Begegnungen in San Francisco

© Willi Schnitzler   

San Francisco Street, Urban (Wikimedia Commons)San Francisco: als Kind Neptuns auf Salzwasser geboren, großgezogen von der See und mit Goldstaub gesäugt, in einer Schnelligkeit, wie ein Pilz wächst.

In jener Zeit roch die Stadt nach Tee und Kokosnüssen, Ananas und Rohzucker, Seide und Strohmatten; es stank nach den Sünden der Opiumschmuggler und dem Schweiß der Matrosen, die aus allen Enden der Welt anlegten. Fisch kam aus Alaska, Hanf aus Manila, Gewürze aus dem Fernen Osten, Gummi aus Singapur, Kaffee aus Lateinamerika. Laut ging es zu, wenn, vom Walöl der flackernden Straßenlampen illuminiert, die Sprachen der Welt übereinander herfielen und sich die Stimmen der Akkordeons, Maultrommeln, Hausaffen und Kakadus, die auf Bierfässern von Three-fingered Jack’s oder Mother Thompsons’s hockten, zu einem Orchester vereinigten.

San Francisco: gezüchtigt von den Schlägen und Klapsen endloser Erdbeben, getrieben von einem Optimismus, der manchmal weinte, aber zu keiner Zeit aufgab, und von einer Brücke mit dem Norden verbunden, die niemals gebaut werden sollte.

Wir landeten nach Bilderbuchmanier, dort, wo früher eine Mühle oder Weizen gestanden haben mochte. Es dauerte ein wenig, bis ich dem Beamten am Flughafen glaubhaft machen konnte, keine Gefahr für Wohlergehen, Gesundheit und Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika zu sein. Nicht weit von mir entfernt standen verängstigt große und kleine Flüchtlinge aus Hongkong oder China inmitten Bergen von Lebenskrempel auf der Türschwelle Amerikas.

Ich freute mich, ins Bett zu kommen, doch je müder ich wurde, desto weniger war mir nach Schlaf. Eine Weile lag ich reglos auf dem Bett, ohne mich auszuziehen, und betrachtete die Schatten der Dinge im Zimmer. Vorbeifahrende Autos störten dann und wann die Ruhe meines Schattenkabinetts, bis meine Augen langsam nachgaben wie Federn, die zu Boden fielen, und bald hörten selbst die Ohren nichts mehr.

Früh am Morgen saß ich schläfrig an der nahen Bushaltestelle, auf einen Bus in Richtung Zentrum wartend. Und dort traf ich auf Toni Hyman. Die Luft war erfüllt vom Lärm der Flugzeuge, eine unsichtbare Hand dirigierte scheinbar mühelos die sich am Himmel abzeichnenden beweglichen Noten und Klangbilder. Der mir fremde Mann stand unweit von mir, wirkte gelehrsam und wach. Er wohnte zurzeit in Los Angeles, was nicht viel bedeutete, da er in seinem Leben häufiger umgezogen war, als der Monat März Tage hat. Er besaß einen Doktorhut und erinnerte mich an meinen Architekturprofessor. Wie alt mochte er sein? Mitte, Ende fünfzig – vielleicht! Sein graues Haar trug er nach hinten gekämmt, sodass seine beiden Geheimratsecken hervortraten; das mausgraue, dicke Stück Schnauzbart wie eine Hecke, die Mund und Nase trennte; seine immer auf die Nasenspitze rutschende Halbbrille, über die er ständig blinzelte; die dunkelbraunen Augen, die in sich ruhten. Seine Stimme vermittelte den Klang eines gebildeten Menschen, ein unmerkliches Vibrieren bebte in den tiefen Tönen. Er besaß den bescheidenen Ton von jemandem, der wusste, wovon er sprach. Seine Gewohnheit war es, sich von Zeit zu Zeit zu räuspern.

Mr Hyman befand sich auf dem Weg zu einer Radiosendung, deren Gast er war. Mit schmalen Händen hielt er diese braune lederne Aktentasche fest, die sicher einen Teil seines Wissens beherbergte; ihre Schnallen, von der Arbeit der Jahre zerkratzt wie eine Eisfläche, wurden zeitweise von der grauen Popelinejacke verdeckt, die auf seiner Elle hin- und herrutschte. Gemeinsam fuhren wir mit der Samtrans ins Zentrum. Die Fenster konnten die kleinen hübschen Häuser an den sanft abfallenden Berghängen nicht festhalten; sie glitten vorbei wie Traumbilder, als die Sonne mild in die Gärten hineinleuchtete, die hinter den Spalier-Häusern lagen. Gedankenverloren pfiff ich leise. Little boxes on the hillside, little boxes made of ticky-tacky, little boxes little boxes little boxes all the same. There’s a green one and a pink one, a blue one and a yellow one, and they’re all made out of ticky-tacky and they all look just the same, während ein kleines Mädchen, von Bank zu Bank hüpfend, an einem raketenförmigen Lutscher schleckte, der zu ihren Augen passte und zu ihrem Kleidchen. Die Augen meines Gegenübers weiteten sich, als könnten sie nicht glauben, was sie gerade hörten. Er hätte nicht überraschter aussehen können, wenn ihn zum Beispiel ein kleiner Dackel oder ein Vogel nach dem Weg gefragt hätte.

Eben die, ja, die waren es doch!

Ich freute mich, als er anbot, mir die unbekannte Stadt zu zeigen.

»Nenn die Stadt bloß nicht Frisco!«, klärte er mich auf. »Sag lieber the City, denn das tun alle hier.«

Wir stiegen aus und Toni schaute sich um.

»Der beste und obendrein preisgünstigste Weg, in der Stadt herumzukommen, sind gute Schuhe und die Cable Cars. Komm, wir nehmen gleich die da vorne. Als ich hier wohnte, kostete die Fahrt 50 Cents, mal sehn, wie teuer es heute ist.«

Mit der kleinen Bahn kletterten wir für zwei Dollar, von diesem eigentümlichen metallenen Singen begleitet, den Nob Hill, San Franciscos erster Adresse, hoch, quer durch Chinatown in Richtung Fisherman’s Wharf, vorbei an geschwätzigen Morgengesprächen und eleganten Hotels, Discount Läden und Restaurants mit bunten Pagodendächern, gift expresses und winzigen Nippesläden, San-Francisco-Häuser mit Erkerfenstern, in denen sich ein bewölkter Tag spiegelte. Diszipliniert saßen die Fahrgäste in der zum Bersten gefüllten Bahn, einige hielten sich draußen an beiden Seiten fest. In den Augenwinkeln tauchten rote Drachen auf. Die Japaner fotografierten.

»Chinatown, früher noch mehr als heute, war ein Getto«, sagte Toni sich vorbeugend. »Es war das Symbol der exotischsten Kultur Nordamerikas. Sie benutzten ihre eigene Sprache, regierten sich selbst, lebten, zumeist illegal, mit falschen Papieren, die sie kah-gee nannten, in der Unergründlichkeit ihrer Götterwelt. Und dabei waren ihre Gedanken immer nur nach China, nach Hause, gerichtet; viele wollten zurück, dort wieder leben, in Ruhe und bescheidenem Wohlstand, mit westlich errungenem Geld.

Ich ging gerne zum Portsmouth Square, um im Schatten den alten Herren beim Damespiel zuzusehen oder zu beobachten, wie sie, um 20 Cents zu sparen, in langen Reihen im Schaufenster die Chinese Times lasen. Aber dann kamen die Straßenbanden, die sich gegenseitig umbrachten, und als ein guter Freund von mir starb, ging ich nie wieder hin.

Wie dem auch sei, ihre alte Kultur erodierte immer mehr: Wie du siehst, haben sie sich längst am Baum amerikanischer Opportunität erhängt.«

Wie eine Raupe krochen wir über die Kuppel und sahen Alcatraz – La isla de los Alcatraces – die Insel der Pelikane, mit Angel Island in einem nahezu leeren Meer liegen, das von den Indianern sundown sea genannt wurde. Von nun an ging es steil bergab.

Die Cable Car kreischte. Mittendrin stand ein nahezu kahlköpfiger Mensch. Er war der Herr der Bahn, ein Adliger, mit Muskeln aus gebogenem Eisen. Er war Hermes, Adonis, Hephaistos zugleich, Thor und Wotan. Seine Aufgabe bestand darin, das quietschende Ding ab und zu zum Stehen zu zwingen und die Warnglocke zu betätigen, die in unterschiedlichen Kompositionen ertönte, um Unfällen vorzubeugen. Er war ein Meister seines Fachs, ohne Frage.

»Sie werden gripman genannt«, erklärte Toni, »sie kuppeln, straffen oder lösen eine Zange, die mit Stahltrossen, die die Bahnen ziehen, unter der Erde verbunden sind, und … you’re off.«

Beim Aussteigen, dieser furchtlosen Tätigkeit zwischen Springen und Klettern, rannten wir um Haaresbreite beinahe in einen Blumenstand, der mit wild blühenden Blumen plötzlich vor uns stand. Der kleine Kern von Fisherman’s Wharf, ehemals Werft- und Fischerviertel, war den Weg wert, anderes verkümmerte zu aufdringlichen Ansichtsläden und Kaufhäusern. Doch der hübsche Ausblick auf den alten Hafen entschädigte für den aufgepfropften Rest der Wharf nicht ganz. Inmitten des Trubels knipste ein schmächtiger Japaner eine Gruppe fotografierender Landsleute, die eine Horde von Schwänen ablichtete, die ihrerseits von einer weiteren Schar Japaner fotografiert wurde; später dann das Gruppenbild: Sie lächelten wie bei einer Schönheitskonkurrenz und waren in diesem Moment sehr glücklich. Aus der Ferne warfen sie flüchtige Blicke auf die Golden Gate Bridge und Alcatraz, das, umkreist von zahlreichen Möwen, wie ein abgetrennter Wurmfortsatz jenseits der Kaimauer dahintrieb.

»Während eines Erdbebens, das ich hier erlebt habe, schrie mich meine Frau an: ›Warum sind wir jetzt nicht in Alcatraz, bei diesem Hart oder wie der heißt, warum stecken wir in dieser Bretterbude fest?‹

Und sie hatte in doppeltem Sinne recht, denn The Rock war weit und breit der sicherste Ort. In dem Augenblick hätten wir gerne unsere Leben mit dem Hausmeister und seiner Frau getauscht oder uns nach Zellblock D in die gefürchtete Einzelhaft gewünscht, wo das FBI Legenden wie Al Capone, George ›Machine Gun‹ Kelly und Robert Stroud, dem ›Birdman of Alcatraz‹ einkerkerte.«

Wir kämpften uns durch eine Mauer von Touristen und aßen höllisch scharfe Sachen bei einem kleinen Schwatz im Tarantinos.

»Früher wehte über der Wharf ein Hauch von Mittelmeer, der Atem levantinischer Lebensfreude. Kleine, von Amateurkünstlern bemalte Cafés in weißen Wänden. Dunkelhäutige Fischer, die die Netze zum Trocknen ausbreiteten und dabei sangen wie ein Haufen liebestoller Spanier. Italiener, die in riesigen Töpfen Krabben kochten. Menschen aus der ganzen Stadt kamen an diesen Ort, der um die Mittagszeit voll war wie ein Berber. Wenn du die Atmosphäre wiederfinden willst, lies einfach Die Strandräuber von Stevenson!« Er schwieg mit einem Mal und kämmte sein Haar mit den Fingern nach hinten. »Kurz nachdem ich hierher zog, da war schon vieles nicht mehr so, wie‘s mal war«, erzählte Toni und zeigte auf eine unbestimmte Stelle der Wharf, »machten sie dort aus der alten Schokoladenfabrik ein Shoppingcenter und aus der Obstkonservenfabrik einen Basar. Heute weiß ich, das war der Anfang vom Ende. Schau dich nur mal um. Sie sind den Touristen in den Arsch gekrochen.«

Nach dem Essen begleitete ich den Amerikaner durch ein halbes Dutzend Antikläden von Russian Hill und North Beach, der früheren Heimat der beat generation, die eher Wohnzimmer als merkantile Orte waren.

»Ein paar Straßen weiter«, sagte Toni, »hat Jack Kerouac On the Road geschrieben. Hier lebte lange Jahre Richard Brautigan. Ich liebe seine kurzen Geschichten.«

Toni hoffte, satirische Bilder von Puck zu finden. Für ein Bild mit dem Namen The Pig hätte er, darüber ließ er keine Zweifel aufkommen, seinen kleinen Finger hergegeben. Wir suchten wie wild, aber erfolglos. Es stellte sich im Verlauf der wenigen Stunden mit ihm heraus, dass er leidenschaftlicher Sammler von Rauchwaren war – Experte von Pfeifen, Tabatieren, Aquarellen, Ölbildern, Tabak; alles in historischem Kontext der Nikotinblätter gesehen und in dieser wundersamen Eigenschaft vom Radiosender eingeladen worden. Er selbst rauchte nicht.

Am Nachmittag bemühte Toni die Hand aus seiner Tasche, gab sie mir und war bald im Gewirr der Columbus Avenue Chinatowns nur noch ein Punkt unter vielen. Ich spazierte hoch zum North Point, an dem ein anderer kräftiger Schaffner Cable Car mit lautem Gequietsche in die Richtung drehte, in die ich wollte, zurück zur Mission, an heruntergekommenen Häusern und gepflegten Straßenkreuzern vorbei und weiter zum Flughafen. Wiederum vermählte sich reine Muskelkraft mit der Nervenstärke abgezockter Pokerrunden.

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