Straßentiere in Kairo

© Willi Schnitzler     

Afrikas größte Stadt liegt im Smog. Die Augen verlieren sich im Dunstschleier, der wie ein Mantel Häuser und Menschen einhüllt, selbst zu dieser Uhrzeit. Wir ahnen, dass der riesige Schatten vor uns der Nil sein muss, der bedächtig dahinfließt. Doch auch dies ist eine Vermutung, denn der Verkehr ist sensationell, der Lärm ebenfalls.

Straßentiere in KairoWir stehen inmitten endlosen Hupens und Bremsens im Dauerstau, sämtliche sieben Millionen Einwohner scheinen auf der Straße zu sein. Der Taxifahrer, der uns in den Ostteil der Stadt bringen wird, sieht gelangweilt aus. Genauso wie das Pferd, das gestiefelt und gespornt neben uns steht, und einen Blick ins Wageninnere wirft. Alltag für ein Nutztier, das einen Wagen zieht, der tonnenschwer bepackt zu sein scheint und zudem zwei Djellaba-bekleideten, rauchenden Arabern Platz bietet. Wir bemerken die Hautabschürfungen dort, wo die Siele, das Riemenwerk der Nutztiere, ins Fell gerieben wurden. Mühsam quälen wir uns vorwärts in dem nicht enden wollenden Strom von Bussen, Taxis, Transportern, normalen Kraftfahrzeugen und tiergezogenen Fuhrwerken. Pferde, Esel, Mulis. Wir sind verblüfft, als der Taxifahrer erzählt, dass es eine Million von diesen »street animals«, wie er sie nennt, geben soll. Wir können kaum glauben, als wir später erfahren, dass beinahe fünf Millionen Menschen in Ägypten von den Straßentieren leben und abhängig sein sollen.

Der arabischer Name der Stadt el-Qahirah bedeutet »siegreich«, und das muss man sich jeden Tag beweisen, um sein Ziel zu erreichen.

    

Unser Ziel liegt im Ostteil Kairos und scheint meilenweit entfernt. Doch wie durch ein Wunder wird das zähe Ringen um Straßenmeter plötzlich (so gut wie) aufgelöst. Wir umkurven den Tahrir Square und rasen südwärts auf der Shari El Quasr El Aini. Rechter Hand liegen die diplomatischen Vertretungen in der Gartenstadt. Doch wir verlassen langsam das moderne Kairo mit den hochaufgeschossenen Wolkenkratzern und aufgesetzten Leuchtreklamen. Von der tropischen Vegetation in Gestalt riesiger Palmen und scharlachroter Flamboyants, die dem Nil ihre Pracht verdankt, ist hier nichts mehr zu sehen. Die Stadt wandelt ihr Gesicht. Irgendwann geht’s nur noch ostwärts, die Straßen scheinen namenlos zu sein, als das schwarz-weiße Taxi hupend in die alten Bezirke, in ein neues Labyrinth eintaucht. Jetzt dürfte es nicht mehr allzu weit sein. Wir sehen Straßen, wo man besser das Auto stehen lässt und sich ein Muli besorgt, um über die Schutthalden und Müllberge zu steigen. Tausend Jahre sind kein Pappenstiel. Mehr als fünfunddreißig Prozent der Häuser sind baufällig, teilweise verursacht durch den Bau des gigantischen Assuan-Staudamms.

2 Bayram El Tonsi, Zein El Abdein. Hierhin verläuft sich kein Tourist. Wir sind am Ziel und blicken auf das rosarote Eckhaus, über dessen Eingang die zweisprachige schwarze Tafel den Namen verkündet: Brooke Hospital for Animals.

Das zweistöckige Gebäude trägt ein mit meterhohen Pfosten abgesetztes Wellblechdach auf dem Kopf, ungewöhnlich, wie uns scheint. Brigadier Hassan Sami, der Direktor des Krankenhauses, der uns für ein paar Tage eingeladen hat und am Eingang auf uns wartet, erklärt die Bewandtnis des Daches.

»Das Wellblechdach soll ein wenig die Hitze nehmen, denn im Sommer kann es hier bis zu fünfzig Grad Celsius heiß werden. Die Tiere sind nach Operationen und in geschwächtem Zustand sehr empfindlich.«

Vor dem Hospital steht auf drei Beinen ein abgemagerter Esel, das vierte Bein wird von zwei Tierärzten in die Hände genommen und abgetastet. Das Tier mit den typischen Schürfwunden am geschundenen Körper lässt die Untersuchung mit dem Gleichmut eines Schwerkranken über sich ergehen. Es scheint genau zu wissen, dass von dieser Seite Hilfe zu erwarten ist. Auf dem Rücken, dort, wo rotbraune Flecken die Mühen der Schinderei dokumentieren, liegt besänftigend die Hand des Besitzers, ein älterer Moslem mit den Furchen der Jahre im besorgten Gesicht.

»Ein Autounfall«, sagt Herr Sami. »Aber das kriegen wir wieder hin.«

»Wenn wir den Esel ins Hospital aufnehmen müssen und eine Zeit lang hier behalten,« fährt er fort, »kann es vorkommen, dass nach der Entlassung nach wenigen Schritten das Tier wieder kehrtmacht und zurückgetrabt kommt. So gut wie hier haben sie’s nirgendwo«.

Der kleine Mann mit dem schütteren weißen Haar lächelt uns an und bittet uns herein. Drinnen ist es angenehm kühl. Er zeigt uns die Einrichtung, die 1934 von der Britin Mrs. Dorothy Brooke ins Leben gerufen wurde. Ein Bild zeigt sie, am Schreibtisch sitzend, tief in Gedanken versunken. Eine schlichte Perlenkette hängt am Hals, das Kinn nachdenklich auf die abstützende Hand gelegt.

»Sie war ein Freund der Armen«, sagt Herr Sami, »und lebte mit dem Ziel, das Leiden der Tiere zu lindern. Dorothy Brooke starb 1955 in Kairo. Begraben ist sie nicht weit vom Hospital, das sie geliebt hat und wofür sie das Menschenmögliche getan hat. Und wir tun unser Bestes, ihr Werk weiterzuführen. Übrigens sind wir in Kairo nicht das einzige Brooke Hospital. In unserem Land gibt es weitere Kliniken in Alexandria, Aswan, Luxor und Edfu. Dann zwei in Pakistan und jeweils eines in Jordanien und Indien.«

Man merkt, dass es sich um eine britische Einrichtung handelt, obwohl sie irgendwann von den Ägyptern als karitative Organisation weitergeführt wurde. Das Geld für den Betrieb stammt weiterhin aus »Good Old England«. Es ist ein Balanceakt, wie es scheint, zwischen der ehemaligen Kolonialmacht England und dem selbstbewussten unabhängigen Ägypten. Nun, Aufgabe der Organisation ist der Schutz der Tiere vor Grausamkeiten, ihre Leiden zu lindern, Hilfen für die armen Besitzer anzubieten und ihnen klar zu machen, wie man Tiere am besten behandelt und schützt.

Noch ehe wir unsere Gedanken geordnet haben, sind wir auf Besichtigungstour. Wir sehen uns um. Das Krankenhaus besteht aus drei Sektoren. Das Hauptgebäude beheimatet die Büroräume und zwei »Krankensäle« mit separaten Boxen, groß genug um zwanzig Tiere aufzunehmen. Der Platz ist durch Maschendraht an den Fenstern komplett fliegengeschützt. Der Haupteingang hat eine elektrische Schutzeinrichtung, zusätzlich zu den überall aufgestellten elektrischen Fliegenkillern. Wir sind überrascht, denn wir hätten uns den Geruch schlimmer vorgestellt, nach Kadaver, Blut, Kot, Tierschweiß, nach dem muffigen Fell von alten Mähren, nach dem Gestank von Abfall und Straße; doch es ist klinisch sauber. Fast möchte man meinen, dass die Menschen in den Krankenhäusern ringsherum keine solchen Bedingungen vorfinden, wenn sie denn operiert oder behandelt werden müssen.

Der zweite Sektor, der offene Hof, der männliche und weibliche Tiere trennt, kann bis zu neunzig Tiere beherbergen. Hier erholen sich die Tiere bis zur vollständigen Genesung. Es stehen oder liegen im Moment an die zwanzig Esel und Pferde im Hof. Kaum geboren stehen drei Fohlen zwischen ihren Müttern in der Sonne. Es geht ihnen gut, das sieht man.

Dieses Bild zeigt nur die eine Seite, die gute. Die Tiere, die wir sonst sehen, sind dürr und klapprig, geschunden und krank. Sie scheinen sich mit ihrem Los, Packesel oder Müllkutscher zu sein, abgefunden zu haben. Ihre traurigen Gesichter zeugen von der harten Arbeit.

»1992«, erzählt uns Herr Sami, »hat es hier in Kairo ein schweres Erdbeben gegeben. Die Tiere im Zoo haben Tage zuvor schon ein Höllentheater veranstaltet, sodass mich der Zoodirektor anrief und nach möglichen Ursachen fragte. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt keine Antwort. Unsere Tiere in der Klinik waren ruhig wie die Lämmer. Und selbst, als das Erdbeben stattfand, war ihnen keine große Unruhe anzumerken. Kann es sein, dass diese Tiere schon innerlich so tot, dass sie nichts mehr wahrnehmen? Es ist kaum zu glauben.«

Wir gehen nachdenklich weiter in den dritten Sektor, der neben der Isolationsstation, ausgerüstet mit zehn Boxen, noch die Schmiede und die Garagen der mobilen Klinikfahrzeuge umfasst. Wir wollen Dr. Salah in den nächsten Tagen auf seiner Fahrt auf die Pferde- und Eselsmärkte Kairos begleiten. Draußen ist Rahib, der Schmied, damit beschäftigt, ein Pferd zu beschlagen. Dicker Rauch begleitet seine Arbeit. Er ist einer von jenen Schmieden, die ihre Arbeit selbstverständlich auch auf der Straße vollführen.

Wir gehen wieder ins Hauptgebäude zurück und sehen gerade noch, wie ein erschöpfter Esel mit gebrochenem Bein von einem offenen Pritschenwagen hineingefahren wird.

»Da können selbst wir nichts mehr machen. Der Esel wird eingeschläfert werden müssen!«, sagt Dr. Hatem, einer der Veterinäre der Klinik. Sein Besitzer, ein junger Mann mit schmutziger Djellaba und weißem Stirnturban, geht zur Anmeldung, wo er durch Daumenabdruck seine Unterschrift abgibt. Er bezeugt damit sein Einverständnis und den Empfang des Geldes, das er für das tote Tier bekommt.

Kaum hat Dr. Hatem das gesagt, stürmt ein Pfleger nach draußen, um einen schreienden Esel, der Brandverletzungen im Bereich des Bauches hat, in Empfang zu nehmen. Die zuckenden langen Ohren deuten den Schmerz an. Ein anderer ist bereits seit Wochen in Behandlung der Tierärzte. Betrachtet man die großen rosafarbenen Wunden heute, so mag man gar nicht darüber nachdenken wollen, wie das arme Tier bei der Einlieferung ausgesehen haben mag.

Herr Sami erklärt uns, dass das Tier eines Armen die gleiche Behandlung erfährt, wie jenes von einem Besitzer, der dem Hospital eine Spende hinterlässt. All animals are equal. Und mehr noch. Wenn der Besitzer mittellos ist und das Tier die einzige Quelle des Broterwerbs darstellt, gibt die Organisation ihm eine kleine finanzielle Unterstützung, bis das Tier geheilt ist und wieder arbeiten kann. Darüber hinaus bezahlt das Hospital einen bescheidenen Betrag (zwölf Dollar) für ein totes oder einzuschläferndes Tier, um dem Geschöpf weitere Qualen zu ersparen und dem Besitzer und seiner Familie für eine Übergangszeit Essen zu geben. Andere, dunkelhäutig und unverwechselbar in den weißen Turbanen und kragenlosen Talaren der Nubier, versuchen als Schlangenbeschwörer zu überleben, jene, welche die »reicheren« Stadtteile bevölkern und von Tür zu Tür wandern, um harmlose Schlangen (»Ich rieche eine Kobra«-rufend) aufzuspüren, die sie meist selbst erst kurze Zeit zuvor aus ihren tiefen Taschen entlassen haben und für wenige Piaster aus dunklen Ecken klauben, um sie schließlich wieder in die Obhut ihrer tiefen Taschen zu geben. Es scheint, wie ein Spiel zu sein – der Kaffeehausbesitzer zahlt, auf geht‹s zur nächsten Tür.

»Das Brooke Hospital for Animals hat einen ausgezeichneten Ruf unter den Tierbesitzern. Sie bringen sie gerne zu uns, weil sie genau wissen, dass die Tiere in der Klinik eine effiziente Behandlung erhalten.«

Der Direktor ist stolz, zumal vor nicht allzu langer Zeit seine Königliche Hoheit der Prince of Wales dem Hospital einen Besuch abgestattet hat. Dutzende von Bildern dokumentieren dieses Ereignis.

»Seine Hoheit zeigte großes Interesse an unserer Arbeit und bewunderte die Aktivitäten und Dienstleistungen unserer Klinik,« berichtet Herr Sami.

Es war ein langer Tag, und wir sind wieder mit dem Taxi auf dem Weg zurück. Morgen werden wir ein Ambulanzfahrzeug zu den Tiermärkten und in die Elendsviertel begleiten, wo viel Arbeit auf die Crew wartet.

Wir machen einen schnellen Umweg über die »the City of the Dead« genannte Gegend, gleich hinter der Klinik liegend, wo am Rande der Metropolis ausgedehnte Friedhöfe liegen, die ihresgleichen außerhalb Ägyptens suchen. In einer riesigen, staubigen, ockerfarbenen Zone stehen Moscheen und Mausoleen mit Grabstätten früherer religiöser Führer, die an diesem ungastlichen Ort begraben liegen wie Imam ash-Shafi’i oder einige Mamluk Sultane. Die Tatsache, dass die Bevölkerung Kairos ständig zunimmt, hat dazu geführt, dass Häuser und Geschäfte sich dort angesiedelt haben. Eine Viertelmillion lebt mittlerweile in der Stadt der Toten, zum größten Teil natürlich ohne Billigung der Behörden.

Wir überholen auf einer der vielen Hauptstraßen, die von Verkehr nur so überquellen, einen Esel, der ein Fuhrwerk zieht, auf dem vier erwachsene Männer sitzen. Zwei vorne als Führer, die anderen beiden hocken oben auf einem zwei Meter hohen Berg von vollgestopften Kartons und Kisten und unterhalten sich. Der kleine Esel trottet einem blauen Auto hinterher und ist auch nicht langsamer als der Bus, der quietschend neben ihm zum Stehen kommt.

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