Pyrenäenblues

© Willi Schnitzler     

PyrenäenbluesDie Stimmung weckte in mir die Erinnerung an einen Märztag, der sich hinter dem Pic du Canigou verabschiedete. Ich sah mich zum Himmel von Frankreich aufblicken und den schneeweißen großen Berg beobachten, während ich allein in diesem alten französischen Landhaus saß. Mas Pandorra, eingeritzt in ein verwittertes Stück Holz (der unwissende Schnitzer hatte während der Arbeit an Andorra gedacht). Eine große Stille hatte mich aufgeschreckt, der Wind sich erschöpft, den Frühjahrsregen aufgelöst und Nebel sich des Landes bemächtigt, der alles sanft einhüllte und in der langsam alternden Nacht verklang. 

Nebenan lehnte sich eine kleine Kirche, von der ich wusste, dass sie innen so gut wie verfallen war, gegen die Wohngebäude. Eine starke Kette verriegelte die dicke hölzerne Tür,hinter der Ratten und Fledermäuse lebten. Trotzdem verirrte sich manchmal eine suchende Seele auf die einsame Bergkuppe, deren ewiger Weggefährte der kleine Friedhof mit den einsamen Gräbern war, an denen rostiger Draht die E-Maillierten Namen wie im Liebesakt umklammerte. Schmucklos, dann und wann ein Strauß hastig welkender Blumen.

Eine unermessliche Finsternis, ein wesenloses Etwas, und eine ungewohnte Stille legten sich über die Landschaft der Pyrenäen; so etwa musste es sein, wenn man blind oder in den siebten Kreis der Hölle vorgedrungen war; und das Land schwieg wie ein Stummer. Silence. An diese Stille mussten sich meine Großstadtohren auch in einigen einsamen Gebieten auf der anderen Seite der Welt vertraut machen, wenn vereinzelt ein Strom von Schweigen zwischen den Bäumen und Bergen floss, der alles ertränkte. Hilflos konnte ich nur feststellen, wie namenlose, ohnmächtige Angst einem Schatten gleich in mir hochkroch. Meine Natur kämpfte mit dem anderen Zustand, der mir eher vertraut als fremd vorkam, ganz Spannung, ganz Wachsamkeit. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, als ich vor dem zu Bett gehen häufig noch schnell einen verängstigten Blick unter das Bett oder in den Schrank warf; als ich so schnell wie möglich, laut pfeifend und stolpernd, die dunkle Kellertreppe überwand, wenn ich etwas aus dem Vorratsraum holen musste, dort, wo auf den Regalen die eingemachten Marmeladen standen: Erdbeere, Kirsch, Holunder, Aprikose und Mirabelle; Konserven, Mehl, Salz, Zucker, Kartoffeln, Zwiebelzöpfe; und dieser riesige Eimer mit Rübenkraut, den mein Vater aus der Fabrik mitgebracht hatte. Geräusche weckten mich mitten in der Nacht, die zu einem Großteil der Angst vorbehalten waren; schrien in meine eigene kleine Seele hinein. Das Licht brannte an so manchem Herbst- und Winterabend, bis ich eingeschlafen war und darüber hinaus. Stille und Dunkelheit vereinigten sich zu einer großen Tiefe.

"Ich kenne die Stille der Wüste und die des Ozeans. Beide sind übermäßig. Hat man den ersten Glücksschauder überwunden und kehrt die unbefangene Neugier zurück, so bekommt man es mit der Angst, die zweifellos auch eine Quelle des Genusses sein kann, aber dafür eine Anstrengung erfordert, die einen früher oder später erschöpft. Ich habe - um nicht von mir zu reden - Menschen gekannt, die diesen seltenen Mut der Wollust, wie man ihn nennen könnte, in einem erstaunlichen Maße besaßen und die erleichtert aufatmeten, wenn sie nach dem Schweigen eines Berggipfels wieder das Kreischen der Trambahn in einer Gleiskurve hörten."

Es ergriff mich unvermittelt jene Art von Unbehagen, das Jean Giono so anschaulich oben schilderte und einem widerfuhr, wenn man auf stillem Wasser in dicke Nebelklötze geriet. Unter die Quälgeister mischte sich die unbegreifliche Abwesenheit von Geräuschen, fühlbar wie ein Handschlag, der Druck in der Brust, der eisige Klumpen Etwas im Hals, die Schwere, beklemmend, quälend, das langsame Aufkommen von Zittern im Gewebe, in den Knochen. Die Ratio wurde im Sturm genommen.

Abends entfachte ich ein Feuer im offenen Kamin, um meiner Angst ein Schnippchen zu schlagen und beobachtete, wie leckende Flammen sich zuerst der scharfen Kanten des hellen Holzes bemächtigten, sie rot und schwarz färbten. Gut, endlich Geräusche – etwas Greifbares: das Knistern und Knacken von Holz, scharf wie Senf; das einsetzende Sprühen von rotglühenden Funken, das die Luft teilte; die Hitze im Gesicht, die Kälte im Rücken. Doch die Stille des Abends war nur ein mageres Vorspiel von dem, was mich bei Nacht erwartete. Nachts schliefen auch die Tiere und der Wind, sodass das Unterbewusstsein jeden Ton erfasste; und während ich in Gedanken, mich vergewissernd, dass Türen und Fenster fest verschlossen waren, durch das Haus hetzte, gingen alte Geschichten in meinem Kopf spazieren. Ich schaute ängstlich durch den Spalt der entriegelten Fensterflügel, hoffte, den Berg, die Sterne zu sehen, und starrte nur diese Finsternis an, die das Haus umgab. Glaubte Bäume zu erkennen, schwärzer als das gestaltlose Schwarz, Heliaden gleich, die sich aus Trauer über den Tod des Bruders in Bäume verwandelt hatten. Selten löste sich aus der Stille ein kaum wahrnehmbares Geräusch, vielleicht von einer Spinne, die den Weg durch die Nacht suchte. Bei jeder hörbaren Veränderung trafen mich die Schläge der Angst wie bei einer kleinen Hinrichtung und ich befürchtete, eine unsichtbare Hand presse mein Herz zusammen. Bisweilen, wenn ich es nicht mehr ertragen konnte, stellte ich das Radio an; und an manchen Tagen war ich froh, dass der tramontane, der scharfe kalte Nordwind, versuchte, das Haus in Stücke zu reißen.

Zuweilen tauchte er am später Nachmittag auf, der Lump, der die kalte Luft an die Pforte schleppte, sie vom gegenüberliegenden Gipfel schulterte, der in seinem weißen Mantel in der Schwärze der Nacht nur zu erahnen war. Man spürte, wie heftige Stöße kopfüber in den Kamin springen wollten, wie sie drohend an den Fensterschlägen hantierten, die dicken Holztüren aus den Angeln zu heben versuchten. Dann schlief ich auf einer Woge des Tumultes und spürte, wie der gottlose Geselle heulend und zeternd hinein wollte ins Haus, und ich ließe ihn gerne herein, sei es nur in der Absicht, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Aber ja, ich wüsste, wie ich ihn empfangen würde: mit erwartungsfrohen Augen, einer frisch gestopften Pfeife und einem Glas Muscat, bereit zu jeder Art von Unterhaltung – ein perfekter Gastgeber, doch in dem frühen Stadium des Jahres veranstaltete er nur selten sein Spektakel. Er wird sich im Sommer und Herbst austoben, dachte ich, ein Ringer, der seine Kräfte einzuteilen wusste. So blieb ich die meiste Zeit alleingelassen, auf jene Stimme wartend, im Bett, mich wälzend wie ein Kranker, in Schweiß gebadet, der finsteren schweigsamen Nacht Gehör schenkend. Ich spürte eine fast körperliche Bedrohung. In der Finsternis war eine zweite Finsternis, darin hörte ich mein Herz schlagen bis zum Hals, viel zu schnell für ein Herz, das nach Trost verlangte. Die Augen blickten dann und wann auf die Uhr, die stillzustehen schien, bis der Zeiger sich mühsam wie ein alter Mensch einen Schritt weiter nach vorne bewegte. Oder zurück? Das Bild verschwamm. Stellte mir die Nacht als einen langen finstren Tunnel vor, der nicht enden wollte und in der die Zeit langsamer zu fließen schien.

Es war Nacht, immer noch dieselbe Nacht, keine Veränderung. Ich hatte kein anderes Gegenüber als diese nackte weiße Wand, von der Nachtschwärze ummantelt, auf der selten ein anderes Zeichen erschien als die Flecken der Sonne des Tages oder die lautlosen Spuren der Spinnen bei Nacht. Mehr als je zuvor wusste ich nun, was es hieß, alleine zu sein; wie gern hätte ich jemand an meiner Seite gehabt, der geholfen hätte, dieses ohnmächtige Gefühl an die Grenzen der Angst zu drängen, den Ballast von der Brust zu nehmen, mir die Erregung von Parfüm, Haar, Berührung zu schenken. Doch als einziger Gast hatte die Einsamkeit Platz genommen, die mit meinem Puls umsprang wie mit einer Trommel.

Am Morgen die Erleichterung. Brachte Shakespeare es nicht auf den Punkt, als er sagte: „Die Nacht würde lange nicht so finster sein, wenn die Sonne schiene!“ Das zaghafte Nahen von mattem Licht in den Fensterritzen, das Gefühl, dass alles in Ordnung war, die Vermutung, wieder einmal entkommen zu sein wie ein kleiner Held! Auf diese Weise bekam nun doch alles seine rechte Ordnung zurück. Ganz im Gegensatz zum Namen hatte das Morgengrauen etwas Schönes.

Am Samstagmittag kreischte hügelabwärts eine Motorsäge unablässig im dichten Unterholz und ich entschloss mich, frische Blumen auf dem Markt in Ceret zu kaufen, die ich gegen die vergilbten eintauschte, vielleicht, weil ich die Angst oder gar den Tod besänftigen wollte. Ich hatte mehr und mehr das Gefühl, dass beide miteinander verwandt waren.

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