Tanger
© Willi Schnitzler
Von fern scheint Tanger eine weitere der vielen andalusischen Städte zu sein, die ich bereist habe, und ich weiß, dass nicht wenige aus Granada hier ihre zweite Heimat hatten.
Die gekalkten Wände der Häuser verstärken die schreiende Helligkeit.
Ein Minarett überragt die Stadt. Betulich nähern wir uns dem Hafen und passieren ein einsames Fischerboot, das leckt und einen Mann zwingt, mit bloßen Händen hin und wieder Wasser aus dem Bug ins Meer zu schaufeln. Doch kaum hat die Fähre angelegt, sind die Neugierigen einer nach dem anderen über die eisernen Treppchen nach unten verschwunden und drängeln sich mit den Übrigen um eine geschlossene Tür, die den Weg nach draußen bedeutet. Es ist wie ein Unwetter von Stimmen, das ringsum tobt.
Während ich langsam in der Schlange vorrücke und den Rücken der hölzernen Gangway hinuntergehe, weiß ich, dass ich eine Grenze überschritten habe. Andalusiens liebliches Gesicht sehe ich in einer Traube winkender Arme verschwinden. Ich höre eine neue Sprache, ich rieche vom Wind herbeigeschafften Fisch, ich schmecke eine feine Trockenheit auf meiner Zunge. In einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel stehen Polizisten, Wartende und, wie sich herausstellt, eine erkleckliche Anzahl von Führern, die mit Affenneugier die Ankömmlinge taxieren.
„Wo ist dein Gepäck?“, fragt mich ein Mann stirnrunzelnd.
„Ich reise mit leichtem Gepäck wie der heilige Hieronymus!“, entgegne ich und denke dabei an das, was ein deutscher Reisender zu Beginn des vorigen Jahrhunderts sagte: „Das ideale Reisegepäck wäre ein Zahnbürstchen im Knopfloch. Jedenfalls genügen zwei mittlere Kupeekoffer für eine Weltreise. Über großes Gepäck freuen sich nur Träger, Schimmelpilze und Motten. Vergiss lieber die Lackschuhe einzupacken, als Chinin und Rizinusöl.“
„Du hast kein Gepäck?“, fragt er stirnrunzelnd ein zweites Mal.
„Nicht, dass ich wüsste!“
Er lächelt verständnislos und zuckt die Achseln.
Seine Nase nah bei meinem Gesicht, seine Hand auf meiner Schulter, seine Worte nah bei meinem Mund – das alles tut er mit einer Vertraulichkeit, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Dabei lächelt er so lange, bis ihm sein Ledergesicht weh tut und gefriert. Es ist heiß und ich schwitze schon nach wenigen Metern, während das Straßenpflaster unter meinen Sohlen brennt und mein neuer Freund nebenbei erwähnt, dass er aus purer Menschenfreundschaft mich jetzt begleite. Er kenne das alte Continental – wo ich vorhabe zu übernachten – gut: ein ausgezeichnetes Hotel, ein Hotel mit Geschichte; er bringe mich dorthin, auf dem kürzesten Weg, in Windeseile, kein Problem.
Kein Geld!
Keine Verpflichtung!
Er weiß, dass er, nach wenigen Schritten schon, sein Ziel erreicht hat. Sein Tonfall suggeriert Vertrauen und Bescheidenheit, Sicherheit und grenzenlosen Optimismus. Sein Gesichtsausdruck sagt es mir und der Welt, die schließlich ablässt, auch an mich heranzukommen. Ließe ich ihn stehen, wenn das überhaupt möglich wäre, käme ein anderer, das weiß er gut genug und ich begreife es allmählich.
Von nun an liegt ein Halsband um meinem Hals, an dem eine unsichtbare Schnur befestigt ist.
Ich folge Hadj (sprich: Hadschi) zum Hotel, das stolz und erhaben auf einer Anhöhe steht. Kein Wunder, denn Tangier, wie die Leute die Stadt in ihrer Zunge nennen, ist an einen Berg gebaut. Um die Mittagszeit stehen überall schmutzige Menschen herum. Sie plaudern oder starren nur stur aufs Meer, manche schlafen sitzend mit untergeschlagenen Beinen, andere liegen ausgestreckt auf staubigem Asphalt.
Ich verabrede mich mit Hadj für den nächsten Morgen, nachdem er eilends nach einer kleinen Verbeugung verschwindet. Er wird mir die Medina zeigen, nicht mehr und nicht weniger.
Gegen Geld!
Gegen Verpflichtung!
„Suchen Sie sich aus den restlichen achtunddreißig Zimmern das passende aus, denn sechs sind schon besetzt“, sagt der Portier, ein Mann mit unrasiertem Gesicht und der Wampe eines Bettelmönchs.
Als ich den kleinen Balkon betrete, laufe ich einer Australierin und einer Engländerin in die Arme, die nebenan hocken.
„Wir sind seit zwei Tagen hier in Tangier, aber das reicht, wir haben die Nase voll! Man kann abends einfach nichts außerhalb des Hotels unternehmen, das ist zu nervtötend und zu gefährlich.
Moustached men in every nook and cranny.
Morgen fahren wir in der Früh die Küste entlang Richtung Rabat und Casablanca.“
„Mir ist nach Schnaps, wenn ich das ganze Elend sehe“, fügt die hübschere der beiden noch hinzu, während sie mit vollen Backen ihr Sandwich kaut.
„Einen Genever, wie die Holländer ihn brennen. Ja, einen Schnaps bräuchte ich jetzt, einen Schnaps aus Holland.
Du hast nicht zufällig ...“
„Nein!“, sage ich und zucke die Achseln.
„Trink bloß kein Leitungswasser“, rät sie mir noch, „oder nimm den Durchfall so hin, wie er kommt. Sue kann ein Lied davon singen.“
Doch endlich ist es so weit. Benommen wage ich die ersten Schritte in die unbekannte Welt da draußen und muss schon nach wenigen Augenblicken feststellen, dass ich so viel Schmutz, so viele fertige Typen, so viel Armut nirgendwo sonst gesehen habe. Augenblicklich verstehe ich jene Leute, die Tanger mit dem hinteren Ende eines Flurs vergleichen, der von einer nachlässigen Hausfrau gereinigt wird, die den Kehricht aber dort liegen lässt. Neugierig laufe ich Treppen hinunter in das unvermutete Zickzack zwielichtiger Gassen hinein, in deren Ecken kleine Staubwirbel tanzen, und, weil mich der Mut zu verlassen beginnt, hätte ich doch am liebsten auf der Stelle wieder kehrt gemacht, um in den sicheren Schoß des Hotels zurückzukehren. Beinahe wäre ich über den Kadaver einer Katze gestolpert, der wie ein kleiner schlafender Wicht mitten in einer Gasse liegt. Wie eine Windmühle, die sich nicht mehr dreht, sitzt abseits ein Greis, durch zwei fehlende Beine zum Nichtstun gezwungen, die Hände im Schoß gefaltet, als bete er. Seine grauen Haare sind wie ein Hufeisen an den Kopf genagelt.
Eine Ecke weiter ein Café mit weißen quadratischen Kacheln, ein paar Tische, ein paar Stühle, Männer, die Zeitung lesen, und davor Stände voller Fladenbrote. Und davor ein auf einem gewöhnlichen Einrad sitzender Scherenschleifer, der furchtbar dreckig ist und zwei Pedale mit seinen nackten Füßen bedient, sodass oben die Funken sprühen. Zwei Männer mit mindestens drei leeren geschulterten Kisten laufen an uns vorbei, laufen an den Händlern vorbei, die in grünem und rotem Gemüse und polierten Früchten hocken und ihnen nachblicken. Auf einem kleinen Platz vor dem grünen Tor einer Moschee spielt eine Gruppe Musiker. Einer hüpft von einem Bein auf das andere, was ansteckend wirkt, denn die beiden anderen tun es ihm gleich und bald darauf wirbeln sie herum wie tanzende Flammen. Trommeln und Trompeten und springende Beine und der näselnde Gesang aus heiseren Kehlen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, nennen sie sich Shuruq und spielen normalerweise zu Hochzeiten auf. Ständig werde ich angesprochen, ob ich einen Führer wünsche, ob ich Zigaretten, ob ich Haschisch kaufen wolle, Haschisch oder kif, eine Art Brennnessel aus den Feldern des nahen Rif-Gebirges, oder solche Sachen, ob ich etwas anderes benötige.
Ein Polizist mit einem Schnurrbart ausgestattet, der aussieht wie ein schwarzes Eichhörnchen, das sich von einem Park in sein Gesicht verlaufen hat, steht einen Kugelstoßwurf weiter an einer Ecke und scheint andere Vorlieben zu haben. Er raucht und schwatzt mit einem gestrengen Mann, der ihn um Haupteslänge überragt.
Plötzlich riecht es nach Essen, gekocht auf offenem Feuer. Ein öffentlicher Brunnen mit abblätternder gekachelter Wölbung tröpfelt in einer Nische, ein Mann wäscht sein Gesicht, benetzt seinen Turban und füllt seinen Schlauch aus Ziegenleder mit dem klaren Wasser.
Ich gehe in ein Friseurgeschäft und lasse mir von dem bärtigen Gesellen die Haare schneiden. Wie der Kunde sieht sich auch der eingeschaltete kleine Fernseher in dem großen Spiegel vor den Tuben und Sprays und Pasten und Werkzeugen. Zwei Diplome, das Portrait des Königs, ein paar wenige Beispiele von möglichen Haarschnitten und eine Uhr an einem breiten ledernen Riemen hängen links an der Wand, während ein Philodendron unbemerkt Millimeter um Millimeter weiterkriecht. Der Genauigkeit zuliebe will ich das hier erwähnen, auch wenn es keine Rolle spielt und ich sicher kein zweites Mal auf dem speckigen, in alle Richtungen verstellbaren Frisierstuhl Platz nehmen werde. Legenden verbreiten sich schneller als ein Buschbrand, denn der Kunde rechts neben mir behauptet, man habe angeblich einen unterirdischen Tunnel gefunden, der in der Antike Europa mit Afrika verband.
„Ich habe gehört, es soll einen Tunnel geben, der vom Grand Socco bis zum Meer führt“, sagt der Inhaber des Ladens in dem Augenblick, als er das scharfe Messer nimmt und anfängt, den Nacken des stark Behaarten auszurasieren. Er hat ein weißes Cape umhängen, meines ist blau.
„Ja, das stimmt. In der Nähe der Post, unterhalb einer Villa. Da gibt es einen sehr alten Tunnel.“
„Ganz Tanger ist ein einziger Tunnel.“
„Man sagt, er stamme noch aus der römischen Zeit.“
„Man denke nur an die Phönizier.“
„Hast du ihn gesehen?“
„Keiner weiß, ob es der Wahrheit entspricht!“
„Aber viele behaupten es.“
„Wenn es einmal gesagt wurde, dann wird es wohl auch stimmen!“
„Man sagt, der Tunnel reiche bis nach Andalusien.“
„Ich weiß nicht, ob das stimmt!“
Der Friseur lacht und sein Kunde auch. Mittlerweile nimmt mir der Gehilfe das Cape von den Schultern, was wohl bedeutet, dass ich fertig bin …
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