Der Bus nach Marrakesch

© Willi Schnitzler     

Bus nach MarrakeschDer Morgen ist klar und noch ein wenig kühl, genau wie gestern. Es ist kurz nach Sechs, als ich, noch im Halbschlaf, das Hotel verlasse und über eine fast leere Straße zur Bushaltestelle gehe. Unsichtbar vor meinen Augen haben längst die Straßen- und Gassenkehrer ihre Arbeit aufgenommen. Der Müllmann gehört zum Quartier und ich staune über ihre Ähnlichkeit. Vielleicht werden in nicht allzu ferner Zukunft alle Müllmänner der Erde so und genauso aussehen, wenn die Wissenschaftler in den Laboratorien ihre Arbeit mit dem Klonen von Menschen richtig aufgenommen haben.

Um diese frühe Zeit stehen drei Busse in stinkenden Wolken in ihren Boxen und warten auf Fahrgäste, die in dem neuen Gebäude ihr Gepäck aufgeben und in kleinlicher Sorge hoffen, dass sie es irgendwann wieder zurückbekommen. In einer Ecke liegt eine zottelige Gestalt in gigantischen Lumpen, die die Betriebsamkeit um sich herum nicht wahrnimmt und so schmutzig ist, dass man in den Armbeugen und Kniekehlen hätte Kartoffeln anbauen können, darüber schaut eine Reklametafel hervor und gleich daneben scheint ein Korb mit allerlei Gemüse ebenfalls eingenickt zu sein. Niemand scheint darüber erstaunt, niemand scheint davon Notiz zu nehmen.

     

An einem Schalter kaufe ich die Fahrkarte nach Marrakesch, die einhundertdreißig Dirham kostet, für immerhin gut zehn Stunden Unterwegssein ein geringes Entgelt. Sie wird mir mit derben Fingern von einem Mann gereicht, der den frühmorgendlichen Gesichtsausdruck eines heftigen Tiefdruckgebiets hat, das heutzutage Simone oder Xenia heißt. Erinnert mich an den alten Truthahn, den ich einmal auf einer griechischen Insel sah.

Jelloun meint zwar den Omnibus nach Casablanca, aber dieser scheint jetzt nach Marrakesch zu fahren: 
„Das sind alte Fahrzeuge, in denen man die Leute zusammendrängt, die irgendwie fahren und oft anhalten, um Reisende aufzunehmen. Die Touristen mögen diese Art des Reisens im Allgemeinen. Sie sagen, es sei pittoresk und ermögliche ihnen, das Land besser zu entdecken. Sie ertragen, ohne mit der Wimper zu zucken, den Staub, den Zigarettenrauch, die mangelhafte Hygiene, den Lärm und das Wehklagen der Bettler, die an den verschiedenen Haltestellen zusteigen. Es ist keine Reise, sondern ein Alptraum.“

Alles ist bestens, bis auf die Tatsache, dass es lange dauert, ehe die Plätze eingenommen sind. Wir haben zwar Platzkarten, doch aus einer Laune heraus werden die meisten von uns wieder umgesetzt, dazu gehöre auch ich, da ich einer hübschen, traurigen Marokkanerin weichen muss. Es scheint mir einem Spiel ähnlich, einer zwölffache Rochade vielleicht, wer weiß das schon. Im Vergleich dazu ist ein Schachspiel eine Kleinigkeit. Nun ich nehme vor mir erneut Platz und verliere meine Wasserflasche, die auf den Boden purzelt und nach vorne oder hinten rollt. Jeder hört das Geräusch des rollenden Zweipfünders, aber niemand scheint dem ein sonderliches Gewicht beizumessen. Na ja, irgendjemand wird sie aufnehmen und trinken. Neben mir sitzt ein Moslem mit brauner Kutte, der, kaum dass er Platz genommen hat, die Nase hochzieht und es dann nicht mehr abstellen kann. Eine betende Stimme dringt leise aus seiner über den Kopf gezogenen Kapuze, während seine Schultern mir klarmachen, dass sie mit dem Platz, den sie haben, nicht auskommen werden. Dann schiebt er die Kapuze nach hinten und ich sehe einen runden haarlosen Kopf. Gelassen holt er aus der Tasche eine Art Thermoskanne hervor, gießt den Verschluss voll und trinkt geräuschvoll. Nachdem er wie ein sich verschluckendes kleines Kind gejapst und die Naseningredienzien in die Haarwurzeln hochgezogen hat, bietet er mir unverhofft etwas von seinem Getränk an. Meine Güte, denke ich, denn auch die darin herumschwimmenden Reste seines Proviants können darüber nicht hinwegtäuschen, dass es sich um Tee handelt. Ich lehne dankend ab.

Als endlich alle ihre Sitze gefunden haben, erscheinen ein mürrischer alter Mann mit verbitterten Zügen und erwachsener Tochter, die unbedingt mitwollen. Wenn ich unbedingt sage, dann meine ich das auch so. Ich weiß nicht, wie sie an diesen Vater gekommen ist, aber ich halte es für einen Fehler. Er greift sich an den glatten Schädel, scheint mit der fuchtelnden bösartigen Hand nach seinen verschwundenen Haaren zu suchen. Der Busbegleiter, ein strenger Geselle mit mächtigem Schnauzer und gebaut wie ein Bauernschrank, dessen Unerbittlichkeit wir schon bei der Rochade kennen gelernt haben, gibt ihnen zu verstehen, dass der Zielort ein anderer sei. Doch der Mann lässt sich nicht beirren und drängt sich rücksichtslos, an einen Schneepflug erinnernd, in den hinteren Teil des Gefährts, lässt sich durch nichts und niemand aufhalten. Das Lesen von Bushinweisschildern scheint nicht gerade eine seiner starken Seiten zu sein. Ein Grund mehr, die Ellbogen fliegen zu lassen, sodass ein leichtes Handgemenge entsteht, aus dem der alte Mann als Sieger hervorgeht. Jedes Auge, jede Hand, jedes Bein scheint einen eigenen Willen zu besitzen. Er plagt alle mit seiner Halsstarrigkeit. Für Unsicherheit ist in seinen Gesten kein Platz. Er schreit, ohne jeden Sinn und Verstand. Er ist ein alter Rüpel. Er ist eine Plage für die kleine Welt hier drinnen. Er ist nicht ganz bei Trost, denke ich, aber für alles mag die Natur ihre Gründe haben.


Bisweilen sind sie kompliziert die Marokkaner, das wird mir nicht erst jetzt bewusst, sehr kompliziert, sie sind so kompliziert, dass einem eine Fahrt durch den Hohen Atlas dagegen wie eine gerade Strecke vorkommt. Hier ist es offensichtlich. Er darf schließlich mitfahren, da der Busbegleiter nach einer halben Stunde Diskutierens nach- oder besser gesagt aufgegeben hat und mit einem Mal keine Spucke mehr im Mund zu haben scheint. „Ich lass mich doch von so einem nicht den Tag verderben!“, sehe ich ihn denken. „Von so einem doch nicht!“ Denkt es und geht kapitulierend den Gang zurück, an dessen Ende er seinen erhöhten Sitz erklettert und eine knappe Viertelstunde braucht, um dem verdutzten und Kopf schüttelnden Fahrer die Auseinandersetzung zu schildern.

Erst danach kann es endlich losgehen. Es wird Zeit, von Fès langsam Abschied zu nehmen, von der ein unbekannter arabischer Dichter einstmals sagte: „Die Taube verlieh der Stadt ihren Ring und der Pfau den königlichen Fächer. Ihre Füße sind lauter Wein und jedes Hauses Hof ein Becher.“

Seitdem sie ihrem Freund Kusshände zugeworfen hat und dieser dann winkelnd von dannen eilte, weint die Frau im Sitz hinter mir, der ich vor einer guten Stunde weichen musste. Ihr Blick hat das Ausmaß einer kleinen Tragödie und sie macht regen Gebrauch von ihrem Taschentuch, wischt abwesend jene Tränen vom Fenster, die noch nicht auf den Boden geplumpst sind, und drückt mit der anderen Hand ihre kleine schwarze Tasche gegen die Brust, wohl weil sie nicht will, dass irgendwer seine Nase in Dinge steckt, die nur sie allein etwas angehen. Diese Geste macht sie mir sympathisch und ich verzeih ihr augenblicklich den für mich unvorteilhaften Platzwechsel.

Wie durch ein Wunder sind wir plötzlich auf der Straße, verteidigen uns so gut es geht gegen die Übermacht kleinerer, wenig verständnisvoller Verkehrsteilnehmer und haben ohne weitere Vorkommnisse die Randbezirke von Fès erreicht. Bäume, die eben erst ihr Laub ansetzen, begleiten uns ein Stück, während die sattgrünen Felder der Fettbohnen bereits wieder aus den Augen verschwinden. Dann gleiten Maurer vorbei, die Feuer machen, und wir betrachten neugierig Steinfiguren, die inmitten einer steinernen Landschaft stehen. Wir fahren durch den Schatten eines Dorfes, das einen kurzen Namen trägt. Frauen stehen dort und unterhalten sich händeringend, während ihre kleinen Sprösslinge im Dreck spielen und ihn essen. Die drei unterschiedlich alten Kinder eines Silberschmieds polieren eifrig runde Teetabletts, die mit ihrer eigenen Größe vortrefflich korrespondieren. Ihre Finger sind schwarz, die Lappen auch, aber das Silber glänzt vorbildlich. Als das Haupt meines Nebenmanns, vor Müdigkeit seufzend, mir auf die rechte Schulter fällt, ist das europäisch anmutende Städtchen Ifrane erreicht. Es hätte nicht unerwarteter geschehen können, wenn der Busbegleiter, aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer, ihn mit einer Büchse aus ziseliertem Silber von seinem erhöhten Sitz aus erschossen hätte. Seine Lider sind schwer geworden und schnell hat ihn ein leichter Schlaf ereilt. Während ich mir alle erdenkliche Mühe gebe, mich nicht zu bewegen, rieche ich seinen sauberen Umhang, der mich an die Wäsche meiner Mutter denken lässt, vernehme ein leises Schnarchen und könnte, wenn ich es wollte, wie ein Zahnarzt in seinen Mund schauen, der offen steht. Draußen ziehen grüngedeckte Ziegeldächer vorbei, spitzgieblige Häuser und Villen, kleine Gärten, abschüssige Gassen, doch wo sind die Menschen, wo die allgegenwärtigen Kinder, wo die mit allerlei Dingen bepackten Esel? Hier wird es deutlich: die meisten Dörfer sind nicht mehr für den Krieg gebaut. Aus einem kleinen Buch des Jahres 1953 erfahre ich, dass Ifrane ein sich äußerst schnell entwickelnder Sommer- und Wintererholungsort ist, mit Tonfilmkinos, herrlichen Schwimmbädern, Tennis- und Eisplätzen, Kasino, Wintersport und Forellenfang. Und gerade, als wir polternd ein Fuhrweg überholen, das mit zusammengepferchten, mageren Schafen beladen ist, erfahre ich, dass jedes Jahr neue Verbesserungen bringt.

Noch immer rinnen der Frau hinter mir von Zeit zu Zeit die Tränen übers Gesicht und in den leicht aufgeschlagenen Blusenkragen, als müssten sie in unregelmäßigen Abständen von einer überlasteten, kleinen Pumpe wieder und wieder in die Tränenkanäle geschöpft werden.

Wenige Minuten später sehen wir am Straßenrand etliche Porzellan- und Steinverkäufer und zwei Gendarmeriekontrollen, die bis an die Zähne bewaffnet friedliebende Autos kontrollieren und auch uns Zeichen geben, vor ihren furchteinflößenden Uniformen anzuhalten. Wer würde uns schon vermissen, sollten sie auf den Gedanken kommen, uns irgendwo einzusperren? In zorniger Ruhe reißen sie Koffer und Taschen aus den Gepäckklappen, die sie später dort liegen lassen, während die Passagiere in feierlichem Schweigen abwarten. Auch der Busfahrer hat die Ruhe weg und blickt desinteressiert den entschwindenden Polizisten hinterher. Falls sich ungute Gedanken hinten den schwarzen Augen verstecken, weiß er dies gut zu verbergen. Unterdessen stopft gelangweilt sein Begleiter alles wieder zurück und man hat den Eindruck, als mache er das nicht zum ersten Mal. Die Fahrt geht weiter. Auf der langsam breiter werdenden Straße begegnen uns zerlumpte Männern, Frauen und Kinder; Heimatlose, wie mir scheint, schauen nicht nach links und nicht nach rechts und dann hält der Bus kurz in einem namenlosen Ort, wo ein Vater rührend seinen Sohn verabschiedet, der Trauer in den Augen trägt und offensichtlich zum ersten Mal den Schutz der Familie verlässt, um dem Staat zu dienen.

Der Bus hoppelt zu einem weiteren kurzer Halt. Das wird eine ermüdende Fahrt, und mein Gehirn verharrt in einer Art Erstarrung, denn der Kopf meines Nebenmanns hat es sich abermals auf meiner Schulter bequem gemacht.

Jemand aus den hinteren Reihen des Busses hustet sich die Lunge aus dem Leib, dem das ganze Elend eines Schwindsüchtigen aus den Augen spricht, während aus dem Radio die wehleidig gespielten Geigen der Volksmusik fluten. Eine Zigarette geraucht, die Schuhe geputzt – es geht weiter. Doch halt! Der zornige alte Mann von eben, der offensichtlich im falschen Bus sitzt, und das weiß mittlerweile jeder, auch er, bricht im Handumdrehen einen großen Streit vom Zaun, da er sich beschwert, dass man ihn hat mitfahren lassen. Er schreit und ist sehr aggressiv, wird handgreiflich, schlägt einem Unbeteiligten mit hohlen Wangen die Mütze vom Kopf. Der Streit schwillt bald zu einem Crescendo an. Seine großen Ohren sind glühend rot. Und es dauert, hält alles auf. Höre dem Gezeter zu und mir scheint, als könne die Aufregung in einem Boxstadium nicht größer sein. Da hätten selbst Freud und Breuer den Kopf geschüttelt. Der Stationsvorsteher wird eilig herbeigerufen, versucht den Aufruhr zu schlichten, doch es gelingt nicht. Nachdem man sie schließlich aus dem Bus geworfen hat, verlässt der Dickwanst (er wollte nach Fès zurückgebracht werden), laut schreiend und vor Erregung taumelnd, das Gelände und droht faustschwingend mit Konsequenzen. Zornig stößt er noch rasch einen jungen Burschen beiseite, der ihm unbeabsichtigt in die Quere gekommen ist. Ich frage mich, was wohl passiert wäre, wenn die mürrische Einstellung von Fastentagen (von der ich so einiges gehört habe) hinzugekommen wäre?

Doch diese Hürde ist genommen und mir ist inzwischen endgültig klar geworden, dass Geduld die unbedingte Voraussetzung ist, wenn man mit dem Bus durch das Land reist. Das Warten scheint den Leuten angeboren.
Niemand scheint hier auch nur ein Fünkchen von Plan in auch nur einem Punkt zu haben. Ich glaube, wir sind in Khenifra, bin mir aber weiß Gott nicht sicher und wenn ja, dann haben hier irgendwann einmal elftausendfünfhundertneunundvierzig Menschen gelebt, von denen dreihundertdreiundneunzig Europäer, hundertvierundfünfzig Juden und die übrigen Muselmanen, meist Berber, waren. Zu den modernen Klängen eines Ghettoblusters redet im Sitz vor mir ein verwirrter Jugendlicher, dessen unfassbar großes linkes Ohr mir so manches Mal die Aussicht versperrt hat, konfuses Zeug, während seine Hände Kreise beschreiben und Spucke vom Kinn auf sein T-Shirt trudelt, das für eine Zigarettenmarke wirbt, die kein gutes Ende verspricht. Irgendwie ist er auf den komischen Gedanken gekommen, sein rechtes Ohr mit Tesafilm an den Kopf zu heften. Es bringt mich immer wieder zum Staunen, wie laut man Musik hören kann. Zu guter Letzt hat ein Bettler, dessen nackte Beine in ähnliche Abschnitte aufgeteilt sind wie ein amerikanischer Quilt, die Runde im Bus beendet und steigt mühsam aus. Vor den Fenstern des nun wieder frisch gestarteten Busses geht es mit dem Gepäck drunter und drüber. Jemand ist auf den Gedanken gekommen, die Koffer zu zählen. Ich hoffe, ich sehe meines in Marrakesch wieder. Wäre schade um meine prächtige djellaba! Aus einem Radio, das unsichtbar in irgendeinem Winkel des Platzes steht, überschlägt sich eine Stimme, als könne sie mit den Ereignissen, mit denen sie es zu tun hat, nicht ganz Schritt halten. Rennt sie auch einem Ball hinterher oder geht es hier um Politik? Weiß der Himmel, warum der Mann so aufgeregt ist. Um ein wenig Abstand von den Dingen zu gewinnen, gehe ich in die andere Richtung und schnell, koste es, was es wolle, auf die Toilette. Während ich vor einem unbeschreiblich stinkenden Loch stehe, halte ich tapfer die Luft an und werde gestört, als ein Hund nach drinnen blickt, dem der Gestank des Pissoirs das Weiße in die Augen treibt. Nanu, denke ich, wo ist denn das hintere rechte Bein, aber schon humpelt er fort und ich verschlucke mich.

Die Zeit schleppt sich dahin. Die Rast dauert. Wie eine Schiffschaukel ist auch dieser Bus nicht die Lösung, in die man steigt, wenn man bei Verstand ist. Nein, leicht fährt es sich mit ihm nicht.

Plötzlich steht ein zerlumpter Junge vor mir, nicht älter als sieben, acht Jahre, schaut mich mit großen braunen, jammervollen Augen an, streckt mir den Handteller entgegen und sagt: „Un dirham, pour manger!“ Da ich nichts Besseres mit meinem Geld anzufangen weiß, lege ich ein paar Münzen hinein. Jemand, der Obst verkaufen will, schlängelt sich durch die engen Reihen an ihm vorbei, ein anderer mit Taschentüchern hat seine fragenden Blicke durch den Bus getragen und ist bereits durch. Äußerlich unterscheiden sie sich kaum von der Schar, die draußen herumsteht und auf ein Wunder wartet.

Langsam verlieren sich die Häuser der Stadt in der Staubwolke, die der Bus wie ein Schwarm Fliegen hinter sich her zieht. Merkwürdig, denke ich, das kann ja nur bedeuten, dass der kleine Alptraum vorüber ist, und mein Nebenmann seufzt, als hätte er die gleichen Gedanken wie ich und sieht im selben Augenblick im Fenster diesen fürchterlichen Autounfall, kurz bevor wir von der Polizei abermals kontrolliert werden. Ein Lastwagen mit einer Ladung Holzstämme ist vor nicht allzu langer Zeit ins Schlingern geraten und umgekippt. Öl läuft aus und die Räder drehen sich noch, während die Verletzten an der Böschung wie aufgestapelt in ihrem schmerzhaften Trapez herumliegen. Doch das scheint die Polizei genauso wenig zu stören wie das Tönen der eingeklemmten Hupe, denn die Beamten führen in aller Strenge im Bus eine Personenkontrolle durch. Sind hier Unruhen zu erwarten, von denen ich nichts ahne? Mich lässt man in Ruhe. Stehen mitten in der Hitze auf einsamer Straße und ich hoffe, ein gnädiger Polizist erbarmt sich und erschießt diese jämmerliche Hupe.

Wer hat nur diese ganzen Bäume weiß angestrichen, die am Straßenrand stehen und zu welchem Zweck? Diese Frage quält mich schon die ganze Zeit und erst später soll ich erfahren, dass die weiße Farbe die Bäume vor der Winter- und Frühlingssonne schützen soll. Das Weiß wärmt sich nicht auf, reflektiert geschickt das Sonnenlicht und verhindert so das Reißen der Bäume, die ansonsten durch die empfindlichen Temperaturunterschiede der Stämme in Mitleidenschaft gezogen würden.

Bedächtigen Tempos erreicht der Bus unbehelligt Chekh, dürfte die Hälfte des Weges sein. Noch zweihundertfünfzig Kilometer bis Marrakesch. Es ist eine Entfernung, die einfach nicht schrumpfen will. Befinden uns mitten im Mittleren Atlasgebirge. Ein Auto ist liegen geblieben und ein Mann in blassblauem Overall hat gerade damit begonnen, an der Rostlaube herumzuschweißen. Die Straße findet wohl immer einen Nagel oder so etwas, den sie in die Reifen stecken kann. Sie sind platt wie der Mann klein ist; es scheint ihm nichts auszumachen, so nah mit dem vorstehenden Kinn an der Erde zu sein. Die Hügel, die bislang so spitz waren wie die Kapuze der djellaba neben mir, werden flacher und runder. Sonst findet mein Blick keinen Halt. Nur ab und zu erscheint ein kleines Dorf aus getrocknetem Lehm. Ich sehe die kleinen Fenster der Häuser, Frauen, die Brennholz auf ihren Schultern schleppen oder gefüllte Kalebassen tragen, Henna-Sträuche, eine schwarzgekleidete Frau, die eine Schubkarre voller Wäsche zu einem Brunnen schiebt, einen Mann, der aussieht wie ein Kontrabass, der Beine zu haben scheint. Voller Neid blicken uns eine Handvoll Kinder nach, ein paar Schafe, ein paar Hunde. Führen nicht dann und wann Busse vorbei, würde die Welt nichts über diese Siedlungen erfahren. Die Straße windet sich endlos durch die Landschaft, die sich in der Ferne zu bewegen scheint. Es ist nichts los, nur die Sonne weicht den Asphalt auf. Der Klatschmohn blüht.

Der Busbegleiter, in dessen Gesicht wieder ein zufriedener Ausdruck zurückgekehrt ist, hat sich vorn ausgestreckt und die Augen geschlossen, während der Fahrer raucht und die Straße, die jetzt in gutem Zustand und nicht so angefressen wie vorhin ist, nun schnurgerade durch die Ebene läuft. Dass sie holpert, mag auch am Bus liegen. Der Mann neben mir muss eine wahre Schleimgrube im Hirn haben, hat aber meine Schulter verlassen und blockiert nun den Gang. Während der Muezzin im Radio zum zweiten Mal das rituelle Gebet vorträgt, steigt jemand mit einem Vogelkäfig aus und schubst den Kopf wieder auf meine Schulter. Jeder Muslim hält fünfmal am Tag Zwiesprache mit Allah. Die Gläubigen schickt Allah ins Paradies, das man sich als einen fruchtbaren Garten mit Palmen und Wasser vorstellt, „umkreist von Jünglingen mit Bechern, Näpfen, Schalen des Klarflüssigen, das nicht berauscht und nicht verdüstert, mit Früchten, wonach sie gelüsten, und Fleisch von Vögeln, das sie wünschen“ wie die 56. Sure des Korans sagt. Die Sünder schickt Allah in die Wüste, das ist die Hölle.

Es ist Mittag.
Jetzt ahne ich auch, warum so oft gehupt wird, sonst würde kein Mensch zur Seite gehen. Ist das Sturheit oder Teilnahmslosigkeit? Merkwürdig diese häufigen Kontrollen, offensichtlich wird wieder Rauschgift unter allen möglichen Sitzen gesucht.

Auf dem Spann des Moyenne Atlas liegt Beni-Mellal, das siebenhundert Meter hoch liegt, wo wir Zwischenstation machen, damit der Motor nicht allzu heiß läuft. Mein rotes Büchlein verrät die Bevölkerungszahl der fünfziger Jahre: hundertfünfundsiebzigtausend, von denen fünfhundertzweiundsechzig Europäer, zweitausendachthunderteinundfünfzig Juden und die übrigen Muselmanen waren. Die Stadt, die gleichsam wie ein Balkon über der Beni-Amir-Ebene hängt, ist von Festungsmauern umschlossen und wandelt mit ihren zahlreichen Neubauten allmählich ihr ländliches Gesicht, das inmitten großer Oliven-, Orangen- und Feigengärten lächelt. Da wundert es nicht, dass ganz in der Nähe Marokkos größter Staudamm Bin el-Ouidane liegt, was „zwischen den Flüssen“ bedeutet. Die Station liegt neben einem souk, der auf staubiger Erde stattfindet und auf dem man vielfarbige Berberdecken kaufen kann, und gleich darauf weidet eine Ziegenherde zwischen Ginsterbüschen und Autoreifen in malerischer Umgebung. Es sieht aus wie ein Bild, in deren Mitte ein Hirte mit Kapuzenmantel steht und sich an seinem Stab festhält. Schneeberge schauen hinter einer Hügelkette hervor und schimmern in der Ferne. Der Himmel ist wolkenlos und blau wie Veilchen. Eine Wolke von regenbogenfarbenen Schmetterlingen flattert über ein Feld mit Kornblumen. Der Bus schaukelt, als habe man es mit einer Postkutsche zu tun, und wiegt die meisten der Passagiere in einen zerbrechlichen Schlaf.
Nur langsam ziehen die Kilometersteine am Rande der Fahrbahn dahin. Ich versuche, nicht mehr auf die holprigen Sprünge des Busses zu achten. Ich bin fern von zu Hause. Ich habe einen fremden Kopf auf der Schulter. Ich bin auf Reisen.

Die Zeit vergeht so langsam, ohne dass irgendjemand hier drinnen daran etwas ändern könnte.

Um ihr Mittagsbrot einzunehmen, sitzt eine Familie unter einem Baum am Straßenrand. Das bisschen Schatten, was er bietet, ist sehr klein. Über ihre Köpfe hinweg zieht eine Wolke vorbei, die wie Italien aussieht, gefolgt von den Kanarischen Inseln. Die Hakennase des Vaters schaut griesgrämig in die Runde, die Kinder winken uns hinterher und die Frau, die ganz schwarz gekleidet ist, sagt etwas, was dem Mann ein kleines Lächeln abzwingt, während er aus einer Flasche unbescholtenes Wasser trinkt. Kein Bier. Keinen Wein.

Es ist mittlerweile viertel vor Eins und im Bus steht die Hitze wie in einer Flasche, drückt einem die Zunge dick und trocken wie Toastbrot an den Gaumen. Jetzt tut sie sich schwer, die kühle Luft, die sich aus den Lüftungsschlitzen windet, und unter dem heißen Dach scheint sich mit einem Mal der Körper an Kühlung zu erinnern und fängt an zu schwitzen. Fast gleichzeitig macht eine Armbanduhr einen Höllenlärm und nachdem sie sich beruhigt hat, plärrt ein Kind los, das bislang ruhig in der Schlinge einer Mutterbrust geruht hat. Gut, dass es wieder eine Pause gibt. So viele Streitigkeiten um die Plätze habe ich noch nirgendwo erlebt. Es gibt gewiss eine Unmenge an Erholungsmöglichkeiten auf dieser Welt, doch das Fahren in einem schwindsüchtigen Bus mit lauter schwindsüchtigen Menschen an einem überaus heißen Frühlingstag ist wohl einer der unerfreulicheren. Ich sehe mein Gehirn dahinbröseln wie Sand in der Sonne und selbst der Gedanke an meine Jugendliebe, die so nah vor mir liegt, kann mich nicht aufheitern – selbst dieser Gedanke nicht. Wir sind nicht weit vom großen Garnisonsdorf Azilal entfernt, als jemand grundlos, weit über das übliche Maß hinaus, in Gelächter ausbricht und sich anschließend die ganze Faust in den Mund steckt. Kurz bevor unerwartet die Reifen des Busses vor der Einfahrt irgendeiner Raststätte im Land quietschen, übergibt sich ein kleines Mädchen. Sanft streicht die Mutter ihr durchs Haar und summt ein Liedchen, um sich selbst die Langeweile und ihrer Tochter, die sie jetzt aus einem Weidekörbchen in die Arme genommen hat, die Übelkeit zu vertreiben.

Die längere Pause kommt gerade recht. Alle steigen aus, um die Blutzirkulation ihrer Beine zu beleben. Ich sehe den Grill qualmen, die tropfenden Spieße auch und einen Marokkaner, der in einem dampfenden Topf rührt. Eine Bude, die einem hübschen Mädchen gehört, verkauft Getränke und Süßigkeiten. Überschwänglich begrüßt der Busbegleiter einen großen Mann, dem er einen Schlag auf den Rücken versetzt, der eine erwachsene Kuh umgehauen hätte; doch er rappelt sich wieder auf und lacht und sie fangen an, einander zu liebkosen. So weit ich blicken kann, sehe ich eine einsame Gegend mit kargen Bergen und Feldern, über die, ziemlich niedrig, Raben kreisen; ein paar Schafe, Ziegen, ein paar Männer in der Ferne, die nach grünen Weiden suchen. Im Hintergrund prunken die schneebedeckten Gipfel des Hohen Atlas, dahinter schlägt irgendwo das trockene Herz der Sahara, wo man die Zeit mit Sand misst. Keine noch so kleine Wolke zieht mehr über den Himmel, es scheint, als ließe die Atlassonne die Zeit stillstehen, und nur ein Flugzeug gleitet wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen dahin, bringt Sonnenhungrige an die Strände Agadirs. Greifbar nah spiegelt sich die Luft in wässrigem Asphalt, der allmählich dahinzuschmelzen scheint. Ein Hund kommt herbeigetrottet und legt sich in die Sonne. Es riecht nach Benzin und Gegrilltem. Wir sind da, wo die Straße ins Nichts zu verlaufen scheint und ich meine, hier das Grundmuster des Lebens zu sehen: Fels, harter Fels, Asphalt, Sand und Staub.

Der Junge, der nicht weiß, wie er seine Augen von der hübschen traurigen Frau lassen soll, verschwendet Gedanken an sündige Mannestaten, und auch wenn er das Haar kurz geschnitten trägt, sieht er mehr den je aus wie der Narr Calatacillas, den Velázquez am Hof Philipps IV. malte: die tiefliegenden Augen, die hohe knochige Stirn, die Blässe, der etwas debile Gesichtsausdruck. Unterdessen betet mein Sitznachbar auf einer Wiese. Kein Mittler steht zwischen ihm und seinem Gott. Er wendet sich dem weit entfernten Mekka zu, um den Segen Allahs zu erflehen, hat möglicherweise die Stimme des Muezzins im Ohr, der ursprünglich nur der Künder der Stunde war, und viele Male berührt seine Stirn die Erde. Seine Ergebenheit hat ihr ein Zeichen aufgedrückt, so unauslöschlich wie sein Glaube. Mehr denn je erinnert er mich an einen meditierenden Mönch des Mittelalters. „Allah ist Allah, Allah ist Allah, Allah ist groß, ich schwöre, es gibt keinen Gott außer ihm, und Mohammed ist sein Prophet, kommt zum Gebet!“

Plötzlich schaut alles hoch, als zwei Jets sich im Tiefflug schneiden, und schon sind sie kaum mehr zu sehen. Manche haben noch ihr Brot mit Fleisch in der Hand, manche nehmen verblüfft die Wasserflaschen von ihren trockenen Lippen. Wie von Geisterhand taucht, in Staub gehüllt, mühsam und mit lautem Knattern ein altertümliches Auto auf, scheint kurz vor unseren Augen zu halten oder zu schweben, ehe es mit zerbeulter Karosserie und lädierten Kotflügeln davonhechelt. Sämtliche Fenster sind heruntergekurbelt. Wir schauen auch diesem neugierig hinterher und hören, wie in rhythmischer Folge immer wieder jäh das Geräusch des Motors abstirbt. Das Auto ist noch lange zu sehen, hier ist immer alles zu sehen wie auf einem Präsentierteller. Warum nur habe ich den Eindruck, dass der an uns vorbeirumpelnde Lastwagen, auf dem rücklings drei Männer auf Zementsäcken liegen, jetzt das letzte ist, was die Tankstelle heute sehen wird?

Doch ein Ruf unterbricht meine Gedanken und kündigt den Aufbruch an. Widerwillig zwängen wir uns wieder in den heißen Autobus.

Gottlob geht es von nun an relativ zügig weiter. Die Straßen sind breiter geworden und gerader, scheinen in den Himmel zu führen. Ich falle in einen leichten Schlaf und ein kurzes heftiges Feuerchen der Lüsternheit sucht mich heim, ehe der Kopf meines Nachbarn es wieder löscht. Ärgerlich hole ich die Landkarte hervor, die schon etwas zerlesen ist, zerknittert, ein kleiner Riss, dort, wo die Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean liegen. Algerien und Mauretanien in sandgelber Farbe wie Spanien, das nur einen Flohsprung entfernt scheint. Die helle blaue Farbe zeigt die Meere entlang der wie ein Bumerang gebogenen Küstenlinie an, wo mit merkwürdigen Zeichen Strände, Schutzhäfen, Grotten und sogar Ruinen eingezeichnet sind. Berge und Täler, die ich draußen vorbeischweben sehe, sind nicht näher gekennzeichnet. Meine Karte hier kommt mit Weiß und Lindgrün aus. Man erfährt nicht, wie hoch oder wie tief wir uns befinden, nur dass der Weg von Béni-Mellal bis El-Kelaá des-Sraghna einhundertneunundneunzig Kilometer misst und die Cascades d’Ouzoud dazwischenliegen. Ich sehe, dass wir einer Straße folgen, die als roter gleichmäßiger Strich von Fès bis Marrakesch eilt, nur unterbrochen von gelegentlichen Städten oder Dörfern, die Hotels, Golfplätze, Tourismusbüros, Thermalbäder, vorgeschichtliche Monumente, römische Monumente, Moscheen, kasbahs, ksars oder Festungen beheimaten. Kleine Wimpel, kleine Flugzeuge, kleine Springbrunnen, kleine Säulen. Mein Finger fährt vorsichtig die rote Linie entlang, müsste eigentlich dann und wann eine kleine Steigung erklimmen, tut es schließlich auch, als der Bus eine ungewollte Schwelle überspringt, die sie einem dahinrollenden Steinbrocken verdankt, dann findet sich mein Zeigefinger mitten in Casablanca wieder und muss nun den ganzen Weg über eine grüne Landstrasse dorthin zurückkehren, wo der Name Tamelelt auf weißem Untergrund steht. Zwischen dieser Stadt und unserem Zielort winkt eine kleine Palme, die eine Oase anzeigt, und in Marrakesch sind alle Zeichen versammelt, die es nur geben kann. Ein grüner kultivierter Streifen schmiegt sich an das Weiß des Hohen Atlasgebirges, dahinter der Anti Atlas, dahinter das Sandgelb Algeriens und Mauretaniens.

Es sieht aus, als brenne der Horizont, aber es ist wohl nur eine Wolke aus leichtem Sand. Es sieht aus, als wäre dort hinten die Welt zuende. Links und rechts des Weges sitzt auf so manchem ausgedörrten Kadaver ein pechschwarzer Vogel, der mit nachsichtigem Ernst den Fahrzeugen nachblickt. Wie vom Teufel hingespuckt liegt ein hässliches Geschöpf am Straßenrand, dort, wo ein schmales Rinnsal in den Boden sickert, und ich glaube, es ist der Embryo eines Geiers. Die wenigen Menschen da draußen sehen aus wie Arbeiter in einem Steinbruch, bedeckt vom rötlichen fliegenden Staub der Ebene. Die Sonne sticht immer noch erbarmungslos durch die wehenden Vorhänge, welche die meisten der vor sich hindösenden Passagiere zugezogen haben, und selbst das Schluchzen der Frau hinter mir ist einer nachdenklichen Stille gewichen. Sie überlassen Landschaft und den zusehends stärker werdenden Verkehr sich selber, sehen den Mann nicht, dessen Füße über die Erde schleifen und dort, wo er ankommen will, abgeschabt sein werden wie Charly Chaplins Schuhe. Er hat einen Liliputesel unter sich, der sich durch eine höchst windige Gegend rackern muss. Als Packtier ist das Eselchen gewiss eine ausgesprochene Niete, als Spielzeug praktisch das Allergrößte. Sie sehen auch die Prozession von vielleicht zehn Männern nicht, die den Windungen eines Ziegenpfades folgt.

Ich flüchte mich in einen Wachtraum, ein Traumgespinst, und sehe in der Ferne eine flirrende Fata Morgana, über die der heiße Atem des Wüstenwindes streicht, während sich dem Reisenden das schlanke, leuchtend rote Minarett der Koutoubia-Moschee langsam nähert.

Um Fünf sind wir am Busbahnhof von Marrakesch, der in unmittelbarer Nähe zur Medina liegt, doch der anstrengende, ermüdende Tag ist noch nicht zu Ende …

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