Blumenpflücken während der Fahrt verboten
© Willi Schnitzler
Während ich langsam in der Schlange vorrücke und den Rücken der hölzernen Gangway hinuntergehe, weiß ich, dass ich eine Grenze überschritten habe. Ich höre eine neue Sprache, ich rieche vom Wind herbeigeschafften Fisch, ich schmecke eine feine Trockenheit auf meiner Zunge. In einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel stehen Polizisten, Wartende und – wie sich herausstellt – eine erkleckliche Anzahl von Führern, die mit Affenneugier die Ankömmlinge taxieren. Nur ein alter, auf dem Hosenboden etwas abseits sitzender Mann scheint sich widerstandslos in sein Schicksal gefügt zu haben, er merkt, dass er gegen die Jugend keine Chance mehr hat. Eine Gebetskette gleitet unmerklich durch seine Finger, während er sich mit geschlossenen Augen von der Sonne bescheinen lässt. – Und dann, als sich die Holzrippen unter meinen Füßen auflösen und ich afrikanischen Boden betrete, schält sich aus der Menge ein Mann in gestreifter, togaähnlicher Djellaba, die beim Gehen raschelt und lose an ihm hängt wie ein Wäschestück auf der Leine, und heftet sich an meine Fersen. Was ich auch anstelle, er ist nicht abzuschütteln. Der lebende Beweis, dass eine Klette nicht nur pflanzlich sein oder aus irgendeiner anderen botanischen Ecke stammen muss. Und während seine staubigen, abgenutzten Babouches aus weichem gelbem Leder neben mir herschlurfen, redet er pausenlos auf mich ein.
»Wo ist dein Gepäck?«, erkundigt er sich stirnrunzelnd.
»Ich reise mit leichtem Gepäck wie der heilige Hieronymus!«, entgegne ich. Vor Antritt jeder Reise erinnere ich mich daran, was ein deutscher Reisender zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gesagt hat: »Das ideale Reisegepäck wäre ein Zahnbürstchen im Knopfloch. Jedenfalls genügen zwei mittlere Kupeekoffer für eine Weltreise. Über großes Gepäck freuen sich nur Träger, Schimmelpilze und Motten. Vergiss lieber die Lackschuhe einzupacken als Chinin und Rizinusöl.«
»Du hast kein Gepäck?«, fragt er nun ein zweites Mal.
»Nicht dass ich wüsste!«
Blickt man in seine Augen, hat man den Eindruck, als würde er die Antwort nicht lange schuldig bleiben. Doch der eher kleine als große Mann lächelt kurz verständnislos und zuckt die Achseln. So einer ist ihm vermutlich noch nicht über den Weg gelaufen. Er steckt sich eine Kippe zwischen die Lippen; vertieft in die Betrachtung seiner Babouches geht er weiter.
Manchmal führe ich nur das Notwendigste mit, weil ich wieder einmal von der Liebe enttäuscht worden und Hals über Kopf davongerannt bin, um mich überraschenderweise irgendwo in einem Flughafen, einem Bahnhof oder einem Schiffsableger wiederzufinden. Der Typ, im Nebel des Alkohols Vergessenheit zu finden, bin ich nicht, auch wenn manche Tage vielleicht im Schatten liegen mögen. Da schließe ich mich lieber Maugham an, der es folgendermaßen ausgedrückt hat: »Wenn ich an den Schmerzen unerwiderter Liebe litt, dann habe ich unverzüglich einen Ozeandampfer bestiegen.«
Nun, so geht es mir hin und wieder auch. Und in diesen Fällen denke ich, besser auf Reisen zu gehen, um mich da zumindest auf der sicheren Seite zu wähnen und den Tagen, Wochen oder Monaten wenigstens die Illusion von Sinn zu geben.
»Die trigonometrischen Funktionen sind nichts dagegen«, sagte ich einmal zu einer Freundin, als mich wieder der Blues gepackt hatte und ich vor der unverständlichen Entscheidung einer Frau stand und nicht weiterwusste.
»Wundert dich das?«, hatte sie geantwortet, ohne auch nur kurz mit ihren schwarz getuschten Wimpern zu zucken, und die Sache, ganz gegen ihre Gewohnheit, mit der knappen Antwort auf sich beruhen lassen.
Und während ich einigermaßen wohlauf in vermieften Bussen fahre, womöglich sogar mit einem fremden Kopf auf meiner Schulter, und draußen auf der staubigen Straße ein Eselchen seinen Weg dahintrotten sehe, ja spätestens dann ist mein Liebeskummer wie verflogen, zumindest kurzzeitig. – Nun sosehr ich mich bemühe, gelegentlich suchen mich liebeskranke Gedanken doch wieder heim, vornehmlich, so muss ich gestehen, erneut in überquellenden Bussen, aber auch in schaukelnden Booten und dahinratternden Zügen oder, wie damals, in einem Café in Fès, Marokko. Da war so ein Moment, an dem ich mir wünschte, mich jemandem mitteilen zu können, und ich nahm mir vor, einen langen Brief zu schreiben. Ich dachte an eine bestimmte Frau. Von Mohammed wollte ich ihr berichten, von dem, was ich an dem Tag erlebt hatte, von der Taxifahrt, von eingesalzenen Köpfen, von dem Park mit dem seltsamen Namen, von Babs und Dars und Hamams, von Kaffeehäusern und Teestuben, von Qiblas und Mihrabs, vom Gedränge der Souks, von Wohlgerüchen und Gestank, von schlafenden Zuckerbäckern und essenden Tierhautabziehern. Von einer Djellaba hätte ich ihr erzählt, die man mir angedreht hatte, obwohl ich glaubte, standfest sein zu können gegen jede Art von Krämertum. Aber Pustekuchen!
Vielleicht wollte ich ihr auch die Lust und meine gelegentliche Verzweiflung spüren lassen, die ich bei meinen Reisen empfinde. Oder meine Rastlosigkeit, die hin und wieder besonders halsstarrig ist. Und das pochende Herz natürlich, weil ich in den seltensten Fällen weiß, was am Ende des Wegs auf mich wartet.