Marrakesch

© Willi Schnitzler     

Marrakesch, einst Mittelpunkt von Kunst und Lehre und die große Hauptstadt des alten Marokkos, wurde von alten arabischen Chronisten Mraksch, d. h. „die Stadt“, genannt. El amara, die Rote, war über lange Jahre die südliche Rivalin von Fès, und, wie der Name schon andeutet, eine Metropole aus Sand, Erde und Lehm.

Unterwegs MarrakeschUnd all jene, die kamen, Globetrotter, Reisende, Abenteuerlustige, all jene trugen das erregende Bild einer verzauberten Stadt in die Träume und die Sensationslust der Welt.

Winston Churchill, der in Marrakesch gelegentlich seine der Malerei gewidmeten Ferien verbrachte – auf Dutzenden von Leinwänden hat er die rote Erde, den tiefblauen Himmel und das schneebedeckte Atlasgebirge eingefangen – und hier im wohl berühmtesten Hotel Afrikas, dem legendären Mamounia, am Ende seiner Tage seine Memoiren schrieb, nannte die Stadt „Paris der Sahara“. Vom neomaurischen Reiz des Mamounia-Palasts war Alfred Hitchcock derart angetan, dass er dort, verlässlichen Quellen nach zu urteilen, Teile des Films „Der Mann, der zu viel wusste“ drehte und damit dem Hotel einen kleinen Platz in der Geschichte sicherte. Ganz gewiss hätte das Paar, welches das Kind entführte, in einer anderen Umgebung nicht die gleiche Rolle spielen können, ganz gewiss wären die Verfolgungsjagden in den Gassen der Medina in einem anderen Labyrinth nicht so authentisch gewesen.

Halb Marrakesch ist angetreten, uns zu empfangen. Ich vermute, dass es halb Marrakesch ist, da ich in dieser unaussprechlichen Abgaswolke kaum etwas ausmachen kann, die mehr oder weniger die Konsistenz einer schlecht gemachten Sauce Hollandaise hat. Es scheint sich mit der Geschwindigkeit eines Lauffeuers herumzusprechen, dass ich angekommen bin, denn schon bin ich von einer munteren Schar Menschen umringt, die sich mächtig freut, mich zu sehen und in prahlerischer Überheblichkeit etwas für mich tun will. Sie kommen mir so nah, dass ich ihre Falten, ihre Augenringe sehe, ihren Körpergeruch wahrnehme, ihre Aufdringlichkeit greifbar spüre.

So gut es geht strecke ich mich, um die Steifheit der Busfahrt abzuschütteln; meine Schulter knackt wie ein kleiner brechender Zweig. Es scheint in Marokko kaum möglich, irgendetwas zu tun, ohne dass ein Straßenjunge davon Notiz nähme, der dann mit nachgeahmter Großtuerei schier alles in die Wege leiten kann. Man sieht sie überall und wenn man sie einmal nicht sieht, ist damit keinesfalls gesagt, dass sie nicht in der Nähe wären. Man braucht nur den Hauch einer Frage oder eine noch so winzige Unsicherheit im Gesicht zu tragen, sofort sind sie da. Ich winde mich zaghaft aus diesem Knäuel Mensch heraus, doch vergebens, denn niemand sonst kann als Opfer herhalten. Angesichts der vermuteten Verfolger gerate ich stolpernd in eine Gasse, blicke mich nicht um, starre stur geradeaus und sehe in den Augenwinkeln einen Mann, der einen Esel mit dem Schlauch abspritzt. Ich komme in eine zweite, eine dritte Gasse, ehe ich bemerke, dass mir ein junger Bursche dicht auf den Fersen geblieben ist, der sich nicht abschütteln lässt und für den sich jede Mutter einer heiratsfähigen Tochter auf den ersten Blick erwärmen würde. Um mich besser in Augenschein nehmen zu können, rückt er immer näher und ich spüre, wie meiner Gereiztheit Flügel wachsen. Ich will weg hier, denke ich, und zwar sehr. Ich drehe mich um, sehe in das jungenhafte Gesicht und höre ihn denken:

„Er sieht aus wie ein reicher Mann, er ist weiß wie ein reicher Mann, er ist sauber wie ein reicher Mann, er trägt eine Tasche wie ein reicher Mann – Allah, ich will verdammt sein, wenn der kein reicher Mann ist!“

In seinem Kopf überstützen sich die Gedanken, seit er mich gesehen hat. In verzeihlicher Ermangelung meines Curriculum vitae wandert sein Blick zwischen meinem Gepäck und meinen Schuhen hin und her, bald sind seine Augen auf meine Hände geheftet und bleiben an meiner alten Armbanduhr haften, bald auf meine rechte Hosentasche, die etwas voller erscheint als die linke, und ich sehe, wie er noch weitere Verdienstmöglichkeiten erwägt. Das Ganze hat etwas von einem Bordellbesuch. Beseelt vom schier unendlichen Glück lächelt er. Doch kann ich es ihm verdenken, immerhin gibt der deutsche Tourist für seinen Urlaub fast doppelt so viel aus wie der marokkanische Arbeiter in zwei Jahren verdient.

„Du bezahlst, was du willst!“, höre ich nicht zum erstenmal.
„Ich kann dir Haschisch besorgen, Alkohol, junge Mädchen. Ich dein Freund!“, keucht er zunächst in Englisch, dann in Spanisch und Deutsch, weil er sich offenbar immer noch nicht sicher ist, welcher Nation ich angehöre.

Geschickt ist es ihm gelungen, mich in eine Gasse abzudrängen, die er seit meiner Ankunft im Auge hat, und zeigt mir eine Kaschemme der Medina, die wir über eine steile wurmstichige Treppe erklimmen; es stinkt, als hätte jemand in dem schäbigen, halb unter Wasser stehenden Flur Kot verschmiert. Das Haus wäre kompliziert genug für ein Labyrinth gewesen und selbst der tüchtigste Polizist müsste verzweifeln, suchte er darin nach einem Verbrecher. Ist da unten überhaupt eine Tür gewesen? Die Luft ist so dick und dicht, dass man sie fast wie Watte zusammendrücken könnte. Als ich zögernd einen Blick in das mir zugedachte Zimmer werfen kann, aus dem mich der schlechte Atem eines Kranken entgegenschlägt, nehme ich sogleich Reißaus, da ich vier der fünf Insekten, die mit mir hier wohnen sollen, nicht einmal vom Sehen kenne, geschweige denn weiß, wie die Viecher heißen. Nachdem ich zurück in den Flur gestürmt bin, fällt mir auf, dass die Toilette, die in einer schummrigen Ecke des Zimmer steht, keinen Sitz mehr hat. Ein anderer Knabe, der unten im Eingang gesessen und an etwas gegessen hatte, das so unappetitlich wie Dosenravioli aussieht, hat bei unserem Betreten des Hauses alles stehen und liegen gelassen, ist in unserem Schlepptau die Treppe emporgeklettert, hat meinem ungebetenen Führer einen kurzen Blick zugeworfen, hat die Kakerlake gesehen und die anderen Tiere, die Toilette und das Bild des Monarchen, was eine drückende Feuchtigkeit ohne Rücksicht auf Amt und Würde des Königs gewellt hat. Wenn mir auch nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre, Mutter Natur zu kritisieren, so bin ich doch geneigt, um Himmels willen zu rufen, denn seine Gestalt spottet den simpelsten anatomischen Gesetzen. Ich bin überrascht, wie wunderbar ausdruckslos seine blauen Augen sind, die entweder idiotischen oder himmlischen Ursprungs sind, und froh, nicht zu wissen, welche Gedanken im Moment durch seine Ganglien streifen. In dem Moment bemerke ich erst, wie seltsam kühl es in den Wänden dieses Burschen war, der uns aus Langeweile und obendrein mit einem Messer bewaffnet ein Stück folgt.

Ich werde mir anderswo eine Bleibe suchen müssen und tue das auch. Die Stadt riecht nach den weißen Blüten der Orangenbäume, die überall Spalier stehen. Oder sind es Jasminblüten? In den alten marokkanischen Glaubensvorstellungen empfinden die Bäume menschliche Gefühle und eine Dattelpalme, die ihre Wedel einer anderen zuneigt, gilt als verliebt. Ich mag auf Anhieb, nach den vorwiegend kleinen Gassen der Städte, die ich bislang sah, die Weite Marrakeschs. Ein ewiger Garten. Parks über Parks. Alleen über Alleen. Zypressen und Palmen und kleine Bäumchen, die kugelrund geschnitten sind. Blickt man die Avenue Mohammed V. hinunter Richtung mellah und kasbah, liegen die drei- bis viertausend Meter hohen Berge des Hohen Atlas auf der Straße, ihre Stirnen, weiß vom Schnee, graben sich in eine tiefblaue Unendlichkeit. Zwischen den Ausläufern der Stadt und den Bergen liegen Teppiche von Weizenfeldern, Olivenhaine, Obstgärten, Minze und Luzerne.

Der Muezzin weckt mich mit seiner Leierstimme. Es gibt Tage, an denen sich das Aufstehen lohnt.
Es ist ein vollkommen blauer Tag. Blau der Himmel. Blau der Schein hinten den Bougainvilleen. Blau die Veilchen in den Blumenbeeten. Blau die Emissionen der vorbeirauschenden Mopeds. Blau mein Hemd. Und während sich der Duft der Baumblüten mit den Autoabgasen mengt, gehe ich zum Bahnhof, kaufe ein Billett für die Rückfahrt und schlendere durch eine Palmen gesäumte Allee bedächtig Richtung Süden. Es ist ein angenehmer Spaziergang. Hier treffe ich auf eine Horde geparkter Dromedare, die trotz ihres Rufs nicht reizbar und bösartig sind, wenn sie sich nicht gerade in der Zeit der Brunft befinden, und vor der mächtigen Befestigungsmauer gesattelt auf Touristen warten. Mehari heißen jene, die als Reittiere dienen. Stoisch stehen sie da oder haben sich, unbeeindruckt von knatternden Mofas oder explodierenden Auspuffrohren, auf ihren Knien niedergelassen. Männer aus dem Atlasgebirge mit Gerten in der Hand und Turbans auf dem Kopf hocken wie ungemachte Betten unter schattenspendenden Bäumen. Der sandige Wind hat ihnen die Lippen wund gebissen, die Gesichter geledert und die Augen gequält. Sie haben keinen Blick mehr für die elf Kilometer lange, mächtige Stadtmauer, aus rostroter tabiya, einem Gemisch aus Sand und Kalk, die Anfang des zwölften Jahrhunderts eine Einfriedung aus Dornbüschen ersetzte, welche das erste Almoraviden-Lager schützte, keinen Blick mehr für die zehn Tore und zweihundert Türme. Winde mich durch die kasbah zum Palais Royal, bleibe jedoch nicht lange, da es mich nicht interessiert.

Trete durch ein Tor ins alte Judenviertel, das wie andernorts ärmlich und ungepflegt ist, ein sichtbarer Ausdruck jüdischer Armut; hier trägt die Stadt ihre Sorgenfalten ganz offen.

Man mag erstaunt darüber sein, dass die älteste unter den in Marokko vertretenen Religionen die jüdische ist. Die ersten Juden kamen in römischer Zeit, schlossen sich Berbern an, die in der Regel Handwerker waren. Mit Hingabe ist die flinke Schere eines Barbier damit beschäftigt, einen Bart, der so lang ist wie ein Unterarm und eine haarige Brust bedeckt, auf Vordermann zu bringen. Anderswo werden Kohlen verkauft und etwas, das wie Heuschrecken aussieht. Der Verkäufer wischt sich mit einem fleckigen Lappen über die Stirn und lächelt, sodass man seine schwarzen Zahnstümpfe sehen kann, während der junge Bursche, der neben ihm sitzt, vor Langeweile in der Nase bohrt. Entlang der Straße werden Stoffe bearbeitet und verkauft, auf Messingteile eingeschlagen und Reifen mit tiefen Rissen vulkanisiert. Schwarze Käppchen behüten schwarzhaarige Häupter, die alle Bärte tragen. Die Läden sind sehr klein und schmutzig, aus denen Blicke schießen, denen kein Passant entgeht, in keinem Fall feindselig, nein, eher gleichgültig, intelligent. In ihrem Rücken liegt im Dunkeln das Geheimnis ihres Tuns, wenn nicht schon Faden oder Hammer ihre Arbeit verraten. Jeder Laden umschließt sie wie ein Kokon mit gänzlich unbekannten Geräten an den Wänden. Es ist wie in einer Hutschachtel. Abenteuerlich aussehende Stromleitungen verbinden die Häuserquader, vor denen verloren kleine, wie durch ein Wunder leben gebliebene Bäumchen wachsen, unter denen gelegentlich jemand vorbeieilt, den Buckel voll armseliger Habseligkeiten. Jemand, der alte Säcke ausbessert, ruft ein paar Worte über die Straße. Ohne Resonanz, auch wenn verstohlen das Gesicht einer Frau aus einer angelehnten Tür herausspäht, aber genauso schnell wieder verschwindet. Über eine Zapfsäule ist ein Sonnenschirm gespannt, daneben liegen bestimmt fünf Mofas übereinander. Gleich daneben bietet ein sehr alter Mann zwei Orangen zum Verkauf an, die vor ihm fein säuberlich im Dreck liegen. Er ist walnussbraun und hat den krummen Wuchs eines zur Sonne geneigten Feigenbaums …

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