Allein auf weiter Flur

© Willi Schnitzler    

Allein auf weiter FlurEine längst wache vollbusige Sonne sah mich kurz vor Mittag Wanaka verlassen. An australischen Gummibäumen vorbei führte die Straße Richtung Norden dem Haast Pass entgegen; ich wollte an die Westküste. Meine kleinen Augen jubilierten, als sie eine Sonnenbrille vor die Nase gesetzt bekamen, und der Strom des Blutes frohlockte, als er allmählich seine gewohnte Geschwindigkeit zurückbekam. Der raue Haast Pass, nach seinem Entdecker benannt, verband das Land im Westen der Südinsel mit den Southern Lakes von Central Otago. Die Landschaft wurde kontrastreicher und verlor ihren herbstlichen Lidstrich, trockengelbe Hügellandschaft eingetauscht gegen üppige, vom Regen verwöhnte Vegetation. 
Wohin soll ich fahren, dachte ich und entschied mich kurzfristig gegen den direkten Weg zu den beiden Gletschern der Southern Alps und für den lächerlichen Umweg zur Jackson Bay in die genau entgegengesetzte Richtung. 
Roadtrack to nowhere.

Irgendwo nahe der vergessenen Ortschaft Okuru stellte ich das Auto in den Dünen ab und ging zum Strand. Es war vollkommen still, kein Flüstern, kein Zwitschern, kein noch so fernes Glockengeläut. Eine entsetzte Sonne begrub deprimiert ihr Gesicht in einen Wolkenhimmel, der so zerzaust aussah, als hätte jemand Zitrone in einen Milchkaffee geträufelt. Der Strand hatte zwei Überraschungen für mich parat. Zum einen übersäte ein unübersehbarer Wust von Baumholz das Ufer in seiner ganzen Breite und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass letzte Nacht Hunderte von Hirschen Strippoker gespielt hatten. Doch mussten sie nicht als sichtbarer Beweis von persönlichem Mut an irgendeiner holzvertäfelten Zimmerwand prunken, diese Knochengebilde und Imponierköpfe? Wie kam das bloß alles hier hin? Zum anderen blieben mir gerade fünf Minuten, mich zu wundern, denn mittlerweile hatten sich Myriaden von Sandfliegen über meinen Körper hergemacht. Selbst die Ausdünstungen des Bieres störten die lästigen Viecher nicht im geringsten. Weit und breit war kein anderes Menü in Sicht und die Gier nach Blut schien sie verrückt zu machen. So bekam ich eine unbestimmte Ahnung, welche Tortouren die armen Hirsche durchgemacht haben mussten, und hatte daher nur ein Ziel, den Sandfliegen zu entkommen. Im Auto sitzend, beobachtete ich, wie wildgewordene Sandfliegen rasend vor Wut und Kupidität bedenkenlos gegen die Fenster stießen. Eine Plage für die Welt. Erschlug noch jene die ins Auto gelangt waren mit der Landkarte und fuhr zufrieden auf die Asphaltstraße zurück.

     

Nach einer Weile traf ich auf eine Brücke, die dem Meer dabei zusah, wie es einen Landausflug machte. Als sich wenig später der Weg gabelte, musste ich kurz an Walt Whitman denken und von nun an sah ich bis zur Bay nicht mehr viel von der Tasman Sea, denn die Straße schlug einen Haken quer durch ein üppiges Waldgebiet. Gutgläubig fuhr ich in eine immer wilder werdende Landschaft hinein, fast schnurgerade folgte sie den Wünschen ihrer Planer, die sie vor nicht allzu langer Zeit von Arbeitslosen hatten bauen lassen. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme war zweifellos auf halbem Wege eingestellt worden, denn plötzlich musste man aus heiterem Himmel mit einem Gesteinsteppich Vorlieb nehmen: dicke, spitze, kleine, große, heimtückische, boshafte und hinterhältige Steinbrocken wanden sich unter den Rädern wie schlechte Entschuldigungen. Nga-rangi-hore, der Vater der Steine, zeigte sein finsterstes Gesicht. Doch auch ein Stein verwittert, wenn er lange liegt. Im Dunkeln muss das eine Straße sein, die die Zähne zum Klappern bringt, dachte ich bei mir. Sie schien nirgendwo hin zu führen und keine Menschenseele lebte an ihr, nur Baum und Stein. Kilometerlang quälte ich mich da hindurch, in dem ich das Blaue vom Himmel fluchte, was nicht half, aber irgendwie erleichterte. Jeder Stoß ließ das Rückgrat erzittern. Dann und wann hörte ich, wie der Auspufftopf dumpf aufsetzte, die Räder kurz durchdrehten, Sekunden später wieder griffen, bis der Wagen mit einem kurzen Sprung sich selbst befreite. Es mochte eine schlimmere Straße auf dieser Erde geben, aber ich kannte sie nicht. Niemand wird ein zweites Mal aus freien Stücken über diese Straße fahren, dachte ich noch, es sei denn, er wolle wieder zurück.

Gewiss war ich überrascht, als ich hinter einer nassen Felsnase so etwas wie Zivilisation erkannte. Jackson Head. Die Sonne beschien die flachen Dächer der wenigen Holzhütten, die verloren in der Bucht kauerten. Ein kleiner Wind musizierte schwermütig in den Gräsern. Es fehlte jede Spur von Menschen in dieser verlassenen Gegend und vom Lärm der Welt hörte man hier nicht viel. Ich hatte mit einem Mal Hunger und Durst. Fünf Fischerboote lagen lustlos vor Anker, es schien, als hätten sie schon eine Ewigkeit keinen Fang mehr begleitet, und ich glaubte, zum zweitenmal auf meiner Reise das Ende der Welt erreicht zu haben. Ein ruhiger beschaulicher Platz zum Sterben, man hatte das Gefühl, in der hintersten Hosentasche des Universums zu stecken. Schläfrig rastete ich im struppigen Grasgeflecht des Ufers, während mein Blick auf eine niedrige, von einem dichten Wolkenmeer überzogene Hügelkette jenseits des Wassers fiel; da irgendwo wollte ich wieder zurück. Ich tagträumte ein wenig wie mein Schatten, der hinter mir träumte, und beide waren wir glücklich, dass die Welt da drinnen keinen Einfluss hatte. Die Zeit, eine dicke klebrige Art von Zeit, quälte sich an mir vorbei, als ich plötzlich feststellen musste, dass ich mich im Irrgarten der eigenen Gedanken verlaufen hatte.

Küstenbäume, groß, schief und dunkel, an deren Schattenseiten Moos wuchs, säumten auf beiden Seiten die Straße, die schnurgerade in tückischer Perspektive und weiter Ferne einen dichten Wald vorgaukelte. Fuhr die Schatten entlang, die die Bäume auf die Straße warfen. Der Himmel schaute gelegentlich durch das sich nach oben schließende Blätterwerk, während von unten aufmüpfige Steine auf das Auto einschlugen, bis dann endlich die Wegstrecke wieder befahrbar wurde. Der Wagen fasste wieder Fuß. Nach den Schlaglöchern und dem Rütteln hatte ich die Straße schneller erreicht, als ich erwartet hatte. „Dem Himmel sei Dank!“, vertraute ich dem Lenkrad an, das ich fest in Händen hielt, als das Poltern des holprigen Bodens aufhörte. Und irgendwo zwischen Waiatoto und Carters Mill behütete Mutter Natur eine ungemein empfindsame Vegetation, die mich sofort an einen märchenhaften Zauberwald denken ließ. Hier müssen die von Orks und Straßenräuber verfolgten Hobbits und Elfen, aus Rohan kommend, auf dem Weg nach Gondor hindurchmarschiert sein. Flüsternde Gruppen krummer, x-beiniger Bäume. Die von drahtigen Mistelnestern durchsetzten, vom Wind bizarr verformten Bäume hatten den von der Tasmanischen See kommenden Stürmen getrotzt, dabei aber ihren geraden Wuchs eingebüßt, als ob der schiefe Turm von Pisa hier seine Enkel finden würde, käme er auf den Gedanken, nach ihnen zu suchen. Auf der Jagd nach Beute kreisten Raubvögel über das Land. Rabenschwarze Vögel saßen Schulter an Schulter auf hängenden Stromleitungen und hin und wieder machte einer von ihnen durch lautes Kreischen wie eine bremsende Lokomotive auf sich aufmerksam. In nicht allzu weiter Ferne waren bucklige Hügel zu sehen, die mit satten Wolken zu kämpfen schienen. Nur die vorbeieilende Straße, nun weniger eingeschnürt, wirkte fehl am Platz. Kniehohes fleckiges Gras und dichte Büsche, die wie wellige Felsbrocken wirkten, drängten die Küstenbäume zurück. Ab und zu staken blattlose Gestalten aus der Parade der vorderen Reihen, ihre Glieder wie wegamputiert. Die Straße, von hölzernen Telegrafenmasten begleitet, zog weiter als gerader Strich durch die Lande, dann und wann ein gelbes Schild, das eine Brücke verkündete. Rechts und links der Straße, die mit Öl- und Benzinmalen gezeichnet war, kilometerweit das gleiche Bild: im Wind zitterndes Gras, wie auf Stelzen stehende ngaios, manche umgeknickt, entwurzelt, manche wie Giraffen über die Artgenossen blickend, hohle tote Bäume, nur von Rinde umwickelt, die ein Loch zu einem Körper, zu einem Gegenstand machte. Niedrige weiße Wolken zogen unter der tiefblauen Himmelsdecke daher und drückten schwer auf die Welt. Auf eine sonderbar beunruhigende Weise machte mich dieses Bild traurig und ich seufzte erleichtert, als es galt, einen nimmermüder Fahrradfahrer zu überholen, der etwas Abwechslung bot, oder als wieder eine kleine Brücke auftauchte, deren Existenz einem Rinnsal zu verdanken war.

In der flirrenden Mittagssonne lief die Straße weißlich-grau, von Schatten genarbt, nach Norden, ließ listig Kurven und Hügel hinter sich und gab sich Mühe, winzige Ortschaften zu besuchen, die nicht größer waren als eine Spur im Staub. Beim Durchqueren von Haast sah ich drei Jungs mit kurzen Hosen, wie sie in hohem Bogen um die Wette spuckten. Sie waren nackt bis zur Taille und trugen Hütchen aus Zeitungspapier; daran steckte von irgendeinem Federvieh ein Stück Hinterteil. Man sah ihre Rippen, kleine Käfige für die Herzen, und ihre Hühnerbrüste. Aus den schmalen Rücken sprangen die Knochen der Wirbelsäule hervor wie bei Dinosauriern. Ansonsten herrschte Frieden. Ohne sonderliches Interesse ließ ich den Ort in der Mittagsruhe liegen, der den Namen des Forschers und Entdeckungsreisenden trug, und folgte stur der Küstenstraße westlich der Südalpen. Der Highway 6 sollte mich direkt zu den Gletschern der rauen und wilden Westküste bringen. Baufällige, geschindelte Farmhäuser mit verrosteten Postkästen in verwilderten Gärten flogen vorbei, in deren Ruinen Gräser und Bäume gekrochen waren; moosstrotzende Zäune winkten, kleine, aus Holzlatten gefertigte Kirchen standen einsam, ihrer Gemeinden beraubt, an Hängen und auf Hügeln – alternde Denkmäler des harten Lebens der Westküste. Die Dörfer, wenn sie überhaupt je existiert hatten, kamen dem traurigen Verfall des Landes zuvor, ihre einstigen Hüter hatten sich längst aus dem Staub gemacht. Kreisende Vögel verstärkten den Eindruck der Verlassenheit.

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