Nachtzug nach Krakau
© Willi Schnitzler
Der Geschmack der Weihnachtsgans klebt noch vage auf der Zunge, als wir abgehetzt den düsteren Frankfurter Bahnhof erreichen. Es ist 23.56 Uhr des endenden zweiten Weihnachtstages, und uns bleiben nur noch vier Minuten, wenn der Zug, der auf einem Gleis wartet, das offensichtlich mit dem Licht der Laternen nichts zu tun haben möchte, planmäßig abfährt. Dem Anschein nach ist er ein echter Warschauer Pakt Transportgenuss. Dunkler, als alle Züge, die ich kenne, kommt er mir vor und um ein Vielfaches schmutziger. Er verströmt den Liebreiz eines Viehtransporters der dreißiger Jahre. Zu meiner Freude aber wird der Zug von einer altmodisch aussehenden, dampfenden Lokomotive gezogen.
Nur noch wenige Reisende warten draußen auf einen Abschiedskuss oder eine letzte Umarmung, die von der unbarmherzigen Zeit diktiert werden. Frau und Tochter verabschieden sich mit Tränen in den Augen. Ein dicker Mann kommt atemlos mit Wurst und Bierflasche herangestürmt, während eine kleine Familie in der Zugtür verschwindet. Unbeholfen erklettert auch er die eisernen Stufen, verschüttet Bier auf die Hose und Senf auf den schwarzen Wintermantel. Er flucht auf Polnisch oder Russisch, so genau ist das nicht zu sagen.
Jetzt sind wir die Einzigen, die noch da draußen stehen, mit unseren Rucksäcken, dicken Jacken und Mützen. Ein Schaffner macht unmissverständlich klar, dass es gleich losgehen wird, und ich habe das unbestimmte Gefühl, als könnte es drinnen kälter sein als draußen.
Es ist drinnen kälter als draußen, auch wenn ein ganzer Tag dazwischen zu liegen scheint. Wir spüren den Atemzug aus dem eisigen Mund des Winters, verstauen unser Gepäck nach Art des Hauses und legen uns eilends unter die schweren Decken im Schlafwagenabteil, in dem bereits drei weitere vermummte Gestalten zu erkennen sind. Ich sehe noch, wie Thoras vor Kälte rotes Gesicht in einem Berg von Decken verschwindet, wie Beate mühsam das Oberbett erklimmt und seufzend ihr Nachtlager bereitet. Und noch ehe der Zug so richtig in Gang gekommen ist, hat uns die Müdigkeit übermannt. Trotzdem wache ich mehrfach auf, denn die Pritsche ist nicht lang genug und drückt meine Füße manchmal gegen die kalte Wand, die dem Frost da draußen nichts anhaben kann. Es war ein Fehler, denke ich in die Kälte hinein, Hose und Socken vor dem Schlafengehen abzustreifen. Später, als die Morgendämmerung einsetzt, fliegen Wolken vorbei und die dunklen Schemen der flachen Landschaft. Ich kann es so recht noch nicht glauben, dass wir auf dem Weg nach Polen sind, erst, als die Mitreisenden ihre Morgengespräche führen, wird mein Kopf klar. Ich hatte Thora und Beate versprochen, sie in die Hohe Tatra zu begleiten, Polen kenne ich noch nicht, und ich fand es eine gute Idee. Während ich an das Telefongespräch erinnert werde, bummelt der Zug in den trüben Morgen hinein. Es ist grau da draußen, man kann die Unbarmherzigkeit des Wetters sehen. Kleine Orte tauchen auf und verschwinden im Nichts. Straßen ohne Autos, frostharte Wege ohne Spaziergänger, Felder ohne Farben.
Der erste Schnee fällt unmittelbar vor der polnischen Grenze, legt sich sacht auf die ersten Häuser der Stadt, als wir die Grenze erreichen. Görlitz. Die Wolfsschanze, jenes ehemalige Hauptquartier Hitlers, muss aber in einem anderen Görlitz liegen, denke ich. Ja, in Masuren, im Land der Tausend Seen, im ehemaligen Ostpreußen. Ruinen nun, trotz der dicken Wände. Der Mörder ist tot, auch wenn es dort vierundvierzig misslang.
Von nun an hält der Zug in jedem Nest, so hat es den Anschein. Es ist leicht diesig, und der Schnee nimmt zu. Draußen sieht es in etwa so aus, wie ich es mir vorgestellt habe, auch wenn ich nicht weiß, wie diese Vorstellung zustande kam. Die Zeit bis zur Abreise war zu kurz, um sich auch nur einen groben Einblick zu verschaffen, aber das ist mitunter gut so. Grau ist es, grau in grau, das liegt am Dezemberwetter, das liegt an den schmutzigen, vom Rauch der Bahnen geschwärzten Häusern, die die Bahnstrecke säumen, das liegt an den aufgeplatzten Schollen der kalten Felder, das liegt am schrägen Treiben der wie Staub dahinwehenden Schneeflocken.
Nachdem wir unsere Schlafbetten zurechtgerückt haben, sind wir froh, als sich unser Abteil langsam aufwärmt. Wir, das sind meine beiden Begleiterinnen und drei polnische Neujahrsrückkehrer. Eine junge Mutter mit Kind, das mit der Nase Nintendo spielt; ein Sechzehnjähriger, der dann schließlich doch nicht sechzehn ist, sondern älter, da er in Sindelfingen oder in einer anderen Stadt eine Ausbildung als Autoverkäufer durchläuft. Wir blicken aus dem Fenster in das trostlose Wetter hinaus, auf tiefliegende Wolken voller Schnee und merken diese Bank unter unserem Hintern, die in etwa so bequem und kalt ist wie ein Eisenträger.
Der Zug hält ein weiteres Mal.
Breslau ist erreicht, die großen schmutzigen Buchstaben Wroclaw hängen von der gewölbten Bahnhofsdecke, und wir bemerken, dass das L in dieser Sprache einen zusätzlichen Arm hat. Davor steht beschäftigungslos ein grüner Zug, dessen Ende man gar nicht sieht, mit einer Lampe, die er wie ein Bergarbeiter trägt. Der Lokführer scheint darin eingeschlafen zu sein, während ein abenteuerlich aussehender Bahnarbeiter die eisernen Räder überprüft, sich mit einem mächtigen Schraubenschlüssel an ihnen zu schaffen macht. Auf dem Bahnsteig frieren immer strammstehende Soldaten in der Kälte, selbst wenn sie von Frau, Freundin, Vater, Mutter und Kind verabschiedet werden, sie scheinen ihren Aufenthaltsort woanders zu wähnen. Wir spüren, dass ein Teil unseres Zuges abgekoppelt wird, jener Teil, der nach Moskau fährt. Da wollen wir nicht hin, und ich kann, nachdem ich die Lokomotive gesehen habe, mir nicht vorstellen, dass sie es bis dorthin schafft. Wir fahren in die andere Richtung, auf Oppeln zu, das richtig Opole heißt, wo eine Nachbildung eines Florentiner Palazzos stehen soll.
An der Landschaft rechts und links verändert sich nur wenig. Und noch immer schleicht ein leichter Nebel durch die Lande. Hin und wieder schauen neugierige Augen in unser Abteil, wo sie missmutig feststellen müssen, dass alle Plätze besetzt sind. Noch viereinhalb Stunden bis Krakau, hören wir und auch, dass die polnischen Kinder sich mit sieben Fällen herumschlagen müssen. Wer diese Sprache spricht, denke ich, der kann mit links jede andere Sprache erlernen. Das leichte Rappeln unter unseren Hintern schläfert uns ein, es wird zusehends langweiliger, nach draußen zu schauen. Oppeln taucht auf, es schneit dicke Flocken, bis in den kleinen Bahnhof hinein. Während des kurzen Halts steigen Skifahrer zu, ein Geschäftsmann in blauem Mantel, eine Familie. Es ist noch weit bis Kattowitz, der nächsten Station.
Und endlich, es ist dunkel, es schneit, erreichen wir Krakau. Wir suchen unsere Sachen zusammen und als wir dann draußen in der Kälte stehen und der Wind uns die Gesichter zerschneidet, wissen wir nicht wohin, wissen wir nicht, wo wir übernachten sollen. Zutraulich gehen wir den anderen Reisenden hinterher, unterqueren eine Straße, lassen uns treiben und finden in Altstadtnähe ein Hotel mit dem Namen Pollera.
Als mir der Mann hinter dem Empfang die Zahl 400.000 Sloty nennt, habe ich noch überhaupt keine Vorstellung, wie viel das in deutscher Währung ausmacht. Nichtsdestotrotz hört sich die Zahl mehr als beeindruckend an, und ich schaue leicht irritiert, erhoffe mir von weiblicher Seite einen Hinweis, ob wir nun die Hände über den Kopf schlagen oder uns freuen sollen. Doch die Frauen kennen den Umrechnungskurs auch nicht, schweigen achselzuckend. Als der Mann unser Zögern bemerkt, nimmt er einen Taschenrechner zu Hilfe, der den Rest erledigt. In null Komma nichts wissen wir mehr: kaum vierzig D-Mark für drei Personen mit Frühstück. Also freuen wir uns und begeben uns schnurstracks in das Zimmer, das groß ist und einladend, trotz der Kühle, die den Raum eingenommen hat. Ein giftgrünes Telefon lacht uns von einem Holztischchen an, das die Farbe der Betten hat, und befindet sich neben einer Pflanze, die kein Wasser benötigt, aber einen Stock, damit sie nicht umkippt. Es gibt ein leeres Wandregal aus Kiefernholz und schwere Vorhänge, die ihre Taillen in orangene Kordeln zwingen. Es gibt Decken auf den fünf Betten, die haben Fenster zum Reinschauen. Und es gibt ein Telefonbuch, das, als wir es aufschlagen, uns zum Staunen bringt. Die Personalausweise der Menschen in Krakau müssen länger sein als anderswo, denn wir lesen Namen wie: Sklep Wedliniarsko-Garmazerijny Jozef oder Zaklad Przetworstwa Miesnego Wiktor Lesniak. Vielleicht sind Berufsbezeichnungen dazwischengeraten, ich weiß es nicht, oder andere wichtige Bestandteile des Lebens.
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