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Land der langen weißen Wolke

Leseprobe     
© Willi Schnitzler     

Land der langen weißen Wolke. ReiseromanDie Südinsel Neuseelands war gerade aus dem versteinerten Kanu Mauis entstanden, da zog Tu-te-Rakiwhanoa, ein Maori-Gott, die Westküste entlang und schlug mit einer gewaltigen Axt Kerben ins Land. Da er jedoch wenig Erfahrung mit diesem scharfen Werkzeug hatte, fielen die durch die Hiebe hervorgerufenen Einschnitte sehr ungleichmäßig aus. Erst als er zum Milford Sound kam, konnte er einigermaßen mit seiner Arbeit zufrieden sein; die Kerben gelangen nun besser. Während Tu-te-Rakiwhanoa sich ausruhte, kam die Erdmutter herbei und überredete ihn, am Ende des Sunds eine ebene Fläche zu schaffen. Doch auch die Göttin des Todes, Te Hinu-nui-te-po, erschien. Da sie von den Wunderwerken des Schnitzers derart begeistert war und den Anblick des Fjordlandes mit niemandem teilen wollte, schuf die Tochter Tanes nach einer Legende die riesige Te Namu und viele andere Lebewesen, die all jene von diesem Ort fernhalten sollten, die, wie sie, von diesem Land des Wassers, des Regens, der Fjorde, der Farne, der Wasserfälle, der Katarakte und der Seen angezogen wurden.

Es war später Nachmittag, als ich auf den Gedanken kam, mir das Fjordland aus der Luft anzusehen. Kurz vor Geschäftsschluss bekam ich noch einen Platz in der Cessna, die abseits auf dem kleinen Flugplatz stand, auf den Fjord hinausblickte und den Bergen den Rücken kehrte. Ich hatte Glück gewissermaßen als Kopilot, auf dem einzigen freien Sitz der letzten Maschine des Tages mitfliegen zu dürfen. Jules war unser Pilot, den ich kurz vor dem Einsteigen nach dem Namen des Läufers fragte, nachdem wir uns eine Weile über seine Maschine unterhalten hatten. Doch er zuckte nur mit den Schultern, wollte statt dessen aber wissen, ob das „Salambo“ auf der Hamburger Reeperbahn noch existiere. Behängt mit Goldringen und -reifen, saßen in meinem Rücken zwei mit aufwändiger Fotoausrüstung ausgestattete Ehepaare. Zunächst hörte ich auf ihre amerikanischen Stimmen, bis ich sie sehr bald im Spektakel der Rotoren verlor und einen Kopfhörer aufgesetzt bekam.

Der Flug hatte eine knappe Dreiviertelstunde gedauert, als wir in Te Anau landeten und die Amerikaner in ihr Hotel gingen. 

Herbst in Te Anau

Eine solche Menge kostbarer Landschaft mit so wenig Menschen darin hatte ich so gut wie noch nie gesehen. Von oben funkelte das Land smaragdgrün und die Sonne brach sich launisch in den tiefblauen ruhigen Wassern. Schimmernde Katarakte, Kessel, Abgründe, Skulpturen aus Stein und Eis. Die Seelen von Gaudi, Dali, Nolde und Braque waren zu ihrem Ursprung zurückgekehrt. Captain Cook schrieb, nachdem er das Fjordland von See aus erblickte, dass „die Berge im Inland, so weit das Auge reicht, so dicht beisammenstehen, als wollten sie keine Täler zwischen sich dulden“.

Das Land warf tiefe Falten: von den Gletschern der Eiszeiten ausgeschürfte Fjorde, von der Kraft der Natur gemeißelt, gehobelt, geschnitzt, zerrissen. Mit einem Krach, der in den Ohren widerhallte, überflogen wir im Schritt-Tempo Neuseelands größten Nationalpark, beunruhigend in der Wirkung wie die Sphinx, schön und geheimnisvoll. Als ich durch die matten Fenster herabblickte, wusste ich im nächsten Moment, dass ich die Schönheit dieser Landschaft mein Leben lang nicht mehr würde vergessen können. Weit unter uns, wo der Süden auf den Fjordland National Park traf, lag die bislang wildeste Landschaft: Schluchten und schier undurchdringlicher Wald, hemmungslose Wasserfälle und erdrückende Einsamkeit. Mein Herz schrie hinaus in den Rotorenlärm, glühte in gefangener Brust, machte ein Spektakel wie damals, als ich zum ersten Mal das Meer sah und vor Freude über die mannshohen Wellen in die Hände geklatscht hatte; und empfand wieder einmal dieses Gefühl von Ehrfurcht, Ehrfurcht vor diesem gefalteten, grünen, scharfkantigen Land. Ehrfurcht und Achtung. Die Bäume und Seen dort unten hatten gewiss seit Jahrhunderten keine Veränderung erlebt.

Bis auf die gelegentlichen Flugzeuggeräusche, einem verirrten Schuss oder vorüberziehenden Gewittern waren die täglichen Geräusche des Fjordlandes immer gleich. Aus der Vogelperspektive war nicht das geringste Zeichen menschlichen Lebens zu erkennen, während an den steilen Hängen von der Sonne in Moosgrün verwandelte Laubbäume emporkletterten und unten in den tiefen Tälern sich gewundene Flüsse schlangenartig ihren Weg bahnten. Bisweilen waren glasklare Bergseen zu erkennen, die wir ohne Eile überflogen. Jules flog nahe an den Quecksilberadern der alten Berggesichter vorbei und ich vermisste das Schild „Blumenpflücken während der Fahrt verboten“, das früher auf der Bahnstrecke zwischen meinem Heimatort und der nächsten Station gestanden hatte, und hoffte, dass sich hier noch sehr lange sehr wenig verändern würde.

Unsere Füße streiften sanft die Wipfel der mächtigen Berge. Aufgeschreckte Vögel, die ihre Namen ärgerlich hinausposaunten, stoben mit kurzen hektischen Flügelschlägen auf. Tief unten streckten die dichtbelaubten Baumwipfel ihre Bubiköpfe in den Himmel und ein Fluss, der kreuz und quer durch das Land floss, folgte seinem Schicksal. Von seltener Schönheit waren die auf verschiedenen Ebenen liegenden Seen, die so ruhig in der späten Nachmittagssonne lagen, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Einige sahen aus, als füllten sie einen gigantischen Zahn, bei dem an einer porösen Stelle ein Hunderte von Metern niederprasselnder Wasserfall wie schweres Quecksilber den Weg in eine pflanzlichere Welt suchte. Die Sutherland Falls, die wie tausend Pauken auf die Erde donnerten, stürzten in Stufen aus dem Lake Quill in den tiefen bewaldeten Talgrund.

Der Flug führte weiter über wilde Schluchten zu einem breiten Kamm.
„Das ist der McKinnon-Pass“, schrie Jules nach hinten.

Wolken über dem McKinnon Pass

Es war eine Rhapsodie in Gelb und Gold. Gar nicht wählerisch suchte an der Kammlinie entlang ein gewundener sandgelber Pfad seinen Weg geradewegs auf eine Hütte zu, die zum Milford Track gehörte, einer dreitägigen Bergwanderung. Ich vermutete, dass es sich hierbei um Glade House handeln könnte, war mir aber nicht sicher. Auf den Berggipfeln erschienen dicke Schneeplatten, was Jules bewog, die Cessna höher zu ziehen, um über eine scheinbar undurchdringliche Wolkendecke zu fliegen. Dann und wann lugte spitzbübisch der kantige Kopf eines Berges aus den treibenden Wolken wie bei einer priesterlichen Tonsur hervor und ich hatte das Gefühl, aussteigen und auf dem wollenen Teppich spazieren gehen zu können. Manchmal blickten wir unvermittelt wieder in die zerklüftete Fjordlandwelt mit ihrer fragilen Bijouterie landschaftlicher Kostbarkeiten. Seen und Berggipfel, für die keine Karte Namen vorgesehen hatte, und mich erfreuten wie kleine Sonette. Die Maori nannten die Berge Te Tapu Nui, die Gipfel größter Heiligkeit. Dort unten lag die Welt der Südbuchen-Bergwälder und Gänseblümchen, des Lorbeers und weißen Enzians, der Flechten, die man old man’s beard nannte, und der Koniferen. Gewaltige Stämme in nassen schweren Moosmänteln und das kindliche Grün der riesigen Baumfarne verbargen die Vögel wie Stecknadeln im Heuhaufen. In den Hochtälern über der Baumgrenze wehte feines Tussockgras im Flugwind, während dicke Wolken sich schwer im Spiegel der hochaufgeschossenen Bergseen zeigten. Irgendwo dort unten trieben sich gewiss Trolle, Asen und Nornen herum, badeten in Sturzbächen aus weißem Wasser.

Es war spät, das Licht verblasste, sodass wir sofort nach der Landung in Te Anau den Rückflug zum Milford Sound antraten. Auf anderem Kurs erklärte mir Jules per Sprechfunk den eingeschlagenen Höhenweg und erzählte die Geschichte der ersten weißen Siedler des Fjordlandes kurz und knapp in den Flugzeuglärm hinein.

„Dan McKenzie und seine Tochter Alice, ausgewanderte Engländer aus den verräucherten Städten des industrialisierten Europas, verschlug es in den Südwesten der Südinsel wie Hunderte anderer Weltumsegler und Paradiessucher auch. Es war der Winter des Jahres 1886. Es war kalt, es regnete, die Füße rutschten auf den Steinen des schmierigen Flussbetts aus. Sie suchten das Gleichgewicht zu bewahren, die bescheidene Ausrüstung auf dem Buckel in Wolldecken eingeschlagen. Der Mann und das Mädchen waren auf dem Weg zur nächsten Schule, die zehn Tagesmärsche weit durch einsame Wildnis hindurch im tiefen Osten lag. Wenn die Angst die kleine Alice überkam, sang der Vater ein Lied, während dunkle stille Granitwände sechshundert Meter zu beiden Seiten emporragten. Falls es mehr zu sehen gab, konnten sie es in dem Regen nicht ausmachen. Nur der Wald bot Schutz vor dem niederprasselnden Regen, wo sie sich erschöpft auf Farnblättern und unter klammen Decken verkrochen. Sie schlotterten vor Kälte auf ihrem Bett aus Farnen. Alice sollte jedoch nach den Strapazen dieser Wanderung, die sie ihrem Tagebuch anvertraute, im Krankenhaus landen und nie die Schule besuchen.

Sie schrieb damals: ‚Beinahe jeden Tag fiel heftiger Regen. Die Bäche führten Hochwasser und bei den Hidden Falls mussten wir zwei Tage warten, bis wir den Fluss überqueren konnten. Abends war ich zu erschöpft, um meinem Vater zur Hand zu gehen. Der Boden war immer feucht. Daher trug Vater viele Armvoll Farn zusammen. Der war nass wie alles andere, aber wenn man ihn schüttelte, war er nicht mehr so nass und wir mussten nicht auf dem vollgesogenen Boden liegen. Dann wickelten wir uns in unsere Decken; die waren auch kalt und feucht’.“

Ein Jahr zuvor waren Kraftwagen und Holzwolle erfunden worden, im Jahr darauf Drehstrommotor und Schallplatte.

Jules ließ mich gedankenlos an so manchem Flugmanöver teilhaben, während ihm offenkundig entging, dass sich Angstfalten im Kopiloten-Gesicht zeigten. Jedes Mal, wenn wir einem Gipfel oder Kamm zu nahe kamen, flatterte das kleine Flugzeug wie eine Libelle. Glockenvögel schreckten auf, welche die frühen Maori einfingen und in heiligen Öfen brieten, wenn es galt, die Geburt eines Sohnes zu feiern und ihm eine schöne Stimme zu beschaffen. Keas. Mir war bang ums Herz und mein Hemd klebte kalt am Körper, als Jules frohgemut seine Flugkapriolen zum Besten gab. Bald, für eine Schrecksekunde lang, hatte ich den Eindruck, dass er gerade das Moos eines kargen Berghanges abrasieren wollte, dann erschrak ein Fisch über eine achterbahnflugartige Beinahe-Wasserberührung. Dank der waghalsigen Manöver war mir das Herz schon längst in die Hose gerutscht, zu diesem Zeitpunkt gab ich kein Jota mehr für mein Leben. Schweißgebadet hockte ich wie ein unbemerktes Häufchen Elend neben dem Piloten, und der war so wirklich, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Auf festem Erdboden zurückgekehrt, ähnelte ich mehr dem Lazarus als einem erfolgreichen Eroberer, schob aber alles meinem leeren Magen in die Schuhe, der allerdings von nun an wusste, was Fugen mit Tollhäusern zu tun hatten. Und weil die hohen Berge der Sonne im Weg standen, wurde es früh kalt und ich zitterte wie die Dackel, die gerne in Rückfenstern von Autos gehalten wurden und Männern mit Hut gehörten, als ich den Wagen erreichte und lange Schatten ihre Finger zögernd nach den letzten, von der Sonne gewärmten Stellen ausstreckten. Bedrohlich, blauschwarz, unerbittlich. Beine und Magen hingen immer noch in der Luft, als ich graugesichtig wie eine frisch geöffnete Mumie nach Te Anau zurückfuhr.

Es blieb ein Rätsel, wie wir den Flug unbeschadet überstehen konnten. Man war versucht, es Glück und Können zu nennen.

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