünschen übrig lässt. Vielleicht klappt es ja mit Wut im Bauch!"

Von dieser Warte aus hatte ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Beim Warten fühle ich mich wie ein unerwünschter Gast, der nur geduldet wird. Als Horst schließlich mit unentspanntem Gesicht aus der schuhkartongroßen Toilette wieder auftaucht, suchen wir schleunigst das Weite.

"Verdammte Scheiße, wieder nichts!", sagt er beim Hinausgehen.

Wir orientieren uns und strolchen durch die Stadt. Es ist schon seltsam, an wie vielen Kirchen man auf so kleinem Raum vorbeikommen kann, schönen Kirchen, wohlgemerkt, die im Licht der Sonne strahlen. Zum Beispiel die quadratische Kirche S. Nicolò Regale von 1124, die aus der normannischen Epoche stammt, mit ihren drei Apsiden, jene halbrunden Altarnischen. Oder die Kathedrale Santissimo Salvatore, die auf den Grundmauern eines Gebäudes aus dem 11. Jahrhundert errichtet wurde und in ihrem Barockstil erhalten geblieben ist. Das Relief an der Fassade zeigt den Normannen Roger I. zu Pferd, der hier im selben Jahrhundert das Kastell erbauen ließ. Ebenfalls aus der Barockzeit stammen der Bischofspalast, das Seminar und die Kirchen S. Caterina, S. Michele und S. Veneranda. Und es ist schon seltsam, dass sie alle geschlossen sind.

Lediglich das Museum Casa del Satiro hat an diesem Tag offen. Wir zahlen den verlangten Obulus und gehen hinein in den halbdunklen Raum, um die Bronzestatue zu bewundern. Hier liegt oder besser hängt der weltberühmte Satiro (von dem ich bis zu diesem Tag nicht die leiseste Ahnung hatte), den ein Fischer, der verdutzt gestaunt haben mag ob dieses absolut einmaligen Fangs, plötzlich in seinem Netz gefangen hatte. Vielleicht hat die schön proportionierte nackte Gestalt einst auf dem Bug oder Mast eines Schiffs den Winden des Meeres getrotzt, während es durch die Straße von Sizilien fuhr oder anderswo; vielleicht ist sie rein zufällig über Bord gegangen oder der plötzliche Untergang des Schiffes hat sie gleich mit in die Meerestiefen gezogen, ob vormals Kriegsbeute oder wertvolle Ladung eines "Antiquars" der damaligen Epoche, der mit Kunstwerken handelte, sei dahingestellt. Trotz allem Zweifel, der den einmaligen Fund geheimnisvoll umhüllt, dürfte seine ikonografische Identifizierung gewiss sein, obgleich die Forscher in der ersten Euphorie der Entdeckung voreilig von Äolus gesprochen haben. Inzwischen weiß man, dass die zwischen Sizilien und Afrika im März 1998 von einem Fischerboot aus dem Meer "gefischte" Bronzestatue einen Satyr darstellt, den wir als lüsternen Waldgeist und Begleiter des Dionysos aus der griechischen Sage kennen. Auch scheint es sehr wahrscheinlich, dass der Satyr Teil der Ladung eines zwischen Pantelleria und Capo Bon gesunkenen Schiffes war, auch wenn sich die Gelehrten über den Zeitraum (3. oder 2. Jahrhundert v. Chr.) noch nicht ganz im Klaren sind. Der Rest des wertvollen Transportes mag unterdessen immer noch in unerreichbarer Tiefe auf dem Meeresboden herumliegen und weitere Schätze verbergen.

Der freundliche Museumswärter gibt sich redlich Mühe, uns die Geschichte zu erzählen. Wir dürfen ganz nahe an den frisch restaurierten Griechen herantreten, bemerken das fehlende rechte Bein sofort und die abgetrennten Arme, schauen durch die dunklen Stellen der bronzenen Wunden, und es kommt einem vor, als haben Gewehrkugeln oder Harpunenhiebe den Körper an diesen Stellen durchbohrt. In wohl kaum gekannter Zärtlichkeit, wenn man den Bildern ringsherum Glauben schenken mag, haben sich nach dem Fund Restauratoren und Geschichtswissenschaftler des bronzenen Körpers angenommen und ihn mit aller Raffinesse der Technik vorzeigbar gemacht. Und so liegt oder hängt er mit starrem Blick und zertrümmertem Schädel in diesem eigens für ihn geschaffenen Museum und weiß sicherlich mehr, als die stummen Lippen und der patinierte Glanz der Bronze jemals verraten werden. Schade nur, dass ich den Namen des fischenden Finders wieder vergessen habe.

Am Mittag gehen wir am Fluss entlang, bis uns der Hunger zurück in unser Quartier treibt. Das kleine klebrige Croissant hat uns bis zu diesem Zeitpunkt mehr recht als schlecht über Wasser gehalten, doch nun fordert der Magen seinen Tribut. Wir essen Pellkartoffeln und Salat, ehe wir uns zurückziehen. Ich lese, während Horst Siesta hält und sich am Horizont die ersten düsteren Wolkenberge auftürmen. Nach einiger Zeit stehe ich auf und blicke über den Hafen, der mir zu Füßen liegt. Die Fischerboote dümpeln im ruhigen Wasser vor sich hin, manche werden von fleißigen Händen geschrubbt, andere ausgebessert. Just in diesem Moment schickt sich ein in fleckigem Overall gewandeter Maler an, den Rumpf eines Fischerbootes weiß zu streichen. Nicht weit von ihm entfernt geht unspektakulär ein Stapellauf über die Bühne, wobei zwei rechtschaffene Hafenarbeiten den Kahn mit zwei Seilen nicht entfliehen lassen wollen, so scheint es, und ein Mann mit Stirnglatze die Arbeit überwacht. Auf dem Schiff hat man sich derweil das eine oder andere Mal mit Schaumwein zugeprostet, froh darüber, dass die ganze Sache nicht in die Hose gegangen ist. Möwen segeln an meinem Fenster vorbei im Formationsflug. Schwerelos, elegant. Die finsteren bauchigen Wolken kommen bedrohlich näher, während auf der anderen Seite des Hafens, der Straße gar, die Sonne ab und zu durch die Gardinen linst.

Heute fehlt uns die Lust, noch stundenlang durch die Stadt zu laufen. Daher begnügen wir uns mit einem Spaziergang am Meer entlang und kehren an einer einfachen Kirche, die unmittelbar am Wasser steht, wieder um. Wind kommt auf und fegt uns alles, was nicht niet- und nagelfest ist, um die Ohren. Wir ziehen unsere Köpfe ein und sind froh, als wir wohlbehalten in unserer Wohnung sitzen, Käse essen und Wein trinken können. Keinesfalls wollen wir morgen zu viel Gepäck mit uns herumschleppen, wenn es heißt, die Stiefel in die Hand zu nehmen und in den Südosten zu fahren. Ob wir unser anvisiertes Ziel, Ragusa nämlich, erreichen, steht noch in den Sternen.

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