Der teuflische Karneval von Oruro
© Horst H. Schulz
Boliviens verrücktestes Fest in der Provinz
Jedes Jahr im Februar ist Oruro Treffpunkt von Geistern, Teufeln, Vogelmenschen und ochsengesichtigen Wesen. Mit großem Lärm und unter Einsatz von Trompeten-, Klarinetten- und Flötenspielern hält der Karneval Einzug. Die Stadt, 3.700 Meter hoch auf einer weiten Ebene gelegen und sonst von Fremden wenig beachtet, wird für eine Woche zum internationalen Wallfahrtsort. Die Hotels sind ausgebucht, die schäbigen Pensionen überbelegt, die Anfahrtswege verstopft. Ein starkes Polizeiaufgebot soll die Ordnung gewährleisten.
Man ist gekommen, um die „Diablada“ zu sehen. Die vierstündige Busfahrt von La Paz ist zu dieser Zeit doppelt so teuer wie gewöhnlich und die Plätze früh ausgebucht. Privatwagen sind überfüllt mit Familien und mit Freunden. Jeder versucht, eine Transportmöglichkeit aufzutun. Wer es einrichten kann, ist vor Morgengrauen zur Stelle, hat vielleicht noch einen Tribünenplatz ergattert und erwartet „La Entrada“, den Einzug der Karnevalsgruppen.
Das dumpfe Dröhnen großer Pauken kündigt die Kolonne an, und plötzlich schmettert eine Blaskapelle. Dann noch eine und noch eine, es mögen dreißig oder vierzig sein, die auf den Zug verteilt sind und sich nicht um harmonischen Gleichklang kümmern. Und da kommen sie, schwenken um die Ecke, eine daherwalzende Masse mit rauschhaftem Eigenleben, in Teilen von einer Straßenseite zur anderen hüpfend, kurz verharrend und im kollektiven Tanz weiterspringend. Die riesigen Augen mit kullernden Pupillen in den Masken der Tänzer starren die Menge an. Spitze Zähne scheinen zuzubeißen. Drachenköpfige Schlangen, kunstvoll auf den Masken befestigt, speien scheinbar Feuer über die Köpfe der Zuschauer. Später dann wird einer der „Söhne der Sonne Incas“ mit schmerzentstelltem Gesicht zusammenbrechen. Wadenkrampf nach sechs Stunden monotonem Stakkato der voranmarschierenden Band.
Mit den „Söhnen der Sonne Incas“ haben erst acht Tanzgruppen die dicht besetzten Tribünen passiert. Vierzig weitere folgen, und je nach Beliebtheit ernten sie Begeisterungsstürme oder Hohnpfiffe. In den engen Straßen der alten Kolonialstadt Oruro sitzt eine aufgeladene Menschenmenge gefährlich gedrängt. Der Aufruf der führenden Tageszeitungen des Landes, in diesem Jahr auf die Sitte des Wasserwerfens zu verzichten, wird ignoriert. Mit Wasser gefüllte Ballons fliegen in die Zuschauerreihen und rufen schadenfrohes Gelächter hervor bei denjenigen, die nicht getroffen wurden. Auf den Tribünen ergießt sich der Wasserschwall über ganze Sitzreihen. Gringos werden besonders gerne beworfen. Auch junge Mädchen sind ein bevorzugtes Ziel, die ihrerseits den Burschen nichts schuldig bleiben.
Jungenhafte Soldaten, mit andinischen Gesichtern und Marschgepäck auf dem Rücken, als ginge es in den Kampf, versuchen das überbordende Gewoge vor den Tribünen mit ausgebreiteten Armen zu zähmen, während die Vorgesetzten auf und ab stolzieren und Befehle schnarren. Die ambulanten Händler machen heute das Geschäft des Jahres.
Eiscreme, Limonade, Bier und mit Hühnchen belegte Brötchen sind die Renner, auch Trillerpfeifen und Papiergirlanden finden reißenden Absatz; über den Straßen liegt der Geruch von gerösteten Maiskolben und Staub. Der Gestank aus den eigens für die Karnevalszeit installierten Toiletten nimmt um die Mittagszeit zu.
Hunderttausend Schaulustige sind in die Stadt gekommen. Aus allen Ländern Südamerikas sind sie angereist, unter ihnen viele emigrierte Bolivianer, die jedes Jahr zur Karnevalszeit von der Sehnsucht befallen werden, Heimat, Familie und Freunde wiederzusehen.
Der Karneval als Bühne zur Selbstdarstellung der Gesellschaft, als tropische Orgie in Farben und Vergnügungen – das kennt man von Rio. Doch Oruro ist nicht Rio, das Temperament der Bolivianer verhält sich zum brasilianischen etwa so wie das der Finnen zu dem der Italiener. Der Karneval von Oruro ist eine Mixtur aus katholischen Bräuchen und Folklorelegenden des Altiplano, durchsetzt mit historischen Elementen aus der Zeit der Conquista. Das Konglomerat verschiedener Riten macht den Oruro-Karneval einzigartig. Er hat eigenständige Musik, Literatur und Choreografie mit einem großen Reichtum an Tänzen, Kostümen und Masken hervorgebracht.
Über seine Herkunft gibt es unterschiedliche Informationen. Die Mehrzahl der Wissenschaftler legt die Entstehungszeit um die Jahrhundertwende. Damals bestimmten drei gesellschaftliche Gruppen das Leben der Stadt: die Minenarbeiter (mineros), die Cocahändler (cocanis) und die Fleischhändler (maiiazos). Sie alle waren Mestizen, Campesinos, also Indios, wohnten kaum in der Stadt.
Die Coca- und Fleischhändler hatten die nötigen Mittel und die Ausdauer, um das Ereignis zu organisieren.
Karneval von Oruro ist also mestizischen Ursprungs. Dennoch spielen indiofolkloristische Elemente eine Rolle in der Liturgie, denn die Mestizen der „Karnevalsgründung“ trugen ja zur Hälfte das Blut ihrer indianischen Vorväter in sich. Im Lauf der Jahre kamen immer neue Karnevalsvereinigungen und Bruderschaften hinzu. Heute gibt es mehr als vierzig Gruppen mit zusammen rund zehntausend Tänzern. Das bedeutet, dass rund fünf Prozent der Stadtbevölkerung während der Karnevalszeit kostümiert durch die Straßen tanzen.
Jeder Karnevalsverein bringt andere folkloristische oder gesellschaftliche Elemente in das Spektakel ein. Häufig werden die Eroberer aufs Korn genommen oder altreligiöse Riten zelebriert. Doch viele dieser Gruppen haben sich auch vom religiösen Impetus entfernt. Es scheint, als nähme man sich mehr und mehr den berühmteren, fernen brasilianischen Karneval zum Vorbild mit freizügiger Kostümierung und aufpeitschender Musik.
Die Religiosität liegt in der Verehrung der Jungfrau von Candelaria, in Oruro „Jungfrau von Socavón“ genannt. Nach der Legende hatte „Chiru-Chiru“, ein Räuber vom Schlage Robin Hoods, in seiner letzten Stunde eine Erscheinung der Jungfrau von Candelaria. Die Jungfrau vergab dem Räuber dessen Sünden, und der konnte reinen Herzens sterben. Da das alles in einer Berghöhle geschah, hieß die Jungfrau von Candelaria fortan Jungfrau von Socavón, Jungfrau der Höhle. Sie ist die Beschützerin der Minenarbeiter und wird mit der Diablada, einem Ritual aus Teufelstänzen und dem Kampf zwischen Gut und Böse, geehrt.
Die Diablada ist das wichtigste Karnevalsereignis. Durch sie wurde der Karneval in Oruro erst populär und über die Grenzen des Andenstaates hinaus bekannt. Die Bruderschaft der Diablada, mit dem Beinamen die „Authentische“, wurde 1944 gegründet und bildet mit ihrem Tanzritual, den farbenprächtigen Kostümen und exotischen Masken die Kerntruppe des Umzugs. In der Diablada vereinigen sich zwei Glaubensrichtungen: Ein Teil ist die vorhispanische Theogonie, der andere das katholische Äquivalent im Glauben vom Ursprung der Götter.
Die ersten spanischen Chronisten in Amerika bemerkten, dass die Einheimischen der Region Teufel verehren, in der Quechuasprache kennt man die Begriffe supay, das heißt Teufel, bzw. china supay, das bedeutet Teufelin. Der Hauptteufel ist der huricato, während huari ein Halbgott ist, der in den Bergen und Minen lebt und deshalb als Herr des Erzes angesehen wird.
Diese Wesen spielen in der Diablada eine tragende Rolle. Dem uramerikanischen Glauben haben die Spanier ihre katholische Auffassung hinzugefügt. Die Priester der Eroberer benutzten nur zu gern den Teufelsglauben für die Christianisierung der Indios als Gegenpol zum christlichen, gütigen Gott. Später wurde der auch heidnische Hurarikult durch den christlichen Muttergotteskult ersetzt. Der Teufelstanz ist also eine Mischung heidnischer und christlicher Rituale.
Prachtvoll kostümierte Tänzer, Satan und die Teufelin china supay darstellend, führen einen Zug von Hunderten ebenso reich und mit überdimensionalen Masken ausgestatteten Tänzern an. An der Spitze marschiert unter anderen der Erzengel Michael, mit blonden, wallenden Haaren, das Sinnbild des Guten. Der Kampf zwischen Gut und Böse wird tänzerisch dargestellt, die sieben Hauptsünden werden schließlich vernichtet, das Gute triumphiert.
In einer anderen Tanzszene besiegt ein dein Eroberer Pizarro nachempfundener Maskierter den Inka und dessen Gefolge. Die Erinnerung an die tragische Geschichte Lateinamerikas lebt farbenprächtig auf und wird von den Zuschauern mit Geschrei begleitet. Neben den Klängen aus der vorspanischen Zeit ist auch Musik europäischen Ursprungs zu hören. So erinnern manche Tänze an andalusische coplas. Früher wurden ausschließlich indianische Instrumente verwendet, doch die Spanier brachten den Bass und verschiedene Blasinstrumente aus Blech mit. Die Schilfrohrflöten haben diese freilich nur zum Teil verdrängt. Die Tänze orientieren sich am schnellen Marschrhythmus, die Tänzer vollführen dabei gewaltige Sprünge. Das harte Stakkato wirkt für europäische Ohren eher eintönig. Das ergreifend und wahrlich Teuflische sind die Gesänge. In einem alten Lied, überliefert und gesungen in der Quechuasprache, heißt es:
Die Teufel kommen auf feurigen Rossen
mit Sporen wie Spinnen,
wie Vipern mit feurigen Zungen,
die grünen Schwänze schlagend,
mit Masken aus roter Erde.
Diese furchterregende Charakterisierung der Teufel hat ihre sichtbare Entsprechung in Masken, und Kostümen. Huari, der Herr der Berge, des Erzes und der Minen, trägt auf dem Kopf Schlangen mit Drachenköpfen und Krallenfüßen. Unter den übergroßen, schillernden Glasaugen grinsen spitze Dreieckszähne. Das Kostüm ist reich mit Silber und Perlen bestickt, mit verschiedenen Tiermotiven bedeckt.
Für die meisten Teilnehmer sind die Masken unerschwinglich, sodass man auf den Fundus des Vereins zurückgreift oder zum Kostümverleiher geht.
Die „modernen“ Gruppen kleiden sich vergleichsweise schlicht, man wähnt sich hier eher bei den Funkenmariechen in Mainz als im bolivianischen Hochland. Einige Abordnungen tragen rote, blaue, gelbe oder goldene Stiefel mit übergroßen Sporen. Es ist ein Wunder, wie die Tänzer den sechs Kilometer langen Marsch in diesem unbequemen Schuhwerk durchhalten. Nach dem langen Tanzmarsch durch die Straßen mit zahlreichen Solodarbietungen vor den Honoratioren aus Politik und öffentlichem Leben ziehen die Tänzer geschlossen in die Kirche. Sie setzen die schweren Masken ab und knien singend vor dem Bildnis der Jungfrau nieder.
Acht Tage und Nächte dauert der Karneval. Steht auch die Diablada im Mittelpunkt, so gibt es doch noch eine Reihe anderer Rituale, die inzwischen fest zum Karnevalsprogramm gehören. Schon vor der Entrada am Samstag werden Bürgermeisteramt und wohlhabende Bürger in einem Umzug aufgefordert, den Karneval finanziell zu unterstützen. Bei der „Entrada de Cargamentos“ (etwa: Einlass der Fracht) fahren mit schwerem Silbergeschirr geschmückte Autos durch die Straßen. Mitgeführt wird eine Replik der Jungfrau von Socavón. Die Darsteller der verschiedenen Folkloregruppen müssen sich bei dieser Gelegenheit als Teilnehmer einschreiben. Verabschiedet wird der Karneval am Sonntag nach Aschermittwoch mit einem Tag auf dem Land. Bei Einbruch der Nacht versammeln sich die Aktiven dann noch einmal in der Stadt, wo mit Gesängen und Musik Abschied genommen wird, bis zum nächsten Jahr.
Der Oruro- Karneval ist von großer Bedeutung für die Integration der verschiedenen ethnischen Gruppen Boliviens. Die UNESCO hat das Spektakel entsprechend gewürdigt und ihm den Titel „Beitrag zur Menschlichkeit“ verliehen. In Bolivien, das nicht gerade im Ruf steht, es mit den Menschenrechten sehr genau zu nehmen, ist man auf diese Auszeichnung besonders stolz.