Fès

© Willi Schnitzler     

Unterwegs FesDer Morgen ist wunderschön: eine Sonne, wie man sie sich wünscht, ein Wind, der sanft die Wangen tätschelt. Um sieben beginnt der Tag in Fès. Mohammed, mein Führer, dessen Dienstleistung mir sein Cousin gestern aufgeschwatzt hat, läuft schon seit geraumer Zeit unten auf der Straße herum. Er reicht mir die linke grobschlächtige Hand und stellt sich vor. Er, ziemlich groß, trägt eine gestreifte djellaba, hat die Figur eines tüchtigen Erlenmeyerkolbens, eine angenehm tiefe Stimme und einen gestutzten Schnurrbart. Seine Haut ist auf immer und ewig von einer pubertären Akne gekennzeichnet, die, so scheint es mir, mit einem Make-up übertüncht worden ist, das so dünn ist wie der Raureif einer Nacht. Ich behaupte nicht, dass er schon seit gestern Abend wartet, das nicht, aber müde genug sieht er schon aus.

„Hilf mir bitte kurz“, bittet er mich und ich hefte sein Identifikationsschildchen, das ihn offiziell ausweist, ans marokkanische Revers; auf diese Weise entsteht einer jener vorschriftsmäßigen Führer der Stadt. Kurze Zeit später sitzen wir in einem der unzähligen Petit Taxis, wie man sie nennt, und verlassen, nachdem der Motor wie eine jämmerliche Posaune angesprungen ist, die Ville Nouvelle mit ihrem großzügigen französischen Gesicht, der strotzenden Pracht der Bougainvilleen und den breiten Boulevards. Der Taxifahrer, der aussieht wie ein Buschreiter, als habe er ein wildes Pferd unter seinem Hintern, fädelt sich in den fließenden Verkehr ein, doch nein, er zwingt den Verkehr, sich um sein kleines Nadelöhr einzufädeln. Das machen andere aber auch. Selbstverständlich erspart er sich die Mühe, nach links oder rechts oder nach vorne oder hinten zu schauen, gibt dem Auto gleich die Sporen, stürzt sich nach den guten alten Regeln ins Getümmel und wir vereinigen uns mit dem Lindwurm marokkanischen Fortbewegungsdenkens.

    

„Da“, er zeigt auf eine gefährlich aussehende, an uns vorbeischießende Baugrube, „hat sich ein Kollege vorigen Monat fast das Rückgrat gebrochen.“

Meint wohl einen Autounfall.

„Liegt immer noch im Krankenhaus.“

Um seinen Mund liegt jene nervöse Angespanntheit, die in diesem Land jeden Verkehrsteilnehmer prägt, und gleichzeitig dieses höhnische Lächeln, wenn sie den einen oder anderen aus dem Weg geräumt haben. Mir bleibt kaum die Zeit wahrzunehmen, dass die Neustadt mit einem Mal verschwunden ist und was da draußen an uns vorbeigleitet. Hin und wieder kommen ein Bus oder ein Pferdefuhrwerk direkt auf uns zu und ich überlege kurz, ob es schlechtes Benehmen wäre, ihn das wissen zu lassen. Doch die Vorstellung, dass das Monstrum Verkehr uns gleich verschlingt, verschlägt mir die Sprache und dann ist der Zusammenstoß auch schon passiert, aber ich sehe keine Trümmer, keine blutenden Opfer aufseiten von Mensch und Flora, während Mohammed völlig in sich selbst versunken aus halbgeschlossenen Augenlidern auf seine Füße blickt.

Am Palais Royal wische ich mir den Schweiß von der Oberlippe, glätte die Gänsehaut auf meinen Armen, höre sein Lachen, das wie der lockere Keilriemen seines Wagens klingt, steige aus und weiß mit einem Mal, warum das Auto mit einer Hupe ausgestattet ist, bin aber trotzdem erstaunt, dass nur 7,3 Prozent der Marokkaner ihren Tod durch einen Unfall finden.

Wir haben noch keine drei Schritte gemacht, als mein Führer das erste Mal stehen bleibt.

„Als die Meriniden im 13. Jahrhundert die Macht übernahmen“, beginnt Mohammed Kdari, der nun breitbeinig vor mir steht und die ihm zustehende Rolle übernimmt, „konnten sie ihre Paläste und vor allen Dingen die Behausungen ihrer Truppen und Bediensteten aus Platzmangel nicht in der alten Stadt unterbringen. Auf diese Weise entstand Fès-el-Djedid mit seinen Gärten, Moscheen, Koranschulen und souks außerhalb der Stadtmauer. Ihr ersten Name war Medina-el-Beida, die weiße Stadt.“

Wir stehen auf dem von Palmen gesäumten, weiträumigen Platz der Alaouiten und blicken auf die vergoldeten Tore des Dar-el-Makhzen, an das sich das neue, das lärmende Fès drängt. Ein paar wenige Touristen verrenken sich die Hälse an den hohen Mauern, vor denen eine Schar Mauersegler einen Formationsflug proben. Man hört, dass die Vögel einst von einem aus Andalusien stammenden alem herbeigerufen wurden, weil lästige Moskitos die Stadt unsicher machten und ihn bei seiner Meditation störten. Und ganz Fès profitierte davon.

Dar bedeutet Haus, Makhzen Zentralgewalt. Und er bestätigt, was ich schon ahne.

„Hier wohnt der König, wenn er in der Stadt ist. Doch überwiegend hält er sich in Rabat auf, das die Franzosen zu unserer Hauptstadt machten, um den politischen Intrigen von Fès zu entgehen, oder in Casablanca, dem ökonomischen Zentrum des Landes. Von hier aus startete der Widerstand gegen das französische Regime, als wir es nicht mehr auszuhalten wussten.“

Mit langen Gewehren und grünen Baretten bewachen zwei gestreng aussehende Posten das Portal, das geöffnet wird, wenn man das Zwillingspaar der bronzenen, die Sonne reflektierenden Türklopfer mit dem achteckigen Stern betätigt und eine gefällige Nase hat. Wir durchkreuzen, einen Steinwurf entfernt, jenseits des Marktplatzes das jüdische Viertel, mellah, mit seinen aus Zedernholz geschnitzten Balkonen, welche die ehemals gelb oder blau gestrichenen reichsten Häuser des Viertels schmücken, den schmiedeeisernen Fensterverzierungen auf der Straßenseite und den Geschäften, die noch gar nicht richtig aufgemacht haben, da die Rollläden erst zur Hälfte hochgezogen sind und die Markisen noch in ihren Höhlen stecken. Eine eher westliche Architektur im Stil des fin de siècle, die Balkone, die relativ großen Fenster. Nichts deutet mehr darauf hin, dass vor den Juden syrische Bogenschützen dort stationiert waren.

„Die Stadtjuden waren Schutzbefohlene des Sultans, die auf dem Lande wohnenden Juden sozusagen persönliches Eigentum der Stammesoberhäupter. Die Stadtjuden erfreuten sich einer gewissen Selbstverwaltung, auch wenn damals das Viertel nachts mit einer eisernen Tür verschlossen wurde, das gilt auch für die Juden des mellah von Fès. Das Selbstverwaltungsorgan bestand aus dem Scheich El Ihoud, dem Judenscheich, der vom marokkanischen Gouverneur ernannt wurde, und einem Mejless, einer Art Gemeinderat. Die Tätigkeit von Scheich und Gemeinderat wurde von einem hohen Beamten der Medina überwacht. Außerdem gab es ein jüdisches Gericht mit drei Rabbinern als Richter.“

Er sieht dabei geradeaus, als rede er direkt mit den noch im Schatten liegenden Balkonen, und wenig später, nachdem er wie ein Weiser aus dem Morgenland über die Rue Merinides geschritten ist, erzählt er weiter.
Mellah leitet sich von melh ab, was Salz bedeutet. Wenn eine Rebellion ausbrach, wurden die Soldaten angewiesen, so viele Köpfe wie möglich mitzubringen, die anschließend mit Salz konserviert werden sollten. Doch niemand wollte diese Aufträge ausführen. Man zwang die Juden dazu. Zu Beginn des Jahrhunderts mussten sie auf Anweisung des Sultans an einem Tor hier oder in Tangier, ich weiß nicht mehr so genau, neunundvierzig blutige Köpfe aufhängen. Ich muss dazu sagen, dass die Juden damals weder den Boden bearbeiten noch auf einem Esel reiten ja nicht einmal bestimmte Straßen überqueren durften. Und trotz alledem wurden sie schwer besteuert. Sie mussten schwarze oder zumindest dunkle Kleidung tragen. Und heute wohnt an diesem Ort kaum ein Jude mehr, obwohl sie hier mehr als tausend Jahre gelebt haben, wie der große Philosoph Maimonides“, sagt Mohammed, während es ihm irgendwie gelungen ist, seine Hand auf dem Rücken zu verschränken. Plötzlich stehen wir vor einem Stadttor, vor dem an der linken Seite Schaffelle an eine gelbe Tür genagelt sind.
„Bab Semmarin“, sagt Mohammed, „die Pforte nach Fès-el-Djedid.“

Bab ist ein Tor.

Um dieses gewaltige Schlüsselloch herum ist es sandfarben und aus seiner schattigen Tiefe strömen die Menschen heraus. Ich sehe ein Geschäft überladen mit Waren auf der linken Wegseite liegen, das aussieht, als habe jemand dort aus einer Laune heraus gedankenlos seinen ganzen Krimskrams abgestellt, ohne erkennbare Systematik. An Textilgeschäften entlang führt unser Gang auf die andere Seite des Königspalastes; auf einer Seite erstreckt sich der Parc la Marche Verte, auf der anderen Seite der muslimische Friedhof, dahinter die Stadtmauer, die die Medina von Neu-Fès trennt. Auf ihren Zinnen nistet in netter Weise eine Handvoll Störche, die damit beschäftigt sind, ihre Nester sauber zu halten. In manchen Ländern bringen sie die Kinder, hier, insbesondere bei den Frauen, gelten sie als Überbringer von Liebesbotschaften.

Wir ziehen weiter über einen von almohadischen Häusern gesäumten Platz und blicken bald auf das Bab Boujeloud mit seinem märchenhaften Dekor aus Fayencen, dem dreibogigen Eingangstor in die exotische Welt der verwinkelten Gassen, Packesel, Handkarren, hammams, Moscheen, medaris (Plural von medersa) eines immer währenden arabisch-islamischen Mittelalters, Pforte in die älteste Makhzen-Stadt – Fès-El-Bali.

Bab ist ein Tor, Dar ein Haus, Hammam ein Bad, Medersa eine Koranschule …

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