Die Geschichte der beiden Berge

© Willi Schnitzler    

Die Geschichte der beiden BergeDas lange Stück nach Whakatane fand ich Platz auf der Rückbank des nagelneuen Autos eines Maoripärchens. Der Mann war ein bulliger Kerl mit einem akkurat gestutzten Schnurrbart, schwarz wie stark gebrühter Kaffee, und kräftigen Armen, deren Muskeln in jeder Kurve unter dem weißen T-Shirt ihre Elastizität lobten. Er mochte dreißig Jahre alt sein, genau wie seine Frau, die mit drahtigen Haaren schweigsam wie eine Malermuschel neben ihm saß. Ein feines Amulett funkelte an ihrem Hals, ein marakihau. Schnell begriff ich, wie stolz beide auf ihren roten Wagen waren, der innen funkelte wie frisch poliertes Tafelsilber und für kurze Zeit in seltsamer Manier auf meinem Gewissen lag. Muss man erwähnen, dass eine breite Wolldecke die Schonbezüge der Sitzpolster im hinteren Teil des Schmuckstücks wie Augäpfel hütete, dort, wo ich Platz genommen hatte? Ihre Gesichter drückten eine unbestimmte innere Unruhe aus, aber auch Neugierde, denn sie wollten wissen, warum ich den weiten Weg gemacht habe.

Sie waren nicht einmal für kurze Zeit in der großen Welt gewesen, hatten selbst die Nordinsel niemals verlassen. Sie ähnelten den beiden Figuren vor dem Wetterhäuschen, nie weit genug weg von ihrer Haustür. Hinten kauernd, schaute ich aus dem langsam dahinfahrenden Automobil durch die Windschutzscheibe, die so durchsichtig geputzt aussah wie keine zweite, hinaus auf das sonnentriefende Land, das sich wie Trugbilder einer Fata Morgana dauernd zu verändern schien. Das unangenehme Gefühl durchschlich mich, als ließen sie mich keine Sekunde aus den Augen. Ich fasste selbst die Wolldecke mit Samthandschuhen an, erzählte von dem Läufer, den sie nicht kannten, und beiläufig, aber nicht ohne Wirkung, von meinem neuen Wagen. Letzteres, wenn auch ein wenig geflunkert, wirkte beruhigend und ihre Gesichter entspannten sich wie nach einer stundenlang hinausgezögerten Blasenentleerung. Schließlich bekam ich Nachhilfeunterricht in neuseeländischer Aussprache: Whakatane würde am Anfang wie das amerikanische „Fuck“ ausgesprochen, sagten sie lächelnd; kraftvolle Phonetik einer Sprache, die fast jedes ihrer Wörter mit einem Vokal enden ließ. 
Aber was für ein schöner Name für ein Dorf.

    

„Whakarongo mai!“, sagte er – hör mir zu – und zählte die Maori-Zahlen auf, von Eins bis Zehn: „Tahi, Rua, Toru, Wha, Rima, Ono, Whitu, Waru, Iwa, Tekau!“

„Die Maori-Legende berichtet, dass ein Kanu mit samt der zurückgelassenen Frauen infolge der einsetzenden Flut ins Meer getrieben wurde. Obwohl ein Verbot für Frauen bestand, Paddel zu berühren, schnappte sich die Tochter des Kapitäns Wairaka ein Paddel und rief: ‚Kia whakatane au i ahau!‘, was soviel bedeutet wie:Ich werde handeln wie ein Mann. Die anderen Frauen folgten ihr, sodass das Kanu gerettet werden konnte. Eine Bronzestatue an der Flussmündung erinnert daran. Bei klarer Sicht kannst du von Whakatane den Vulkan auf White Island sehen.“

Wenige Augenblicke später erzählte er die Geschichte der beiden Berge.
„Es heißt, dass in jenen Zeiten, als die Berge noch in Bewegung waren, miteinander sprachen, liebten und kämpften, in der Huiarau-Range im heutigen Urewera National Park nahe dem Lake Waikaremoana zwei Schwester-Berge mit den Namen Whakaari und Motuhora standen. Des Landlebens überdrüssig, entschlossen sich beide, eines Nachts zum Meer zu wandern. Auf der langen Reise bekam Whakaari starken Hunger und schickte ihre Schwester auf Nahrungssuche, während sie selbst ein Feuer entzündete. Als sie nun die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne spürte und ihre Schwester noch nicht zurück war, befürchtete sie, an Ort und Stelle für immer festgehalten zu werden. Ohne auf Motuhora zu warten, flüchtete die in Panik geratene Whakaari weit hinaus aufs Meer. Sie war lang über alle Berge, als ihre Schwester zurückkehrte; diese sah die leere Stelle, wo Whakaari gestanden hatte, und folgte ihr aufgebracht in die aufgewühlte See. Voller Zorn schleuderte sie ein brennendes Holzscheit nach Whakaari, doch in diesem Augenblick berührten die Sonnenstrahlen beide Berge. Seitdem liegt Whakaari, White Island, weit draußen im Meer, während Motuhora, Whale Island, näher an der Küste liegt.“

Nachdem er sich im Rückspiegel vergewissert hatte, ob sein Schnurrbart noch da war, fragte er:

„Kennst du unsere Reise nach Aotearoa?“
„Nein“, sagte ich, „hab‘ nur mal was über Hawaiki gelesen, weiß aber nicht, wo der Ort liegt oder was das ist!“
„Hawaiki war einst die legendäre Heimat der Maori, von wo aus sieben riesige Kanus aufbrachen, um aus welchen Gründen auch immer eine andere Heimat zu finden. Aber, du fragst das richtige, wo genau liegt dieses geheimnisvoll Hawaiki? Viele Spekulationen gibt es: es liegt im Pazifik, im Tahiti-Archipel, irgendwo in Polynesien – ein geographischer Ort. Andere sehen es so:
Hawaiki, der Ausgangspunkt unserer Götter- und Wandersagen, bedeutet das Untengelegene, soll weder Name noch Insel gewesen sein, hat also keinen geographischen, sondern einen mythischen Wert. Es bedeutet auch Unterwelt, Totenwelt. In diesem tieferen Sinn ist Hawaiki nach der Anschauung der polynesischen Völker Anfang und Ende, der Ort, von wo die Ahnen gekommen und wohin die Seelen der Toten zurückkehren, das Zuhause, das in den Herzen weiterlebt. Reinga am Nordkap ist nach unserer Vorstellung die irdische Schwelle und das Tor in dieses Totenreich.

Moderne Wissenschaftler behaupten, dass die Maori vor mehr als 15.000 Jahren in dem Land gelebt haben, das heute China ist, und dass von dort aus über Taiwan und die Philippinen Indonesien erreicht wurde. Vor 6.000 bis 9.000 Jahren kamen sie nach Malaysia, ehe sie 4.000 bis 6.000 Jahre später auf den Fidschiinseln landeten. Anschließend segelten sie nach Samoa und auf die Marquesas, eine kleine Weltreise. Doch hier war Schluss mit der östlichen Migration, von nun an wendete man sich in südwestliche Richtung nach Tahiti, dann zu den Cook Islands, bis sie schließlich und endlich ihren Bestimmungsort Aotearoa, Neuseeland, erreichten.“

Und wieder schaute er sich seinen schwarzen Schnurrbart an und bemerkte, dass ein Lastwagen ihn überholen wollte, der es eilig hatte.

„Die Stammesgeschichten erzählen, dass nach dem Tod des Körpers aber der Geist weiterlebt und die Reise zurück nach Hawaiki antritt, dem Treffpunkt, wo das Leben seine Reise von Hawaiki nach Hawaiki beendet. Hawaiki ist in jedem Maori, immer, wird im Herzen getragen, durch Tausende von Generationen, Tausende von Jahren der Migration, in Kanus, die wir waka nennen. Und so werden unendlich viele Geschichten und Legenden erzählt über diese Reise nach Aotearoa, von jedem weka, jedem Stamm, denn jeder Stamm hat seine eigene kleine Geschichte.

Manche Chronisten, die kein Maoriblut in ihren Adern haben, behaupten, dass die Migration rein zufällig zustande kam, dass Inselwanderer von ihrem Kurs abkamen und in die Unendlichkeit des Pazifiks getrieben wurden. Sie behaupten auch, dass diese Reisen nur einem Weg folgten, dass es keine Rückreisen gegeben habe. Sie haben Unrecht. Tainui, Te Arawa, Aotea, Takitimu, Tokomaru, Matatua und Kurahaupo navigierten sie schon damals nach den Sternen. Man sieht es in den Schnitzereien unserer Versammlungshäuser. Und selbst wenn sie sich einmal verirrt haben sollten, so suchten sie am Himmel nach Zugvögel wie kuaka oder godwit oder in der See nach Zugwalen, die sie wieder auf den richtigen Weg leiteten. Eine unserer Legenden berichtet, dass Paikea, ein Vorfahre, auf dem Rücken eines Wales daherkam. Oder war er selbst der Wal? Wer weiß das schon?
Mir ist erzählt worden, dass ein Schwarm Wale auf ihrer Reise in sehr raues Wasser gerieten. Sogleich nahmen die zwei größten Wale, Seite an Seite schwimmend, die Führung auf, während nahe hinter ihnen in der Sicherheit der gebändigten See der Rest der Truppe schwamm, einschließlich der jungen schwachen Wale.

Skeptiker haben immer schon behauptet, dass unsere Vorfahren nicht in der Lage gewesen sein können, Existenz und Lage Aotearoas vorauszusehen, bevor sie nicht gelandet waren. Vielleicht ist das so, aber wer kann abstreiten, dass die Alten nicht diese Kenntnisse hatten, und das ist das von ihnen, was wir über Aotearoa gelernt haben.“

Ich fühlte, dass die Maori in mehr als einer Welt lebten. Eine Weile später ließen sie mich aussteigen und riefen hinterher:
„E noho ra!“ So hieß Lebe wohl, wenn man fortging. Haere ra, sagte derjenige, der zurückblieb.
„Haere ra!“

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