Eine kleine Geschichte von der Paketpost in Krakau
© Willi Schnitzler
Nun überrascht mich Hanna, dass ein Professor der Mainzer Universität ihr ein Paket mitgegeben hat.
»Ich muss es hier in Polen zur Post bringen«, klärt sie mich auf, »damit es nach Warschau geschickt werden kann. Soll billiger sein.«
Ich verstehe die Welt nicht mehr und bin verärgert, nicht über die Frau, sondern über diesen elenden Geizkragen.
»So ist er eben«, sagt sie mit einer Unbedarftheit, die mich fast die Wände hochgehen lässt.
Nach einem frugalen Frühstück – an dieser Stelle verwende ich mit Bedacht »frugal«, da es nicht, wie oft angenommen, im Sinne von üppig, reichlich oder opulent verwendet wird, sondern für ein einfaches, aber gutes Mahl steht – machen wir uns auf die Suche nach der vermaledeiten Post. Ehe wir sie gefunden haben, vergeht gut und gerne eine halbe Stunde. Wir sind an den alten Tuchhallen auf einem der größten mittelalterlichen Marktplätze, der Rynek Glowny heißt, vorbeigekommen, an Dutzenden von Kirchen, zahlreichen Bürgerhäusern und dem Rathausturm. Es überrascht, dass der Krieg, der überall gewütet hat, hier keinen Schaden anrichten konnte. Obwohl die Gebäude bereits von deutschen Truppen vermint worden waren, entgingen die unschätzbaren Kulturdenkmäler der Vernichtung, da überraschend die Rote Armee mit Sowjetmarschall Konjew an der Spitze vormarschierte. Andere Quellen sprechen der sowjetischen Partisanin Jelisaweta Wologodska einen Teil der Rettung zu, die, als die Deutschen sie kurz vor der Räumung Krakaus geschnappt hatten, dem sie verhörenden Abwehroffizier Kurt Hartmann ins Gewissen geredet haben soll. Aber das nur nebenbei.
In einiger Distanz bemerken wir schließlich das Postamt, das uns arglos aus schmutzigen Mauern anschaut, die außerhalb des Winters hübsch zu sein scheinen. Das nicht besonders große Gebäude ziert zu unserem Erstaunen eine erkleckliche Anzahl an Schornsteinen, aus denen es ordentlich qualmt. Vor der Eingangstür, dort, wo das Streusalz den Schnee in eine dreckige Pampe verwandelt hat, schimpft eine Frau mit ihrem kleinen Sohn, der sich aus unerfindlichen Gründen direkt in die nasse Brühe gesetzt hat und nun mit trotzigem Gesicht die Strafpredigt über sich ergehen lässt. Ihre Geduld mit dem unartigen Sprössling scheint sich dem Ende entgegenzuneigen, aber sie ist auf dem besten Wege, die Oberhand zu gewinnen. Nachdem wir zunächst, durchgefroren bis auf die Knochen, vergeblich nach dem Paketschalter Ausschau gehalten haben, müssen wir uns in eine Schlange einreihen, die geduldig vor einem Schalter steht. Die Hauptaktivität dieser Schlange ist Warten. In sorgloser Ahnungslosigkeit klemmt man in der Reihe der Wartenden fest und lauert auf den nächsten kleinen Schritt. Unterhaltungen finden nicht statt, obwohl mir das spitze Kinn meines Hintermanns praktisch auf der Schulter liegt. Dann folgt ein Rülpser von wohl bemessener Dauer.
Endlich rückt die Frau hinter dem Schalter näher, und als wir an der Reihe sind, spricht sie nur Polnisch und wir nicht. Geduldig wiederholt sie jedes Wort, natürlich in ihrer Muttersprache. Nun ist die Fantasie richtig gefragt. Mit der Hilfe einer ausgeklügelten Zeichensprache und Mimik geben wir ihr zu verstehen, dass dieses Paket, das wir in frierenden Händen halten und im Übrigen relativ schwer ist – und, wie wir später verblüfft feststellen sollen, Bücher enthält –, für die Reise nach Warschau bestens gerüstet sei. Und wenn es ihr nichts ausmache, würden wir gerne wissen, ob wir hier richtig seien und was es koste. Nach einer Viertelstunde, die für die hinter uns Wartenden recht amüsant und erfreulich abwechslungsreich gewesen sein muss, teilt sie uns unter Zuhilfenahme eines Blattes mit, aber auch mit einer Stimme, die nichts Gutes verheißt, dass wir uns im falschen Gebäude befänden. Wir sollten tunlichst um die Postecke gehen und nochmals um eine Ecke und abermals um eine andere.
Wir folgen wie befohlen. Und siehe da, eine kleine unscheinbare Tür steht im Wege, die es sein könnte. Nun, ich will keinen unnötig auf die Folter spannen – sie ist es! Die Post für Pakete und Päckchen aller Art. Es scheint eine Krypta zu sein, und ich habe die Sorge, dass alles zu Staub zerfällt, wenn die Dinge hier drin längere Zeit mit Sauerstoff in Berührung kommen.
Bea hat schon jetzt die Nase voll und zickt herum, ist wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden.
Eine Frau Ende vierzig, Anfang sechzig wartet in einem mehr als dunklen Raum auf Arbeit. Nun, das dürfte vielleicht doch einen falschen Eindruck wiedergeben, denn sie scheint mit dem Stempeln irgendwelcher Etiketten vollauf beschäftigt zu sein. Zwischen ihr und der Tür, in der wir noch stehen, halten etliche Pfeiler die Decke davon ab, herunterzufallen. Dahinter, in einiger Entfernung, lehnt sich ein Paar gewaltiger Theken rechtwinklig aneinander, gerade so wie zwei besoffene Berber. In einer bemerkenswert optimistischen Anwandlung, was die Temperaturen dieses Winters betrifft, hat die polnische Paketpost die Heizkörper so eingestellt, dass man seinen Atem gut von dem der anderen Kunden unterscheiden kann. Wir schlängeln uns durch unsere Kältefahnen und das Pfeilergewirr und sehen, dass die Frau einen Ponyhaarschnitt trägt. Jeder mag sich an die Haushälterin erinnern, die laut hysterisch schreiend in einer Agatha-Christie-Verfilmung eine Leiche findet – und genau so oder so ähnlich sieht sie aus, nur mit diesem antiquierten Ponyhaarschnitt. Sie scheint sich einen Dreck um irgendwelche Stilfragen zu scheren. Als wir die Theke erreichen, hört sie mit dem Stempeln auf und eilt flott auf uns zu.
Ich weiß nicht mehr, ob sie uns begrüßt hat oder sonst irgendetwas in der Richtung, ich weiß nur, dass ihre Augen urplötzlich eine seltsame Wandlung vollführen, nachdem sie das Paket in Augenschein genommen haben. Sie scheinen sagen zu wollen: Oh, was ist denn das, so etwas haben wir ja noch nie gesehen, obwohl wir schon fast fünfzig oder sechzig Jahren auf der Welt sind. Da niemand von uns ihre Sprache spricht, erweist es sich als schwierig zu verstehen, was sie von uns will, da sie wie ein Maschinengewehr angesetzt hat, uns eine adäquate Posterklärung zu verpassen. Nach minutenlangen Beratungen tippen wir darauf, dass das Paket falsch sein könnte, was nicht verwunderlich wäre, handelt es sich doch um ein gelbes bundesdeutsches Postpaket.
»Ich denke, mit dem Paketdressing stimmt etwas nicht«, vermutet Bea.
»Da magst du recht haben«, räume ich ein. Innerlich verfluche ich den honorigen Professor S. von der Universität Mainz auf das Heftigste und sehe, wie die Polin ein Stück Kordel in der Größe zweier aneinandergereihter Blindschleichen aus einer Schublade hervorzaubert.
Der Groschen fällt, und wir gehen nach draußen, um ein Kaufhaus zu suchen, dass Schnur im Angebot hat. Papier, genauer gesagt braunes Papier, benötigen wir obendrein, aber das hat sie uns freundlicherweise aus einem anderen Schubfach gegeben. Wir können es behalten und für unsere Zwecke nutzbringend einsetzen.
Eine Viertelstunde später finden wir das Kaufhaus, das plötzlich vor unseren Augen aufragt, zehn Minuten dauert es, bis wir die Schnur auftreiben, und weitere fünf Minuten, um sie zu kaufen. Der erste Zug in die Hohe Tatra, da, wo wir hinwollen, sagt die Uhr, sei gerade losgefahren. Aber was hilft uns das, müssen wir doch zurück zu der freundlichen Postfrau, deren ganze Erscheinung an eine Fledermaus erinnert. Nun, ich habe vergessen zu erwähnen, dass sie wie eine Fledermaus aussieht, vielleicht wirkt das nur so, weil es in dem Raum derart dunkel ist. Ein Weilchen später sieht uns die gewaltige Theke erneut vor sich stehen, sieht unsere strahlenden Gesichter, sieht, wie wir ungeschickt das braune Papier um die Pakettaille wickeln, sieht unser noch ungeschickteres Bestreben, die Kordel anlegen zu wollen. Die Frau hinter der Theke schaut uns geduldig zu, bis sie die Geduld verliert und ihr Temperament die Oberhand gewinnt. Mit ihren Fledermaus-Agatha-Christie-Augen und einem Blick, den Mütter sich für unartige Kinder aufsparen, gibt sie uns Anweisungen, wie wir vorgehen sollen; und eine Weile später erweckt das Paket den Eindruck, als habe man es mit Dutzenden von kleinen Quadraten geziert. Sie sieht ein wenig zufriedener aus, während mir die Finger von den vielen Knötchen wehtun. Unverrichteter Dinge macht sie sich an die Arbeit, allerdings mit einem befremdlichen Hang zum Vandalismus, und es dauert fast fünf Minuten, da bemerkt sie, dass nun weder Absender noch Adresse zu erkennen sind. Ein Kopfschütteln gibt uns zu verstehen, dass wir die ganze Prozedur noch einmal durchlaufen müssen. Ich bin am Ende, und da die Frauen wenig Lust verspüren, sich an die Sisyphusarbeit zu wagen, legt sie selbst Hand an. Hin und her wetzt sie, mal nach rechts und mal nach links, wo ihre Arbeitsstelle sich gerade befindet, bis das Paket glücklich verschnürt vor ihr liegt. Ich schaue sie mit unverhohlener Bewunderung an. Nun reicht sie es uns, damit Hanna es nun gewissenhaft mit der Warschauer Adresse versehen kann. Den deutschen Absender akzeptiert sie nicht, aber was macht das schon. Wir schreiben einfach den Namen unseres Hotels darauf, und damit scheint alles in Ordnung zu sein. Wir sehen die Frau hinter der Theke erwartungsfroh an in der Hoffnung, bezahlen und uns in Richtung Berge davonstehlen zu können.
»Alles o. k.?«, erkundigt sich Hanna, noch ehe ihr sichtbar unbehaglich wird. Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu, mag ihr in diesem Moment durch den Kopf gehen.
Doch so schnell schießen in Polen die Preußen nicht, die Frau scheint für solche Fragen kein Ohr zu haben. Und schon taucht in ihren zarten Händen ein Stempel auf, dem nach Arbeit gelüstet. Hanna steht derweil wie gebannt vor dem beginnenden Schauspiel und vermag es, vermutlich aus rein wissenschaftlichem Interesse, nicht mehr aus den Augen zu lassen, während Bea und ich hinter Pfeilern verschwinden, uns ansehen und das Lachen nicht halten können. Wir hören, wie die Fledermaus mit dem Stempel jede Ecke, jeden Knotenpunkt des noch braunen Pakets malträtiert. In der Hinsicht kann ihr keiner von uns das Wasser reichen. Erst nach minutenlanger Kleinstarbeit legt sie zufrieden den Stempel beiseite, schließt vorsichtig das gepeinigte Stempelkissen und blinzelt in die Runde, die in der Zwischenzeit größer geworden ist, da zwei weitere Postkunden im Rücken der verdutzten Hanna aufgetaucht sind.
Wenig später betritt ein Greis mit leicht schwankenden Schritten auf dürren Beinen die dunkle Kammer, der in verblüffender Weise einem toten deutschen Volksschauspieler ähnlich sieht. Sein Gesicht würde sich auf einer Münze gut machen. Er ist so alt, dass ihm die Jahrhundertwende noch in Erinnerung sein mag. Die ursprüngliche Farbe seines Haares ist kaum auszumachen, jetzt hängt es matt und fahl und grau an seinem mächtigen Kopf. Er trägt arg an der Last seiner Jahre, die ihm einen unwiderruflich krummen Rücken beschert haben. Genauso wie dem Hund, der an einer Leine hinter ihm hergeschlichen kommt. Aber ist das überhaupt ein Hund? Dafür hätte ich meine Hand nicht ins Feuer gelegt, es kann sich ebenso gut um einen Dachs oder irgendetwas in dieser Art handeln, wenngleich man sich schon die Frage stellen könnte, was der bloß an einer Leine verloren hat. Amüsiert schaut der Mann sich die Schlange der Anstehenden an, ehe er schwerfällig neben mir Platz nimmt, wobei er den dicken Mantel, der nicht neuer ist als ein Grammofon, unter seinem Hintern teilt; ganz nah kommen mir seine mächtigen Tränensäcke und seine braunen, fast schwarzen Zähne. Still in sich hineinschmunzelnd blickt er zur Theke, während er das glatte Fell seines vor ihm liegenden Vierbeiners krault, kramt mit gichtverformten Händen eine Pfeife hervor, stopft sie mit einem Kraut, das nach dem anschließenden Anstecken mittels eines sich zunächst weigernden Streichholzes nach nassem Heu riecht, schlägt die Beine übereinander und harrt der Dinge, die sich in dem kleinen Paketpostamt noch abspielen werden. Er hat feuchte Augen, aus denen sich hin und wieder eine Träne löst, vielleicht liegt es an der Kälte draußen wie drinnen, vielleicht wollen sie ihm nicht mehr gehorchen. Dann und wann höre ich das leise Klappern seines künstlichen Gebisses, das in seinem Mund hin und her wandert, auch wenn er sich gegen den Drang, jederzeit einschlafen zu können, heftig zu wehren scheint. Seine persönliche Stunde der Geselligkeit, die er sich gönnt, wenn ihm zu Hause die Gesellschaft seines Hundes nicht mehr genügt, möchte er nicht verpassen. Man ist fast geneigt, ihm eine Tasse Kaffee mit Gebäck zu reichen.
Da sitze ich auf der betagten Bank in diesem uralten Paketpostamt hinter verflucht alten Pfeilern und bin so glücklich wie lange nicht. Das Gefühl, einem besonderen Ereignis beizuwohnen, hat mich seit dem Moment des ersten Betretens dieser Höhle nie verlassen. Bea, scheint es, ergeht es da ähnlich. Hanna schaut sich um, schüttelt den blonden Lockenkopf und sieht sich nun vollends ihrer ohnehin in dieser Sprache beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten beraubt. Nur raus hier, gibt sie uns mit auffordernden Handbewegungen zu verstehen, doch wenn das alles so einfach wäre. Agatha Christies Haushälterin hat in der Zwischenzeit feststellen müssen, dass nach dem Akt der Stempelei weder Adresse noch Absender ausreichend zu lesen sind, nachdem sie sich in einen Rausch gestempelt hat. Langsam bemerkt sie das Ergebnis ihrer Ekstase. Für sich genommen hätte das Ganze nicht mehr als eine kleine Beunruhigung bei mir ausgelöst, wäre da nicht dieser Ausdruck in ihren Augen erschienen …
»Nun aber nichts wie weg!«, sage ich. »Und ihr dürft euch nicht mehr umschauen.«
»So wie in Orpheus und Eurydike?«, erkundigt sich Hanna.
»Ja, so ähnlich.«
Ob das Paket in Warschau angekommen ist, weiß niemand genau; mit Bestimmtheit wissen wir, dass es billiger gewesen wäre, hätte Prof. S. es in Deutschland aufgegeben.
»Hoffentlich werden die Bücher nicht allzu spät ausgeliefert«, füge ich noch hinzu. »Posthum, sozusagen.«
Eine andere Gewissheit bleibt auch: Eine von ihrer Sorte, ich meine damit die wackere Stemplerin, dürfte wohl nicht mehr gebaut werden.
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